EigenartigesGeisteskrankheitKreaturenLangeOrtschaftenSchockierendes EndeÜbersetzung

Cannons Shining

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Als Kind war ich ein kunstbegeistertes Kerlchen.

Mit Ton, Schere oder Kleber hätte ich mich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag beschäftigen können. Die Wände meines Zimmers waren mit Skizzen und Papiermasken bedeckt. Drachen und Hexenmeister aus Ton standen stramm auf meinem Schreibtisch und meiner Kommode. Von der Decke hingen Mobile mit Göttern und Kobolden herab. Und eine uralte Lampe mit Federarm leuchtete auf einem Tisch in der Ecke, auf dem ein halbes Dutzend Projekte auf ihre Fertigstellung warteten.

Ich war ganz in meine Kunst vertieft und bettelte meine Mutter häufig an, dass ich Mahlzeiten, Duschen und in meinen produktivsten Phasen sogar den Schlaf auslassen durfte. Natürlich war es schwierig, mich dazu zu bringen, das Haus zu verlassen.

Wenn sie aber Milch holen oder einen Brief abschicken musste, wusste sie, dass sie mich mit einem singenden Versprechen aus meinem Zimmer locken konnte: „Wir können danach noch in der Videothek vorbeischauen.“ Und in weniger als einer Minute war ich angeschnallt und wartete auf dem Beifahrersitz unseres Minivans.

Vielleicht dachte meine Mutter nur, dass ich es liebte, Filme auszusuchen, die ich gerne
sehen wollte. Das würde meinen Eifer erklären, die Videothek zu besuchen. In Wahrheit habe ich mir aber nie viel aus den Kassetten gemacht, die wir am Ende immer ausgeliehen haben.

„Zurück nach Hause – Die unglaubliche Reise“

„Der Flug des Navigators“.

„E.T.“

Die waren alle in Ordnung. Passables Popcorn-Futter.

Aber was mich immer wieder zurückkommen ließ, waren die Filme, die ich nicht ausleihen konnte, nämlich die Horrorfilme. Ich erinnere mich, dass ich bei einem Besuch in der Videothek, als ich etwa neun Jahre alt war, aus Versehen in die Horrorabteilung geraten bin. Und wie ein Sturmwind spürte ich die ganze Wucht all dieser Bilder und Worte.

Blut und Mondlicht.

Pfützen.

Masken.

Lachen und Geschrei.

Sie erfüllten mich mit Fragen: Wovor haben all diese Frauen Angst? Warum haben sie Blut auf ihren Hemden? Sind sie verletzt? Wer ist der Mann mit der weißen Maske und dem Messer? Was bedeutet das Omen? Die schiere Neuartigkeit des Ganzen brachte meine junge Fantasie auf Hochtouren. Ich spürte, wie sich die Welt, die ich einst gekannt hatte, zurückentwickelte und eine weitaus fremdere Welt darunter zum Vorschein kam, die mich sowohl erschreckte als auch faszinierte.

Noch am selben Tag brachte ich eine Ausgabe von „Halloween III: Die Nacht der Entscheidung“ zu meiner Mutter. Ich weiß. Nicht der beste Film. Aber mir gefiel das Cover.

Bevor ich es ihr überreichte, war mir irgendwie bereits klar, dass sie es ablehnen würde. Warum, wusste ich nicht. Die Kassetten aus diesem Gang schienen einfach etwas Verbotenes an sich zu haben. Und tatsächlich, als sie die Kassette sah, musste sie erst zweimal hinschauen. „Woher hast du das?“, fragte sie ungläubig.

Als ich ihr die Horrorabteilung zeigte, schnaufte sie ungläubig. „Das ist nichts für Kinder!“, sagte sie streng. „Ich will nicht, dass du dir das weiter ansiehst, hast du verstanden?“ Als ich sie fragte, warum, warf sie mir einen Blick zu, der bedeutete, dass das Gespräch beendet war.

Wir haben uns an diesem Abend „Schatz, ich habe die Kinder geschrumpft“ ausgeliehen. Als wir auf dem Parkplatz ankamen, fragte sie, was für eine Pizza ich zum Abendessen haben wollte.

Sie hatte die ganze Sache schon wieder vergessen. Aber ich nicht. Ich war begeistert. Von diesem Abend an machte ich bei jedem Besuch in der Videothek einen Sprung in den „verbotenen Gang“, während meine Mutter mit der Filialleiterin tratschte, die zu meinem Glück eine ihrer ältesten Freundinnen war. Während sie sich über das Schnarchen meines Vaters beklagte, studierte ich die vakuumschwarzen Augen von Michael Myers, die Rückenflosse von Der weiße Hai und Carol Anne im statischen Bild.

Als sie schließlich meinen Namen rief, rannte ich zu ihr und schnappte mir eine Kassette aus der Familienabteilung. Und während ich ihr die Kassette überreichte, wünschte ich mir immer, dass Freddy Krueger statt Scooby-Doo auf dem Cover zu sehen wäre.

Dann änderte sich mein Schicksal, weil ich am Ende der fünften Klasse ausgerechnet in Mathematik schlecht abschnitt. Aufgrund einer angeborenen Schwäche in diesem Fach und meiner Vorliebe, während des Unterrichts in mein Heft zu kritzeln, fiel ich bei der Abschlussprüfung durch.

Die Strafe? Eine von Moms schrecklichen Schimpftiraden und eineinhalb Monate Sommerschule.

Nach nur einer Woche Ferien saß ich wieder in einem Klassenzimmer und lernte Bruchrechnen, während der Rest der Welt den Tag verschlief. Zu allem Übel hatte ich auch noch Mrs. Donahue, die Bibliothekarin der Schule, als Lehrerin. Sie war in der ganzen Schülerschaft bekannt dafür, dass sie eine federleichte Stimme und ein blitzschnelles Temperament hatte.

Der Unglückliche, der ihrem Stimmengewirr erlag, erwachte mit dem Gekreische einer wutentbrannten Wölfin. An diesem ersten Tag musste ich meine ganze Kraft aufwenden, um nicht mit den Augenlidern zu zucken, während sie über Teilbarkeiten schwadronierte.

Als ich an diesem ersten Tag von der Schule nach Hause ging, traf ich Cannon. Cannon Wilks war zwei Klassen über mir. Auch er war dazu verdammt, in den Ferien zu lernen. Im Gegensatz zu mir war dieser Siebtklässler aber nicht nur wegen eines schlechten Testergebnisses in der Sommerschule.

Seine Strafe sollte seinen Übermut brechen, der ihn dazu veranlasst hatte, seine Lehrkräfte bei jeder Gelegenheit infrage zu stellen. Kurz gesagt: Cannon war ein Klugscheißer. Er freute sich, wenn er das, was seine Lehrerinnen und Lehrer erzählten, „korrigieren“ konnte, auch wenn sein eigenes Verständnis von der Lektion fragwürdig und in den meisten Fällen sogar völlig falsch war.

Als ich nur ein oder zwei Minuten von der Schule entfernt war, hörte ich hinter mir: „Das ist ein schönes Stück der Navajo, das du da hast!“ Ich drehte mich um und sah einen schlaksigen, bebrillten Jungen auf mich zukommen.

„Auf deinem Rucksack“, meinte er und zeigte auf mich. Als er nahe genug war, griff er nach einem Schlüsselanhänger mit Perlenstickerei, der an meiner Tasche hing.

„Warst du schon mal im Südwesten?“, fragte er, während er ihn untersuchte. „Dort findet man solche Sachen.“

„Ähm …. Nein“, stotterte ich zurück. „Ich habe es von meinem Onkel. Er lebt in South Dakota.“

„Hm“, war alles, was er sagte.

Jahre später fragte ich meinen Onkel nach dem Geschenk und erfuhr, dass es nicht von den Navajo, sondern vom Volk der Lakota gekauft worden war, das in den Dakotas beheimatet ist. Als ich Cannon zum ersten Mal traf, konnte ich jedoch nicht ahnen, dass er bereits alles erfand, was er sagte.

Wir gingen an diesem Tag zusammen spazieren und nachdem wir uns nur kurz unterhalten hatten, entdeckten wir, dass unsere Häuser nur ein paar Straßen voneinander entfernt waren.

„Das ist ja toll!“, strahlte Cannon. „Wir können von jetzt an zusammen gehen!“

Zuerst war ich ein bisschen skeptisch, ob ich ihn als Laufpartner haben würde. Ich war ein ziemlich ruhiges Kind. Cannon hingegen redete unaufhörlich.

Er erzählte von den Bäumen, an denen wir auf dem Weg vorbeikamen, von den Jahren, Marken und Modellen der Autos, die in den Seitenstraßen parkten, und von seinem Großvater, der angeblich mit Louis Armstrong befreundet gewesen war.

An diesem ersten Tag redete er den ganzen Weg zu seinem Haus. „Hier ist es“, sagte er und wies auf einen großen Rasen, der von Hemlocktannen verdunkelt wurde. Der Gehweg, auf dem wir standen, schlängelte sich bis zu einer eisenbeschlagenen Veranda, die von hohen Laubbäumen flankiert wurde.

Die Sträucher verdeckten das erste Stockwerk fast vollständig, sodass es schien, als ob das zweite Stockwerk über dem Boden schwebte. Cannon ging den Weg hinauf.

„Sehen wir uns morgen?“, fragte er über seine Schulter.

Ich wollte gerade antworten, als mir etwas hinter seinem linken Arm auffiel. Da stand ein Junge neben dem Haus. Ich erinnere mich, dass ich besonders von seiner Kleidung überrascht war. Trotz der Tatsache, dass es an jenem Tag in den 80er Jahren war, trug er eine lange Kordhose und einen dicken schwarzen Kapuzenpulli.

„Wer ist das?“, fragte ich.

Als er stehen blieb und sich umdrehte, um meinem Blick zu folgen, antwortete Cannon: „Oh. Das ist Wilson, mein älterer Bruder. Er geht auf die Highschool.“

„Warum ist er so angezogen?“, fragte ich. „Ist das ihm nicht zu heiß?“

„Wer weiß?“, sagte er achselzuckend. „Er ist seltsam. Wir reden nicht viel miteinander.“

Und mit dieser untypisch kurzen Erklärung drehte er sich um und lief zum Haus. Ich blieb noch einen Moment stehen und beobachtete die mürrische Gestalt in den Büschen, bevor ich meinen Weg nach Hause fortsetzte.

Der nächste Tag begann ähnlich wie der Erste. Cannon fing fast sofort an zu reden. Er schien sich kaum Zeit zu nehmen, um zu atmen. Aber dann, nach etwa zehn Minuten, stieß er zufällig auf mein größtes Interesse: Horrorfilme.

„Du willst über ein Kind mit Problemen reden? Schau dir Jacob DeForest in meiner Klasse an. Ich habe ihn das ganze letzte Jahr beobachtet. Du weißt schon. Sein Verhalten beobachtet? Und so wie er Miss Mulligan wie ein kleiner Hund hinterherläuft, könnte man meinen, sie sei seine Mutter oder so! Ein klassischer Fall von „Verlassenes Kind“-Syndrom. Seine Mutter ist wahrscheinlich beruflich unterwegs oder mit dem besten Freund seines Vaters durchgebrannt. Wer weiß das schon? Aber für so etwas gibt es immer einen Grund. Sogar in „Der Exorzist“! Klar, wir sollen glauben, dass es ein Dämon ist, der Regan so handeln lässt. Aber in Wirklichkeit geht es in dem ganzen Film nur um ein Mädchen, dessen Vater ihren Geburtstag vergessen hat!“

In dem Moment, in dem Cannon den Titel erwähnte, fing das Rolodex in meinem Kopf an, wie wild alle Titel, Wörter und Bilder durchzugehen, die ich auf meinen Streifzügen durch die Videotheken angesammelt hatte.

Exorzist.

Exorzist.

Der Exorzist.

Und dann war es da! Das Cover.

Ein Mann mit einem breitkrempigen Hut stand im Lampenlicht. Der Titel schwebte in Lila über ihm. DER EXORZIST!

„Du hast ‚Der Exorzist‘ gesehen?!“, platzte es aus mir heraus. Cannon blieb stehen und sah mich fragend an. Ein „tsss“ zischte zwischen seinen Zähnen hervor.

„Ist das dein Ernst?“, schnaubte er hochmütig. „Ich habe es schon hundertmal gesehen!“

Ich leckte mir gierig über die Lippen und stammelte: „K-Kannst du mir davon erzählen?“

Das stoppte ihn wieder. „Du hast noch nie ‚Der Exorzist‘ gesehen?!“, fragte er ungläubig, als hätte ich noch nie etwas von Äpfeln oder so gehört. Ich schüttelte den Kopf.

„Oh, Mann! Den musst du unbedingt anschauen! Es ist ein Klassiker! Ich weiß nicht, ob wir genug Zeit haben, bevor wir nach Hause kommen, aber ich kann dir eine Kurzfassung geben. Das muss genügen.“ Ich nickte energisch, folgte ihm und sammelte die Worte, die er mir hinterließ, als wären es seltene und wertvolle Steine.

Von diesem Tag an erzählte Cannon die Handlung all der Filme, die, wie meine Mutter sagte, „nichts für Kinder“ waren. Er hatte sie alle gesehen. Alles von „Das Kabinett des Dr. Caligari“ bis „Candyman“.

Mentos wurden von der Rolle gelutscht und gekaut. Dosen mit Traubenlimonade gingen zwischen uns hin und her. Und in einem Theater aus brennendem Asphalt, schattigen Höfen und hechelnden Hunden malte Cannon mit dem Pinsel seiner Worte Zähne und Mord, Wind und Ouijas aus.

Ich traf Leatherface vor Rocco’s Pizza auf der Main Street. Chucky arbeitete mit einer Voodoo-Puppe vor dem Kraftwerk in Dupont. Und Mia Farrow gebar den Antichristen zwischen klappernden Wertstoffen im Rücknahmezentrum in Tapley.

Jeder Hof und jede Gasse wurde zum Schauplatz von hundert Geistern und Verrückten. Jeder Baum und jedes Geschäft wirkte bedrohlich. Und all die Gesichter auf den Covern der Videokassetten erwachten unter dem Zauber von Cannons Worten zum Leben.

Seine täglichen Geschichten zogen mich so sehr in ihren Bann, dass fünf Wochen Sommerschule vergingen, bevor ich mir überhaupt die Mühe machte, auf den Kalender zu schauen. Es blieb nur noch eine weitere Woche mit Mrs. Donahues sanfter Stimme und der Gefahr des Schlafs. Eine weitere Woche, in der ich Bruchrechnen lernte, während aus den Fenstern des Klassenzimmers das Klappern und Kreischen der Spielplätze ertönte. Ich wusste, dass ich feiern sollte.

Doch erst als das Ende der Sommerschule in Sicht war, wurde mir klar, wie sehr ich meine Spaziergänge mit Cannon genoss. Trotz seiner Unfähigkeit, mehr als zwei Schritte in Ruhe zu gehen, hatte er eine ansteckende Leidenschaft für die Welt um ihn herum.

Seine täglichen Zusammenfassungen von Horrorfilmen, die zweifellos von seinen eigenen kreativen Ergüssen geprägt waren, weckten in mir eine glühende Neugier, die ich bis zu unserer Begegnung mit ihm nicht kannte. Ich freute mich nicht nur darüber, dass ich von der Schule befreit war, sondern vermisste auch diese merkwürdige Gestalt, die im Laufe eines Monats zu meinem besten Freund geworden war.

Am Montag unserer letzten Woche in der Sommerschule freute ich mich besonders darauf, ihn zu sehen. Er hatte mir versprochen, mir von „The Shining“ zu erzählen, einem Film, auf den ich schon seit meinem ersten Ausflug in den verbotenen Gang gespannt war.

Jack Nicholsons verrücktes, wahnsinniges Grinsen tauchte regelmäßig in meinen Albträumen auf, nachdem ich zum ersten Mal einen Blick auf das Cover geworfen hatte. Aber wer war diese Figur? Was machte ihn verrückt? Das waren die Fragen, die sich mir aufdrängten, als ich an diesem Nachmittag durch die schweren Schultüren stürmte.

Aber zu meiner Überraschung war Cannon nicht da. Niemand stand unter der Buche und sprach hibbelig vor sich hin. Auch am nächsten Tag war er nicht da. Und am darauffolgenden. Ich fragte seine Klassenkameraden, ob sie ihn gesehen hatten. Doch niemand wusste es. Meine täglichen Spaziergänge an seinem Haus vorbeibrachten keine weiteren Antworten.

In den dunklen Fenstern rührte sich nichts. Die lethargischen Gliedmaßen der Hemlocktannen hingen über dem Hof, als wären sie von der Hitze erschöpft. Einmal fand ich Wilson, mit Schal und Parka bekleidet an der Seite des Hauses.

Doch als ich ihn von der anderen Seite des Rasens her ansprach, wanderte er ohne ein Wort zurück hinter das Haus. Am Donnerstagabend dieser Woche, dem Abend vor meinem letzten Tag in der Sommerschule, nahm ich die Möglichkeit in Kauf, Cannon für den Rest des Sommers nicht mehr wiederzusehen.

Als ich am Freitag, als der Unterricht zu Ende war, gerade auf dem Weg zum Ausgang stand, kam Miss Mulligan, Cannons Lehrerin, auf mich zu und fragte mich, ob ich einen Umschlag in Cannons Haus abgeben könnte. „Es tut mir leid, dass ich frage“, sagte sie. „Aber es gibt ein dringendes Problem in der Kindertagesstätte meiner Tochter und ich weiß, dass du in der Nähe von Cannon Wilks wohnst.“

Und so kam es, dass ich Cannon noch vor Ende des Sommers wiedersah. Rückblickend wünschte ich, Miss Mulligan hätte mich einfach übersehen. Vielleicht hätte sie auf die Toilette rennen können, als ich die Schule verließ.

Vielleicht hätte ein Auto mit Fehlzündung das Geräusch meiner quietschenden Schuhe im Flur überdecken können. Dann wäre sie diejenige gewesen, die den Umschlag überbracht und das Böse in diesem Haus gesehen hätte. Aber das ist alles im Nachhinein betrachtet. Damals hielt ich es für mein Glück, dass ich sie zufällig getroffen hatte.

So hatte ich eine Ausrede, um meinen Freund noch einmal zu sehen, um zu prüfen, ob es ihm gut geht. Und wer weiß? Vielleicht hatte er sogar ein paar Minuten mehr Zeit, um mir die Geschichte zu erzählen, die er mir versprochen hatte.

Wilson streifte an diesem Tag nicht durch die Büsche, als ich mich auf den langen Weg zur Haustür machte. Auch an den Fenstern im zweiten Stock sah ich niemanden. Im ganzen Haus herrschte eine Stille, die an ein Modell oder ein Bild in einem Kinderbuch erinnerte.

Die Stille blieb, nachdem ich an der Tür geklingelt hatte. Als der Glockenschlag verklungen war, hörte ich kein verräterisches Fußgetrappel auf dem Teppich. Mein Herz begann zu sinken. Vielleicht war niemand zu Hause.

Dann, gerade als ich meinen Arm hob, um den Umschlag in den Briefkasten zu stecken, hörte ich jemanden kommen. Die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter und ich sah Cannon … zumindest sah er so aus wie Cannon. Sein Gesicht, das blass und fahl geworden war, wurde größtenteils von einer Mütze, einer Kapuze und einer dunklen Fliegerbrille verdeckt.

„Hey“, sagte ich zu meinem eigenen Spiegelbild.

„Hey“, erwiderte er.

Einen Moment lang standen wir beide nur da und sahen uns an.

„Ähm … Miss Mulligan wollte, dass ich das deinem Vater gebe“, sagte ich und hielt ihm den Umschlag hin.

„Er ist nicht da!“, antwortete Cannon mit eindringlicher, nervöser Stimme. Irgendetwas ist falsch, dachte ich. Warum benimmt er sich so? Es ist, als ob er ein völlig anderer Mensch wäre.

Nach einer weiteren Pause fuhr ich fort: „Also … willst du es ihm geben?“

Langsam streckte Cannon seinen Arm aus der Tür. Er war von einem langen, ausgebeulten Ärmel bedeckt. Nur ein paar Finger ragten aus dem Ende heraus. Er nahm den Umschlag zwischen zwei Fingern und zog ihn durch den Raum zurück ins Haus.

Ich kämpfte gegen das Unbehagen an und fragte ihn: „Geht es dir gut? Du warst nicht in der Schule.“

„Ja. Alles ist in Ordnung“, sagte er fest. „Ich bin nur nicht ganz auf dem Damm.“

Wäre ich ein bisschen älter gewesen, hätte ich an dieser Stelle vielleicht ein paar Manieren gezeigt. Da Cannon keine Lust zum Reden hatte, hätte ich etwas wie „Na gut“ gesagt. Wir sehen uns“, und dann wäre ich gegangen. Aber ich hatte das Gefühl, dass ich die lange Stille mit etwas füllen musste und sagte: „Du wolltest mir von ‚The Shining‘ erzählen.

Mit einem Blick auf die Fußmatte antwortete er: „Ich weiß nicht, ob mir heute danach zumute ist.“

Ich stand einen Moment lang da und versuchte, mir etwas anderes zu überlegen, um herauszufinden, was los war. Schließlich scharrte ich mit dem Fuß, sagte: „Okay, bis dann“ und wandte mich zum Gehen.

Ich war aber nur etwa zehn Schritte gegangen, als ich ihn sagen hörte: „Weißt du was?“ Ich drehte mich um. Er schien nervös zu sein, als wäre er sich nicht sicher, was er sagen wollte. Immer noch mit dem Blick nach unten sagte er: „Ich … ich fühle mich vielleicht besser, wenn ich ein bisschen rede.“

Er suchte die Straße von links nach rechts ab, als ob er nach jemandem Ausschau halten würde. Dann öffnete er die Tür und bedeutete mir, einzutreten.

„Ich habe nicht viel Zeit“, sagte er, als ich vom schattigen Vorgarten ins Wohnzimmer ging.

Nachdem er die Tür geschlossen hatte, führte er mich schnell eine Treppe zu unserer Linken hinauf. Als ich ihm die mit Teppich ausgelegten Stufen hinaufstieg, konnte ich nicht umhin, sein Outfit zu bemerken. Neben dem dunklen langärmeligen Hemd trug er eine dicke Cargohose.

Bis auf seinen Mund, seinen Hals, seine Wangen und sein Kinn schien jeder Zentimeter Haut an ihm bedeckt zu sein. Das war schon seltsam, denn er war ja im Haus … im August. Noch merkwürdiger war es, weil ich ihn noch nie in etwas anderem als T-Shirts und Shorts gesehen hatte.

Als wir die oberste Stufe erreichten, klickte unten am Ende eines langen Flurs eine Tür zu. ‚Vielleicht sein Bruder?‘ dachte ich. ‚Seine Mutter?‘ Er führte mich schnell an Wänden mit Fotos vorbei. Ich hatte keine Zeit, eines der Gesichter zu erkennen. Sie waren alle nur noch ein verschwommener Fleck aus Fleisch und Gold. In seinem Zimmer angekommen, zog er mir einen Stuhl unter dem Schreibtisch hervor und setzte sich auf das Bett.

„Ist dir nicht warm?“, fragte ich, als er saß. Er ignorierte die Frage und fing an, mit den Enden seiner Ärmel herumzufuchteln, während er den Filmtitel immer wieder in seinem Atem wiederholte. „‚The Shining‘. ‚The Shining.‘ ‚The Shining.‘“ Es war, als würde er versuchen, die Handlung von früher wieder auszugraben.

Schließlich schaute er durch die hauchdünnen Vorhänge über seinem Bett und begann mit einer viel sanfteren Stimme, als ich es gewohnt war:

„Also, es gibt da diesen Jungen namens David. Er lebt bei seinem Vater und seinem älteren Bruder Danny.“

Geht es nicht um einen Vater, eine Mutter und einen Sohn?“, dachte ich und erinnerte mich an die Beschreibung des Films auf der Rückseite der VHS-Hülle.

„Das Ganze beginnt damit, dass der Vater einen Job bekommt, um dieses große Hotel während der Wintermonate zu beaufsichtigen, wenn der Laden geschlossen ist. Sein Vater nimmt den Job an, weil er Schriftsteller ist und glaubt, dass die Einsamkeit und Ruhe im Hotel ihm helfen wird, ein Buch fertigzustellen, an dem er derzeit sitzt. Also packen Danny, David und sein Vater ihre Sachen und machen sich auf den Weg in die Berge, wo das Hotel liegt.

Anfangs gefällt es David im Hotel sehr gut. Das Hotel ist riesig und es gibt keine Gäste, sodass David und Danny jeweils ihr eigenes Zimmer haben können. Die ersten Wochen verbringt er damit, mit Danny Kissenschlachten zu machen und mit seinem BMX die langen Flure entlangzufahren. Nachts plündert er mit Danny den Kühlschrank, sie machen sich riesige Eisbecher und sehen sich alte Filme im Fernsehen an.“

Kinder riefen von irgendwo auf der Straße. Ein Hund bellte. Und einer von Cannons Füßen fing an zu zucken, als hätte er gerade drei Tassen Zucker geschluckt.

„Aber während die Jungs spielen und jede Menge Spaß haben, hat der Vater weniger Freude an der Sache. Er setzt sich mit seiner Schreibmaschine an einen großen Schreibtisch in einer der Haupthallen. In den ersten Tagen geht das Schreiben gut von der Hand. Aber schon bald macht ihm die Stille zu schaffen und seine Gedanken schweifen von seiner Arbeit ab.

Er beginnt, an seine Frau Wendy zu denken, die im Winter zuvor beim Schlittschuhlaufen tödlich verunglückt ist. Sie nahm Danny und David mit zum Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen See in der Nähe ihres Hauses. Irgendwann am Nachmittag ging Danny zu einem anderen Teil des Sees, wo das Eis nicht so dick war.

Das Eis brach ein und er ging unter. Wendy lief zu der Stelle hin und schaffte es, Danny herauszuholen. Aber als sie gerade aufrichten wollte, brach das Eis unter ihr. Sie ging unter, und die Jungen waren zu jung, um ihr zu helfen. Sie ist … ertrunken“, stammelte er. Cannons Zappeln wurde immer ausgeprägter.

„Der Vater beginnt, Wendy so sehr zu vermissen. Er kann nicht schreiben. Kann sich nicht konzentrieren. Kann nicht einmal schlafen. Er liegt meistens nur im Bett. Doch dann hört er eines Nachts eine Stimme aus dem Badezimmer. Es ist eine tiefe, beruhigende Stimme. So beruhigend wie Butter oder Balsam, den man auf eine Wunde schmiert, verstehst du? Wenn der Vater ihr zuhört, spürt er, wie der Schmerz über Wendy nachlässt. Sie sagt ihm: „Steh nicht auf. Hör einfach zu. Wendy ist in Sicherheit. Es geht ihr gut. Sie liebt dich und möchte, dass du weißt, dass es ihr jetzt wieder gut geht.‘ Und der Vater fragt die Stimme: „Wer bist du? Und sie sagt, dass sie ein Geist ist, eine Art … Bote, der geschickt wurde, um zu sagen, dass Wendy in Sicherheit ist.“

„Das hört sich gar nicht so gruselig an“, warf ich ein. „Das klingt irgendwie nett, wie ein Drama oder so.“

„Das ist nicht nett!“, brüllte Cannon. Ich schaute in die großen dunklen Gläser seiner Fliegerbrille und sah, wie ich zurückstarrte. Ich sah besorgt aus.

„Das ist es, was … was ihn anlockt. Die Freundlichkeit und Wärme der Stimme. Aber weißt du, was er am nächsten Morgen findet, wenn er ins Bad geht?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Er findet … er findet Linien, die in den Kachelboden geritzt sind! Wie Krallen oder Dolche. Als hätten große, böse Krallen oder Dolche Teile des Bodens weggeschabt und eingeritzt. Aber obwohl er diese seltsamen Linien im Boden findet, fühlt er sich erstaunlich gut. Er kann es sich nicht erklären. Sein Schreiben läuft gut. Und … und er veranstaltet draußen sogar eine Schneeballschlacht mit Danny und D… und David.“

Eine weitere Pause von Cannon. Bilde ich mir das nur ein, oder beben seine Lippen? Zittert er?

„Aber diese glücklichen Zeiten halten nicht lange an. Während David alte Filme anschaut und mit Danny auf den Betten herumspringt, kommt diese Stimme jeden Abend zu seinem Vater. Und jede Nacht spricht sie leise und tief zu ihm, während er im Bett liegt. Und nach dieser ersten Woche sind die Dinge, die sie sagt, nicht mehr so nett. Mit honigsüßer Stimme sagt das Ding im Badezimmer dem Vater, dass Wendy in die Hölle kommt, wenn die Person, die für ihren Tod verantwortlich ist, nicht bestraft wird. Das macht dem Vater große Angst. Er fragt die Stimme, was er tun soll. Und die Stimme -“

Eine einzelne Träne kroch unter der rechten Linse über Cannons Wange. Er wischte sie schnell mit seinem Ärmel weg, vielleicht weil er dachte, dass ich es nicht sehen würde.

„Die Stimme sagt ihm, dass er Danny jede Nacht schlagen muss, um Wendy aus der Hölle zu befreien.“

„Und tut er das?“, fragte ich.

Weitere Tränen kullerten unter den Brillengläsern hervor. Er gab es auf, sie abzuwischen und ließ sie auf die Vorderseite seiner Hose prasseln.

„Die Stimme ist sehr überzeugend“, fuhr Cannon mit bebender Stimme fort. „Und der Vater befolgt ihre Anweisungen. In dieser Nacht, nachdem Danny und David eingeschlafen sind, geht der Vater in Dannys Zimmer. Er nimmt seinen Gürtel ab und schlägt Danny damit auf den Rücken und die Brust. Das Leder macht ein knackendes Geräusch, wenn es auf Dannys Haut trifft. Danny schreit und sein Vater weint, weil er Danny nicht wehtun will … zumindest nicht zu Beginn.“

„Hört David nicht, was passiert?“, fragte ich.

„Nein“, sagte Cannon und saugte etwas Rotz ein. „Nein, er schläft immer bei laufendem Fernseher ein. Also hört er immer nur Lachen und Musik.“

„Und das passiert jede Nacht?“, fragte ich.

Cannon nickte und wischte sich ein paar Tränen weg.

„Und der Vater schlägt Danny nur, weil Danny derjenige war, der durch das Eis gefallen ist?“

Wieder nickte er.

Einen Moment lang saßen wir einfach nur da und lauschten … lauschten auf Geräusche außerhalb des Fensters, die uns vor der Geschichte retten könnten.

„Und was macht David, wenn er es herausfindet? Dass sein Vater Danny verletzt hat?“, fragte ich schließlich.

Schwer atmend, als würde es ihm wehtun, fuhr Cannon fort: „David tut nichts … weil David nichts davon weiß.“

„Aber-“

„Hör zu“, sagte Cannon und stieß einen schweren Seufzer aus. „David und Danny sind unterschiedliche Typen von Jungen. Danny ist sehr ruhig. Aber David … er hört nie auf….“ Er lässt den Kopf hängen. „Er hört nie auf zu REDEN! Er kann nicht erfahren, was mit Danny passiert, weil er nicht zuhört … nur REDEN. REDEN REDEN REDEN! Das ist alles, was er tut!“

„Also findet er es nie heraus?“, fragte ich.

Daraufhin nickte Cannon mit dem Kopf.

„Das tut er“, sagte er mit einem zynischen Lächeln. „Er findet es heraus. Weißt du noch, dass David einen Fernseher braucht, um einzuschlafen? Eines Nachts schaltet sich der Fernseher in Davids Zimmer nicht ein. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Danny und er hatten den Fernseher in Davids Zimmer angeschaltet. Danny schläft ein. Und nachdem er eingeschlafen ist, schaltet sich der Fernseher einfach aus und lässt sich nicht mehr einschalten. Also beschließt David, Danny in seinem Zimmer schlafen zu lassen. Also geht er in Dannys Zimmer, wo es einen funktionierenden Fernseher gibt. Er schaltet ihn ein und schlüpft unter die Decke. Bevor er eindöst, bemerkt er diese großen Linien auf dem Teppich, die zum Bett führen. Sie machen ihm irgendwie Angst, aber plötzlich wird er müde. Und er schläft ein.

Er wacht in der Dunkelheit auf. Der Fernseher ist ausgeschaltet worden. Er beginnt zu denken, dass mit ALLEN Fernsehern im Hotel etwas nicht stimmt. Doch dann sieht er, wie sich etwas in der Dunkelheit bewegt. Etwas regt sich neben dem Fernseher. Es kommt auf das Bett zu. Zuerst kann er es nicht ausmachen. Aber als er seine Augen darauf einstellt, sieht er, dass in dieser Nacht Vollmond ist. Er spiegelt sich auf dem Schnee. Und die Vorhänge sind offen.

Das Ding, das auf das Bett zukommt, ist nicht … m … menschlich“, stammelt er, während seine Unterlippe zittert. „Zumindest sieht es nicht menschlich aus. Es ist nackt. Das Mondlicht, das durch das Fenster fällt, glänzt auf seiner weißen Haut. Sie ist ganz blass und geädert, wie die Treppenstufen vor dem Postamt. Riesige schwarze Krallen hängen von seinen Fingern herab und ragen aus seinen Zehen heraus. Die Krallen machen bei jedem Schritt ein reißendes Geräusch auf dem Teppich. Und es schleppt einen schweren Schwanz hinter sich her.

„Sein Kopf sieht aus wie der eines Alligators. Lang, mit einem breiten Teil vorne. Fellbüschel säumen seine Schnauze und umrahmen sein Maul. Zwischen seinen Lippen glitzert ein Büschel fettiger grauer Zähne. Sie gleiten auseinander. David kann eine sich windende Zunge darin sehen. Es sieht aus wie ein kleines sterbendes Tier.“

An diesem Punkt wurde Cannon ganz still. Er verfiel in einen fast tranceartigen Zustand und murmelte die Worte apathisch und automatisch, als hätte er sie auswendig gelernt: „Als es die Seite des Bettes erreicht, starrt das Ding David mit blassgrauen Augen an, die im Mondlicht zu leuchten scheinen. Seine Zähne und sein Mund verziehen sich zu einem halben Grinsen. David ist so erschrocken, dass er nicht einmal schreien kann. Er liegt einfach nur da und klammert sich an die Laken. Das Ding steht neben dem Bett, schaut auf ihn herab und lächelt, als ob es den Moment genießt.“

Plötzlich wurde Cannons Stimme lauter, als wolle er ein ohrenbetäubendes Geräusch übertönen, das ich nicht hören konnte.

„Dann wirft es mit einer Bewegung das Laken zurück und schlägt mit der rechten Klaue auf Davids Brust. Der Schmerz ist augenblicklich. Er spürt einen leichten Blutnebel an seinem Kinn, als sie ihn trifft. Er versucht, sich wegzuwinden, aber es packt ihn mit dem linken Fuß am Knöchel und hält ihn auf dem Bett fest, während es die Klauen wieder und wieder auf ihn herabsausen lässt. David brüllt und schreit. Sein Unterleib und seine Arme sind blutverschmiert. Sein Schwanz schlüpft auf das Bett und schlingt sich um seinen Hals. Es dreht ihn auf den Rücken. Mit der Wange in das inzwischen nasse Bett gepresst, spürt David den heißen Atem auf seinem Rücken … und dann die Zähne. Sie beißen fest zu und bringen Blut hervor. Der Schmerz schießt durch ihn hindurch. Er ist so stark, dass er sich auf das Kissen übergibt. Bevor er das Bewusstsein verliert, hört er das tiefe Grunzen der Kreatur über seinem Wimmern. Seine Stimme klingt tief und gewaltig. Er atmet ein letztes Mal schluchzend Blut und Erbrochenes ein, bevor er ohnmächtig wird.

Er wacht in seinem Zimmer auf. Die Laken sind gewechselt worden und er trägt jetzt einen sauberen Schlafanzug, den er noch nie gesehen hat. Unter der Baumwolle schreit jeder Zentimeter seiner Haut vor Schmerz. Er spürt, wie Teile des Stoffes an ihm kleben, wo die Wunden nässen. Er liegt lange Zeit schluchzend im Bett, hält sich den Körper und spürt nur die körperlichen Qualen. Schließlich beißt er sich auf die Lippe und schafft es, sich aus dem Bett zu ziehen. Er geht steif zur Tür, reißt sie auf und geht den Flur entlang zu seinem Zimmer. Als er die Tür öffnet, wartet Danny schon auf ihn. Er steht am Fußende des Bettes und trägt den gleichen Pyjama wie David. Danny starrt David tief und wissend in die Augen. Ohne seinen Blick zu unterbrechen, zieht Danny langsam sein Schlafanzugoberteil aus. Darunter ist Dannys Haut fast braun, so dunkel ist sie mit Schnitten und Narben übersät. Es gibt kaum ein Stück Haut, das nicht aufgeschnitten oder gebissen wurde. David fällt auf die Knie. Durch sein Schluchzen kann er nur einen einzigen Satz herausbringen: „Es tut mir leid, Wilson“, flüsterte Cannon. „‚Es tut mir so leid.'“

„Ich dachte, du sagtest, der Bruder hieße Dan …“, begann ich.

„Der Film endet damit, dass sich die Brüder vor dem Monster verstecken und auf den Frühling warten. Nachts hören sie es aus den Tiefen des Hotels brüllen. In der Hoffnung, dass er sie beschützen könnte, suchen die Jungen nach ihrem Vater. Schließlich finden sie ihn … aber sie sind entsetzt über das, was sie sehen. Er ist im Ballsaal und sitzt auf einem Tisch. Er ist nackt. Die Nägel an seinen Fingern und Zehen sind so lang wie Dolche. Er knurrt mit riesigen, schiefen Zähnen, die zwischen blutigen, pelzbesetzten Lippen hervorbrechen. Nachdem er von einem Tisch gesprungen ist, galoppiert das Ding, das einmal ihr Vater war, auf allen Vieren zum Hintereingang des Raumes. Während er sich zurückzieht, kann David eine große Beule an der Basis seiner Wirbelsäule erkennen. Sie sieht aus wie eine Zyste. Und sobald sie geplatzt war, wusste David, was sich im Inneren abwickeln würde: Die lange, schreckliche Sehne eines Schwanzes.“

Wir saßen lange Zeit so da, Cannon schnüffelte im Rotz und ich saß still, zu ängstlich, um die Stille zu stören, die sich über den Raum gelegt hatte. Bilder aus Cannons Geschichte schossen mir durch den Kopf. Als ich auf meine Hände schaute, merkte ich, dass auch ich zitterte. Es war die gruseligste Geschichte, die ich je gehört hatte.

Irgendetwas schien in Cannon zerbrochen zu sein. Kleine Zuckungen liefen in seinen Gliedern auf und ab. Die Haut seiner Wangen und seiner Nase war blass geworden und hatte den kränklichen Farbton von Haferschleim.

Sein Mund stand offen wie bei einem Zombie oder bei jemandem, der keinen Verstand mehr zu verlieren hat. Ich wusste, dass mit meinem Freund etwas ganz und gar nicht stimmte. Und ich wusste, dass die Geschichte, die er mir erzählt hatte, dem Film nicht gerecht wurde.

Aber ich konnte nicht alles zusammensetzen. Mein Verstand war langsam und träge vor Angst. „Cannon“, fragte ich schließlich. „Bist du in Ord-?“

In diesem Moment öffnete sich die Tür.

Auf der anderen Seite stand ein Mann. Er war groß. Bärtig. Bekleidet mit einem karierten Hemd, Jeans und Sandalen. An seiner linken Hand hing eine Plastiktüte. Irgendwie wusste ich sofort, dass es Cannons Vater war.

„Wer ist das?“, fragte er Cannon und gestikulierte mit der Tüte in meine Richtung. Darin klirrte etwas aus Glas.

„Ein Freund“, sagte Cannon fast flüsternd.

„Als er sich zu mir umdrehte, verzog sich sein stoppeliger Mund zu einem halben Lächeln. „Hey, Freund!“, sagte er.

„Hallo“, antwortete ich kleinlaut.

Er schaute mich immer noch an und fragte: „Hast du deine Aufgaben erledigt?“

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Cannon nickte.

„Mm-hm.“ Er starrte weiter auf mich herab. Als ich einen kurzen Blick auf sein Gesicht warf, sah ich, dass sich sein Mund immer noch zu einem seltsamen halben Lächeln verzog. Aber es waren seine Augen, die bemerkenswert waren. Sie waren das hellste Grau, das ich je gesehen hatte. Blasse Augen, die mich an Eis oder Mondlicht erinnerten.

Sein Vater seufzte und sagte: „Hör mal, Freund. Wir freuen uns, dass du vorbeigekommen bist, aber wir haben hier noch einiges zu tun. Das verstehst du doch, oder?“ Ich nickte.

„Vielen Dank“, sagte er mit einem Lächeln in der Stimme. Ich wagte es nicht, in sein Gesicht zu schauen. Aus irgendeinem Grund hatte ich plötzlich große Angst vor ihm. „Cannon, bring das in die Küche“, sagte er und streckte die klirrende Tüte in Richtung Bett.

Cannon erhob sich und ich folgte ihm aus dem Zimmer, wobei ich seinem Vater den Umschlag aus der Schule überreichte. „Wahrscheinlich noch mehr Schwachsinn“, sagte er und stieß ein halbes Lachen und einen Rülpser aus, während er den Umschlag desinteressiert in seiner Hand umdrehte.

Als ich den Flur in Richtung Treppe hinunterging, ereigneten sich vier entscheidende Dinge, scheinbar alle auf einmal. Weil ich langsamer ging als auf dem Weg zu Cannons Zimmer, konnte ich die Fotos an den Wänden besser sehen. Im Vorbeigehen entdeckte ich Cannons Vater.

Er sah jünger aus, rasiert, dünner, nicht so furchteinflößend wie der, den ich gerade getroffen hatte. Und da waren Cannon und Wilson, die in einem Laubhaufen spielten. Cannon und Wilson übernachten. Cannon und Wilson … in Schlittschuhen … auf einem zugefrorenen Teich. Weiter oben an der Wand entdeckte ich eine Reihe von gerahmten Gebetsbildern. In der Mitte befand sich das Porträt einer schönen Frau. Der obere Teil des Rahmens war mit schwarzen Bändern geschmückt.

Gerade als ich die Bänder sah, knarrte die Tür am Ende des Flurs auf. Wir drehten uns alle drei um und schauten zurück. Und durch die Dampfschwaden der Dusche sah ich Wilson. Nur trug er nicht die Winterkleidung, in der ich ihn zuvor gesehen hatte.

Genau genommen hatte er überhaupt nichts an. Vielleicht dachte er, dass außer Cannon niemand zu Hause war und verließ das Bad, ohne sich anzuziehen.

Ich habe nur einen kurzen Blick auf ihn erhascht, weil kurz darauf etwas passierte. Aber was ich sah, war ein Junge, dessen ganzer Körper lila, gelb und schwarz von blauen Flecken war. Nur sein Gesicht und seine Hände behielten die normale Farbe seiner Haut.

Als er mich sah, wurden seine Augen groß und tränten vor Panik. Er versuchte, sich mit einem Handtuch zu bedecken, und schaffte es, die Tür mit seinem Knie wieder zuzuschieben.

Dann hörte ich das Rascheln des Plastiks und einen dumpfen Aufprall auf dem Boden hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich Cannon mit dem Inhalt der Plastiktüte zu seinen Füßen. Der Griff muss abgebrochen sein. Und dort auf dem Teppich sah ich zwei Flaschen. Eine kam mir sehr bekannt vor.

Es war ein roter Liter Coca-Cola. Aber die zweite hatte ich noch nie gesehen, die, die sich aufrollte und vor meinen Füßen stehen blieb. Es war eine Glasflasche, gefüllt mit einer honigfarbenen Flüssigkeit. „Mein Gott!“, hörte ich Cannons Vater wie aus weiter Ferne sagen.

„Was ist nur los mit euch allen in diesem Haus!“ Ich hörte ihn kaum, denn der Anblick der zweiten Flasche ließ Cannons ganze Geschichte wieder aufleben.

Auf der Vorderseite stand in schwarzer Schrift „Fireball“. Und unter den Buchstaben war eine Kreatur zu sehen … eine Kreatur, die mein Freund mir kurz zuvor beschrieben hatte.

Krallen streckten sich aus seinen Füßen und Händen. Schwarze Krallen hingen von seinen Fingern herab und ragten aus seinen Zehen. Ein länglicher Kopf krönte den nackten Körper. Sein Kopf sieht aus wie der eines Alligators. Und ein Schwanz schlängelte sich aus seinem Hinterteil. Die lange, schreckliche Sehne.

Benommen streckte ich die Hand aus, um die Flasche zu holen. Cannon hob die Cola auf. Ich wollte ihm die Flasche reichen, aber ein starker, haariger Arm schoss hinter mir hervor. „Gib mir das!“, hörte ich seinen Vater sagen.

Vielleicht aus Angst umklammerte ich die Flasche ganz fest. Als er versuchte, sie mir wegzunehmen, wirbelte mich die Kraft herum. Und dort, nur wenige Zentimeter von meinem Kinn entfernt, sah ich etwas, das ich übersehen hatte, als ich Cannons Vater zum ersten Mal sah. Es war seine Gürtelschnalle.

Zwei raue schwarze Lederstücke trafen sich an einem silbernen Rechteck, das in der Mitte offen war. Die inneren Kanten waren mit zornigen Zinnzähnen besetzt. Ein Gewirr von grauen, fettigen Zähnen glitzerte zwischen seinen Lippen.

Langsam hob ich meinen Blick über die weite Ebene des Karohemdes hinauf zu seinem Gesicht. Sein griesgrämiges Kinn ragte unter einem Mund mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Die blassgrauen Augen starrten mich von oben auf seinen Wangenknochen an. Der Blick, den sie mir zuwarfen, war zu schlicht und einfach, um missverstanden zu werden. In diesem Moment wollte er mich schlagen. Ich sah sogar, wie sich seine freie Hand nach oben schob, um das harte, abgenutzte Leder an seiner Hüfte zu streichen.

Aber im nächsten Moment schubste er mich zur Treppe, zur Haustür und zurück in den schattigen Hof, zurück, in die Welt des Sonnenlichts, der Eiswagen und der bellenden Hunde. Als die Tür hinter mir zuschlug, warf ich einen letzten Blick hinein.

Ich sah die weißen Knöchel der linken Hand von Cannons Vater, wie fest diese Finger die honigfarbene Flasche mit dem Monster auf der Vorderseite umklammerten.

Ich sah einen Ringfinger, wo früher ein Ehering hingehörte. Ich sah den verbitterten Blick eines Süchtigen, der von Elend, Wut, Bedauern und Verlust gezeichnet war. Seine Augen sahen nicht mehr mich, sondern den Tresen, auf dem ein Drink zubereitet werden würde, sobald ich weg war.

Und kurz bevor sich die Tür schloss, sah ich meinen Freund über die Schulter seines Vaters. Cannon, dessen Brille in dem Durcheinander heruntergefallen war. Nur das linke Auge war nicht zugeschwollen. Und sein breiter, feuchter, verzweifelter Blick sagte mir mehr, als er je mit Worten gesagt hatte.

Etwa ein Jahr später, bei einem unserer wöchentlichen Ausflüge in die Videothek, war meine Mutter aus irgendeinem Grund besonders gut gelaunt.

Sie warf mir einen schelmischen Blick zu und sagte: „Na gut. Ich bin nicht blöd. Ich sehe, dass du dir da drüben die ganzen Gruselfilme ansiehst. Geh und hol dir einen.“

Während ich hinüberlief, hörte ich sie noch „Nur für Kinder“ rufen. Eine Weile sah ich mich um und spielte sogar mit dem Gedanken, mir einen auszuleihen. Komm schon, dachte ich. Das ist deine Chance! Du hast tatsächlich die Erlaubnis, einen Gruselfilm auszuleihen.

Aber die Wahrheit ist, dass nach diesem Tag in Cannons Haus etwas Seltsames passiert ist. Ich weiß nicht genau, wie ich es erklären soll.

Aber all die Kreaturen, Killer und Geister auf der Tonbühne haben an dem Tag, an dem ich einem echten Monster begegnet bin, etwas von ihrem Reiz für mich verloren.

Die Art von Monster, in die dich das Leben verändern kann, wenn du nicht aufpasst. Ich weiß es nicht. Ich schätze, dass ich irgendwann zu der Erkenntnis gekommen bin, dass man Horror nicht auf Plastikkassetten findet.

Du findest ihn irgendwo jenseits der Schaufenster, auf dem Bürgersteig, in einer Vorstadtstraße und hinter der Tür eines Hauses, in dem sich die Kinder stets für den Winter anziehen.

 

 

Original: Daniel DuBois

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