KreaturenMittel

Fäulnis – Märchenwelt

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Tomke

Zornig starre ich das Haus an.
Vielleicht wird es klein bei geben, wenn ich nur einschüchternd
genug glotze.

Doch die staubigen
Fenster erwidern den Blick ungerührt; sie werden mir die
Entscheidung ganz bestimmt nicht abnehmen. Tja. Das war zu
erwarten. Grimmig verziehe ich
den Mund und mache mich daran, es ein weiteres Mal zu umrunden.

Ja, ich weiß.
Reines Zeitschinden.

Es ist das erste
Haus des kleinen Ortes, ein griesgrämiger Einzelgänger, der sich
einige hundert Meter vor den anderen Gebäuden aufgestellt hat.

Eigentlich eine
prima Lage, wenigstens für mich. Falls in der Siedlung noch ein paar
Gammler lauern – und darauf würde ich meinen Hintern verwetten –
müssen sie erst mal eine gute Strecke torkeln, ehe sie überhaupt in
meine Nähe kommen.

Und das auch nur,
falls ich so blöd bin sie aufzuschrecken.

Verlassen wurde es
bestimmt schon vor geraumer Zeit, das flüstern mir ein marodes Dach
und der verwitterter Vorgarten zu. Also, zumindest von richtigen
Menschen. Mit ein wenig Pech
verrotten die letzten Bewohner gerade in irgendeiner Ecke und warten
nur darauf, dass ich ihnen in die Arme renne… Aber das ist wohl ein
Berufsrisiko.

Berufsrisiko ist ein
altes Wort, glaube ich. Man kann es heute
immerhin nicht mehr wirklich benutzen.

Zum Beispiel ist es
ja eigentlich nicht mein Beruf, auf der Suche nach Vorräten in
Häuser einzusteigen und mich dabei vor Gammlern in acht zu nehmen.
Berufe gibt es nicht mehr. Ich kenne jedenfalls niemanden mit einem
Beruf.

Was es bedeutet
weiß ich auch bloß, weil Tante Ella es mir erklärt hat. Vielleicht
war‘s auch Jonathan. Egal. Gerade deshalb versuche ich jedenfalls,
es in meine Sätze einzubauen. Ich mag Dinge, die
Leute mir erklärt haben. Es ist fast, als würde man einen kleinen
Schatz geschenkt bekommen oder in ein Geheimnis eingeweiht werden. Jonathan hat
manchmal gesagt, dass das Schlimmste an der Apokalypse sei, dass ich
nicht in die Schule gekommen wäre und jetzt ihn anstelle der Lehrer
mit Fragen löchern würde. Dabei hat er immer diesen unerträglichen
Tonfall benutzt, der großen Brüdern einfach angeboren ist. Daraufhin habe ich
ihn immer ein wenig geboxt und er hat die Augen verdreht und es mir
trotzdem erklärt.

Jetzt, wo ich
alleine bin, kann ich nur noch mich selbst fragen. Ich vermisse die
anderen.

Das Haus, muss ich
meine abschweifenden Gedanken erinnern, ist eigentlich wirklich
toll… Bis auf das eine Fenster. Das verdammte Fenster neben der
Tür, dass irgendeine miese Drecksperson eingeschlagen hat, bevor ich
es tun konnte. Ich hasse sowas. Frustriert bleibe
ich stehen. Auf meiner Stirn hat sich kalter Schweiß gesammelt und
mit dem Staub vermischt, der sich den Platz schon früher reserviert
hatte. Reserviert – noch so ein Wort. Ich wische beide ab, ehe ich
noch einmal zu den Fußspuren trotte, die zum Fenster führen.

Hin, aber nicht
wieder zurück. Ich muss nicht erklären, was das heißen wird, oder?

Erneut halte ich
abschätzend meinen eigenen Fuß daneben. Die Abdrücke sind
ein wenig größer als meine eigenen und haben sich tiefer in den Boden
gegraben, besonders auf Höhe der Ferse. Hat mich ne ganze Weile
gekostet um darauf zu kommen, dass das von hohen Absätzen stammen
wird, aber ich bin trotzdem stolz. Tante Ella hatte sowas nämlich
nicht, genauso wenig wie Jonathan oder einer der anderen.

Die letzte Person,
die ich mit Absatzschuhen gesehen habe, war Mama und das ist schon…
Keine Ahnung, viele Jahre her. Bestimmt über zehn. Irgendwie witzig,
dass ich sie nicht so sehr vermisse wie die anderen. Wahrscheinlich
ist das so, weil ich mich kaum noch an sie oder Papa erinnern kann.

Oh. Irgendwie klang
das gemein. Sowas sollte man, glaube ich, nicht denken.

Ich beginne auf meiner Unterlippe herumzukauen, obwohl sie schon ganz rissig ist. Es hilft mir beim überlegen. Also, hier ist vor nicht allzu langer
Zeit jemand eingebrochen, wahrscheinlich etwas größer und schwerer
als ich, wahrscheinlich eine Frau. Eine Frau ohne das
Werkzeug oder die Kraft, um das Fenster auszuhebeln oder die Tür
aufzubrechen. Im Gegensatz zu mir. An meinem Rucksack hängt eine
Brechstange; mein treuster Freund in den vergangenen Monaten.
Vielleicht könnte ich es mit so einer Frau aufnehmen… An guten
Tagen, zumindest.

Aber heute ist
kein guter Tag. Den letzten Müsliriegel habe ich gestern
verschlungen und meine Flaschen sind schon seit dem Morgen leer.
Jetzt zittern mir die Hände und statt Gedanken schwirrt ein Schwarm
wütender Fliegen durch meinen Kopf, der sich dazu verschworen hat,
mich vom Wesentlichen abzuhalten.

Gerade deshalb will
ich in dieses Haus. Ich brauche, was es mir geben könnte und weiß
einfach, dass ich hier etwas finden kann. Ich bin gut darin, Dinge zu
finden, die andere übersehen haben. Andererseits… Die Frau. Metallisch
schmeckendes Blut rinnt aus meiner Lippe und ich höre rasch auf zu
nagen.

Vielleicht ist sie
ja auch schon tot? Das wäre gut, denn dann könnte ich ihre Sachen
haben. Wahrscheinlich ist
das allerdings nicht. Viel wahrscheinlicher ist es, dass ich bald tot
bin, wenn ich immer nur das Beste erwarte. Fremden darf man
nicht trauen, das habe ich mir gemerkt.

Beinahe habe ich das
Gefühl, sie sehen zu können.

Ein riesiges
Monster, fast so groß wie das Haus selbst, mit den dämlichen
Absatzschuhen. Sie beginnt zu lachen, als sie mich sieht und streckt
ihre Arme nach mir aus, dick wie Baumstämme,
und obwohl ich bereits renne fängt sie mich ein, packt mich mit
ihren Fingernägeln wie eine Laus und beginnt zu drücken. Sie will
mich zerquetschen, wie ein lästiges Insekt.
Nägel bohren sich
in mein Fleisch, bohren sichin meinen Bauch, drücken meine
Innereien zusammen und ich weiß, gleich platze ich, gleich platze
ich, gleich platze ich…!

Nein, halt, so groß
kann ein Mensch gar nicht sein. Bloß die Riesen aus dem alten
Märchenbuch, mit dem ich auf Ellas Hof lesen gelernt habe. Das
sollte ich nicht durcheinander bringen. Niemals.

Ehe sich der nächste
grauenhafte Gedanke anbahnt, gebe ich mir einen Ruck und tapse zum
Fenster. Gibt es eigentlich einen Namen für den Moment, in dem man
versteht, dass man eine Entscheidung längst gefasst hat und bloß
aus Angst aufschiebt?

Sorgfältig kremple
ich die Ärmel des Parkers über meine Hände und schwinge mich durch
das Fenster. Als ich lande knirschen ein paar Scherben unter meinen
Füßen und ich presse mich an die Wand, löse in der gleichen
Bewegung den Speer von meinem Rucksack und lausche. Na gut, ihn einen
Speer zu nennen ist vielleicht übertrieben, aber ich kenne kein
kürzeres Wort für
Stab-an-dessen-eines-Ende-ein-Messer-getaped-wurde. Denn das wäre
definitiv zu lang. Wenn ich das jedes Mal denken würde wenn ich ihn
brauche, hätten sich vermutlich schonn vor langer Zeit faulige Zähne
in meinem Hals versenkt.

Diesmal passiert
allerdings nichts. Kein Rumpeln, kein Rufen, kein gar nichts. Also atme ich auf,
warte aber noch ein paar Minuten, ehe ich mich weiter durch den
breiten Flur pirsche, in dem ich gelandet bin. Ganz leise, jetzt.

Irgendwo hier lauert
eine Frau, vielleicht keine Riesin, aber bestimmt trotzdem
gefährlich.

Und hoffentlich
auch der ein oder andere Schatz.

Die erste Tür ist
einen Spalt breit geöffnet – und aus diesem Spalt dringt ein
betäubender Verwesungsgeruch. Mit Sicherheit die
Küche. Vorsichtig stoße
ich die Tür ein wenig weiter auf und spähe in den Raum hinein.
Tränen treten mir in die Augen und ich widerstehe dem Drang, durch
den Mund zu atmen; stattdessen lasse ich den Blick langsam durch den
Raum wandern. Die Kühlschranktür
steht offen und gibt sich nicht einmal mehr die Mühe, die
verrotteten Überbleibsel ihres ehemaligen Inhaltes zu verbergen.
Nicht, dass es einen Unterschied machen würde. Strom gibt es hier ja
eh nicht mehr.

Zwei Fliegen machen
Liebe auf dem Rand von etwas, das wohl mal eine Obstschüssel war.

Sollen sie ruhig.
Wichtig ist bloß, das in diesem Raum niemand auf mich wartet.

Durchsuchen kann ich
ihn später.

Die nächste Tür
führt in ein geräumiges Wohnzimmer. Der Raum hat etwas bedrückendes
an sich; vielleicht liegt es an der zerfallenden Einrichtung. Dicke,
früher bestimmt behagliche Sessel, an deren Bezügen sich schon
Generationen von Motten gelabt haben müssen. Ein großes, dunkles
Regal voller Bücher, deren Titel man unter der dicken Staubschicht
nicht einmal mehr erkennen kann. Am unangenehmsten aber sind die
vielen Photographien an der Wand. Die Leute darauf sehen so glücklich
aus. Dumme, glückliche
Leute, es tut mir leid, dass ich durch euer Haus trample. Was
gar keinen Sinn ergibt, weil ihr bestimmt schon lange
tot seid und es euch gar nicht mehr stören kann.
Aber das tut mir auch leid. Natürlich
spreche ich das nicht laut aus, sondern starre bloß kurz, ehe
ich wieder in den Flur husche.

Vielleicht habe ich
mir auch zu viele Gedanken gemacht.

Sie könnte in ihren
eigenen Spuren zurück gegangen sein, oder durch einen anderen
Ausgang, den ich noch nicht gefunden habe. Bis auf das Summen und
Rascheln einiger Insekten habe ich jedenfalls noch nichts gehört. Die Tür am Ende des
Flures knarrt leise und der muffige Duft eines Schlafzimmers schlägt
mir entgegen. Alles in diesen Häusern riecht muffig, aber die
Schlafzimmer immer besonders. Kommt vielleicht von den Betten. Glitzernde
Staubkörnchen tanzen einen komplizierten Reigen im gedämpften,
orangenen Licht, das durch die Fenster fällt. Das Bett ist ungemacht
und leer, der Bezug vollkommen zerfetzt.

Und in einer Ecke
liegt sie.

Gibt es ein Wort für
diesen Ruck, den Stromstoß, der durch deinen Körper fährt, wenn du
dich erschreckst? Der, der alle deine Härchen aufrecht stehen lässt,
deine Augen weitet, dich nach Luft schnappen lässt? Ehe ich
überhaupt nachdenken kann, zittert meine Speerspitze schon vor ihrer
Kehle, wartet nur auf den Befehl meines Verstandes, zuzustechen.
Und
wartet.

Wartet.

Weshalb warten wir
so lange?

Vielleicht, weil sie
nicht reagiert, wie sie reagieren sollte. Sie… Ja, sie lächelt?

Lächelt träge und
hebt langsam einen Finger. Wie in einem Zauberbann gefangen folge ich
der Bewegung, sehe zu, wie sie die Spitze meines Speeres anstupst. Anstupst und dann
langsam zur Seite schiebt.

Ich starre sie an.
Blinzele fassungslos. Sie gluckst leise,
amüsiert.

Ich… Okay, nein,
ich bin kein Experte in Sachen Menschen, dafür habe ich in meinem
Leben zu wenige kennen gelernt. Aber das – das ist kein normales
Verhalten, oder? Hallo, Lady, ich stehe kurz davor, Ihnen eine Klinge
durch den Hals zu jagen ! Bitte grinsen Sie nicht so blöd!

Verwirrt – und
ja, vielleicht auch etwas verängstigt – stolpere ich ein paar
Schritte zurück.

Etwas sagt mir, dass
ich besser einen gesunden Abstand zu einer Person halte, die im
Angesicht ihres eigenen Todes so fröhlich reagiert. …Allerdings
könnte sie jetzt denken, dass sie mich eingeschüchtert hat. Oh,
vielleicht hat sie das sogar vor?Rasch richte ich
mich zu voller Größe auf und mustere sie so drohend, wie ich kann.

Scheiße.

Nicht nur ihr
Verhalten, nein, auch ihr Aussehen ist falsch. Ich meine… Nein, ich
hatte nicht wirklich mit der grässlichen Riesin gerechnet. Aber auch
nicht mit etwas so schönem. In einem Märchen
wäre sie bestimmt eine Prinzessin geworden; sie erinnert mich sogar
an eines der Bilder aus dem Buch. Eine junge Frau mit langen, hellen
Haaren und blauen Augen. Und gleichzeitig sieht sie krank aus.

Krank und schön und
märchenhaft und merkwürdig und falsch, so falsch, dass ich einfach
die Augen schließe und darauf warte, dass sie verschwindet. Manchmal
funktioniert das.

„Hey… Was machst‘n da?“

Heute ist anscheinend nicht manchmal. Blinzelnd spähe ich in ihre Ecke. Durch den schmalen Spalt meiner Augenlieder ist sie zwar verschwommen, aber leider immer noch da. Ihr
Blick wandert durch den Raum, merkwürdig ziellos – offenbar
braucht sie die Antwort auf ihre Frage gar nicht so dringend.

Leise Wut beginnt in meinem Magen zu
brodeln, meine Hand verkrampft sich um den Speer. Jetzt Aber im
Ernst: Was macht sie hier? Warum darf sie hier liegen und lachen
und sich überhaupt vollkommen unverständlich benehmen, während ich
Hunger und Durst habe und überhaupt viel wichtigere Probleme?Wenn sie ein Gammler wäre, wüsste ich
wenigstens, was ich zu tun habe. ber sie ist keiner von ihnen, sie ist
einfach komisch.

Viel zu komisch, als das ich ihr den
Rücken zukehren könnte um mich um meinen eigenen Kram zu kümmern. Nicht komisch genug, um ihr einfach
eine Klinge in den Hals zu stoßen. Glaube ich zumindest. Das
verbietet die Moral.

Wir hatten auf dem Hof mal ein langes
Gespräch über Moral und ich bemühe mich, es niemals niemals
niemals zu vergessen. Vielleicht ist Moral dumm und etwas merkwürdig,
genauso wie die Frau, denn immerhin hat sie dazu geführt, dass…
Dass wir getrennt wurden und ich jetzt alleine hier hocken muss. Aber
ich werde einen Scheiß tun, die Dinge die sie mir beigebracht haben
einfach zu vergessen.

Was würden die anderen tun? Ich denke.… Ich denke, sie würden versuchen mit ihr zu reden. Sie
einschätzen zu lernen. Ja, das klingt gut!

Am besten beginne ich mit etwas
einfachem. Fragt man Fremde nicht immer zuerst
nach ihrem Namen?

„Wihhr chr-“ Ich muss husten und schaffe es nicht,einmal
die Frage zu beenden. Meine Zunge fühlt sich rau an, beinahe wie Sandpapier, und
die Worte sind einfach auf halbem Weg verschwunden! Vielleicht, weil ich in den letzten
Monaten nur in meinem Kopf gesprochen habe? Kann man das Sprechen
verlernen? Nein, halt, keine Panik. Räuspern. Neuer Versuch.

„Wi-Wie heißt du?“ Das war
schon besser. Die Worte waren so heiser, dass man sie kaum verstehen
konnte und beinahe bilde ich mir ein, den Rost meiner eigenen Stimme
zu schmecken – aber es war ein Satz. Ein verständlicher Satz.

„Mein Name? Ich kann sein, wen
auch immer du gerne hättest, Kleine…“ Sie kichert schon wieder,
verschwörerisch, als hätte sie irgendeinen Witz gemacht, den nur
Eingeweihte verstehen.

Ich bin offensichtlich nicht
eingeweiht.

In diesem Moment reißen meine
Gedanken. Ein Teil von ihnen, die kühlen, ruhigen, verlässlichen,
raten mir sachlich, mich nicht frustrieren zu lassen. Die anderen beginnen zu schreien. So
laut, dass die vernünftigen Gedanken übertönt werden, so laut,
dass es in meinem ganzen Körper widerhallt, so laut, dass ich den
Mund öffnen muss, um sie
herauspurzeln zu lassen, ehe ich daran ersticke:

„Was
zu Hölle stimmt nicht mit dir, du dämliche Ziege?! Was? Was machst
du in meinem Haus,
warum bist du nicht einfach tot, oder woanders, oder… Warum lachst
du, warum tust du nicht, was ich tun würde?! Ich verstehe dich
nicht, verfickte Scheiße, ich weiß nicht, was mit dir los ist, ob
du krank bist, oder einfach nur bescheuert, warum sollte ich mir
wünschen, dass du irgendwie heißt, ich will doch einfach nur
wissen, ob du
gefährlich bist und…“

Weiter
komme ich nicht, bevor meine Stimme versagt.

Trotzdem, für einen kurzen Moment herrscht sehr, seeeehr
befriedigende Stille.

Zerfetzte
Gedankenstränge fügen sich nahtlos wider zusammen, unschuldig, als
sei nie etwas gewesen.Ruhe
breitet sich in meinem Denken
aus – und mit ihr leider auch die Erkenntnis, dass das gerade nicht
besonders schlau war.

Schreien ist ein
Luxus, den man sich nur gönnen sollte, wenn man mit vollkommener
Sicherheit alleine ist.

Rasch stolpere ich
auf das Fenster zu, um einen Blick auf die Straße zu
erhaschen.

Auch
wenn es unwahrscheinlich ist, dass
der Ausrutscher tatsächlich
Gammler angelockt hat – Vorsicht ist immer besser.
Aus
dem Augenwinkel werfe ich der Blonden einen raschen Blick zu, ehe ich
die Hand nach den Vorhängen ausstrecke…. Und
ein dumpfes Klirren ertönt. Mein Herz macht einen Strecksprung in meine Kehle. Noch
einen Wimpernschlag bevor ich hoffen, nein, wünschen darf, mich
verhört zu haben, ertönt die Stimme.

„Hallo!?
Ist alles in Ordnung?“

Oh Kacke. Ich
erstarre. Gibt es einen Name für die Tage, an denen wirklich
alles
schief geht? Schwere Schritte
kommen in unsere Richtung. Männerschritte, immerhin war es auch eine
Männerstimme. Verdammt, verdammt, verdammt!

Ohne weiter nachzudenken lasse ich den Speer fallenn und sche ich hinter die Tür – kein gutes Versteck, aber vielleicht
wird ihn die Blonde ja ablenken. Es sei denn, sie gehören zusammen. Dann…

Ehe ich es mir
anderes überlegen kann, verkünden knarrende Dielen und ein
überraschtes Luftholen, dass er das Zimmer betreten hat. Ich halte die Luft
an und presse mich so flach wie möglich an die Wand. In meinen Ohren
rauscht es.

„Scheiße,
hast du mich erschrocken! Bist du… Hast du so geschrien? Ich
dachte schon, hier kämpft einer um sein leben.
Kannst du nicht aufstehehen? Bist du verletzt?“ Er
klingt unerwartet besorgt. Und
unerwartet misstrauisch.
Manchmal vergesse ich, dass auch andere Leute Angst haben können. Langsame,
vorsichtige Schritte nähern
sich der Blonden.

Sie nuschelt etwas, doch ich kann es von meinem Versteck aus nicht
verstehen. Vielleicht, weil mein eigener Herzschlag viel zu laut ist.
Vorsichtig, ganz vorsichtig taste ich nach der Brechstange und
versuche mit zitternden Fingern, sie von meinem Rucksack zu lösen. Beide schweigen für einen Moment.

„Wow. Was hast du denn eingeschmissen?“

Das war wieder er. Eingeschmissen? Meint er die Fensterscheibe? Ich habe schon wieder das Gefühl, irgendetwas nicht zu verstehen. Ist aber auch gar
nicht mehr nötig, denn endlich halte ich das beruhigend kühle
Metall in meinen Händen.

„Ist das deiner, oder hängt hier noch ein Junkie-Kumpel rum?“ Er wird den Speer gesehen haben. Ist bestimmt nur noch eine Frage von Sekunden, bis er mich ebenfalls entdeckt. Plötzlich bin ich sicher, dass ich es nicht so weit kommen lassen möchte.

Moral. Moral ist wirklich eine schwierige Sache. Ich hoffe, dass es
nicht zu unmoralisch ist, mit einem wirren Kampfschrei hinter einer
Tür hervorzuplatzen und jemandem sein Brecheisen gegen den
Hinterkopf zu donnern. Vor allem dann, wenn der Hinterkopf noch gar
nichts schlimmes getan hat.

Schwer atmend starre ich auf den Typen herab. Er ist groß, aber noch
nicht viel älter als Jonathan, glaube ich. Lässt sich natürlich schwer sagen, wenn er das so liegt, mit dem
Gesicht am Boden. Ein wenig Blut sickert durch seine hellen Haare und
ich hoffe plötzlich, dass ich ihn nicht umgebracht habe. Vielleicht
wollte er wirklich bloß helfen. Auch, wenn das jeder behaupten kann.

Nervös beiße ich mir auf die Lippen und werfe der Frau einen
raschen Blick zu. Die dumme Pute ist noch immer die Ruhe selbst und
ich weiß nicht, ob ich noch einmal mit ihr reden möchte. Nein, ich sollte jetzt einfach verschwinden. Soll sie doch gucken,
was sie mit ihm macht.

Und… dann bleibt mein Blick an seinem Rucksack hängen. Ein guter,
dicker Rucksack. Bestimmt prall gefüllt mit Schätzen. Mit Essen.
Mit Wasser.

Klappernd schlägt die Brechstange auf dem Boden auf und eine Sekunde
später knie ich über ihm und versuche seine schlaffen Arme aus den
Trägern zu winden. Ich meine… Jetzt kommt es eh nicht mehr drauf an, oder?
Er
stöhnt leise und meine Bewegungen werden hastiger, fluchend ziehe
und zerre ich an den Riemen, bis das dumme Ding endlich frei ist.

Für einen kurzen Moment gerate ich unter dem zusätzlichen Gewicht
ins Taumeln, doch dann finde ich mein Gleichgewicht wieder, lese mit
zitternden Fingern Brecheisen und Speer vom Boden auf und verschwinde
endlich, endlich, endlich aus diesem verdammten Zimmer.

Diesmal poltere ich regelrecht durch den
Flur, ohne weiter auf den Lärm zu achten. Die Tür ist auch von innen abgeschlossen, also beginne ich hastig, mich durch das Fenster zu winden. Plötzlich packt
mich jemand von hinten und ich schreie erschrocken auf, schlage blind
ins Nichts und reiße mir die Hand an den Glassplittern auf – da
lässt der Druck nach und ich purzle nach vorne, falle kopfüber ins
Gras.

Als ich einen Blick nach oben werfe ist dort allerdings niemand. War wohl doch bloß einer der Rucksäcke, der sich im Fensterrahmen
verkeilt hat.

Hastig stemme ich mich hoch und beginne zu rennen, weg vom Haus, raus
aus diesem Dorf. Erleichterung brandet durch meinen Kopf, innerer Applaus im Takt meiner Schritte. Geschafft! Geschafft! Geschafft! Geschafft!

…Keinen Wimpernschlag später sprinte ich zurück in Richtung des
Fensters.

Ich würde jetzt wirklich, wirklich gerne den Namen der Tage kennen,
an denen alles schief läuft, was nur schief laufen kann. Dieser hier
gehört nämlich ohne Frage von zu ihnen! Also, zumindest aus meiner Sicht
der Dinge…

Die Gammler auf meinen Fersen sind da bestimmt anderer Meinung.

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