
Schwul
….”Wir sind alle nur Figuren in einem Spiel, das sich Leben nennt.”….
Ich schreibe die Zeilen und verfluche mich, dass meine Tränen die frische Tinte auf dem Blatt Papier vor mir verwischen. Der Hörsaal ist dunkel. Der Professor steht auf der Bühne, hinter ihm läuft eine Diashow. Heute wird der letzte Tag sein, der letzte Tag in diesem Hörsaal, der letzte Tag auf diesem Campus und der letzte Tag in meinem Leben. Es ist einfach Schluss. Fertig. Aus. Die Zeit kann weiterlaufen, aber nicht mit mir.
…„Ich bin nicht in Ordnung. Ich bin kaputt, ich bin absolut nichts wert. Scherben eines zersplitterten Spiegels, eine Ruine, Abfall… Ich passe nicht in diese Welt.“….
„Was schreibst du da? Ist es das, was ich denke?“ Chris stupst mich von der Seite an. Als ich nicht reagiere, schnappt er sich das Blatt Papier von meinem Schreibtisch und hält es sich frontal vors Gesicht. Da es zu dunkel ist, jongliert er den Zettel ein paar Mal vor seiner Nase herum, bis er aufgibt und ihn wieder auf den Tisch legt. „Hast du sie dabei?“, fragt er mich nach einer Weile und ich nicke. Ja, ich habe sie dabei. Sie ist in dem kleinen unauffälligen Rucksack neben meinen Füßen. Er ist braun, schlicht. Keiner würde Verdacht schöpfen. Keiner könnte erahnen, was sich darin verbirgt. Wir alle schleppen einen Rucksack mit uns herum. Tragen die Last täglich auf unseren Schultern. Jeder seine eigene.
„Du bist dir also wirklich sicher, dass du es heute durchziehen wirst?“, hakt Chris nach. Ich sondiere den Hörsaal, bis mein Blick an Sarah haften bleibt. Sie sitzt gelangweilt in ihrem Stuhl und tippt auf ihrem Handy herum. Ihre braunen, schulterlangen Haare trägt sie wie so oft gelockt und offen, so wie ich es am liebsten an ihr mag. Heute hat sie sich für ein kariertes, knielanges Hemd und dazu eine schwarze Strumpfhose plus Stiefel entschieden. Sie ist so perfekt, makellos, schön, intelligent und nett. Manchmal vielleicht ein wenig zickig, doch das kann für den ein oder anderen durchaus reizvoll sein. Alles in allem eine Frau, in die man sich definitiv verlieben könnte. Was würde ich alles dafür geben, der Mann an ihrer Seite zu sein. Viel. Sehr viel. Aber ich bin nicht normal. Bekomme es einfach nicht hin. Ich habe es so oft versucht. So oft. Wirklich. Warum schaffe ich es nicht?! Was stimmt nur nicht mit mir? Ich hasse es. Ich hasse mich. Ich hasse, wer ich bin und ich hasse es, dass ich es nicht ändern kann. Und wieder brechen all die negativen Gedanken über mich ein, erfassen mich wie eine Welle, fluten mich, reissen mich Stück für Stück mit sich mit in den eiskalten Abgrund, rauben mir sämtliche Luft zum Atem und schlussendlich ertränken sie mich.
Ich wende den Blick von Sarah ab und fokussiere Chris, dem aufgefallen ist, wen ich soeben beobachtet habe. „Sie ist es nicht wert, Amir. Vielleicht solltest du noch eine Nacht darüber schlafen, den Plan überdenken“, sagt er und ich nicke. „Ich weiss, aber das würde nichts ändern.“ Meine Stimme ist lediglich ein Flüstern. Ich weiss, dass er recht hat. Sarah ist es nicht wert, dass ich wegen ihr Bedenken bekomme und mit meinem Gewissen hadere. Sie weiss vermutlich nicht einmal, dass ich existiere. Aber das spielt keine Rolle. Jeder erwartet von dir einen Grund zu haben für das, was du tust oder tun wirst. Wir hinterlassen Abschiedsbriefe nicht für uns selbst, sondern für die, die bleiben. Die Wahrheit würde meine Familie erschüttern, also habe ich Sarah ausgewählt. Sie und dass ich noch nie eine Frau mit nach Hause gebracht habe, werden die offiziellen Gründe dafür sein, wieso ich in zehn Minuten aufstehe, die Waffe aus meinem Rucksack hole, auf die Bühne gehe und anfangen werde zu schiessen. Und ich werde so lange schiessen, bis ich aufgehalten werde. Bis ich nicht mehr atme. Bis mein Blut den Boden rot färbt und meine Organe den ganzen Hörsaal zieren.
„Ich kann dich wirklich nicht davon abhalten, oder?“ Chris kaut nervös auf seiner gepiercten Unterlippe herum. Er ist angespannt. Ich auch. Die schwarzen Haare hängen ihm ins Gesicht und die Ringe unter seinen Augen sind tief. So tief wie meine eigenen. Als ich mit einem „Ja“ antworte, zieht er sich die Kapuze seines Pullovers über den Kopf und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. “Wir beide gegen den Rest der Welt.” Wir beide. Genau. Wir beide ziehen das heute durch. Gemeinsam. Ich spüre seine warme Hand auf meinem Oberschenkel. Seine Finger streicheln sanft über den Stoff meiner Jeans. Ich mag es, wenn er das tut. Ich seufze kaum hörbar auf und blicke auf den riesigen Bildschirm vor uns, auf dem gerade ein paar Zahlen und Formeln erscheinen. Der Professor tigert auf der Bühne herum, während er erklärt, dass diese Formeln wichtig sein werden für die anstehende Prüfung. Die Prüfung, die wir niemals schreiben werden. „Zum Glück nicht mehr unser Problem“, meint Chris, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Ich konnte Mathematik sowieso noch nie etwas abgewinnen“, fügt er hinzu und angelt mit der anderen Hand einen Schokoriegel aus seiner Umhängetasche, zerbeisst die Verpackung und schiebt sich den Riegel zwischen die Lippen, auf denen sich bereits ein zufriedenes Grinsen abzeichnet. Ich mustere ihn von der Seite und als seine Finger auf meinem Oberschenkel etwas höher gleiten und auf einen Bereich zu steuern, den kein Mann bei einem anderen Mann berühren sollte, halte ich die Luft an. Und da ist es wieder. Der Beweis, das mit mir etwas nicht stimmt, dass ich falsch bin, eine Fehlkonstruktion, denn je näher Chris der Zone kommt, umso mehr spüre ich dieses Kribbeln und mir wird heiss.
Ich lehne mich etwas vor, in der absurden Hoffnung, dass die Reihe hinter uns nichts mitbekommt, obwohl es sowieso keine Rolle mehr spielt. Das Versteckspiel ist vorbei und bald ist sowieso alles vorbei. “Ein letztes Mal?”, erkundigt sich Chris und ich nicke. Das allerletzte Mal. Flink wie Chris ist, hat er schnell und geräuschlos den Reissverschluss meiner Hose geöffnet.
Als seine Hand unter dem Stoff verschwindet und nur noch meine Boxershorts im Weg ist, muss ich mich beherrschen. Mit einem Finger fängt Chris an mit dem Gummizug meiner Shorts zu spielen, weil ich das mag und er das weiß. Er neckt mich, überschreitet Grenzen, vernebelt meinen Verstand, treibt es auf die Spitze. Kein Verstecken mehr, keine Zurückhaltung mehr, ich verbanne meine Gedanken, lasse mich einfach von ihm mitreißen, weil nun sowieso alles egal ist. Und jetzt stehen wir zusammen am Abgrund und der Fall ist tief. Verdammt tief. So tief wie seine Hand, die endlich fündig geworden ist. Und dann kehren die Gedanken zurück, weil sie sich nie lange verbannen lassen. Ich verkrampfe mich, fühle auf einen Schlag zehntausend Augen auf mir kleben. Ich versuche verzweifelt, mir nichts anmerken zu lassen, weil komplett loslassen plötzlich doch schwerer ist, als es in diesem Moment der Bedeutungslosigkeit und Ekstase sein sollte. Mit einem brüchigen Pokerface auf dem Gesicht, tue ich so, als würde ich mich auf den Professor und seinen Dialog über die bevorstehende Prüfung konzentrieren. Vergebens. Chris holt mich zurück, in dem er genau das tut, was mich alles vergessen lässt. Ein Kuss, ein einzelner Kuss. Wie kann etwas so falsch sein und sich gleichzeitig so richtig und gut anfühlen? So verdammt gut.
„Du bist dir wirklich sicher, dass du in zwei Minuten auf die Bühne gehen und um dich schiessen willst?“, raunt Chris, zieht sich zurück und lächelt verwegen. Ich liebe dieses Lächeln und ich verstehe nicht, warum ich es so sehr liebe, denn das zwischen uns ist nicht normal. Das sollte einfach nicht sein.
„Ja“, hauche ich und höre mich unsicher an. Chris bemerkt die Unsicherheit und lehnt sich wieder zu mir vor. Seine Lippen berühren mein Ohrläppchen und duften herrlich nach süsser, verheißungsvoller Schokolade.
„Bist du dir wirklich sicher?“, bohrt er mit Nachdruck in der Stimme nach. Ich will Nein sagen, doch im selben Augenblick nehme ich hinter uns Getuschel wahr. Zuerst blende ich es aus, um mich vollends auf Chris zu konzentrieren, dessen kalte Nasenspitze zärtlich gegen meine Wange stupst, als er sein Kinn auf meiner Schulter absetzt und sich enger an mich schmiegt. Seine Wärme und Zuneigung ist wie Balsam auf all den offenen und blutenden Wunden, bis ein lautes und unüberhörbares „Schwuchtel“ mich auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Die Reihe hinter uns bricht in Gelächter aus. Prompt erfasst mich die vertraute Eiseskälte. Chris dreht sich zu den Kerlen hinter uns um. Ich sitze wie versteinert da und kann mich nicht rühren.
„Was ist dein beschissenes Problem? Hm?“
Ich sehe, wie Chris die Hände zu Fäusten ballt und aufsteht. Bereit uns mit allen Mitteln zu verteidigen. Er meinte einmal, er würde für mich ohne zu Zögern in den Tod gehen und wir beide wissen, dass es jetzt kein zurück mehr gibt. Die ganze Aufmerksamkeit im Saal liegt auf uns beiden. Alle haben gesehen, was wir getan haben und was wir sind. Selbst Sarah hat sich zu uns umgedreht und nimmt mich zum allerersten Mal bewusst wahr. Mein Abschiedsbrief ist nun überflüssig. Keiner würde mehr die Lügen glauben, die dort stehen und mir wird klar, dass ich diese Welt als die Enttäuschung verlassen werde, die ich bin. Ich habe Schande über meine Familie gebracht. Schande, die ewig auf ihnen lasten wird, selbst dann wenn ich nicht mehr da bin. Sie werden es nicht verstehen, sie werden mich verurteilen und viel schlimmer, sie werden es mir niemals verzeihen können.
„Ja, du widerliche Schwuchtel, nehmt euch ein Zimmer, ihr Missgeburten“, brüllt einer aus den hinteren Reihen und lacht. Ein Teil des Hörsaals stimmt mit ein. Andere schweigen. Doch in meinem Kopf quietschen sie alle wie eine Horde Schweine kurz vor der Schlachtung. Wie passend. Wie verdammt passend.
“Der Einzige, der hier widerlich ist, bist du“, zischt Chris und ich denke an eine Zukunft, die wir beide vielleicht in einem anderen Leben oder in einer anderen Welt hätten haben können, während das abfällige Gelächter aus den hinteren Reihen immer lauter wird. Ohrenbetäubend laut, bis all meine Gedanken an die Zukunft in dem abartigen Orchester untergehen und das Lachen droht mein Trommelfell zu zerbersten. Oder bin ich der, der gleich platzt? Platze ich? Platzen nun all die jahrelang verdrängten Gefühle aus mir heraus? Jetzt gerade? In diesem Moment? In dieser Sekunde? Ein Knall und es kehrt schlagartig Ruhe ein.
Alle Augen sind auf mich gerichtet. Starren mich an. Der Schock steht ihnen in die Gesichter geschrieben, als die Katze aus dem Sack gelassen ist und der Übeltäter schwer in meiner Hand liegt. Der Startschuss ist gefallen. Stühle werden verrückt, Panik bricht aus.
„Beruhigt euch“, versucht der Professor die angespannte Lage zu retten, doch die Menge drängt sich an ihm vorbei, verlassen wie die Ratten das sinkende Schiff. „Bitte beruhigt euch”, der Professor hält die Hände verzweifelt in die Höhe, die Tränen steigen ihm in den Augen. „Amir, bitte, bitte leg die Waffe weg, bitte“, fleht er und wird beinahe von einer der Ratten umgestossen. Er wiederholt eisern die Bitte, aber sein Flehen kommt nicht gegen den Lärm und die Schreie an.
Wie paralysiert halte ich die Waffe in die Menge und spüre wie mir die Zeit Korn um Korn wie Sand in einer Sanduhr entgleitet. Ich muss handeln, aber der Finger am Abzug zittert unaufhörlich. Doch dann taucht Chris in meinem schwindenden Sichtfeld auf. Seine warme Hand legt sich auf meine Schulter. „Bist du dir wirklich sicher?“, fragt er ein allerletztes Mal. Ich nicke vorsichtig, unsicher ob ich mir wirklich sicher bin. Um uns herum tobt das pure Chaos, nur zwischen Chris und mir herrscht eine abstrakte Ordnung. Egal wie meine endgültige Entscheidung ausfallen wird, er wird bis zum Ende an meiner Seite bleiben und das obwohl unsere Verbindung von Anfang an mehr Fluch als Segen war. Heimliche Treffen, Verleugnung und Abweisung. Mein ganzes Leben lang habe ich mich für einen Fehler gehalten und Chris das auch immer wieder spüren oder fühlen lassen. Teilweise mit Worten oder auch Gewalt. Doch egal, was ich getan habe, um ihn von mir zu stoßen, er hat mich niemals fallen lassen und er würde es auch jetzt nicht tun.
Ich wusste stets, dass das, was ich für ihn empfinde falsch ist und dass wir niemals glücklich miteinander werden könnten. Als Mann einen Mann zu begehren ist widerwärtig. Gegen die Natur. Gegen meinen Glauben und gegen all das, was meine Familie von mir erwartet. Ich sehe Chris an und da ist es wieder, dieses Lächeln, das ich so sehr liebe. Vielleicht, ja,… vielleicht täusche ich mich und nicht wir sind das Problem. Vielleicht ist die Gesellschaft das Problem. Diese Intoleranz gegen alles, was widernatürlich ist oder einem gar widerstrebt. Ich zögere und senke die Waffe. Doch dann denke ich an meine Familie, an meinen Glauben, und woher ich komme und merke, dass das alles Wunschdenken ist. Ich bin geblendet, fehlgeleitet. Handle egoistisch und selbstgerecht, denn genau das ist es, was ich hier gerade tue. Und ich schäme mich. Ich schäme mich so sehr für das, was ich bin, dass ich die Waffe gegen Chris Schläfe drücke und die einzige Entscheidung fälle, die nicht nur ihn, sondern auch mich umbringt. “Fass mich nie wieder an, du widerliche Schwuchtel”, brülle ich und bringe mit einer einzigen Kugel zwei Könige zum Fall. Noch mehr Schreie erklingen. Der Hörsaal färbt sich blutrot. Wir sind alle nur Figuren in einem Spiel, das sich Leben nennt. Ich habe meinem Leben die Chance zu lieben verwehrt, doch im Tod, fernab von allem, sind Chris und ich auf ewig vereint.
Schachmatt.