Der tote Mann von Isla Vista
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
1. Zeitungsartikel: Tragödie
Isla Vista, Kalifornien
Familiendrama kostet Vier Menschen das Leben
[Aus The — Daily, 6. Juli]
Isla Vista scheint vom Pech verfolgt zu sein. Gerade einmal eine Woche nach dem mysteriösen Fund eines gehäuteten Mannes, dessen Identität weiterhin ungeklärt bleibt, erschüttert bereits das nächste tragische Ereignis den Frieden der beschaulichen Gemeinde. Am Mittwoch, dem 5. Juli 2017, fand man die Leichen der Familie Hayward in ihrem Haus im Osten der Kleinstadt. Zuerst bemerkten Nachbarn einen beißenden Geruch, der vom Grundstück der Haywards über die Straße zog, woraufhin sie die Polizei verständigten. Die Ermittler fanden die zwei Töchter (9/12 J.) sowie deren Mutter und Vater tot im Untergeschoss vor. Sofort vermuteten sie Tod durch stumpfe Gewalteinwirkung. Der Gerichtsmediziner bestätigte diese Annahme.
Auch wenn die Experten der Polizei bis jetzt nicht in der Lage waren, den exakten Tathergang zu rekonstruieren, ist davon auszugehen, dass der Vater der Familie für den Tod seiner Frau und Töchter verantwortlich ist. Im Anschluss an seine Tat nahm er sich selbst das Leben. Ein genaues Tatmotiv konnte bis dato nicht ermittelt werden, aber die Vermutungen der Ermittler nennen einen außer Kontrolle geratenen Ehestreit unter Alkoholeinfluss als wahrscheinlichste Ursache.
Die Nachbarn der Familie hingegen weisen jegliche Schuld vom Familienvater, der aufgrund seines Berufes als Oberarzt einer nahegelegenen Klinik und seiner Tätigkeit im Stadtrat ein überaus hohes Ansehen genoss. Nachforschungen in der Nachbarschaft ergaben, dass die Ehe der Haywards durchgängig als „mustergültig“ und „harmonisch“ beschrieben wurde. Einen Anlass zu Ehestreits hätte es somit nicht gegeben. Auch bezweifelte eine Anwohnerin, dass „Benjamin (so der Name des Vaters) das Zeug zum Mörder gehabt hätte.“
Doch darin liegt der entscheidende Trugschluss. Bereits in der Vergangenheit zeigte sich häufig, dass Psychopathen keine zwielichtigen Gestalten in düsteren Kutten sein müssen, sondern mehrheitlich als charmante, angepasste Bürger erscheinen, wie die Fälle von z.B Ted Bundy oder J.W. Gacy bereits gezeigt haben.
In Zukunft kann man nur hoffen, dass sich die Situation in Isla Vista schnell normalisiert und die Bewohner wieder in Ruhe ihrem Leben nachgehen können, doch nach den Ereignissen der letzten Wochen scheint dies vorerst unmöglich.
2. Ein Schatten über Isla Vista
Wir hatten gerade fertig gefrühstückt. Vater verließ das Haus und ging auf Arbeit. Den Abwasch des vom Frühstück angefallenen Geschirrs erledigte Mutter wie immer gewissenhaft, obgleich etwas hastig, denn auch sie musste bald ihren Arbeitsweg antreten.
„Chris, du hast doch fürs Erste sowieso zu viel Freizeit, oder? Könntest du dich bitte ums restliche Geschirr kümmern?“
Mit diesen Worten verabschiedete sie sich von mir und brach auf. Und sie hatte recht; in den Semesterferien wusste man nie so recht, was man mit seiner Zeit anfangen sollte. In diesem Sinne war der College-Alltag entspannter, denn man musste sich nicht ständig den Kopf über Derartiges zermartern. Ich nahm mir die schmutzigen Kaffeetassen und spülte sie ab.
Während ich sie abtrocknete, blickte ich aus dem Küchenfenster. Es war ein strahlender Sommertag. Wenn man den azurblauen Himmel ansah, der sich bis zum Horizont (und wahrscheinlich noch viel weiter) erstreckte, fühlte man sich fast wie in einer Episode Baywatch. Sicherlich hätte ich einige meiner Freunde für den Strand gewinnen können; wahrscheinlich waren manche von ihnen sogar schon dort, immerhin hätte es keine besseren Voraussetzungen für einen Strandbesuch geben können: Nicht nur war das Wetter perfekt, auch der Strand dürfte so gut wie leer gewesen sein, denn die meisten älteren Anwohner waren nach den Ereignissen der letzten Wochen nicht in Sommerstimmung.
Es war schon beängstigend, wie die Welt der Erwachsenen aus den Fugen geriet, nur weil ein paar Menschen, die für sie höchstens entfernte Bekannte waren, aus dem Leben schieden. Doch es schien sie zu bedrücken, das merkte ich auch an meinen Eltern. Seit dem Amoklauf Elliot Rodgers hatte ich die Stadt nicht mehr so in sich gekehrt erlebt, und obgleich das Wetter nichts als Sonnenschein zu bieten hatte, merkte man, wie sich ein Schatten über Isla Vista legte. Uns Studenten hingegen, egal wie herzlos das auch klingen mag, bewegten solche Neuigkeiten nicht sonderlich. Die meisten von uns waren zu sehr mit dem Studium oder ausufernden Feiern beschäftigt. Es hätte mich nicht einmal gewundert, wenn, außer den Lehrkräften, niemand am Santa Barbara College Wind davon bekommen hätte, wäre es nicht das Gesprächsthema aller älteren Anwohner gewesen.
Nachdem ich das nun saubere Geschirr in den Schrank gestellt hatte, lehnte ich mich aus dem Küchenfenster und sah dem Baum in unserem Garten zu, wie er, vom sanften Wind beflügelt, seine Blätter wog. Sein Anblick gab mir Bestätigung, dass ein Strandbesuch tatsächlich eine gute Idee war. Auf der anderen Seite erinnerte ich mich an den Netflix-Probemonat, den ich eine Woche eher anmeldete und bis dahin kaum genutzt hatte. So verwarf ich den Kontakt mit der Außenwelt und setzte mich aufs Sofa. Vor dem Fernseher verging die Zeit wie im Flug, und bis ich ihn abschaltete, hatte sich der Himmel bereits von blau zu orange verfärbt. Jetzt sah das Meer wahrscheinlich noch traumhafter aus.
Mutter kam von der Arbeit nach Hause. Von ihrem Zwischenstopp beim Supermarkt trug sie zwei randvolle Einkaufstüten in den Händen, an denen sie sich sichtlich abmühte. Sie rief nach Vater, der ihr die Tüten abnehmen und deren Inhalt einräumen sollte. Dabei fiel mir auf, dass er noch nicht zu Hause war, was ungewöhnlich war, denn normalerweise hätte er schon vor einer Weile eintreffen sollen. Kurzerhand nahm ich Mutter die Tüten ab und brachte sie in die Küche, wo ich den Einkauf in die vorgesehenen Schränke räumte. Mutter folgte mir.
„Hast du eine Ahnung, wo dein Vater steckt?“, fragte sie, als sie mir beim Einräumen half.
„Nein, nicht den blassesten Schimmer. Jedenfalls war er seit heute früh nicht mehr zu Hause. Glaube ich zumindest“, antwortete ich.
„Eigenartig. Und, wie hast du deinen Tag verbracht?“
„Ich war am Strand. Mit Freunden war ich am Strand.“
„Schön, zumindest hast du deine Zeit sinnvoll genutzt.“
„Ja, sehe ich genauso.“
Ich setzte mich wieder vor den Fernseher. Mutter ging in den Garten, schloss die gläserne Schiebetür und beobachtete den Sonnenuntergang. Wenige Momente später klingelte es an der Tür. Das war wohl Vater, dachte ich mir, wurde auch Zeit, dass er erschien. Ich ging an die Tür, denn Mutter konnte die Klingel vom Garten aus unmöglich gehört haben.
„Guten Abend. Sind Sie der Sohn der Familie Summers?“ Es war eine ältere Frau aus der Nachbarschaft, an deren Namen ich mich nicht erinnern konnte. Ich erkannte sie an ihrer charakteristischen Bekleidung, denn ihre Garderobe bestand ausschließlich aus mit Bibelversen bedruckten, weißen T-Shirts.
„Ja, der bin ich“, antwortete ich. „Worum geht’s denn?“
„Sie haben doch sicher vom Unglück der Haywards erfahren. Selbstverständlich haben Sie das.“ Ihre hektische Sprechweise wirkte ansteckend.
„Hab ich tatsächlich. Der Mann der Familie ist durchgedreht oder so in der Art.“
„Sagen Sie so etwas nicht! Benjamin ist ein unschuldiges Opfer schlampiger Polizeiarbeit! Niemals hätte er eine solche Tat vollbringen können, da bin ich mir nicht nur sicher, sondern ich weiß es auch!“ Die Hysterie in ihrer Stimme machte das Zuhören unangenehm und ihr Reden unglaubwürdig.
„Wie können Sie sich da so sicher sein?“ fragte ich verwundert, „Ich meine, wieso sollte die Polizei über einen Toten lügen?“
„Aus Faulheit natürlich!“ begann sie zu kreischen. „Ich sage es Ihnen ganz ehrlich: diese ‚Profis‘ von der Polizei haben keinen blassen Schimmer, was hier eigentlich los ist! Die schauen sich den Tatort an, überlegen kurz, was statistisch gesehen am wahrscheinlichsten passiert ist, erzählen das dann den Zeitungsschreiberlingen, und wenn sie damit fertig sind, gehen sie nach Hause zu ihren Familien und sagen: ‚Also auf Arbeit, da war alles normal.‘ Dass sie gefährliche Lügen über einen unschuldigen Mann verbreitet haben, davon sagen sie natürlich nichts. Und dass der eigentliche Täter noch immer auf freiem Fuß ist, steht natürlich auch in keiner Zeitung.“
„Wie bitte?“ fragte ich perplex, als wachte ich aus einem Tagtraum auf. „Tut mir leid, dass ich ihren Worten nicht ganz folgen konnte, aber gibt es irgendwelche Gründe zur Sorge?“
„Und ob es die gibt! In der Tatnacht, ich habe es selbst durch das Fenster beobachtet, hat sich eine ominöse Gestalt durch den Garten der Haywards geschlichen. Es war zu dunkel, als dass ich ein Gesicht hätte erkennen können, aber die Silhouette war eine männliche, und sie begab sich in Richtung des Strandes, direkt nachdem die Tat vollbracht war. Ich sage Ihnen also, wenn euch euer Leben lieb ist, dann meidet die Straßen um diese Uhrzeit und schließt alle Fenster und Türen ab!“
„Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten“, versuchte ich sie zu beschwichtigen, „aber meinen Sie nicht, Sie reagieren ein wenig über? Auch mir tut leid, was den Haywards passiert ist, aber das ist doch kein Grund, Panik in der Stadt zu verbreiten. Viele haben sich in Benjamin Hayward getäuscht, da sind Sie nicht allein.“
Ihr Gesicht färbte sich knallrot, wobei sie sich sichtlich bemühte, die Fassung zu wahren. „Die ganze Stadt muss verrückt geworden sein,“ platzte es aus ihr heraus, „sich von einem so miserabel recherchierten Artikel blenden zu lassen! Ich werde um Ihre Sicherheit beten, aber seien Sie sich sicher, dass dieser Mann – dieser Wahnsinnige – jederzeit auch durch ihren Garten schleichen kann. Bitte sein Sie vorsichtig!“
Dann drehte sie sich um und ging. Ich kehrte ins Haus zurück und blickte ihr durch den Türspion nach. Anschließend klingelte sie am Haus auf der anderen Straßenseite. Scheinbar wollte sie die ganze Gemeinde von ihrer Theorie überzeugen. Eigentlich tat sie mir leid, immerhin begab sie sich in Lebensgefahr – wenn ihrer Vermutung denn zu glauben war – und das nur, weil sie sich um die Sicherheit der Stadt sorgte.
„Wer war an der Tür?“ fragte Mutter, als ich ihr im Wohnzimmer begegnete.
„So eine Frau aus der Nachbarschaft“, antwortete ich. „ Diese Ältere mit dem Jesus-Merchandise, um genau zu sein.“
Ich nahm an, Mutter wusste, wen ich meinte. Ich erzählte ihr grob den Ablauf des Gesprächs, aber ließ unwichtige Stellen aus, um den rein obligatorischen Informationsaustausch so kurz wie möglich zu halten. Sie hatte nichts dazu zu sagen, außer dass sie sich wunderte, wer noch alles an der Tür klingeln müsse, bis Vater endlich davor stehen würde, schließlich wurde es immer später.
„Sag mal, Chris, stört es dich, wenn wir später essen?“ fragte sie anschließend. „Ich würde gern warten, damit dein Vater mitessen kann.“
Einwände hatte ich keine, denn Hunger hatte ich auch nicht. Ich ging auf mein Zimmer und starrte aus dem Fenster, damit ich der Erste war, der sah, wie Vater seinen Mittelklassewagen in der Einfahrt parkte. Tatsächlich musste ich nicht lang warten; bereits eine Viertelstunde später war er eingetroffen, und als die Klingel ertönte, stand er vor der Tür.
„Bitte nehmt mir die Verspätung nicht übel, ich musste ein paar Überstunden schieben.“ Mit diesen Worten begrüßte er uns.
Während des Essens erklärte er den Grund seiner Verspätung ausführlicher. Anscheinend tauchten einige Leute im Büro nicht auf, entweder wegen Krankheit, oder sie nahmen sich Urlaub.
„Manchmal hat man einfach Pech“, sagte er mit halbvollem Mund. „Da suchen sich die Kollegen alle den selben Tag aus, um blauzumachen, und ich bleibe natürlich zurück und darf ihnen nacharbeiten.“
„Wird das die nächsten Tage so weitergehen?“ fragte Mutter, während sie genervt in ihrem Essen stocherte. Vater zuckte mit den Schultern und leitete damit eine längere Redepause ein.
„Weißt du schon das Neueste zum Fall der Haywards?“, sagte ich in Richtung meines Vaters, um die Stille zu brechen. „Benjamin Hayward ist gar nicht der Mörder. Der echte Mörder ist noch auf freiem Fuß, und als du gerade zu dieser späten Zeit nach Hause gefahren bist, hattest du echt Glück, dass du ihm nicht begegnet bist.“
„Die alte Frau Portman hat das gesagt“, fügte Mutter hinzu.
Vater legte das Besteck beiseite. „Das hat sie gesagt? Also wenn Frau Portman das gesagt haben sollte, dann würde ich darauf keinen Gedanken verschwenden.“ Er nahm die Gabel wieder und gestikulierte damit, als hätte sich sein Essen in die Luft erhoben. „Wenn Frau Portman etwas sagt, ist das Gegenteil richtig. Sie ist alt und verwirrt. Mit ihren Hirngespinsten hält sie sich bei Laune; darf man ihr nicht übel nehmen.“
„Aber wenn man genau überlegt“, sagte Mutter mit ernster Miene, „könnte an der Sache doch echt etwas dran sein, oder?“ Wir guckten sie verdutzt an.
„Ich meine,“ führte sie fort, „die Leiche vom Strand, eine Woche zuvor; der Mann hatte keine Haut. Auf natürlichem Wege stirbt man so nicht, offensichtlicherweise. Hat man da einen Mörder gefasst? Stand das in der Zeitung? Oder im Fernsehen, hat man darüber berichtet? Selbst wenn Benjamin Hayward der Mörder seiner Familie sein sollte, muss es doch da draußen noch etwas anderes geben, das diesem Mann das Leben gekostet hat. Schon allein der Gedanke macht mir Gänsehaut!“
Diesen Fall hatte ich schon längst verdrängt, aber was Mutter sagte, war nicht von der Hand zu weisen und beleuchtete eine ganz neue Seite des Schattens, der sich über Isla Vista gelegt hatte.
„Mach dich nicht verrückt!“ unterbrach Vater sie. „Der Fall wurde einfach aus den Medien verdrängt. Es passieren so viele verrückte Sachen in der Welt, dass so ein einzelner Mordfall nicht viel Aufmerksamkeit erregt. Sicher wurde der Mörder gefasst, darüber wurde bloß nicht berichtet. Würde hier weiterhin ein Wahnsinniger durch die Straßen laufen, hätte man doch davon erfahren. Die Medien stürzen sich doch wie Piranhas auf solche blutigen Nachrichten.“
„Du könntest ruhig etwas sensibler für dieses Thema sein, Dave, es gibt schließlich allen Grund, sich Sorgen zu machen!“ zischte Mutter ihm als Antwort entgegen.
Zwischen meinen Eltern herrschte nun merkliche Anspannung, dass, wenn man die Ohren spitzte, ein elektrisches Knistern in der Luft hören konnte. Ich saß dabei inmitten des Unwetterherdes und musste aufpassen, nicht von einem der Blitze getroffen zu werden. Es war lange her, dass sich meine Eltern zuletzt gestritten haben; scheinbar war großes Potential zur Entladung gegeben.
Wir verließen still und getrennt den Esstisch; die einzigen Geräusche, die das Haus erfüllten, rührten von den Bewegungen, die wir taten, um uns gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Ich für meinen Teil ging auf mein Zimmer und widmete mich der aristokratischen Disziplin, aus dem Fenster zu schauen und gar nichts zu machen. Mittlerweile schimmerten unzählige, silbrige Tupfen am Firmament. Blickte man nun auf das Meer wie auf einen endlosen Spiegel, hätte man zwischen oben und unten nicht unterscheiden können. Ob wohl der Tote vom Strand einen solchen letzten Anblick genießen konnte? Mit diesem Gedanken beschloss ich, zu Bett zu gehen und den Tag als abgeschlossen zu betrachten. Morgen konnte ich mir wieder den Kopf zerbrechen, was ich mit meiner Zeit anstellen sollte; vermutlich Netflix.
Nachts wachte ich auf. Lärm riss mich aus dem Schlaf, die Geräuschquelle war mir nicht bekannt, aber ich dachte mir, es war vermutlich ein vorbeifahrender Lastwagen oder betrunkene Studenten; das passierte häufiger. Zwar kehrte schnell wieder Ruhe ein, aber auf der Stelle wieder einzuschlafen gelang mir nicht. Mein Hals kratzte ein wenig. Bereits solch kleine Beeinträchtigungen bereiteten mir Probleme beim Einschlafen. Ich beschloss, in die Küche zu gehen und mir etwas Wasser aus der Leitung in ein Glas einzulassen. Das Haus schwieg wie ein Grab; meine Eltern mussten wohl schon geschlafen haben. Um sie nicht zu wecken, vermied ich es, das Licht anzuschalten. Ich kannte den Grundriss des Hauses ohnehin auswendig. Die Fähigkeit, mich in völliger Dunkelheit durch das Erdgeschoss zu navigieren, hatte ich im Muskelgedächtnis gespeichert, wie ein Tennisspieler den Aufschlag.
Trotzdem rutschte ich aus, als ich auf ein unerwartetes Objekt trat. Durch die Spitze meines Schuhs konnte ich die Art des Gegenstandes nur erahnen. Er gab meinem Gewicht sanft nach und erschien mir wie eine Art unsauber ausgelegter Teppich, der Falten warf, nur dass er etwas glatter war als eine typische Baumwollmatte. Darauf zu treten erinnerte mich an die Katze, die wir früher hatten. Auf die bin ich zwar nicht getreten, aber nicht selten stolperte ich auch über sie, wenn ich versuchte, mich durch das unbeleuchtete Haus zu bewegen. In meinem Kopf bestand kein Zweifel, dass das dort liegende Objekt, wie unsere Katze, organisch war. Beunruhigt ließ ich es an der Stelle liegen und ging zum nächsten Lichtschalter. Im Licht würde ich schnell verstehen, was es mit diesem Gegenstand auf sich hatte, dachte ich, und betätigte den Druckknopf. In Wirklichkeit benötigte ich jedoch einige Momente, bis ich realisierte, dass das fahle, knittrige Etwas, das sich dort auf dem Laminatboden ausbreitete, die vom Leibe getrennte Haut meines Vaters war. Wie ein eilig abgestreiftes, durch Blut krustiges T-Shirt lag sie dort, in einem Stück. Vom Skalp bis zu den Fußsohlen fehlte kein Quadratzentimeter Haut und auch das Tattoo, dass mein Vater in seiner Jugend stechen ließ, war unverkennbar. Kleine Risse in ihrer Oberfläche gaben mir den morbiden Eindruck, diese Haut eignete sich als Ganzkörperanzug, wenn sie nur nicht ganz so eng gewesen wäre. Ich spürte eine lauernde Präsenz im Haus; eine, die für die Haut im Wohnzimmer verantwortlich war und nun auf der Jagd nach der meinen und der meiner Mutter war.
Ich hatte das Bedürfnis laut aufzuschreien, doch der Rest an Vernunft, der mir noch blieb, lähmte mir die Stimmbänder. Jeder Ton, den ich von mir gab, hätte mein letzter sein können. Ich musste Mutter retten, sie durfte nicht auch Vaters Schicksal erleiden. Das Schlafzimmer meiner Eltern befand sich im ersten Stock, nahe meinem Zimmer; dort musste ich hin. Sofort knipste ich das Licht aus. Die totale Finsternis verhüllte augenblicklich jede menschliche Sicht, sowohl ich als auch der Mörder meines Vaters erblindeten auf der Stelle. Vor meinen Augen eröffneten sich groteske Schattenspiele, die als Ergebnis meiner verstörten Fantasie unsägliche Kreaturen hervorbrachte. Die klauenbewehrten Unholde, die sich im Schatten der Einrichtung und jeder Ecke des Hauses versteckten, wirkten im Delirium allesamt so wirklich wie der Mörder, der augenblicklich durch die Eingeweide des Hauses kroch und jeden Augenblick hinter mir stehen konnte, bereit, mir das Gerbermesser in die Kehle zu rammen, mit dem er bereits meinem Vater die Haut von den Muskeln schälte.
Lärm kam aus dem Obergeschoss. Ich rannte so schnell ich konnte durch die Dunkelheit in Richtung der hölzernen Treppe, die in den ersten Stock führte, ungeachtet der Tatsache, dass ich möglicherweise meinem Tod in die Arme lief. Als ich das Obergeschoss erreichte, kroch der bissige Geruch kalten Eisens in meine Nasenhöhlen. Ich vermutete das Schlimmste. Der Laminatboden unter meinen Sohlen war so rutschig wie ein gefrorener Teich, der Anfang des Frühlings zu tauen begann. Frisches Blut strömte über den Boden und ließ jeden meiner Schritte klingen, als watete ich durch einen tiefroten Tümpel. Ich verlor die Bodenhaftung und fiel vornüber. Mein Gesicht schlug auf eine warme Masse. Ich zog meinen Kopf aus der schleimigen Substanz und erblickte, durch die Dunkelheit hindurch, Mutters entstellte Gestalt. Der Bauch war aufgeschlitzt und ihre Eingeweide hingen ihr wie blutige Stränge aus der Magenhöhle. Blut strömte durch den offenen Schnitt und versuchte, ihre lebenswichtigen Organe zu erreichen, doch es gelang ihm nicht, die ihm vorgesehenen Bahnen zu durchfließen. Jede verzweifelte Kontraktion ihres sterbenden Herzmuskels klang wie ein unheilvoller Schlag an die Pforte zur Ewigkeit. Lautstark übergab ich mich in der Blutlache, während ich hilflos zusehen musste, wie Mutter langsam und qualvoll verendete.
„Mutter!… Mutter!“ schluchzte ich so leise wie menschenmöglich, doch es gelang ihr nicht einmal mehr, sich mit einem Todesröcheln von mir zu verabschieden.
Augenblicklich hörte ich ein Rumpeln aus der Richtung meines Zimmers. Mein Atem begann zu stocken, und für einen Augenblick glaubte ich, meine Lunge habe aufgehört zu arbeiten. Wie ein kriechendes Insekt bewegte ich mich durch die Tür, die zum Schlafzimmer meiner Eltern führte, in der Hoffnung, es würde mir gelingen, ein Versteck zu finden. Kräftige Schritte stapften langsam durch den Gang und folgten mir in den Raum, in dem ich mich augenblicklich befand. Je näher sie kamen, desto panischer zwängte ich meinen Körper in die viel zu kleine Kommode, die neben dem Bett meiner Eltern als Nachttisch diente. Unter normalen Umständen hätte selbst ein kleiner Mensch kaum hineingepasst, doch meine Not ließ die hölzernen Wände der Schublade um wenige Zentimeter expandieren, so dass es mir um eine Haaresbreite gelang, mich in die Kommode zu quetschen. Meine Sinne waren wie abgestorben. Eine Taubheit legte sich über meinen Körper, die mich daran zweifeln ließ, dass ich überhaupt noch am Leben war. Nach meinen Augen zu urteilen, war ich bereits tot, alles um mich herum war schwarz. Nur meine Ohren machten mir verständlich, dass ich das Schlimmste noch vor mir hatte. In der Dunkelheit des Schubfaches versteckt hörte ich das Stapfen des Wahnsinnigen, wie es näher kam und sich dann entfernte, nur um noch näher zu kommen. Ich hörte das Aufschlagen der Schranktüren rechts von mir und das Brechen des Bettgestells zu meiner Linken. Ein markerschütternder Schrei – das Produkt heißblütigsten Zorns – drang an meine gequetschten Ohrmuscheln. In einem Ausbruch blutgieriger Wut schien er das Mobiliar um sich herum zu zerschlagen. Ich lauschte dem Splittern eines Spiegels, dem Bersten der Holzschränke, Schlägen und Tritten, die er psychotisch auf die Kommode ausübte, in der ich mich vor ihm versteckte. Das leise Knacken zerbrechender Holzfasern zeugte davon, dass das Gehäuse nachzugeben begann. Mit jedem weiteren seiner Schläge spürte ich, wie ich der Ohnmacht Schritt für Schritt näherkam. Ein weiterer kräftiger Stoß ließ meinen Schädel gegen die Holzwand schmettern und ich spürte, wie mir Blut von der Stirn in mein Auge rann.
Darauf folgte Stille. Nur das panische Pumpen meines Blutes verursachte ein dumpfes Klopfen, das von einer Platzwunde an meinem Hinterkopf zu kommen schien. Ich wartete lange auf ein Geräusch von außerhalb meines Verstecks. Auf mein Gehör fokussiert, vernahm ich ein Schnaufen, ein Gemisch aus Rage und Erschöpfung. Ich bildete mir ein, zu hören, wie sich Schritte von mir entfernten, das Schnaufen leiser wurde. Dann hörte ich, weit entfernt, ein mir wohlbekanntes Geräusch, das der sich öffnenden Schiebetür zum Garten, und dann hörte ich gar nichts mehr.
Ich brach aus meinem Versteck hervor, befreite mich aus der ramponierten Kommode und fand mich in einem Chaos aus zerschlagenen Möbeln und blutigen Fußböden wieder. Einen Wahnsinnigen sah ich nicht; er hatte die Suche wohl, kurz vor seinem Erfolg, aufgegeben. Vor meinem Zimmer lag weiterhin Mutters ausgeweideter Kadaver, im Wohnzimmer lag Vaters Haut. Derealisiert und von Schrecken umnachtet blickte ich durch das Fenster des ersten Stocks, in den finsteren Garten und sah noch, wie die silhouettenhafte Menschengestalt in Richtung des nahegelegenen Waldes verschwand. Auch durch die feinkörnige Dunkelheit hindurch erkannte ich die groben Formen und Farben des Mannes, nein, der Kreatur, die Mörder meiner Eltern war. Ich sah die freigelegte Muskulatur der drahtigen Gestalt, die schneeweißen Sehnen, die sie am Skelett des Monsters festschnürte, und das feine Spinnwebnetz aus Adern, das Blut durch den lebenden Kadaver pumpte. Es war ein Mann ohne Haut.
Im Blut meiner eigenen Mutter stehend blickte ich geistlos in die Nacht hinaus. Ich hatte es geschafft: Ich hatte überlebt, aber wofür? Es hätte auch mich töten sollen; so wäre es besser gewesen.
3. Zeitungsartikel: Déjà-vu
Isla Vista, Kalifornien
Weitere Morde erschüttern Isla Vista – Ein Schrecken mit Ende?
[Aus The — Daily, 8. Juli]
Die Ereignisse in Isla Vista beginnen sich zu überschlagen. Nur einen Tag nach dem Fund der Haywards wird die kalifornische Kleinstadt bereits von der nächsten Tragödie heimgesucht. Am Morgen des 7. Juli 2017, fand man die Leichen der Familie Summers im Obergeschoss ihres Hauses vor. Nachbarn entdeckten den grauenerregenden Tatort, nachdem sie nachts beunruhigenden Lärm vom Grundstück der Summers bemerkten.
„Wir machten uns große Sorgen, als wir den Krach von drüben gehört haben. Ich konnte deshalb kaum schlafen und wollte mich so früh wie möglich vergewissern, dass mit den Summers alles in Ordnung war. Als mir niemand die Tür öffnete, ging ich durch die Gartentür rein; die war offen. Ich wusste gar nicht, wie ich reagieren sollte, als ich diese menschlichen Überreste im Wohnzimmer fand. Da habe ich selbstverständlich sofort die Polizei verständigt. Wie ich hörte, war der Anblick im Obergeschoss noch viel entsetzlicher; ich weiß wirklich nicht, ob ich das verkraftet hätte“, berichtete uns Michelle Nolan, Nachbarin der Summers‘.
Der Polizei gelang eine präzise Rekonstruktion des Tathergangs. Demnach soll es sich beim Sohn der Familie, Chris Summers, um einen Serienmörder gehandelt haben, der nach vollbrachter Tat seine Opfer häutete, um ihre Haut als Trophäe aufzubewahren. Das Bewahren von Körperteilen der Toten ist ein Motiv, das man in der Vergangenheit schon häufiger beobachten konnte. Eines seiner Opfer war demnach Dave Summers – der eigene Vater. Seine Haut fand man am Tatort (zur Zeit wird geprüft, ob der gehäutete Leichnam, den man am selben Tag nahe des Highway 101 fand, der seine ist). Den Ermittlern zufolge soll Eve Summers, die Ehefrau von Dave Summers und Mutter des Täters, die Haut ihres Ehemannes entdeckt haben, woraufhin sie, durch einen Schnitt in den Bauch, von ihrem Sohn beseitigt wurde. Chris Summers nahm sich im Anschluss an seine Tat das Leben, mittels Kopfschuss aus der hauseigenen Schrotflinte.
Etwa zeitgleich verschwand die Leiche des Unbekannten, der eine Woche zuvor am Strand nahe Isla Vista gefunden wurde und den man unter den Beamten mittlerweile als „der tote Mann von Isla Vista“ bezeichnet. Die Ermittler gehen inzwischen davon aus, dass auch er ein Opfer Chris Summers‘ war. Die Umstände seines Verschwindens sind jedoch so mysteriös, wie es sein Erscheinen war. Vermutungen der Polizei gehen davon aus, Summers habe einen Einbrecher engagiert, der für das Verschwinden des Toten sorgen sollte, um so seine Spuren zu verwischen. Der Einbrecher sei dabei außerordentlich professionell vorgegangen, denn Untersuchungen des Kühlraumes, in dem der Tote lagerte, zeigten keine Anzeichen eines Einbruchs. Die Polizei werde weitere Maßnahmen zur Identifizierung und Festnahme des Diebes veranlassen.
Die Ermittlungen zu Chris Summers verwerfen sämtliche bisher erbrachten Ergebnisse zum Fall der Haywards. Mittlerweile gehen die Ermittler davon aus, dass Summers auch den Mord an den Haywards zu verantworten hat. Zwar widersprächen die bisher fehlenden Einbruchs-und DNA-Spuren des Täters dieser Theorie, doch bevor die Investigationen nicht abgeschlossen seien, könne man kein endgültiges Urteil fällen.
Auch wenn die Ereignisse der vergangenen Wochen die Schlimmsten seit dem Amoklauf von Isla Vista sein dürften, hoffen wir, dass nach dem Tod Chris Summers‘ endlich wieder Ruhe einkehrt und die Befürchtungen und Ängste der Bewohner ebenso plötzlich verschwinden, wie „der tote Mann von Isla Vista“ verschwunden ist.