Lange

Dullwoods (by Implord)

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Dullwoods Journal

Eine digitale Niederschrift von Ada Aschenberg, ehemals die Englisch- und Vertrauenslehrerin der

Dullwoods- Schule in Little Kings

Die
meisten von Ihnen, werte Leser, werden wissen, worum es geht: Um den
Dullwoods- Vorfall vor vier Jahren, bei dem vom 18.8.2011 bis zum
19.12.2011 neun Schüler verschwanden und nie zurückkehrten. Die Schule
wurde kurz darauf geschlossen. Die Details sind noch heute nicht
bekannt, ich weiß nicht, warum es diese Neun traf und um genau zu sein,
kann ich Ihnen auch nicht den Täter nennen. Um genau zu sein, weil ich
Ihnen verraten kann, was die Schüler dachten. Um dies zu tun, habe ich
nach den Vorfällen mehrere Teile ihres Schullebens unter die Lupe
genommen. Ich habe in etwa andere Lehrer befragt, wie sich die Kinder im
Unterricht verhalten habe, ob sie eigenartige Fragen gestellt haben
oder ähnliches. Ich habe mir auch ihre Arbeits- und Notizhefte
angesehen, ihre Pulte und ihre Schließfächer.

Aber lassen sie mich alles vom Anfang an erzählen:

Ich
war damals seit einem Jahr in Dullwoods und ich muss sagen, ich liebte
meinen Job. Die Schule war klein, so wie das Dorf, und ich kannte jeden
Schüler beim Namen. Ich möchte auch behaupten, dass mich viele der
Kinder eben so sehr liebten, wie ich sie. Es war ein goldener Moment
meines Lebens, solange er anhielt. Solange er anhielt.

Die
Ereignisse begannen etwa zeitgleich mit dem neuen Schuljahr. Zu diesem
Zeitpunkt waren alle Kinder etwas launisch, wünschten sich die
herrlichen Ferientage zurück, und wen hätte es auch gewundert. Doch als
die Wochen vergingen wurden einige der Kinder wieder aktiver, fröhlicher
und dadurch fielen die anderen Schüler auf. Hätte ich damals genauer
aufgepasst, wie es meine Pflicht als Vertrauenslehrerin gewesen wäre,
wäre mir wesentlich früher der Unterschied zwischen einem Schüler
aufgefallen, der den Ferien nachtrauert und einem, den etwas wirklich
beschäftigt. Wobei ich an dieser Stelle betone, dass es die Kinder zu
diesem Zeitpunkt wirklich nur beschäftigte. Sie tuschelten und wirkten
unheimlich geheimniskrämerisch, vor allem für Kinder eines Alters, in
dem ein Geheimnis vielleicht für die Hälfte einer Mittagspause überlebt,
aber noch hatten sie keine Angst. Als ich schließlich darauf kam,
vermutete ich, dass es irgendetwas Verbotenes war. Vielleicht hatte
eines der Kinder ein Spiel ab 18 verteilt. Tatsächlich war das mein
erster Tipp und ich entschied mich, der Sache etwas nachzugehen.
Eventuell machte ich damit einen fatalen Fehler.

Der sicherste Weg, so dachte ich, wäre wohl, einen der Schüler zu fragen. Alleine, unbeobachtet.

Ich würde ihn fragen und versprechen, keiner Seele zu verraten, was er mir erzählen würde.

Und
meine Wahl traf auch Adrian Parker. Später wird er in diesem Journal
als Nr. 3 auftauchen, das dritte Opfer. Doch in diesem Augenblick war
Adrian für mich einfach nur das Kind, von dem ich am ehesten eine
ehrliche Antwort hören würde.

Am
Dienstag, den 16.8.2011, fing ich ihn kurz vor Schulschluss auf dem
Gang ab, plauderte etwas mit ihm und fragte ihn schließlich direkt, ob
er aktuell irgendein besonderes Spiel spielen würde.

„Spielst du aktuell irgendein besonderes Spiel?“

Das war meine Frage. Seine Reaktion war typisch: Er grinste bübisch und verneinte.

Ich
hielt ihn nicht weiter auf. Ich wollte nicht aufdringlich wirken. Wenn
ich die Wahrheit wollte, würde ich vorsichtig und höflich vorgehen
müssen, so dachte ich. Hätte ich damals genauer nachgehakt, hätte ich
vielleicht viel Unglück verhindern können. Vielleicht auch nicht. Wer
weiß.

Am
Tag vor dem ersten Verschwinden fiel mir an Adrian eine Sache auf und
eine Sache fiel mir an diesem Tag im Nachhinein auf. Was mir damals
auffiel, was Adrians erste Handlung, als er in der Schule ankam: Er ging
zu Elenore Hopkins und redete hastig auf sie ein.

Elenore, die in diesen Aufzeichnungen noch mehr sein wird, als nur eines der Entführungsopfer

(Nr.
7 um genau zu sein), schien amüsiert, aber ich war mir nicht sicher, ob
sie Adrian überhaupt verbal antwortete. Es fiel mir auf, weil sich
Adrian und Elenore sonst so wohl gesonnen waren, wie ein Fuchs und ein
Huhn. Und weil auch Ellen zu den Kindern gehörte, die sich damals
seltsam verhielten. Leider nahm ich auch diese Beobachtung nicht ernst
genug und achtete nicht weiter darauf. Was mir damals nicht ins Auge
stach, betraf Adrians besten Freund, Gabriel Norton.

Die
beiden Jungen waren typische beste Freunde, unzertrennlich, ungestüm
und immerzu im Gespräch mit dem anderen. Doch an diesem Tag ging Adrian
seinem besten Freund aus dem Weg und verpasste so die letzte Chance,
eine schöne Zeit mit ihm zu verbringen.

Gabriel Norton war das erste Opfer.

18. August, Verschwinden von Gabriel Norton

Das Opfer:

Gabriel Norton war kein besonders auffälliges Kind. Als er eingeschult wurde, hatte er ein kleines Problem mit Adrian Parker, der, weniger aus
ernster böser Absicht als aus Gedankenlosigkeit, einen Witz über
Gabriels dunkle Hautfarbe gemacht hatte. Mein Vorgänger erzählte mir
davon. Er schlichtete den Streit nicht nur, die Jungen waren seitdem wie Pech und Schwefel. Gabriel war der stillere Typ aus dem Duo, aber wenn

die beiden Unsinn anstellten, dann war es meistens seine Idee hinter der Ausführung.

Das Verschwinden:

Gabriel kam an diesem Donnerstag normal zur Schule und anders als am

Vortag, ging Adrian sofort auf ihn zu und begann ein Gespräch. Ich hatte nicht darauf geachtet, wie sich Gabriel am Vortag verhalten hatte, also
kann ich nicht sagen, ob die Distanz von zuvor beidseitig gewesen war.

Nun war sie jedenfalls vorbei. Während des Mathematikunterrichts in der
dritten Stunde bat Gabriel um den Toilettenschlüssel und verließ den
Klassenraum. Er kehrte nicht zurück und die Lehrerin, Miss Prunner,
machte sich Sorgen, ob Gabriel vielleicht krank war. Nach der Stunde
ging sie in Richtung der nächsten Jungentoilette. Die Tür war auf.

Der Tatort:

Erster Stock der Dullwoods, Ostflügel, Jungen- WC. Alle Wasserhähne waren aufgedreht, offenbar lange genug um die Waschbecken überlaufen zu
lassen, die Abflüsse waren mit Toilettenpapier verstopft. Der Rest des
Toilettenpapiers war wild im Raum verteilt. Alle Kabinen waren
abgeschlossen aber leer. Der Toilettenschlüssel lag in der Mitte des
Raumes am Boden.

Als
die Polizei kam, fand diese nicht einen Hinweis auf eine Entführung.
Ein Beamter merkte an, dass es nicht einmal nach einem Kampf aussah, da
die Klopapierrollen zwar wild verteilt, von den Wasserschäden durch den
halb gefluteten Fußbodens abgesehen, jedoch unbeschädigt war. Auch das
Aufdrehen aller Wasserhähne und verstopfen der Abflüsse schien nicht wie
etwas, dass man während eines Kampfes mit einem Entführer tun würde. Es
schien als hätte Gabriel den Raum betreten, den Schlüssel weggeworfen,
etwas randaliert und sich schließlich in Luft aufgelöst.

Hinweise:

Da Gabriel früh und plötzlich verschwand, konnten sich die Lehrer nicht
mehr an Details aus dem Unterricht erinnern. Sein Pult war weder bemalt
noch sonst versehrt. Nur in seinem Notizheft fand ich drei kleine

Hinweise. Der erste Hinweis fand sich bei den Aufgaben vom 27. Juli, den zweiten Schultag nach den Ferien, die in diesem Jahr früh begonnen

hatten. Ein kleiner schriftlicher Austausch zwischen Gabriel und
(vermutlich) Adrian. Adrian hatte die Worte

Pause, Cafeteria

an den Rand des Heftes gekritzelt und darunter eine Skizze einer Tür hinterlassen.

Gabriel
hatte diese Notiz, offenbar eine Mitteilung oder Aufforderung mit einem
kleinen Häkchen bestätigt. Der zweite Hinweis fand sich auf einer
bekritzelten Seite zwischen dem Freitag der selben und dem Montag der
nächsten Woche: Eine größere Variante der Tür, ein großes, weißes
Rechteck, dessen untere Seite etwas über die Ecken hinausging. Das
Innere des Türrahmens war stark radiert, als hätte er dort etwas
eingezeichnet und danach hastig entfernt.

Der letzte Hinweis stammte aus jener schicksalhaften Mathestunde, in der Gabriel verschwand.

Die
Aufgaben der Stunde waren abgeschrieben aber unbearbeitet. Stattdessen
hatte der Junge offenbar wahllos auf die Seite gekritzelt, hatte Stifte
gemalt, Radiergummis und etwas, dass ich für eine Tube für Klebstoff
halte. Doch all diese Kritzeleien wanden sich in einer unregelmäßigen
Spirale um das Symbol der Tür und in diese Tür war etwas geschrieben.
Die Schrift passte zu keinem der damaligen Schüler und mutete eher
erwachsen an:

Watcher, Watcher, Thou Who Dwells

In Corners Filled With Shade

Watcher, Watcher, Thou Who Tells

And Opens Us The Gate

I Ask Thee, Watcher, Show The Way

Clear The Path Of Thorns For Me

Today, Watcher, Take Me Away

To Where He Cannot Hurt Me

Standing Here, One Out Of Nine

At Thine Feet I Shall Bow

King Of Us, Watcher Of Mine

Child Of Thine I’m Now

Das
Verschwinden des Jungen und die folgenden Ermittlungen sorgten für
einen Schulausfall am folgenden Tag. Die Einsatzkräfte der Polizei
suchten natürlich alles ab und stellten tausende Thesen auf, aber nicht
eine war wahrscheinlich. Am Montag öffnete die Schule wieder, aber immer
wider unterbrachen Beamte den Unterricht um Lehrer wie Schüler zu
befragen.

Die
Kinder, vor allem Gabriels Freunde, waren schwer mitgenommen. Adrian
war nicht in der Schule. Doch es war nicht nur Sorge um den vermissten
Klassenkameraden.

Ich
merkte, dass die Kinder nervös wirkten. In meinen Unterrichtsstunden in
dieser Woche schielten die Kinder auffällig oft zu Elenore.

Die
Suche blieb erfolglos, doch während ich persönlich um Gabriels Wohl
betete, ging mich der Fall beruflich nichts an. Ich beruhigte die
Schüler und kümmerte mich wieder um die Sache mit dem Spiel. Nur wollte
ich Adrian nicht damit behelligen. Ich hatte in meiner Schulzeit nie
einen so guten Freund gehabt und konnte mir sein Entsetzen nicht
annähernd ausmalen.

Stattdessen folgte ich der einen Spur, die ich hatte: Elenore Hopkins.

Elenore
war ein misstrauisches Kind und erkannte eine Falle, wenn sie sie sah,
ich konnte sie aber auch nicht direkt ansprechen, wie Adrian. Deswegen
bat ich sie am Mittwoch, den 24.8. zu mir.

Wer sich mit dem Fall auskennt, weiß, dass dies zwei Tage vor dem zweiten Verschwinden war.

Ich
fragte sie, ob sie wüsste, ob Adrian krank ist. Um ehrlich zu sein,
erwartete ich von Elenore die Wahrheit zu hören, dass er besorgt um
seinen besten Freund war. Die Frage diente nur zum Beginn eines
Gespräches, sonst nichts. Ich hoffte, so irgendwie auf das Spiel zu
kommen.

Aber Elenore überraschte mich: Sie stellte eine Gegenfrage.

„Weswegen fragen Sie mich?“

Ich
witterte meine Chance und erzählte ihr, dass ich sie mit Adrian gesehen
hatte und überlegt hatte, ob sie vielleicht in Kontakt stünden. Ich
glaube, sie hat die Lüge sofort erkannt. Aber sie spielte mit und
verneinte meine angebliche Vermutung, sie würde Adrian nicht sehr gut
kennen.

Ich
hakte also vorsichtig etwas weiter nach, ob er ihr bei diesem einen
Gespräch bei den Hausaufgaben geholfen oder sich vielleicht etwas
geliehen habe.

Und
Elenore antwortete: „Er hat mich nach einem Spiel gefragt. Ich hatte es
der Klasse beigebracht und er hatte die Regeln vergessen.“

Und während Elenore nicht die Stimme hob und nicht das Gesicht verzog, hatte ich eine Gänsehaut.

Ich ließ sie gehen. Wenn das Spiel geheim war, würde ich von ihr nicht viel erfahren.

Ich
dachte ausgiebig über die Dinge nach, die ich bisher gesammelt hatte.
Doch diese Gedankengänge sind hier nicht wichtig. Ich kam zu dem
Schluss, dass es sich vielleicht nicht um ein Videospiel handelte,
sondern um ein richtiges Spiel. Vielleicht ein Spiel, bei dem sich die
Kinder verletzen konnten. Und Elenore hatte es der Klasse beigebracht.
Ich beschloss, ein Auge auf sie zu haben und vergaß für einen Moment
sogar Gabriel. Oder besser: Bis zum Freitag.

26. August, Verschwinden von Pascal Rince

Das Opfer:

Hätte Pascal die Schule beendet, irgendwo seinen Abschluss gemacht und

ins Leben gestartet, wäre er wohl Wissenschaftler geworden. Er war etwas cleverer als der Durchschnitt, aber viel mehr zeichnete er sich durch

Neugier aus. Er stellte alles in Frage, wollte immer alles ganz genau
wissen. Bei dem Rest der Klasse galt er als Streber und Außenseiter,
aber obwohl er ein anstrengender Schüler war, war er bei Lehrern sehr
beliebt. Er gab einem das Gefühl, dass man all das Wissen nicht umsonst
vermittelte.

Das Verschwinden:

Pascal war am Donnerstag nicht in der Schule gewesen. Laut seiner

Mutter hatte er sich nicht wohlgefühlt. Am Freitag brach er morgens
normal zur Schule auf. Im Klassenraum kam er nie an. Seine Schuhe lagen
auf dem Vorhof der Schule.

Der Tatort:

Anders als die Jungentoilette war dieser Tatort kein vollkommenes Chaos. Der Vorhof sah aus wie immer. Nur die Schuhe lagen eben auf dem
Hof. Einer lag ein ganzes Stück vor dem Haupteingang und auf der Seite.
Der Zweite lag unter dem Baum, genau in der Mitte des Schulhofs und
stand auf der Sohle. Dafür fand die Polizei diesmal mehr Hinweise,
kleine Schleifspuren und Flusen von Pascals Jacke. Es sah aus, als hätte man Pascal vor dem Haupteingang angegriffen und zum Baum gezehrt. Der

Vorhof ist gepflastert, nur um den Baum gibt es Erde. Die Polizei
bemerkte, das der Boden an einer Stelle kürzlich aufgewühlt worden war
und grub dort, das Schlimmste erwartend. Was sie fanden war Pascals
Rucksack, aber Pascal war nicht zu finden.

Hinweise:

Die Polizei untersuchte den Rucksack, fand aber nichts und übergab ihn der trauernden Familie. Allerdings untersuchten sie Pascals Pult nicht
und da fand ich ein Notizheft für Englisch. Zu diesem Zeitpunkt hatte
ich bereits so meine Vermutungen, aber dieses Heft wirkte wie die
Bestätigung eines Albtraums: Quer über dem Umschlag waren drei lange
Risse, die durch das ganze Heft gingen, wie von Krallen. Das Heft
selbst, dass im Unterricht immer so ordentlich und sauber gewesen war,
war voller hastiger Notizen. Wiederkehrende Themen waren die bereits
bekannte Tür und Skizzen von Spielgeräten auf dem Spielplatz der Schule.Auch sonst jagten mir die Notizen einen Schauer über den Rücken: „Wie bewegt es sich fort?“, hatte Pascal geschrieben, oder auch:

Was will es?“ An einigen Punkten hatte er kleine Augen an den Heftrand gemalt.

Sein Pult war mit einer kleinen Tür versehen. In den Türrahmen hatte er einen grinsenden Mund gemalt.

Pascals
Schließfach war zu Beginn meiner Untersuchungen natürlich geräumt
worden, aber sie hatten den Lack nicht mehr erneuert und so konnte ich
zumindest die zwei Wörter finden, die Pascal in die Innenwand seines
Schließfaches gekratzt hatte: WATCHER, und von dort aus ein Pfeil zu GABRIEL. Wie hatte die Polizei diesen Hinweis übersehen?

Pascals
Verschwinden war ein Schock für alle. Nicht nur die Trauer und Sorge
spielten hier mit, sondern auch die Angst um die eigenen Kinder. Die
Eltern hatten alle versucht sich einzureden, dass Gabriels Verschwinden
ein einmaliges Unglück war, aber zwei Verschwinden in so kurzer Zeit
ließen ihre schrecklichsten Fantasien wach werden. Auch die Kinder
hatten Angst, doch sie zeigten es viel grausiger: Nicht selten sah man
in diesen Tagen weinende Kinder in den Pausen. Wenn ich sie fragte, was
passiert war, war die Antwort oft dieselbe: „Sie sagen, ich bin der
Nächste.“

Ich
sprach natürlich mit den Verantwortlichen. Und ich stelle fest, dass es
mich nicht wunderte, als ich dabei wieder ins Gespräch mit Elenore
geriet.

Und
war sie beim letzten Mal bereits eigenartig selbstsicher gewesen, war
sie jetzt verdammt arrogant. Sie grinste mich breit an und sagte:
„Wieso? Wer weiß denn, wen es beim nächsten Mal trifft?“

Ich sprach mit ihren Eltern, aber daheim verhielt sie sich nach wie vor perfekt und machte keinen Ärger.

Zwischen
Pascal und dem nächsten Verschwinden, dem von Adrian, lagen am Ende nur
sechs Tage, doch Elenore gab mir rückblickend noch einen zweiten
Hinweis. Einen, den ich später unter anderem in Gabriels Notizbuch
wiedertraf:

Am
29.8. war ich auf der Suche nach ihr, weil sie ein weiteres Kind
geärgert hatte, und sah sie schließlich auf dem Schulhof. Sie und ihre
Freundinnen spielten ein Spiel, bei dem sie sich im Kreis an den Händen
fassten und singend ihre Plätze tauschten. Die genauen Regeln sind mir
heute nicht mehr geläufig, doch der Text fiel mir damals ins Ohr:

Watcher, Watcher, Thou Who Dwells

In Corners Filled With Shade

Watcher, Watcher, Thou Who Tells

And Opens Us The Gate

I Ask Thee, Watcher, Show The Way

Clear The Path Of Thorns For Me

Today, Watcher, Take Me Away

To Where He Cannot Hurt Me

Standing Here, One Out Of Nine

At Thine Feet I Shall Bow

King Of Us, Watcher Of Mine

Child Of Thine I’m Now

Und
auch hier schaltete ich nicht sofort und tat es als unwichtig ab. Ich
gab Eleonore die übliche Mahnung über ihr Verhalten und sie schien mich
wie üblich nicht ernst zu nehmen.

Was
Adrian betraf, am Mittwoch, dem Tag vor seinem Verschwinden, fiel
selbst mir auf, dass er sich seltsam benahm. Er kam verspätet zum
Unterricht und weigerte sich, eine vernünftige Entschuldigung abzugeben.
Er war nervös, erschreckte sich teilweise vor seinem eigenen Schatten.

Dann
wiederum, war er anderen gegenüber auch erschreckend aggressiv, in der
Pause prügelte er sich mit mehreren Schülern zugleich und nannte wieder
keinen Grund.

In meinem Unterricht erwischte ich ihn dabei, wie er in seinem Heft krakelte und konfiszierte es.

Nach
der Stunde wollte ich dann mit ihm reden. Ob ihn etwas bedrücke, fragte
ich, oder ob ich ihm helfen könne. Und jetzt schien er mit mir reden zu
wollen, jedenfalls wirkte er wesentlich weniger abweisend als zuvor.
Dann aber, zitterte er auch vor Angst. Ich schickte ihn verfrüht nach
Hause.

Am
Telefon erfuhr ich von seiner Mutter, dass er am Morgen gebettelt
hatte, nicht zur Schule zu müssen, aber keinen besonderen Grund hatte
nennen wollen. Nach Absprache stellten wir fest, dass dieses Verhalten
plötzlich aufgetreten war, er war nie wirklich gemobbt worden, es gab
bei ihm keine größeren familiären Probleme. Und am nächsten Tag verließ
er laut späteren Aussagen auch wieder normal und friedlich das Haus, er
war nur etwas still.

1.September, Verschwinden von Adrian Parker

Das Opfer:

Adrian stammte aus einer sehr freundlichen und warmherzigen Familie und
hatte diese Art geerbt. Ich erinnere mich nicht daran, dass er sich je

besonders hervorgetan hätte, nicht im Verhalten, nicht in seinen
Leistungen, aber er kam mit den meisten Schülern gut zurecht.

Mit wenigen Ausnahmen, darunter Eleonore.

Das Verschwinden:

Adrian verschwand während der großen Pause. Er hatte mit einigen

Freunden auf dem Hof gespielt und laut deren Aussage irgendwann
angekündigt, er wollte etwas aus dem Klassenraum holen. Dann sei er im
Schulgebäude verschwunden.

Der Tatort:

Da von Adrian nichts gefunden wurde, keine Schuhe wie bei Pascal, kein

Schlüssel wie bei Gabriel, muss bezüglich des Tatortes die Vermutung
einer Lehrerin reichen. Als die Polizei bereits weg war, sie hatten alle üblichen Fragen gestellt und alle üblichen Rätsel offengelassen,

durchsuchte ich die Schule, wie viele andere Lehrer, selbst noch einmal
auf eigene Faust.

Dabei stieß ich auf eine Kreidezeichnung an einer Wand, in einem der Obergeschosse.

Sie zeigte eine Tür und war, der Höhe der Zeichnung nach, von einem Kind gemalt worden.

Damals
ahnte ich nichts böses, aber wenn man bedenkt, wie oft ich später auf
diese Tür stieß, dann halte ich es für möglich, dass dies der Ort des
Verschwindens war. Ein Hinweis auf Adrians Zutun gab es: In dem
Klassenraum, in dem Adrian unterrichtet wurde, fehlte die Kreide. Adrian
war als einziger Schüler in dieser Pause nachgewiesenermaßen im
Schulgebäude gewesen.

Indiz Zwei war, dass Eleonore die Kritzelei noch später am Schultag eigenhändig entfernte.

Ich fragte sie und sie sagte, es wäre eine Strafaufgabe, weil sie andere Kinder geärgert hatte.

Diese
Strafe hatte sie zwar erhalten, bestand aber eigentlich darin, auf dem
Schulhof Müll zu sammeln, wie ich später herausfand (eine Aufgabe, die
Eleonore übrigens vernachlässigt hatte).

Hinweise:

Sein Heft war es, dass mich auf den Gedanken brachte, die anderen Hefte
zu untersuchen. Ich fand es nach der Schließung der Schule in meinen

Unterlagen:

Das
ganze Heft war mit Zeichnungen geflutet. Einige zeigten die bereits
bekannte Tür, andere wiederkehrende Themen waren jedoch Spielplatzgeräte
und, der Punkt der mich damals am meisten beunruhigte, grinsende
Gesichter. Nicht im Sinne von Smileys, sondern irr grinsende Fratzen.
Sie hatten keinen Umriss, kein eigentliches Gesicht, es war immer eine
Sichel, durch Striche in Zähne unterteilt, als Grinsen und darüber
meistens (aber nicht immer) zwei runde Augen mit Punkten als Pupillen.
Wenn ein Kind ein Gesicht malt, sind die Pupillen meist in der Mitte der
Augen. Hier jedoch lagen sie am unteren Rand der Augenkreise, sie sahen
jeden an, der das Heft durchblätterte. Wenn sie am Rand einer Seite
lagen, waren sie sogar entsprechend so platziert, dass sie noch immer
auf den Leser blickten, also wahlweise an den linken oder rechten Rand
gesetzt.

Er
war der einzige, der diese Symbole verwendete, aber in der
chronologischen Reihenfolge der Verschwinden nach der erste, der
wiederkehrende, nicht- schriftliche Themen außer Spielplatzgeräten und
Türen verwendete.

Während
die Lehrer nun völlig in Panik gerieten, die ersten Diskussionen über
eine Schließung umgingen und einige Eltern ihre Kinder aus der Schule
nahmen, blieben die Schüler erstaunlich gelassen. Sie schienen sich
nicht nur an die Verschwinden gewöhnt zu haben, sie machten sogar Witze
über Adrian, reimten unanständige Lieder über die Vorfälle und wirkten
sogar erleichtert.

Außerdem
schien Eleonore die Schülerschaft jetzt nahezu vollständig zu
beherrschen. In den Pausen kam man nicht an sie heran, so groß war die
Traube aus Kindern, die an ihren Lippen hingen. Ich vermutete damals
folgendes: Ich dachte, dass die Schüler, so wie ich auch allmählich,
Eleonore und ihr Spiel mit dem Verschwinden ihrer Schul- und
Klassenkameraden in Verbindung brachten. Adrian war ein Feind von
Eleonore und hatte vielleicht sogar Ärger gemacht.Nun war er weg und
Eleonore war zufrieden. Außerdem wollten sich die Kinder dadurch
schützen. Wer der Königin nahe steht, der ist sicher.

Und genau deswegen dachte ich angestrengt darüber nach, was ich mit diesem Mädchen tun sollte.

Ich
konnte sie nicht einfach für die Verschwinden verantwortlich machen. Es
war mein Job, den Schülern zu helfen, nicht, sie zu meinen Gegnern zu
machen. Und noch immer wollte mir kein Schüler Daten über dieses
verfluchte Spiel anzuvertrauen.

Wobei
Eleonore eine ganze Menge Spiele spielte: Keine 5-Minuten-Pause
verging ohne ein von ihr geleitetes Galgenraten, Schiffe versenken oder
sogar Tic- Tac- Toe.

Und in den großen Pausen spielte sie immer wieder dieses Singspiel mit ihren engeren Freunden.

Am
Dienstag, den 13. 9. stellte sich jedoch heraus, dass sie nicht
wirklich jeden Schüler in ihrer Hand hatte. In der zweiten Großen Pause
kam ihre beste Freundin, ein offen gesagt unangenehmes Kind namens Lucia
Addams (Nr. 9), zu mir (Ich war Pausenaufsicht) und alarmierte mich
über eine Schlägerei. Tatsächlich hatten sich zwei Schüler Eleonore
geschnappt und angefangen, wie wild auf sie einzuschlagen. Bei diesen
Schülern handelte es sich um Eric Munz (Nr. 6) und Heather Willis (Nr.
4). Zu keinem von beiden Kindern passte dieses Verhalten, aber hier war
Eleonore offensichtlich das Opfer. Und doch, als ich Eric von ihr
wegriss, bellte er mich an:

„Lassen
Sie mich! Sie ist an allem Schuld.“ Und auch Heather beschuldigte
Eleonore offen, die drei verschwundenen Mitschüler auf dem Gewissen zu
haben. Eleonore, arg ramponiert, aber weder wütend noch weinend, hörte
sich die Beschuldigungen an und ging dann mit einem sehr seltsamen
Gesichtsausdruck fort um sich das Blut aus dem Gesicht zu waschen.

Ich
befragte die beiden Angreifer sofort in meinem Büro und zum ersten Mal
erhielt ich echte Informationen: Eleonore hatte offenbar etwas aus den
Ferien mitgebracht, ein Buch oder so.

Sie
habe den Schülern eigenartige Spiele beigebracht und danach hätten die
eigenartigen Dinge begonnen. Doch die Beiden erzählten mir nicht nur von
dem Verhalten der Schüler: Offenbar sahen sie die Schule jetzt
wesentlich düsterer, sie behaupteten, etwas stimme mit den Lampen nicht,
und sie fänden sich oft in Gängen wieder, die sie nie zuvor gesehen
hatten. Heather berichtete mir von Stimmen in den Waschräumen, die sie
baten, mitzukommen.

Und Eric nannte mir die Gründe weshalb die drei Kinder verschwunden waren:

Adrian
hatte Eleonore wegen ihrer Spiele zur Rede gestellt, weil er die
eigenartigen Ereignisse auch bemerkt hatte. Deswegen hatte Eleonore
Gabriel verschwinden lassen, als Warnung an Adrian. Sie hatte es
bevorzugt, ihn so zu bestrafen, weil sie ihn hatte quälen wollen.

Pascal
hatte wiederum einen Streit mit ihr über etwas gehabt, dass selbst die
beiden Kinder, die Eleonore als böse Hexe schimpften, nicht beim Namen
nennen wollten. Er hatte auch Fragen über Gabriel gestellt. Ihn hatte
das Schicksal des TV- Kommissars ereilt, der zu viele Fragen stellte.

Und
als Adrian weiterhin offenen Widerstand gegen Eleonore gezeigt hatte,
hatte es ihn doch getroffen. Laut Heather hatte Adrian versucht, sie vor
Eleonore zu warnen. Er hatte auch vorgeschlagen, die Unruhestifterin zu
dritt zu verprügeln. Ich ahnte nun, dass es einen wesentlich düsteren
Grund gab, weshalb Kinder verschwanden, als ich dachte.

Jeder
andere hätte nun die Polizei gerufen, mit Eleonores Eltern und den
anderen Lehrern geredet, aber zum einen wollte ich nicht in der
Geschlossenen enden und zum anderen konnte ich Eleonore noch immer nicht
als bösen Menschen einstufen. Es ging gegen meine Natur. Plus, die
Geschichte der beiden Kinder war zwar unheimlich, aber noch konnte ich
mir nicht vorstellen, wie ein Kind wie Eleonore Schüler verschwinden
lassen sollte.

In
den folgenden Tagen beobachtete ich sie daher sehr genau. In den Pausen
folgte ich ihr, ich behielt sie im Unterricht im Auge, aber außer ihren
offensichtlichen Vorlieben für Spiele aller Art, konnte ich keine
eigenartigen Tätigkeiten entdecken. Abgesehen von der Armee von
Anhängern, versteht sich. Sie machte es recht unmöglich, die Gespräche
zu belauschen.

Auch Heather und Eric behielt ich im Auge. Sie standen oft mit einem weiteren Jungen,

Oswald
Cooper (Nr. 8) in irgendwelchen Ecken und diskutierten angestrengt.
Ihnen wollte ich nicht zu sehr auf den Pelz rücken, aber ich bin mir
sicher, es ging um Eleonore und ihr Spiel.

Am 19. kam Heather dann vollkommen aufgelöst zu mir. Lucia hatte ihr offenbar gedroht:

Wenn sie nicht „aufpasste“, würde sie demnächst verschwinden.

Und
während Eleonore für mich aktuell ein zu komplizierter Fall war, als
dass ich ihn in einem Stück hätte knacken können, war Lucia nicht mehr
als eine Problemschülerin.

Ich
holte sie in der nächsten Stunde aus dem Unterricht und stellte sie zur
Rede. Vielleicht bin ich dabei etwas unprofessionell vorgegangen. Was
die Vorfälle betraf, war ich es gewohnt mit Eleonore zu reden, die
sowohl in ihrem Intellekt als auch in ihrem Verhalten wesentlich älter
schien, als sie es tatsächlich war. Als ich Lucia mit derselben
aggressiven Konfrontationstaktik anging, fing sie an zu weinen. Nachdem
ich sie beruhigt hatte, konnte ich ihr dennoch einige klare Worte
entlocken:

Heather
hatte versucht, Lucia über das „Spiel“ zu befragen und Lucia war nervös
geworden. Ihre Drohung wäre aus Panik resultiert. Um brutal ehrlich zu
sein, Lucia Addams war nie ein besonders gescheites Kind und ich glaubte
ihr. Ich brachte die Mädchen dazu, sich beieinander zu entschuldigen
und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Wären die Kinder nicht
verschwunden, ich hätte eine Massenpsychose vermutet, aber so blieb ich
ohne wirkliche Anhaltspunkte zurück.

21.September, Verschwinden von Heather Willis

Das Opfer:

Heather war die Art von Mädchen, mit der Lehrer auf schulübergreifenden

Wettbewerben angaben. Gute Noten, nett, höflich und ein starker Sinn für Gerechtigkeit.

Genau
wie Eleonore hatte ich bei ihr oft das Gefühl, mit einem Erwachsenen zu
sprechen, aber während Eleonore ihre reife Natur nutzte, um ihre
Respektlosigkeit auszudrücken, kam Heather mir manchmal wie eine
Freundin vor. In den Pausen unterhielt sie sich gerne mit mir und den
anderen Aufsichten.

Das Verschwinden: In der Pause vor der letzten Stunde geriet Heather wieder in einen Streit mit Lucia. Ich war im Klassenraum und versuchte sie
auseinanderzubringen, aber vorher gingen sie die Mädchen regelrecht an
die Kehlen. Und zu meiner Überraschung war es Lucia, die sich vernünftig verhielt und sich zuerst entschuldigte. Sie hatte sich eine saftiger

Ohrfeige eingefangen, aber Heather hatte eine blutige Lippe und Lucia
bot an, mit Heather in den Waschraum zu gehen, um das Blut von ihren
Kleidern zu waschen. Sie verließen den Klassenraum. Eine Minute später
kam Eleonore zu mir und sagte mir: „Ich fürchte, Sie haben einen Fehler
gemacht.“

In
diesem Moment klang sie fast besorgt. Und ich ahnte was sie meinte und
begab mich zu den Mädchen- Waschräumen. Sie waren leer. Ich leitete
sofort eine Suche ein.

Am
Ende, die Polizei kam schon an, fanden wir Lucia verängstigt weinend
auf dem Schuldachboden. „Das sollte nicht passieren“, schrie sie immer
wieder, „Das sollte nicht passieren.“

Der Tatort: Lucia weigerte sich, irgendeine Art von Auskunft über Heathers Aufenthaltsort
zu geben. Alle Schüler wurden zusammengerufen und wir baten sie, nach Hause zu gehen.

Als
fast alle weg waren, kam Eleonore zu mir und sagte, Lucia hätte ihr
verraten, wo Heather verschwunden sei. Ich folgte ihr zu einer
Abstellkammer. Das Holz der Tür war zerkratzt, als hätte ein Tiger sich
daran die Krallen geschliffen. In der Kammer selbst herrschte Chaos,
aber es gab keine Hinweise auf Heather. Während ich den Raum
durchsuchte, ging Eleonore nach Hause.

Hinweise: Leider wollten Heathers Eltern keine Besitztümer ihrer Tochter aushändigen.

Die Lehrer erinnerten sich, dass sie nervös gewesen war, aber mehr
nicht. Ihr Spind war sauber, ihre Hefte wiesen höchstens ein kleines
Blümchen auf, aber keine ominösen Zeichnungen. Ich war fast am Aufgeben, als mir zufällig ein Bild zufiel, dass Heather am 20. September in der Kunst- AG gezeichnet hatte. Es zeigte eine große Tür und dahinter einen
großen Spielplatz. Um den Türrahmen schlang sich in (mittelmäßig
nachgemachter) altertümlicher Schrift das Gedicht:

Watcher, Watcher, Thou Who Dwells

In Corners Filled With Shade

Watcher, Watcher, Thou Who Tells

And Opens Us The Gate

I Ask Thee, Watcher, Show The Way

Clear The Path Of Thorns For Me

Today, Watcher, Take Me Away

To Where He Cannot Hurt Me

Standing Here, One Out Of Nine

At Thine Feet I Shall Bow

King Of Us, Watcher Of Mine

Child Of Thine I’m Now

Ich
achtete nicht mehr auf die Stimmung der Schüler, der Lehrer, nicht auf
die munkelnden Stimmen, die von einer Schließung der Schule sprachen.
Ich war zu dem Schluss gekommen, dass mich die Jagd nach irgendeinem
bösen Subjekt in der Schule davon abgehalten hatte, zu tun, was
eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre. Mit den Schülern zu sprechen,
ihnen zu helfen, sie zu schützen. Und zum letzten dieser Zwecke bat ich
am Freitag Eleonore zu mir und konfrontierte sie offen mit meinem
Wissen, dass sie hinter allem steckte. Sie zeigte keine Reaktion.

Ich fragte sie, wie sich die Schüler schützen könnten, gegen was auch immer.

Und wieder zeigte sie keine Reaktion.

Am
Ende tat ich etwas, dass ich im Nachhinein sehr bereue: Ich
suspendierte Eleonore wegen psychischer Terrorisierung anderer Schüler
für zwei Wochen von der Schule.

Die
Wirkung zeigte sich sofort. Die Schüler wirkten plötzlich wieder
fröhlich, sie plauderten und Kinder, die sich um Eleonore gescharrt
hatten wie ein Schwarm Mücken, spielten wieder mit ihren alten Freunden.
Für die erste Woche war alles perfekt.

In
der zweiten Woche kam Keira Valentino. Nummer 5. Nach der ersten Stunde
wanderte sie, wie zufällig, in meinen Besprechungsraum und teilte mir
mit, dass sie am Freitag verschwinden würde.

Wie
sie darauf kam, erzählte sie mir nicht. Stattdessen erzählte sie mir
die Geschichte, die ich Ihnen hier im Grunde erzählen möchte:

Eleonore
hatte in den Ferien irgendwie etwas aufgeschnappt, gefunden, wie auch
immer. Sie hatte jedenfalls ein gefährliches Spiel entdeckt und
getestet. Keira tippte auf ein Witch- Board oder etwas vergleichbares.
Sie erwähnte auch ein Buch. Mit diesem Buch hätte sie in der Schule
etwas Altes geweckt, eine Art Kreatur, die Keira den Beobachter
nannte. Er wurde durch einen bestimmten Reim angezogen, den Eleonore der
Klasse beigebracht hatte. Wer ihn wiederholte, war ab sofort Teil des
Spiels. Jeder Teilnehmer hatte eine bestimmte Anzahl an Punkten, die man
durch Spiele vermehren oder, im Falle einer Niederlage, verlieren
konnte. Auch mit Erwachsenen über das Spiel zu reden, brachte
Minuspunkte, so, wie jeder andere Regelverstoß. Man konnte seine Punkte
auch freiwillig opfern. Für zwei Punkte, die man zahlte, konnte man
einem anderen Spieler einen Punkt geben oder abnehmen. Sanken die Punkte
auf Null, verschwand man.

Und
an dieser Stelle wurde es interessant: Laut Keira wussten die meisten
Schüler weder, dass jeder seine Punkte opfern konnte, um anderen zu
helfen oder zu schaden, noch wussten die wenigen Eingeweihten, wie genau
man seine Punkte an den Beobachter zahlte. Aber jemand hatte es herausgefunden, denn Heathers Verschwinden war kein Teil des Plans gewesen.

Keira
sprach frei und beantwortete somit viele meiner Fragen. Nur, wenn ich
sie auf ihre erste Aussage ansprach, sie würde am Freitag selbst
verschwinden, stellte sie sich taub.

Am
Dienstag beobachtete ich sie in der Pause. Sie war ausgesprochen
energetisch, spielte viele Spiele mit (wobei ich nicht sicher war, ob es
nur Spiele waren) und sprach angeregt mit ihren Klassenkameraden.
Besonders mit Eric, der sich von ihr jedoch verunsichert zu fühlen
schien. Er lächelte zwar, aber darin lag eine seltsame Mischung aus Zorn
und Angst.

Und in der zweiten großen Pause war sie wieder bei mir und erzählte mir von dem Spiel.

Sie
berichtete, dass fast jedes typische „Schul- Spiel“ als Teil des Spiels
diente. Man konnte sein Leben beim Tic- Tac- Toe verlieren, stellte sie
amüsiert fest. Ich konnte ehrlich gesagt nicht darüber lachen. Es war
schwer zu glauben, dass dieses Mädchen annahm, am Ende der Woche für
immer zu verschwinden.

Am
Mittwoch tat ich Überlegungen bezüglich dreier Dinge. Zunächst
überlegte ich einmal mehr, die Geschichte an den Schulleiter oder die
Polizei zu leiten. Leider fiel mir keine Möglichkeit ein, die mich nicht
in ein Irrenhaus geführt hätte. Und von dort wäre ich niemandem eine
Hilfe gewesen.

Zweites
dachte ich über Wege nach, Schüler zu schützen. Weshalb sie überhaupt
spielten war mir ein Rätsel. Sie hatten nichts zu gewinnen. Vielleicht
konnte ich bestimmte Spiele verbieten?

Eher
nicht. Schließlich überlegte ich mir Fragen für Keira, mit deren
dritten Besuch ich bereits rechnete. Und tatsächlich klopfte sie in der
ersten Pause schon an meine Tür und trat ein.

An diesem Tag stellte ich Fragen. Zunächst, woher sie soviel über das Spiel wusste.

Sie
erzählte mir, dass sie eine begabte Spielerin war und deswegen sehr
schnell sehr viele Punkte gesammelt hatte. Deswegen gehörte sie zu einer
Art Elite unter den Spielern. Um ehrlich zu sein, sie behauptete, sie
sei unbesiegbar. Nur durch ihre hohe Punktzahl konnte sie es sich
leisten, so mit mir zu reden.

Meine
andere Frage jedoch überraschte sie: Ich wollte ihre Absichten wissen.
Weswegen sprach sie mit mir? Nachdem ich das gefragt hatte, sah sie mich
verwirrt an. Und dann grinste sie breit und verließ mein Sprechzimmer.
In den Pausen sprach sie wieder fiel mit Eric. Diesmal wirkte sie eher
traurig, während in Erics Augen eine seltsame Motivation funkelte.

Ich beschloss, sie am nächsten Tag auf ihre Gespräche mit Eric anzusprechen.

Am Donnerstag war Keira krank.

7. September, Verschwinden von Keira Valentino

Das Opfer: Keira war technisch gesehen die wohl intelligenteste Schülerin der Schule.

Sie litt an Autismus und sie galt als sehr seltsam, ihre Noten
variierten von Himmel zu Hölle. Sie war Mitglied in fielen Clubs und
Vereinen innerhalb und außerhalb der Schule. Freunde hatte sie nicht
viele, allerdings hatte sie ein recht gutes Verhältnis zu Schülern wie
Adrian oder Heather. Geboren als Albino war sie von Freiluftaktivitäten
entbunden, da sie sich nach Möglichkeit von der Sonne fernhalten musste.

Das Verschwinden: Noch vor der ersten Stunde suchte mich Keira im Lehrerzimmer auf. Sie sagte:
„Auf Wiedersehen.“ Mehr nicht. Und als ich einen Schritt auf sie zumachte, lachte sie und rannte aus dem Zimmer. Ich folgte ihr sofort,
aber vor der Tür war der Gang leer. Ich suchte nach ihr und fand den
Ort, an dem sie verschwunden war ohne Mühe.

Der Tatort: Auf dem Schulhof war mit rosafarbener Kreide eine Art Zirkel gezeichnet,

wie man es aus einem Horrorfilm kennt. Der Kreis bestand aus zwei
Ringen. Der innere Ring war in einundzwanzig Felder oder Abschnitte
unterteilt, in jedem befand sich ein obskures Zeichen. Der äußere Ring
war in fünf Abschnitte unterteilt. In je einem Abschnitt lagen ein
Zeichenblock, ein Päckchen Kreide, eine Dose mit Tintenpatronen,
Bleistifte und ein Tuschkasten.

Das
Innere des Kreises war geschwärzt, wie von Feuer, doch in der Mitte lag
ein einziges Stück Papier, vollkommen unbeschadet. Darauf war hastig
das Gedicht gekritzelt, dass mir allmählich nur zu vertraut wurde:

Watcher, Watcher, Thou Who Dwells

In Corners Filled With Shade

Watcher, Watcher, Thou Who Tells

And Opens Us The Gate

I Ask Thee, Watcher, Show The Way

Clear The Path Of Thorns For Me

Today, Watcher, Take Me Away

To Where He Cannot Hurt Me

Standing Here, One Out Of Nine

At Thine Feet I Shall Bow

King Of Us, Watcher Of Mine

Child Of Thine I’m Now

Hinweise: Auch wenn die Polizei keine Verbindung zwischen dem Kreis und Keira sah, sie
führten Ersteren auf randalierende Jugendliche zurück, es war ein

ziemlich fetter Hinweis. Täuschte es, oder war die Polizei wirklich
auffallend inkompetent? Und da Keira deutlich mehr gewusst hatte als die anderen Schüler, die bis dahin verschwunden waren, erhoffte ich mir von
ihrem Notizbüchern, Blöcken und anderen Schulmaterialien einiges.

Zumindest die Menge war von Beginn an alles andere als enttäuschend: Ihr Schließfach war von eigenartigen Zeichen so zerkratzt, dass man kaum

etwas erkennen konnte. Ihr Block wies die typischen Zeichnungen auf,
Türen, Spielplätze, Schulmaterialien, aber auch eine individuelle
Symbolik: Motten und Spinnenweben. Zudem schien sich Keira intensiv mit
ihrem Albinismus beschäftigt zu haben, denn ihre Kritzeleien waren auch
durch pinke Augen ergänzt. Allerdings weiß ich nicht, ob es hier einen
echten Zusammenhang gab. Keira war früher bereits aufgefallen, weil sie
den Personen, deren Portraits und Fotos in ihren Schulbüchern zu finden
waren, die Augen pink gemalt hatte.

Doch
zwei Zeichnungen waren durch und durch verstörend. Und sie waren
garantiert nicht von einem normalen dreizehnjährigen Mädchen angefertigt
worden: Das erste Bild war eine unglaublich detaillierte Wachszeichnung
eines Spielplatzes. Auf diesem Spielplatz waren vier Kinder. Verglichen
mit den detaillierten und doch leicht verschwommenen, surrealen
Gerüsten, waren die Kinder eher grobschlächtige, lieblose Skizzen, doch
an der Stelle ihrer Köpfe hatte Keira Namen eingeritzt: Gabriel, Pascal,
Adrian, Heather. Die verschwundenen Kinder.

Auf dem Himmel war etwas wie eine Rechnung gekratzt.

-2 = -1

-58 = -29

-56 = -28

Das diese Rechnung etwas mit den Regeln zu tun hatte, die Keira mir erklärt hatte, ahnte ich schon hier.

Die
andere Zeichnung zeigte Keira selbst in einem weiten, weißen Kleid, in
einem Wirbel der Farben Rosa und Schwarz. Von allen Seiten des Papiers
griffen lange, vernarbte Hände nach Keira und rissen an ihr und ihrem
Kleid. Ihr Gesicht auf dem Bild war vollkommen ausdruckslos.

In
einem ihrer Schulhefte fand ich, neben den üblichen Kritzeleien, eine
Doppelseite, die mit schwarzer Tinte übermalt war, die ein großes
Spinnennetz darzustellen schien. Und auf dieses Netz hatte sie echte,
plattgedrückte Motten geklebt! Die Motten waren mit den Namen der
bisherigen Opfer versehen, doch neben den normalen Kleidermotten hatte
sie eine von diesen riesigen Viechern, gut sieben Zentimeter lang, ins
Netz geklebt. Um sie herum war alles mit schwarzem Insektenblut
verschmiert. Sie trug den Namen Eleonore. In der Mitte des Spinnennetzes lag ein großes, pinkes Auge.

Eleonore
kam am Montag, am zehnten Dezember, zurück in die Schule, der Woche der
drei Verschwundenen, und ich fühlte mich vollkommen ausgebrannt. Ohne
es zu begreifen hatte Keira alles verändert. Ich war über den Punkt
hinaus von einer simplen Schulhofmythe auszugehen, ich glaubte
allmählich, die Ereignisse zu verstehen, die hier geschahen. Und ohne es
zu bemerken, hatte ich begonnen gehabt, Keira als einen Schlüssel zu
sehen, einen Schlüssel zum Sieg gegen den Beobachter . Und sie war verschwunden, direkt bevor Eleonore zurückkam. Eleonore, die eigentliche Spinne im Netz.

Am
selben Tag fielen noch ein weiterer Schüler auf. Eric in etwa, hatte
heute seinen Höhepunkt der Nervosität. Ich fragte mich, was Keira ihm
verraten hatte, und ob ich mit ihm reden sollte.

Jeder
Schüler, der bisher auffällig geworden war, war verschwunden. Jeder,
der in diesem perfiden Spiel eine höhere Rolle spielte, verlor
irgendwann gegen Eleonore.

Ich
habe damals überlegt ob Eric sein Verschwinden ebenfalls vorhergesehen
hat, immerhin verschwand er am Donnerstag der selben Woche. Ich glaube
nicht. Weshalb, dazu komme ich später. Zumal Eric nicht das einzige
Problem war, das an dieser Schule vorherrschte:

Auch
von anderer Seite wurde die Lage angespannt. Wie gesagt, ich hatte
versucht es zu ignorieren, aber die Schule wurde mit der Schließung
bedroht, sollte auch nur ein weiterer Schüler verschwinden. Ich hätte
schon längst dichtgemacht, aber noch blieb die Schulleitung hartnäckig.

Eleonore war im Grunde ihr übliches Selbst. Sie zog mit Lucia durch die Schule, zog andere Schüler auf und spielte.

Am
Dienstag wurde mir die Entscheidung abgenommen, ob ich mit Eric reden
wollte oder nicht. Er kam nach der vierten Stunde zu mir und versuchte
mir etwas mitzuteilen. Ich bin mir ziemlich sicher, denn er fing
mehrmals einen Satz an und brach dann ab. Am Ende fragte er mich sehr
sachlich, wie Keira sich in ihrer letzten Woche verhalten hatte und ich
entgegnete ihm, wie fröhlich sie gewesen war, wie ruhig, obwohl sie
vermutlich gewusst hatte was kommt.

Es
gab auch einen heftigen Streit, um den ich mich kümmern musste: Oswald
und einige seiner Freunde, die den Vorfall überstanden und deswegen hier
nicht genannt werden sollen, hatten sich offenbar gegen Lucias
Provokation gewehrt und ihr heftige Konter gegeben. Wodurch Selbige
wieder angefangen hatte zu weinen und Eleonore den Jungen gedroht hatte.
Am Ende hatte Oswald einen Zahn verloren und war von Eleonore sogar
ausgelacht worden.

„Er
hätte mich schlagen können, aber er hat’s nicht gemacht“, grinste sie
breit, „Weil ich ein Mädchen bin.“ Ich gab ihr eine Verwarnung, sie
könne gerne nochmal zwei Wochen Schulstoff nachholen, wenn sie darauf
bestünde und erwirkte einen vorläufigen Frieden zwischen Lucia und den
Jungen.

Es
war die fünfminütige Pause vor der letzten Stunde des Tages, als man
mich zu einer weiteren Ausartung rief. Und es war schrecklich: Eric
hatte Eleonore abgefangen und verprügelt. Ihre Nase war blutig wie ihre
Lippen, sie hatte Schrammen und Kratzer am ganzen Körper und als man
Eric von ihr gezerrt hatte, hatte er versucht, ihr den Arm zu brechen.
Dann hatte er ihr noch mit dem Tode gedroht, sie angespuckt und aufs
übelste beleidigt.

Laut
Eleonore hatte er zu Beginn des Kampfes versucht, ihr eine lebende
Motte in den Mund zu stopfen, die er irgendwo gefangen hatte. Es war
nicht schwer, aktuell Motten zu fangen, sie saßen aus irgendeinem Grund
überall in der Schule an den Wänden. Sie machten mich nicht zu nervös,
ich hatte Keiras Hinweise
ja noch nicht gesehen. Ob es einen tieferen Grund gab, oder ob Eleonore
einfach noch nie so hart geschlagen worden war, sie reagierte nicht so
gefasst wie sonst. Sie hatte Weinkrämpfe, zitterte wie Espenlaub und
tatsächlich erinnerte sie mich ein letztes Mal daran, dass sie ein Kind
war. Ich versuchte sie zu trösten, aber sie schüttelte wieder und wieder
den Kopf und wollte nach Hause. Eric ließ derweil alle Schimpftiraden
über sich ergehen, er schwieg als ich mit ihn reden wollte und nahm die
Strafstunden, die man ihm aufbrummte einfach an. Aber als er den
Besprechungsraum verließ, grinste er.

13. Dezember, Verschwinden von Eric Munz

Das Opfer:
Eric war lange ein guter Junge gewesen. Ein Anführer, nicht unähnlich
zu Heathers Wesen, nur direkter. Ich erinnere mich, wie er seinen Hund
auf das Zerreißen von Hausaufgaben dressiert hatte. Doch in der Zeit der
Verschwinden hatte sich sein Wesen stetig gewandelt. Er war still
gewesen, hatte erst viel mit Adrian und Heather, dann auch mit Oswald in
ruhigen Ecken getuschelt, doch nach dem Adrian und Heather fort waren,
hörten auch die Gespräche mit Oswald auf. Ich glaube, sie mochten
einander nicht zu sehr. Auch wirkte er oft wesentlich aggressiver als
sonst, an anderen stellen fast emotionslos und in einigen Fällen
auffällig nervös und schreckhaft.

Das Verschwinden: Eric war an diesem Tag der einzige Schüler beim Nachsitzen. Er erledigte

seine Strafaufgaben und blieb vernünftig und ruhig wie lange nicht mehr. Irgendwann ging die Aufsichtslehrerin um mehr Aufgabenblätter zu holen,
da Eric schneller vorankam als gedacht.

Als sie den Raum verließ, sagte sie später, begann Eric leise zu singen. Auf Englisch.

Ich
fragte sie nach dem Test und ahnte natürlich, was sie antworten würde,
allerdings überraschte sie mich damit, oder vielmehr tat es Eric, dass
sein letztes Lied offenbar John Lennons

Instant Karma gewesen war.

Als
sie zurückkam, war die Tür verschlossen. Sie klopfte gegen die Tür und
es kam keine Antwort. Sie wollte aufschließen, doch das Schloss war wie
gefroren (Sie führte es auf ihre zitterigen Hände zurück, nachdem sie
einige Tassen… Tee genossen hatte). Sie holte den Hausmeister und der
öffnete die Tür ohne Probleme. Doch, man ahnt es, Eric war weg.

Der Tatort: Ich habe mir das Zimmer selbst angesehen und es gab an sich nichts

besonderes. Nur auffällig viele Motten flatterten durch die Luft. Ich
spürte auch eine Gänsehaut und hatte das Gefühl, beobachtet zu werden.
Ein seltsamer Duft von Moschus hing in der Luft. Doch bei all diesem bin ich mir nicht sicher, ob es am Raum oder an meiner Vorstellung lag.

Hinweise: Alle Aufgaben, die man Eric gegeben hatte, hatte er vor seinem Verschwinden

erledigt. Doch er hatte auch auf jeden Zettel offene Türen gemalt, hatte Spielplatzgeräte und Schulmaterialien gekritzelt und ganz unten, auf

der letzten Seite hatte er etwas geschrieben:

Wir haben gelebt

14. Dezember, Verschwinden von Eleonore Hopkins

Das Opfer:
Eleonore war intelligent und hatte eine Tendenz, sich aufzuspielen, sie
war auch begabt darin, andere (besonders Lucia) zu manipulieren. Bevor
sie die Züge annahm, die Sie, werte Leser, hier kennenlernen durften,
war sie jedoch ein im Grunde recht ehrliches, aufgewecktes Kind gewesen.
Sie hatte diese besondere Tendenz, Leute durch reifes Verhalten zu
überraschen und sie hatte auch dieses Gen, unangenehme Fragen zu
stellen, wenn man sie am wenigsten gebrauchen konnte. Ich werde sie
nicht als bösen Menschen in Erinnerung behalten.

Das Verschwinden:
Eleonore hatte immer eine Tendenz zur Selbstinszenierung gehabt, doch
ihr Verschwinden schoss den Vogel ab. Wenn auch nicht als Teil ihrer
eigenen Planung:

In
der dritten Stunde am Mittwoch, alle waren noch etwas benommen von
Erics Verschwinden, fiel uns nicht wirklich auf, dass sie fehlte. Bis
das Licht ausging. In der gesamten Schule fiel der Strom aus. Und dann
hörten wir sie alle laut und deutlich aus dem Lautsprecher singen:

Watcher, Watcher, Thou Who Dwells

In Corners Filled With Shade

Watcher, Watcher, Thou Who Tells

And Opens Us The Gate

I Ask Thee, Watcher, Show The Way

Clear The Path Of Thorns For Me

Today, Watcher, Take Me Away

To Where He Cannot Hurt Me

Standing Here, One Out Of Nine

At Thine Feet I Shall Bow

King Of Us, Watcher Of Mine

Child Of Thine I’m Now“

Sofort
eilten Lehrkräfte, ich war eine von Ihnen, zum Sekretariat. Die
Sekretärin war ohnmächtig (Sie sollte sich später an absolut nichts
erinnern) und das Lied verstummte Sekunden, bevor wir die Tür zum
Durchsageraum öffneten.

Eleonore war fort.

Dafür hatte sie eine letzte Notiz am Aufnahmegerät hinterlassen, geschrieben auf einen kleinen Heftzettel: Well played, Moth 😉

Der Tatort: Die Wände des Raumes waren feucht und das Licht, dass hier aus irgendeinem Grund funktionierte, flackerte auffällig. Ich roch außerdem etwas, es
erinnerte mich an etwas, an Holz und rostiges Eisen, aber ich kann noch
immer nicht genau sagen, was dieser Duft in meinem Unterbewusstsein
geweckt hat. Ich fand damals sehr viele tote Motten am Boden des Raumes. Als ich später zur Recherche noch einmal zurückkehrte, war dies wieder

der Fall. Sie kommen in diesen Raum und sterben dann.

Hinweise: Vermutlich sollte man meinen, Eleonores Notizen wären ein einziger Quell der Erkenntnis gewesen. Das eigenartige ist jedoch, dass Eleonore als
einzige Schülerin nicht einen einzigen Hinweis hinterließ, den ich hier
hätte aufführen können. Egal, welche Notizen in welchen Heften sie
gemacht haben mochte, in der Schule wurde ich nicht fündig. Daher fragte ich schweren Herzens ihre Familie nach Besitztümern ihrer verschollenen
Tochter und sie erlaubten es. Nur, dass da keine Bücher mehr waren, keine Hefte, nichts. Eleonore muss Notizen haben, irgendwo versteckt,
aber sie hat mich am Ende wohl überlistet, was das betrifft. Somit
bleibt nur ihre Abschiedsnotiz. Aber dazu werde ich später kommen.

Zwei
Opfer an zwei Tagen waren schlimm genug. Eleonore unter den Opfern…
Nun, die Schüler drehten förmlich durch. Über die Hälfte kam nicht
länger zur Schule, der Rest war im Unterricht zu nichts zu gebrauchen.
Ich selbst war geschockt. Damals verwirrte mich die Notiz in Bezug auf
die Motten, aber vor allem irritierte mich Eleonores Verschwinden: Sie
war die ganze Zeit die Person gewesen, die hinter allem steckte, sie war
meine Gegenspielerin in diesem surrealen Albtraum gewesen und nun war
sie ihm zum Opfer gefallen? Wie bei Keira schon, fühlte ich mich, als
wäre ein wichtiger Anhaltspunkt einfach weggebrochen. Und mein Wille zum
Kampf war auch fort.

Ich
redete mir ein, weiterhin an diesem Fall zu arbeiten, doch innerlich
fehlte mir der Bezug zu allem. Auf wen sollte ich mich noch
konzentrieren?

Bis
Oswald am Freitag verschwand, tat ich nichts anderes als in meinem Büro
zu sitzen, die letzte Notiz von Eleonore anzustarren, in den
Klassenraum zu gehen, die Schüler anzustarren und in mein Büro
zurückzukehren. Und daheim saß ich auf der Couch und starrte.

Am
Freitag wollte ich mich krankmelden, doch am Telefon erfuhr ich vom
dritten Verschwinden der Woche. Und es war eben mein Job, Kinder in
solchen Lagen zu betreuen. Auch wenn ich ziemlich mies darin war, wie es
schien.

16. Dezember, Verschwinden von Oswald Cooper

Das Opfer: Oswald war ein sanfter Riese, wie er im Buche steht, zumindest vor den

Vorfällen. Groß und dick war er oft Opfer von Spott, doch er hatte auch
viele Freunde. Während der Verschwinden wurde er zunehmend nachdenklich
und ernst und auch seine Reizbarkeit schien zu steigen. Vor seinem
Verschwinden sah ich ihn wiederholt mit Lucia reden. Den Grund sollte
ich noch erfahren.

Das Verschwinden: Als ich zur Schule kam, kannten die Lehrer bereits vier verschiedene

Varianten der Geschichte. Was ich mir zusammenreimen konnte, ist
folgendes: In der ersten Stunde hatte er gefehlt. Dann war er in der
kleinen Pause vor der zweiten in den Klassenraum gestürmt, hatte Lucia
auf den Mund geküsst und war weggerannt. Dann sah man ihn nie wieder,
aber ein Berg seiner Schulsachen wurde in der Sporthalle gefunden.
Jedenfalls waren das die Punkte, wo sich alle Lehrer einig waren, so
absurd es klingen mag.

Der Tatort: In der Sporthalle war es immer kalt gewesen, die Heizung arbeitete nur

dürftig, wenn überhaupt. Nun war es eisig. Auf dem Boden fand man einige große Wasserlachen, allerdings waren die Schulmaterialien absolut

trocken. Es sah aus, wie ein großer Scheiterhaufen, fand ich. Die
Polizei fand etwas anderes: Es gab eine Spur aus Spielzeugen, entwendet
aus dem Spiezeugschuppen des Schulhofs, die vom Schulspielplatz zum Berg aus Heften, Linealen, Zetteln und Anspitzern, Radiergummis, Klebetuben,
und Büchern zu führen schien. Die Ermittler glaubten, dass der Täter,

der es eindeutig auf die Kinder der Schule abgesehen hatte, die Spur
gelegt hatte um den Jungen anzulocken und ihn dann zu entführen. Sie
glaubten natürlich nicht an Übernatürliches, dass in diesem Fall
mitspielte, allerdings hörte ich mehrere Beamte von Ritualen oder
religiösen Motiven reden. Zumindest hatten sie die ersten korrekten
Ansätze.

Hinweise:
Oswald hatte einige Notizen hinterlassen und sie waren wesentlich
klarer formuliert und übersichtlicher, als die üblichen irren Notizen
der anderen Kinder. All seine Notizen fand ich in einem extra
angefertigten Heft unter seinem Tisch. Gut so, denn die Hefte auf dem
Haufen wurden alle von der Polizei konfisziert. Ein Auszug lautete:

Sie sagt ich muss nur de Ort lokalisieren. Wofür, hat sie mir nicht gesagt,
aber sie sagte mir, wie es geht. Ich muss einen Berg aus Schulsachen

errichten und dann das Lied singen, außerdem muss ich in die Hefte
bestimmte Zeichen zeichnen, die sie mir gezeigt hat. Dann wird ein Weg
frei, eine Brücke, durch die das Tor geschlossen werden kann.“

„Sie“
wurde nie genauer beschrieben, aber laut den Notizen war sie eine
intelligente Gegnerin Eleonores und es gab nur ein Mädchen, dass dafür
in Frage kam, Keira. Zudem ließ diese Notiz erkennen, dass die Spur
nicht vom Spielplatz in die Turnhalle geführt hatte, sondern umgekehrt.

Die
Geschichte ist hier relativ vorbei, denn zwischen diesem Verschwinden
und dem Verschwinden von Lucia am 19. Dezember lag nur ein Wochenende.
Die Dinge liefen plötzlich viel zu schnell.

Am
Wochenende bereitete ich mit den anderen Lehrern und einige Schülern
eine angemessene Trauerfeier für den letzten Schultag vor den Ferien am
Dienstag vor. Nach den Ferien würde Dullwoods nicht wieder öffnen, dass
wussten alle. Das letzte Verschwinden am Montag schockte kaum jemanden,
wir alle waren über die Schwelle des Entsetzens hinaus.

Am Montag kaum Lucia zu mir, wie so viele vor ihr, so viele, die nun für immer fort waren.

Sie
bat mich, sie zu vermissen, wenn „alles vorbei war“. Und dann ging sie
und ich hielt sie nicht auf. Warum, dass weiß ich nicht.

19. Dezember, Verschwinden von Lucia Addams

Das Opfer: In meinen Augen war Lucia dieses Mädchen gewesen, dass es an jeder Schule gab. Sie rannte Eleonore hinterher und küsste sprichwörtlich den Boden,
auf dem sie ging. Sie war gemein um andere zu beeindrucken und sie sah
sich selbst als armes Opfer, wann immer ihre Absicht nach hinten los
gingen. Auch intellektuell schätzte ich sie nie sehr hoch ein. Am Ende
aber war sie wohl eines der mutigsten Kinder, die ich je kannte.

Das Verschwinden: Während es keine Hinweise gab, wo genau Lucia verschwunden ist, vermute ich, dass es der Spielplatz war. Und ich weiß, wie es passierte. Doch dazu
komme ich bald. Ihr Verschwinden erregte kaum Panik und nur geringe
Trauer, selbst bei ihren Eltern. Und wenn die Kinder wüssten, was sie
getan hat, dann hätten einige ihr Verschwinden vorerst gefeiert, um sie
später für sich zu betrauern.

Der Tatort: Der Spielplatz. Innerlich haben alle Kinder gewusst, dass es hier enden

würde. All die Spielplatzgeräte in den Notizen, all die Spiele…

Lucias Brief:

Lucias
Brief ist eine Art Zusammenfassung von allen Dingen, die geschehen
sind, und am Ende ist es dieser Brief, auf den ich die ganze Zeit
hinauswollte. Ich fand ihn als letzte Notiz, versteckt in ihrem
Englischheft. Hier also soviel Wahrheit, wie wir wohl je erfahren
werden.



„Ich, Lucia Addams, werde es beenden, doch mir gebührt dafür kein Respekt.

All diese Vorfälle ranken sich um die Pläne von Keira und Eleonore.
Eleonore hat Gabriel, Pascal und Adrian verschwinden lassen und im
Grunde auch Eric und sich selbst, doch Heather wurde von Keira geopfert
und Keira hat sich selbst eliminiert. Auch ich und Oswald folgen jetzt
dem Plan von Keira.

Als Eleonore uns Seine Macht zeigte, folgten wir hier und wir spielten,

aber Adrian hatte Angst davor. Aber er war ein guter Spieler und
Eleonore opferte Punkte um Gabriel verschwunden zu lassen, weil er
weniger Punkte kostete. Damit wollte sie Adrian warnen. Pascal wurde
misstrauisch und fand einen Weg, Ihn zu stoppen, er erzählte Keira
davon, aber ich habe gelauscht und es Eleonore erzählt. Das tut mir
leid, denn Pascal wurde von Eleonore in einem Spiel um alle Punkte des
Verlierers geschlagen und verschwand direkt vor meinen Augen. Er holte
ihn und ich war dabei. Als Pascal Eleonore traf, hat er ihr gedroht und
viel über Ihn geredet. Er wollte wissen ob sie Gabriel auf dem Gewissen
hatte. Sie war wirklich wütend. Und als Adrian wieder aus der Reihe
tanzte, benutzte Eleonore Pascals Punkte um ihn auszuschalten. Aber der
Rest war Keiras Plan. Sie brauchte die Hilfe von Eric und Oswald, weil
sie mutig und gegen Eleonore waren, deshalb ließ sie Heather
verschwinden und gab Eleonore die Schuld, damit Eric wütend wird. Dann
hat sie ihm gesagt, sie wird bald verschwinden und er soll sie rächen.
Dann hat sie eine Woche lang mit Oswald geredet. Sie hat ihm gesagt, er
muss das Tor finden. Wenn man das Tor findet, durch das Er in unsere
Schule kommt, kann man es schließen. Aber es ist gefährlich, denn Er
bewacht Sein Reich. Sie sagte ihm auch, er solle mich ebenfalls
einbeziehen. Oswald sagte, er kann das Tor nur finden, aber er wird
dabei verschwinden. Und ich muss es schließen, aber auch ich würde dabei verschwinden. Ich wollte nicht, ich wollte auf Eleonores Seite bleiben.
Aber Keira zahlte all ihre Punkte und zog Eleonore viele Punkte ab.

Stück für Stück. Am Ende hatte Eleonore nur noch wenige Punkte, aber sie wusste es nicht. Als Keira weg war, kamen die Motten. Ich glaube, Keira
konnte alles sehen. Durch die Motten. Sie ist die eigentliche Hexe.

Immer wenn ich verzweifelt war, kamen die Motten. Jedenfalls griff Eric
Eleonore an, als sie wieder in die Schule kam und erzählte ihr schlimme
Dinge, drohte ihr, er wüsste, wie man sie verschwinden lässt. Eleonore
reagierte schnell und ließ ihn verschwinden, aber sie wusste nicht, wie
viele Punkte sie verloren hatte und verschwand auch. Und dann hat Oswald die Pforte auf dem Spielplatz gefunden. Ich werde es tun, ich werde die
Pforte schließen, die Eleonore geöffnet hat. Es tut mir leid, dass ich

immer so gemein zu allen war.

Lucia Addams

Watcher, Watcher, Thou Who Dwells

In Corners Filled With Shade

Watcher, Watcher, Thou Who Tells

And Opens Us The Gate

I Ask Thee, Watcher, Show The Way

Clear The Path Of Thorns For Me

Today, Watcher, Take Me Away

To Where He Cannot Hurt Me

Standing Here, One Out Of Nine

At Thine Feet I Shall Bow

King Of Us, Watcher Of Mine

Child Of Thine I’m Now

Nachtrag:
Eigentlich wollte ich all dies mit Lucias Brief beenden. Doch ich war
noch ein letztes Mal in der Schule. Sie steht aktuell leer und Motten
sind überall. Warum es Motten sein mussten, ist mir nicht bekannt. Ich
wollte sehen, ob ich noch etwas vergessen habe, ein Bild, ein Heft oder
ein Heft von Oswald, das die Polizei nicht beschlagnahmt hat. Ich habe
nichts gefunden, aber ich kam sät in der Nacht und war müde. Am Ende
habe ich es fertiggebracht, an meinem alten Schreibtisch einzuschlafen.
Und ich träumte: Ich träumte von einem Spielplatz, nicht dem der Schule,
ich hatte ihn nich nie gesehen. Nicht direkt. Die Sonne schien, doch
alles wirkte düster.

Und
die verschwundenen Kinder waren mit mir dort. Sie spielten und lachten
und waren glücklich. Ich stand einfach da und sah sie einander jagen, im
Sand graben und klettern. Sogar Eleonore und Keira waren Freunde, wie es schien. Ich erinnerte mich an Eleonores letzte Notiz. Sie hatte damit wohl Keiras raffinierten Plan gelobt, obgleich er mich ein wenig angeekelt hatte. Und irgendwann wurde mir klar, dass sie
längst nicht mehr spielten, obwohl es nur Sekunden her war, wie es in
Träumen manchmal passiert. Sie standen im Kreis um mich und lächelten.
Und als ich aufwachte, sah ich sie noch einige Sekunden länger um mich,
als hätten sie in meinem Schlaf um mich herum gestanden und mich
bewacht. Aber dann rieb ich mir den Schlaf aus den Augen und sie waren
fort.

Nur einige Motten leisteten mir Gesellschaft.

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