
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Lieber Freund,
ich weiß, wir haben schon lange Zeit nicht mehr miteinander gesprochen, und ich wünschte, unsere Wege hätten sich nicht auf diese Art und Weise getrennt, doch nun bist du die einzige Person, der ich das anvertrauen kann, was ich zu erzählen habe. Weder meiner Familie noch meinen engsten Freunden hatte ich je beichten können, was sich damals ereignet hatte. Damals, als die ersten Bomben fielen.
Vielleicht ist es sogar gut, dass sich unsere Wege nach jenem verhängnisvollen Tag schieden, denn nun weiß ich mit Sicherheit, dass ich mein Geheimnis mit dir zu teilen vermag. Hätte unsere Freundschaft nämlich nicht damals ihr Ende gefunden, so hätte sie es spätestens nach diesem Brief getan, den ich dir voller Schmerz schreibe.
Es ist schon so viele Jahre her, doch es nagt weiterhin jeden Tag an meiner Seele und droht sie allmählich gänzlich zu verschlingen. Es geschah alles in der Nacht vom 23. bis 24. Februar 1944. Sicher kannst auch du dich noch an Bruchstücke dieses Tages erinnern. Jeder in Runan wusste, was er in dieser Nacht getan hatte und wie ein jeder reagierte, als sie den ersten Knall hörten und zum ersten Mal diesen grässlichen Geruch von Asche und Rauch wahrnahmen.
Wir waren zwar noch Kinder, gingen noch nicht einmal in die Schule, doch auch du wirst sicherlich wissen, was du an diesem Abend getan hast. Ich erinnere mich an jede einzelne, schmerzende Sekunde. An jeden der marternden Augenblicke, die sich mir stets bildlich offenbaren, sobald ich meine Augen schließe. Noch immer beginnen mir die Tränen der Angst und gleichzeitig auch die der Reue über die Wangen zu laufen, wenn mich die Vergangenheit auf diese Weise einholt.
Als die erste Bombe fiel, befand ich mich ganz in der Nähe der Stelle, an der sie einschlug – dem Friedhof. Ich weiß noch genau, wie sehr meine Ohren schmerzten und wie ich mir die Augen zuhielt, um sie vor dem umherfliegenden Staub und dem ganzen Dreck zu schützen, den die Explosion aufgewirbelt hatte. Mein Gott, was hatte ich für eine Angst empfunden. Ich werde es wohl nie in Worte fassen können, so sehr ich es auch zu versuchen mag. Ich wollte damals nur das Grab von Mutter besuchen, wie ich es jeden Abend tat. Eigentlich durfte ich nach Sonnenuntergang das Haus nicht mehr verlassen, doch für diesen Anlass machte mein Vater stets eine Ausnahme.
Er muss krank gewesen sein vor Sorge, als er den Knall vernahm und aus dem Fenster sah, nur um zu erkennen, dass der Rauch und das Feuer von dem Ort kamen, zu dem er sein einziges Kind hatte gehen lassen. Während er sich vermutlich die schlimmsten Szenarien ausmalte und glaubte, mich für immer verloren zu haben, kroch ich auf allen Vieren an den Gräbern vorbei und versuchte, in all dem Chaos den Ausgang zu finden und so schnell wie möglich heimzulaufen. Und als der Wind den größten Teil des Staubs davontrug und sich meine Sicht verbesserte, da konnte ich ihn zum ersten Mal verschwommen in der Ferne erblicken.
Er war nur ein Schatten, eine Silhouette in der schwarzen Nacht, und wenn der Mond nicht so hell geschienen hätte, dann wäre er meinen Augen wohl verborgen geblieben. Was hätte mir dies doch für einen Schrecken erspart. Zunächst lief ich ihm hinterher, wollte mit seiner Hilfe diesem Ort des Grauens entkommen, doch ich verlor ihn alsbald aus den Augen und stand abermals alleine im Dunkeln.
Und als ich da so stand, einsam und verlassen, den Tränen nahe und voller Furcht, da vernahm ich diesen Klang. Ich wusste nicht, was es war. Es klang wie kein vertrautes Geräusch und doch meinte ich es wiederzuerkennen. Als ich langsam zurückwich, denn ich wollte um keinen Preis dem Ursprung dieses Geräusches gegenüberstehen, stolperte ich über etwas, das ich zunächst mit einem großen Ast verwechselte. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich allerdings, dass es etwas ganz anderes war, und obgleich es an sich nichts Unheimliches an jenem Gegenstand gab, so jagte es mir dennoch einen kalten Schauer über den Rücken.
Gerade als ich mich wieder aufgerichtet hatte, hörte ich das Geräusch erneut. Diesmal lauter – näher. Und nun erkannte ich es wieder. Es war derselbe Klang, den Vater immer machte, wenn er unseren alten Hund Gunter rief. Es war ein Schnalzen, jedoch war es deutlich lauter, als ich es gewohnt war. Nicht einmal Vater hatte es so laut gekonnt. Ich spürte, wie die Angst meinen Hals emporkroch und sich so fest darin verkrallte, dass mir die Luft zum Atmen für einige Sekunden verwehrt blieb.
Und als ich mich umdrehte, starrte ich nur in ein mondweißes Augenpaar, das mit einer unheilvollen Leere an mir vorbeizusehen schien. Für einen kurzen Moment stand ich nur da, steif wie eine Statue, und starrte dem Fremden ins leichenblasse Angesicht. Ich hatte Angst, oh großer Gott, und was für eine Angst ich hatte. Dieser Mann hatte solch ein groteskes Aussehen; sein Rücken war gekrümmt, seine Arme seltsam verdreht und dazu schlug er mit den Armen ziellos durch die Dunkelheit, wobei er unaufhörlich dieses fürchterliche Schnalzen von sich gab.
Klack! Klack! Klack!
Ohne Unterlass fuhr er mit diesem Geräusch fort, schlug dabei hektisch um sich und kam Schritt für Schritt immer weiter auf mich zu. Und ich – ich stand nur da und konnte mich vor lauter Angst nicht rühren. Es war so grotesk und grauenerregend, dass es mir bis heute noch wie ein Alptraum anstatt wie eine Erinnerung vorkommt. Dieser Mann schien wie ein Wesen aus einer fremden Welt, einer Welt des Horrors und des Schreckens. Nicht einmal meine kühnste Fanatsie vermochte bis heute etwas zu kreieren, das den Schrecken widergespiegelt hätte, der von dieser Person ausging.
Und dann fasste er mich plötzlich an. Ich wusste nicht, wie mir geschah, und dies ist bis heute der Teil jener besagten Nacht, an den ich mich am wenigsten erinnere. Vermutlich saß der Schock, der mich in diesem Moment ergriff, einfach zu tief, als dass ich noch klar denken konnte. Alles, was mir von diesem Augenblick in Erinnerung blieb, war, dass ich mich von seiner Hand losriss, er einen markerschütternden Schrei von sich gab und ich so schnell, wie ich nur konnte, zu rennen begann. Ich rannte und rannte, drehte mich kein einziges Mal um, und während ich für eine schier endlos lange Zeit den Ausgang suchte, ertönte hinter mir immer wieder mal das laute und nervenaufreibende Schnalzen, das mir bis heute den Schlaf zu rauben vermag.
Irgendwann, nach bestimmt einer ganzen Stunde, erblickte ich endlich das große, stählerne Eingangstor des Friedhofs in der Ferne. Mir war kalt, so war der Februar nun einmal. Die Nacht und die Winde des Winters hatten meine Kräfte beinahe vollständig zuneige gehen lassen, doch die Angst hatte mich gerettet. Vermutlich wäre ich erfroren, wenn nicht dieser Mann gewesen wäre, und wenn mich mein pausenloses Rennen nicht warm gehalten hätte, so hätte ich mich gleich in eines der Gräber legen können, die durch die Explosion freigelegt worden waren. Doch dies war nicht der Fall, denn ich hatte das Tor gefunden, und wie ich auf dieses zulief, kam mir auch schon ein vertrautes Gesicht entgegen.
Als ich meinem Vater um den Hals fiel und er mich glücklich und im höchsten Maße erleichtert auf den Arm nahm, begann ich laut zu weinen. Den unheimlichen Mann, der noch immer über den Friedhof zu wandeln schien, erwähnt ich mit keinem Wort.
Die Nacht des Grauens war vorüber und ich beschloss, sie so schnell ich konnte zu vergessen. Das Interessante ist, dass ich dies beinahe vollbracht hatte. Ein Zeitungsartikel, den mir mein Vater nur wenige Tage später vorlas, machte all dies jedoch zunichte und ließ mich in die Misere driften, in welcher ich mich nun schon seit Jahrzehnten befinde.
Es war ein kleiner Artikel, kaum von Bedeutung für die meisten. Warum auch? Schließlich hatten die Bomben, welche der ersten folgten, deutlich wichtigere Orte als den Friedhof zerstört und ganze Existenzen vernichtet, während die erste Bombe lediglich ein Todesopfer zur Folge hatte. Dieses eine Opfer jedoch war es, das meine Erinnerungen an jene Nacht festigte und sie in etwas umso Schrecklicheres verwandelte.
Wilhelm Schaffraud war sein Name gewesen. Ein einfacher Bürger, wie ich einer war, allerdings mit einem bedeutsamen Unterschied. Er war von Geburt an blind. Aussagen zufolge sei er in jener Nacht auf den Friedhof gegangen, um das Grab seiner Mutter zu besuchen, genauso wie ich es getan hatte. Er kannte den Weg, ging ihn seit bereits 20 Jahren, und was hätte es denn auch für Anzeichen dafür geben können, dass ausgerechnet an diesem Abend eine Bombe nur 30 Meter neben ihm einschlagen würde?
Dass er alleine die Explosion überlebt hatte, schien für die Ärzte bereits ein Wunder zu sein, und keiner wusste, wie er es zustande gebracht hatte, sich vor noch größerem Schaden zu schützen. Jedoch blieb er weißgott nicht unverletzt. Laut des Artikels hatte die Explosion seine Beine geschädigt und seine Arme mehrfach gebrochen. Sofort kam mir das Bild dieser verdrehten Arme in den Sinn, die solch eine grässliche Haltung angenommen hatten, dass sie auf mich schon gar nicht mehr wie wirkliche Arme wirkten.
Offenbar hatte er schreckliche Schmerzen durchleiden müssen, und da er sein Augenlicht sowieso eingebüßt hatte und keine andere Möglichkeit zur Orientierung hatte, begann er mit der Zunge zu schnalzen. Ich hörte später noch einige Berichte von Blinden, die sich auf diese Art und Weise zurechtfanden. Es funktioniert ähnlich wie die Echo-Ortung bei Fledermäusen und wird anscheinend immer häufiger von blinden Menschen angewendet.
Letztendlich starb er jedoch nicht an den Folgen seiner Verletzungen. Stattdessen besiegelten die kalten Wetterbedingungen sein Schicksal. Er erfror, einsam und alleine gelassen mitten auf dem ansonsten menschenleeren Friedhof. Menschenleer – wäre es doch nur so gewesen. Ich war nur ein Kind, wusste nicht, dass der Mann vor mir Höllenqualen litt und einfach nur ärztliche Hilfe wollte, um wie ich nach Hause zu kommen. Doch ich verwehrte ihm das Recht auf Rettung. Meine Angst brachte mich in Sicherheit, ihm jedoch brachte sie den Tod.
Du magst nun vielleicht denken, dass es nicht meine Schuld sei. Dass ich nichts tun konnte, da ich ja nur ein kleines Kind war, das nicht wusste, wie ihm geschah, doch das ist eine Aussage, über die ich selber schon oft nachgedacht habe und die laut mir nicht Ausrede genug ist. Ich hatte alles, was es brauchte, um ihn in Sicherheit zu bringen, doch stattdessen bin ich davongerannt.
Ich konnte es niemandem erzählen – außer dir, alter Freund. Verzeih mir, dass ich dich mit dem Wissen um mein dunkelstes Geheimnis belaste, doch ich musste mir dieses Ereignis von der Seele schreiben, ehe es mich vollends aufzufressen begann. Vermutlich wird nach diesem Brief alles wieder seinen gewohnten Lauf nehmen und zwischen uns wird weiterhin Schweigen eintreten, doch dass ich dir all dies erzählen konnte, werde ich dir bis zum Ende meines Lebens niemals vergessen.
In ewiger Dankbarkeit
Dein alter Freund