KreaturenMittel

Die Frau am Ufer

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Ein junger Mann torkelte über die hölzerne Brücke der Stadt, in der er vor nur wenigen Stunden das vielversprechendste Geschäft seines Lebens abgeschlossen hatte. Er beschloss daher – allein, da sein Freundeskreis weitestgehend begrenzt war – zu feiern und trank großzügig über seinen Durst hinaus. Am Ende seiner einsamen Reise angelangt, stand er schließlich wankend an dem mit Laternen besetzten Geländer, mit dem Blick auf den nächtlichen Himmel gerichtet, und prostete diesem im Stillen zu. Gerade, als er die Flasche zum letzten Schluck an seine Lippen setzte, wurde er mit einer enormen Wucht zu Boden gerissen. Eine Gruppe Unbekannter überwältigte ihn mit brutalen Schlägen und Tritten, die er kaum von sich abzuwehren vermochte; sie trafen ihn im Gesicht, in Rippen, in Bauch und Beine. Der Ohnmacht bereits nahe, war das Letzte, was er spürte, ein harter Schlag auf seinem Hinterkopf und ein kurzer Flug in das kalte Wasser des schwarzen Flusses unter ihm, in den er gewissenlos geworfen wurde.


Er fror entsetzlich, als er erwachte. Es war noch immer dunkelste Nacht, als er zu den Sternen hinaufblickte, die gelegentlich von einzelnen schwarzen Wolken verdeckt wurden, die eilig vorbeizogen. Nur der Ort, an dem er sich nun befand, war ein anderer. Als er sich umsah, fand er sich vor einem stillen See wieder, der gemächlich sanfte Wellen zu seinen Füßen wog. Noch immer durchnässt, setzte er sich schwerfällig auf. Er musste vom Fluss an das Ufer dieses Sees geschwemmt worden sein. Als sei er vom Blitz getroffen worden, schossen ihm die Erinnerungen an den Überfall in seinen Kopf. Hastig betastete er seinen Leib, um seine Taschen zu überprüfen. Er war eindeutig beraubt worden; seine Geldbörse, die zwar eher selten wirklich gefüllt war, fehlte. Doch, was noch viel schlimmer war, war der offensichtliche Diebstahl seines Vaters goldener Taschenuhr, die er immer mit sich trug. Verzweifelt seufzte er heiser auf und verbarg sein Gesicht in seinen noch feuchten Händen. „Oh, Ihr seid wach. Das ist gut.“ Der Mann erschrak so heftig, dass er kurz aufschrie. Neben ihm konnte er einen Schatten ausmachen, der aus einem Felsen emporragte. Ein angestrengter Blick durch das Dunkle und er erkannte, dass die Stimme aus den Lungen einer Frau erklang, die dort auf dem steinernen Brocken im Schneidersitz hockte. Diese Position schickte sich nicht für eine Dame, da sie zusätzlich einen bemerklichen Buckel machte, der sie wesentlich älter wirken ließ, als sie tatsächlich klang. „Ihr habt Glück, dass ich auf Euch im Wasser gestoßen bin“, sagte sie, während sie sich mit langem Halse umdrehte und mit einem Stock wedelte. „Und zwar im wahrsten Sinne“, ergänzte sie mit sanftem Lächeln im Gesicht, das der Mondschein nur mäßig beleuchtete. Die Frau war augenscheinlich nicht sehr viel älter als er selbst. Und dennoch haftete an ihr etwas Greisenhaftes. Vermutlich, weil ihre Gesten erkennen ließen, dass sie blind war. „Ich bedanke mich herzlich“, sagte der Mann wahrheitsgetreu und sein Schrecken ließ von ihm ab. „Ich muss tatsächlich großes Glück gehabt haben. An einem See, mitten in der tiefsten Dunkelheit von einer blinden Dame gefunden zu werden. Was für ein großer glücklicher Zufall!“ Gerade wollte er seinen Stiefel ausziehen, als ihm auffiel, dass seine Bemerkung vermutlich unsensibel klang. Doch als er einen Blick auf sie warf, hatte sich ihr ruhiges Lächeln nicht verändert. Es war wie festgemeißelt. „Ich denke, dass es nur den Schein eines großen, glücklichen Zufalls hat. Er ist vermutlich sogar sehr klein“, entgegnete sie. Der Mann schüttete seinen Stiefel aus. Eine dunkle Brühe, ein unansehnlicher Klumpen von Wasserpflanzen und einige feine Kiesel purzelten hinaus. „Das müsst Ihr mir erklären“, sagte er freundlich. Der Hals der Frau bewegte sich langsam wieder auf die Oberfläche des unruhig spiegelnden Gewässers zu. „Nun, tatsächlich komme ich seit zwanzig Jahren jede Nacht zu diesem See. Ist die Nacht lau und das Wasser noch warm, spaziere ich noch ein wenig durch das Nass, bevor ich mich immer wieder aufs Neue auf dieses Gestein hier setze“, erklärte sie und klopfte zwei Mal mit dem Stock auf den Felsen, sodass eine unangenehm knallendes Geräusch ertönte. „Angesichts dieser Erläuterung, erscheint mir die Wahrscheinlichkeit sogar relativ hoch, dass ich Euch auf dem Wasser treibend gefunden habe.“ Er nickte abwesend und stimmte ihr damit zu, ohne dass sie es aufgrund ihrer Blindheit hätte sehen können. „Was zieht Euch hierher? Dieser Ort wirkt zu dieser Stunde doch nahezu gespenstisch“, fragte er vor Unbehagen fröstelnd und zog seinen zweiten Stiefel aus. Er konnte sich nicht erklären, warum aus diesem Schuh nur einige wenige Tropfen flossen. „Seid Ihr des Nachts ruhelos?“, ergänzte er, von Neugierde gepackt. Als er auf eine Antwort wartete, erkannte er aus diesem Winkel, dass sich das zuvor so feste Lächeln der Blinden langsam zu einer düsteren Miene verzog. „Ich bin zu jeder Tages- und Nachtzeit ruhelos“, entgegnete sie nüchtern. Er beschuhte einen Fuß – und streifte das Leder unmittelbar wieder ab. Seine Stiefel waren so nass, dass er fürchtete, sich zu erkälten, wenn er sie auf seinem baldigen Rückweg am Fuße tragen müsste. Das Laufen seiner Nase ließ ihn jedoch vermuten, dass ihn die Krankheit wohl schon erwischt hatte. „Was treibt Euch so quälend an?“, fragte er beinahe besorgt. Die Frau drehte sich wieder zu ihm um. Ihr Lächeln war wieder aufgetaucht, das ihm inzwischen unheimlich geworden war. „Eine Fee“, antwortete sie knapp. Der junge Mann lachte höhnisch auf. „Eine Fee? Ihr glaubt also an Feen“, sagte er belustigt und zog sein Hemd aus, um es auszuwringen. Wieder hielt er einen Moment inne, als ihm bewusst wurde, dass er vermutlich gerade seine Retterin beleidigt hatte. Doch sie sprach unbeirrt weiter. „Es gibt einen großen Unterschied zwischen Glauben und Wissen, mein junger Herr!“, sagte die Frau, ohne auch nur einen Hauch von Zweifel hören zu lassen. „Sie lebt hier in diesem See. Und in jeder einzelnen Nacht warte ich auf sie.“ Der Mann schüttelte sein Hemd aus. Es war kein bisschen trockener als vorher. „Soll sie Euch einen Wunsch erfüllen?“, fragte er beiläufig. Diese Dame war ganz offensichtlich verrückt. Er würde froh sein, wenn er sich dem Gespräch bald entziehen könnte. „Nicht direkt. Vielmehr schuldet sie mir etwas“, antwortete sie. Obwohl die Blinde ganz und gar geistig umnachtet gewesen sein musste, wurde die Neugierde des Mannes nun doch wieder angefeuert. „Und was schuldet sie Euch?“ Das Lächeln der Frau verschwand erneut. „Sie schuldet mir mein Augenlicht“, sagte sie. Er beugte sich nach vorn. „Stahl sie Euch etwa die Sehkraft?“, vermutete er ungläubig. „Nein. Lasst es mich Euch erklären“, begann sie, während er kurz darüber nachdachte, ob er unbemerkt seine Hose ausziehen könne, um sie ebenfalls zu trocknen. Als ihm wieder einfiel, dass die Dame ihn nicht sehen konnte, strampelte er sich aus dem Stoff heraus.


„Als ich ein Mädchen war, fiel ich, wie Ihr auch, in den anliegenden Fluss und wurde in diesen See gespült“, sagte sie und deutete mit ihrem Stock auf etwas am nächtlichen Horizont, das er nicht sehen konnte. „Ich muss unvorsichtig gewesen sein. Ich kann mich nicht erinnern. Ich wachte am Ufer auf, als mich etwas an meinem Fußgelenk unbarmherzig fest ergriff. Es war die nasskalte, weiße Klaue dieser Wesenheit, die mich, trotz meines bitterlichen Kampfes, nicht mehr losließ. Sie kroch mit der Anmut einer Untoten auf allen Vieren aus dem Wasser auf mich zu, bis sie sich über mich beugte. Das Letzte, was ich sah, war, wie sie sich einen meiner Augäpfel in eine ihrer schwarzen Höhlen in ihrem Schädel steckte. Im nächsten Moment war für mich alles dunkel, während die Fee nun mit meinen Augen sehen konnte.“


Ein Schauer lief wie ein krabbelndes Insekt über den Rücken des Mannes. Er fror. Allerdings nicht vor klammer Kälte auf seiner Haut, sondern durch die Angst, die ihn nun durchfuhr. Es war vermutlich die schaurigste Geschichte, die er jemals gehört hatte. „Also hatte sie Euch doch bestohlen“, stellte er jedoch fest, als er seine Sprache wiederfand. Die Frau schüttelte langsam den Kopf. „Oh, nein. Sie nahm mir meine Augen nur im Austausch eines Teils ihrer Kräfte. Aber da dieses Tauschgeschäft gegen meinen Willen vollzogen wurde, bin ich der Überzeugung, dass sie mir mein Augenlicht nun dennoch schuldet“, erläuterte sie wieder lächelnd, als wäre sie dennoch vollkommen unbekümmert. Der Mann zog seine noch feuchte Hose wieder an. „Was für Kräfte gab sie Euch?“, fragte er beinahe flüsternd. Die Frau winkte ab. „Nun, ich denke, das spielt keine Rolle, da ich den Tausch wieder rückgängig machen will. Ich hatte einige Jahre meine Freude an ihnen. Aber sie wurden zu einer Last, die ich nicht länger auf meinen Schultern tragen kann“, sagte sie, während sie sich ein wenig mehr zusammenkauerte als zuvor. Plötzlich, so glaubte er, schien er zu wissen, wie sie diesen Buckel erhalten hatte.


Er stand auf, um seinen Gürtel festzuziehen. „Und Ihr konntet den Tausch noch nicht rückgängig machen, weil Euch…diese Fee nicht wieder begegnet ist?“, fragte er und fuchtelte unbeholfen an der Schnalle. Die Blinde richtete sich wieder auf. „Oh, natürlich begegne ich ihr. Sie ist jede Nacht hier“, antwortete sie fast überrascht. Ein weiterer Schauer überfiel ihn. Unbehaglich schaute er sich zu allen Seiten um. Um ihn herum befanden sich nur die Dunkelheit und die im Mondschein glitzernde Oberfläche des Sees. „Außer uns ist niemand hier“, stellte er nur bedingt beruhigt fest und machte ein paar Schritte auf den Felsen zu, sodass er neben der hockenden Frau zum Stehen kam. „Oh, sie ist hier. Glaubt mir“, sagte sie ruhig und stopfte eine Pfeife mit Tabak, die sie unbemerkt hervorbrachte. Ihre Bewegungen waren erstaunlich zielgenau, obwohl sie ihre Finger bei ihrer Arbeit nicht sehen konnte. Er runzelte die Stirn. „Wenn Ihr dieser Wesenheit jede Nacht begegnet, wie kommt es dann, dass Ihr noch zu keinem neuen Tauschgeschäft gelangt seid?“, fragte er schließlich und verschränkte die Arme. Der Stoff seines Hemdes haftete kühl auf seiner Brust, sodass er eine Gänsehaut bekam. Er hörte das Zischen eines zündelnden Streichholzes und ein plötzliches Aufflackern der Flamme erhellte ihr fast noch jugendliches Gesicht. Ihre Lider waren geschlossen. Ob sich hinter ihnen wirklich nur zwei leere Höhlen befanden? „Ich fürchte, das liegt daran, weil sie ein gewitztes Biest ist“, begann sie zu erklären und hauchte den Qualm der Pfeife aus ihren Lungen heraus. Für einen Moment schien er den Mond zu verdecken. Pfeiferauchen schickte sich zwar ebenfalls nicht für eine Dame. Doch inzwischen registrierte der junge Mann solche Verstöße gegen die allgemeine Etikette mit einem Schmunzeln. „Diese Fee hat nun vielleicht ein Augenlicht gewonnen. Aber dennoch ist sie noch immer ohne Stimme, wisst Ihr? Ihr ist sehr bewusst, was ich von ihr verlange. Aber dadurch, dass sie keine Stimme hat, mit der sie mit mir ins Tauschgespräch gelangen könnte, kann sie es weiterhin leugnen. Also: ich bin blind und sie ist stumm wie ein Fisch. Ich kann sie nicht aufsuchen und sie kann nicht mit mir sprechen. Dieses Dilemma kommt ihr ganz gelegen. So kann sie ihre Sehkraft weiterhin behalten.“ Der Mann schüttelte irritiert den Kopf. „Schön und gut“, sagte er und warf eine Hand in die Luft. „Aber sie könnte Euch nun auch noch die Stimme nehmen. Dann könntet Ihr sie nicht einmal mehr zu einem Tausch auffordern. Ihr wäret machtlos.“ Plötzlich kicherte die Blinde. „So seltsam es auch klingt, aber dieses Wesen ist nicht so gewissenlos, wie es den Anschein hat. Ich fürchte, sie will mir nicht noch mehr nehmen, als sie es bereits getan hat. Sie weiß um meine Bürde. Sonst hätte sie mir meine Augen tatsächlich einfach gestohlen, statt mir noch zusätzlich einen Teil ihrer Kraft zu vermachen.“ Sie lächelte standhaft. „Allerdings“, ergänzte sie, „dürstet es ihr mit Sicherheit Tag und Nacht nach einer Stimme. Also wird sie ausharren, bis ich eines nachts nicht mehr hier sitzen und hoffnungsvoll auf ihre Gnade warten werde. Es ist ein Geduldspiel, das ich vermutlich verlieren werde. Sie wird sich eine Stimme nehmen, sobald sie es kann. Das ist klar.“ Sie drehte sich zu dem jungen Mann herum. „Und ich finde, es ist ein großer glücklicher Zufall, dass ich jede Nacht hier warte und Euch davor bewahren konnte, dass sie sich Eure Stimme an sich reißt.“ Der Mann trat entsetzt einen Schritt zurück. Er hatte den Gedanken daran vergessen, wie unwahrscheinlich die Erzählungen dieser Frau klangen. Ob sie nur eine Fabel zusammensponn oder nicht; er hatte großes Glück, von ihr gefunden und vor dem Ertrinken gerettet worden zu sein. „Nun“, zögerte er, „Ich denke, dass ich mich für die Rettung meiner Stimme ebenfalls bedanken muss. Allerdings ist es an der Zeit für mich zu gehen.“ Barfuß trottete er zu seinen Stiefeln und nahm sie in die Hand. Er drehte sich noch einmal zu der Blinden um. „Ich wünsche Euch dennoch viel Glück, auf dass Ihr wieder zu Eurer Sehkraft gelangt. Ich hoffe auf ein fröhliches Wiedersehen“, entgegnete er und verneigte sich höflich, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte. Der Hauch eines schlechten Gewissens machte sich in ihm breit, da er sie nun verlassen musste. Er verspürte Mitleid mit der Blinden, obwohl ihre Geschichte mehr als unwahrscheinlich war. Ihr Lächeln steigerte sich zu einem Grinsen. „Oh, ich bezweifle, dass wir uns wiedersehen. Lebt wohl.“ Mit diesen abschließenden Worten, machte sich der junge Mann mit nackten Füßen auf den Weg zur nächsten Straße. „Ich wünsche Euch noch ein gutes Gelingen mit Euren Geschäften, junger Herr“, hörte er sie noch hinterherrufen. „Ich danke!“, antwortete er und winkte mit seinen Stiefeln, ohne sich erneut umzudrehen. Erst am nächsten Morgen sollte ihm auffallen, dass er in Gegenwart der Frau niemals erwähnt hatte, dass er Geschäftsmann war.

Die blinde Frau kicherte fröhlich und reckte sich wieder in die Richtung des Sees, den sie zu ihrem Bedauern nicht sehen konnte. Sie zog an ihrer Pfeife. „Irgendwo bist du gerade, du kleines Miststück“, sagte sie ruhig. „Irgendwo bist du und beobachtest mich mit meinen eigenen Augen.“ Sie blies den Rauch genüsslich aus. Die kleine Wolke schwebte vor ihr her. Sie konnte dennoch nicht die Sicht auf die blasse, geisterhafte Gestalt verbergen, die stumm neben ihr stand und sie aus den blauen, unschuldigen Augen eines Kindes anstarrte. 

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