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Der Fremde, der den Weg nach Hause kannte – Adventskalender 2019

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Türchen 9

Autor: Vanum

Der Fremde, der den Weg nach Hause kannte

Wieder bläst mir der Wind Eiskristalle ins Gesicht. Die Kälte beißt immer stärker in die Haut, seit es zu dämmern beginnt. Der Himmel zieht sich zu. Bald wird es schneien.
„Wir sind bald da. Da sind wir doch, oder, Rudolph?“, keuche ich gegen den Wind. Eigentlich rede ich mit mir selbst, damit ich durchhalte. Rudolph geht vor mir. Ich bin froh, dass er vorangeht, weil ich in seine Fußstapfen im knietiefen Schnee treten kann und damit Kraft spare.
Wir müssen den Schlitten mit der kostbaren Fracht ins Dorf bringen, sonst ist alles verloren.
Ich keuche und lehne mich etwas fester in den Riemen. Die Hunde sind vorgestern in der Kälte krepiert. Da kam der Wetterumschwung und alles wurde schwierig.
Seitdem ziehen Rudolph und ich den Schlitten selbst.

„Ist nicht mehr weit“, keuche ich, „Vielleicht schon hinter dem nächsten Hügel.“
Oh, wäre das schön, wenn das Dorf hinter dem nächsten Hügel liegen würde.
Meine Frau und meine Tochter backen Weihnachtsplätzchen und die Stube riecht nach Tannenzweigen, Vanille und Zimt.
Der eisige Wind fährt mir unter die Kapuze und greift mit eisigen Klauen nach meinem Nacken. Ich ducke mich in den Sturm und schreite weiter.
„Rudolph, vielleicht liegt Dorf schon hinter dem nächsten Hügel. Was meinst du?“
Er antwortet nicht. Wahrscheinlich hört er mich gar nicht, weil der Wind zu laut um uns herum heult.
Aber er hält auch nicht an. Zielstrebig und unermüdlich stapft er einfach weiter durch den knietiefen Schnee und findet für uns und den Schlitten mit der kostbaren Fracht einen Weg. Einen Weg nach Hause. Naja, jedenfalls mein Zuhause. Ich weiß nicht, wo Rudolph herkommt, aber ich bin froh, dass ich ihn gefunden habe und er mir den Weg weisen kann.

Der Riemen wiegt immer schwerer über der Schulter, als wollte der Wind den Schlitten fortreißen.
Aber das lasse ich nicht zu. Die Fracht muss ins Dorf, sonst wird es dieses Jahr ein trauriges Weihnachten geben, ohne Kinderlachen, Singen und Spielen. „He, Rudolph, sag, ist es noch weit?“, keuche ich wieder. Jeder Schritt ist eine Anstrengung, zu der ich mich zwingen muss. Aber es ist notwendig. Rudolph antwortet nicht. Die Dämmerung verschluckt seine Konturen zusehends. Bald ist er nur noch ein düsterer Schemen vor mir. Der Wind pfeift immer wütender und zu allem Überfluss beginnt es jetzt auch noch zu schneien.

Ob Rudolph wirklich den Weg kennt? Oder leitet er mich in die Irre? Aber was hätte er davon? Er wäre genauso verloren wie ich. Eigentlich heißt er ja gar nicht Rudolph, fällt es mir wieder ein. Ich habe ihm den Spitznamen gegeben, weil seine Nase blauschwarz verfärbt ist. Die typische Farbe einer Erfrierung der Stufe 3. Sicher fällt sie bald ab und dann hätte sein Gesicht Ähnlichkeit mit dem Antlitz des leibhaftigen Todes. Aber der Gedanke war zu gruselig, deshalb nannte ich ihn Rudolph. Seinen richtigen Namen hat er mir ja auch nicht gesagt. Hoffentlich habe ich keinen Fehler gemacht. Der Schlitten muss ins Dorf, egal was es kostet. Als Rudolph sagte, dass er den Weg kenne, musste ich ihm einfach vertrauen. Mir blieb nichts anderes übrig.

Das Zwielicht schwindet jetzt immer schneller und ich kann ihn kaum noch vor mir ausmachen. Er muss aber noch da sein, denn der Riemen des Schlittens steht straff in der Luft. Trotzdem unheimlich.
„Hallo da vorne! Bist du noch da?“, rufe ich. Der Wind reißt mir die Worte von den Lippen und verschluckt sie. Aber der Riemen erzittert kurz. Zweimal wird daran gezogen. Ja, er ist noch da. Ich ziehe ebenfalls zweimal zur Antwort.
Wir sind nur wenige Schritte voneinander entfernt und können uns im Schneegestöber doch nicht sehen. Das schwindende Licht und der wirbelnde Schnee führen ein graues Eigenleben, sodass ich meinen Augen nicht trauen kann. Rudolphs Fußstapfen scheinen sich manchmal zu bewegen, sodass ich die Spur manchmal verfehle. Misstrauen schleicht sich in meine Gedanken. Kann ich meinem Führer wirklich trauen? Kann ich der Spur zu meinen Füßen trauen?
Doch mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, denn ich kenne den Weg nicht.

Wie findet sich Rudolph nur in dieser weißen Hölle zurecht? Kein Mensch kann durch einen Schneesturm navigieren. Wer – nein – was ist er eigentlich wirklich? Der Sturm peitscht mir Schnee ins Gesicht. Ich keuche, ziehe den Kopf zwischen die Schultern.
Für Reue ist es zu spät. Ich kann nur weitergehen. Sobald ich stehenbleibe, werde ich erfrieren.
Das weiß ich, aber sowas darf nicht geschehen.
Der Schlitten muss verdammt noch mal ins Dorf. Ich muss nach Hause. Um jeden Preis.

Ich spüre weder meine Zehen noch meine Finger. Meine Schulter schmerzt, da wo der Riemen mit Macht an mir zieht. Nein, eigentlich ziehe ich ja an dem Riemen, damit der Schlitten weiterfährt. Was für ein Pech, dass die Hunde erfroren sind. Die armen Hunde. Gute, treue Tiere waren das. Sie fehlen mir. Sie würden Schlitten sogar durch diese graue Suppe ziehen und ich hätte auf dem Schlitten sitzen können. Vielleicht wäre ich auch schon längst wieder Zuhause. Ach, wenn ich doch schon Zuhause wäre. Vor dem prasselnden Kaminfeuer könnte ich meine Hände wärmen. Den warmen Schein des Feuers im Gesicht fühlen, statt des eisigen Windes. Aber so weit ist es noch nicht. Ich muss erst den Schlitten ins Dorf bringen. Wenn ich versage, fällt Weihnachten dieses Jahr aus. Die verheulten Gesichter will ich mir gar nicht vorstellen.

Der Sturm gaukelt mir Schemen aus dem Augenwinkel vor. Monster greifen mit entstellten Klauen nach mir. Mehr als einmal erschrecke ich mich vor dem Brausen, dass die Stimmen meiner Liebsten nachzuahmen scheint.
„Rudolph, der Sturm wird immer schlimmer, merkst du das auch?“, ich bin mir nicht sicher, ob Rudolph davon etwas merkt. Er scheint überhaupt keine Notiz vom Wind zu nehmen. Er schreitet weiter wie ein Uhrwerk. Im Gegensatz dazu kämpfe ich mit meinen Beinen, die immer schwerer werden. Jeder Schritt wird zu einer Überwindung, die ich nur mit größter Konzentration und Willenskraft bewältige. Noch ein Schritt und noch ein Schritt. In drei Schritten sehe ich sicher das Dorf aus der Ferne. Dann ist es nicht mehr weit. Dann kann ich im warmen Bett liegen und schlafen. Ja, schlafen. Oh, ich bin so müde.

Jemand packt mich grob an der Schulter. Ich reiße die Augen auf und finde mich am Boden liegend wieder. Der Schnee reflektiert nur noch schwach das letzte Zwielicht, aber trotzdem sehe ich Rudolph, der sich zu mir herunterbeugt. Die Nase ist abgefallen. Jetzt sieht er wirklich wie der leibhaftige Tod aus. Entsetzen packt mich, ich schreie, schlage seinen Arm weg, bin bereit, um mein Leben zu kämpfen, aber stattdessen werde ich nur brutal auf die Füße gezerrt. Rudolph schüttelt mich und brüllt mich an. Es ist ein animalischer Laut, ohne Worte. Mein Blick klebt an der Stelle, wo eigentlich seine Nase sein sollte. Man kann ein Stück in seinen Schädel hineinsehen, oder zumindest bilde ich mir das ein. Es ist ja fast dunkel. Er beruhigt sich und klopft mir den Schnee von der Jacke.
„Nur noch den Hügel hinauf, dann liegt das Dorf auf der anderen Seite“, sagt er. Seine Grabesstimme klingt rau und kratzig, aber sie übertönt selbst das Heulen des Windes. Angst kriecht in mir hoch, ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin mitten in einem Schneesturm gefangen mit einem Fremden, der wie der leibhaftige Tod aussieht. Und alles, was ich mir wünsche, ist, dass mein Dorf hinter dem nächsten Hügel liegt. Kann ich ihm trauen oder liest er meine Gedanken, um mich in die Irre zu leiten und meine kostbare Fracht zu stehlen? Ich brauche die Fracht. Das Dorf braucht die Fracht. Vor allem aber meine Tochter. Ohne diese Fracht gibt es nie wieder Weihnachten. Unfähig zu reagieren, starre ich einfach in sein Gesicht. Dieses deformierte, missgestaltete Gesicht voller Erfrierungen und ohne Nase. Die Furcht droht mich zu überwältigen.

Plötzlich packt mich Rudolph und zwängt mir etwas zwischen die Zähne. Eine würzige, heiße Flüssigkeit rinnt meine Kehle hinunter und ich merke erst jetzt, wie durstig ich bin. Der Trank ist sirupartig und schmeckt leicht nach Haselnuss und Honig. Plötzlich wird mir ganz leicht ums Herz. Auch mein Körper scheint mit einem Mal alle Beschwerden der Reise zu vergessen, die Angst verschwindet, selbst der Sturm lässt im selben Moment nach. 

Ich werfe Rudolph einen verwirrten Blick zu und keuche ein „Dankeschön“, aber er schüttelt nur den Kopf. „Das hält nicht lange“, erwidert er. „Du wirst sterben, wenn du dich nicht beeilst, aber es ist jetzt nicht mehr weit. Schau, wir sind bereits im Birkenhain, der dein Dorf umgibt, und du musst nur noch den Hügel hinauf, um die Lichter der Häuser sehen zu können.“
Ich folge seinem ausgestreckten Arm mit dem Blick und kann tatsächlich den vertrauten Birkenhain erkennen. Der Schnee scheint federleicht in der Luft zu hängen, der Wind hat eine Pause eingelegt. Wie kann das sein? Habe ich mir den Sturm nur eingebildet? Oder hat der sonderbar würzige Trank etwas damit zu tun? Ich verschiebe meine Fragen auf später, denn es gibt Wichtigeres, jetzt, wo ich wieder ein paar Kräfte sammeln konnte.

Mit frischem Mut fasse ich den Riemen des Schlittens fester und stapfe los. Rudolph bleibt zurück. Er hat mir den Weg gewiesen, wie er es versprochen hat. Ein Nicken und ein Blick unter Männern, die dem Tod ins Auge gesehen haben. Kein Abschied, keine ergreifende Dankesrede. Er weiß, was auf dem Spiel steht, wenn ich die Fracht nicht ins Dorf bringe.

Der Schlitten scheint überhaupt kein Gewicht mehr zu besitzen und der knietiefe Schnee hat kaum Widerstand. Ich schreite eilig voran, nähere mich der Hügelkuppe. Kurz bevor ich ins Tal sehen kann, spüre ich jedoch schon, wie die Wirkung des Trankes nachlässt und der Wind wieder grässlich an mir zerrt. Da, ich kann das Dorf sehen! Ab jetzt geht es nur noch bergab. Ich kann mich auf den Schlitten setzen und muss nur noch lenken. Der Fahrtwind pfeift mir um die Ohren. Der Schlitten beschleunigt immer weiter, aber ich kann nicht mehr bremsen. Der Trank hat aufgehört zu wirken und mein Körper spürt die Strapazen nun doppelt so schlimm.
Trotzdem bleibt der Schlitten auf Kurs, zielt auf das trübe, gelbe Licht im Zentrum der Ansammlung gedrungener Hütten. Im letzten Moment drifte ich doch etwas ab, aber das ist nicht weiter tragisch. Der Schlitten kracht gegen eine Häuserwand und kommt abrupt zum Stehen. Ich werde durchgeschüttelt, aber nicht von meinem Sitz auf dem Schlitten geworfen.

Die Fracht scheint unbeschädigt. Gut, ich habe es geschafft. Auch wenn ich nicht mehr aufstehen kann, morgen werden sie mich schon finden. Dann wird alles gut. Weihnachten wird ein Fest, wie es sich gehört. Niemand muss traurig sein. Es fällt mir schwer, die Augen offen zu halten. Die Kälte dringt nicht mehr zu mir vor. Eigentlich ist mir sogar recht angenehm warm.
Der Sturm gaukelt mir die Stimmen der Dorfbewohner vor.
„Er ist es!“
„Er hat es geschafft!“
„Das Penicillin ist eingetroffen!“
„Wir sind gerettet!“

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