Finn
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Dr. Pohl öffnete die oberste Schublade seines Schreibtisches und fand sofort, was er suchte. Auf dem kleinen Namensschild an der Oberseite war in handschriftlichen Druckbuchstaben der Name „WEIGEL, LAURA MARIE“ zu lesen.
Es gab durchaus einen Grund – vielleicht auch mehr, aber diesen einen im Besonderen – warum der sonst so ordentliche Dr. Pohl diese spezielle Ansammlung von Notizen und Dokumenten in seinem Schreibtisch aufbewahrte und nicht in einem der vier großen Aktenschränke, die an der gegenüberliegenden Wand des Therapiezimmers wie stumme, monolithische Wächter der ärztlichen Schweigepflicht aufgereiht waren. Die Akte war erstaunlich dick, wenn man das Alter der Patientin betrachtete.
Die meisten Fälle, mit denen Dr. Pohl sich befasste, waren Angelegenheiten von wenigen Monaten, wie er Lauras Eltern damals erzählt hatte. Manchmal erstrecke sich die Therapie eines solchen Falles auch über mehrere Jahre und manche Patienten würde man überhaupt nicht mehr los, aber dies sei in Lauras Fall sehr unwahrscheinlich. Das war bei den ersten paar Therapiesitzungen gewesen und er hatte es eigentlich nur gesagt und daraufhin ein gewinnendes Lächeln gezeigt, um sie zu beruhigen. Später, als er ernüchtert feststellen musste, dass sie für ihn eine überraschend schwer zu knackende Nuss darstellte, hatte er es vermutlich hauptsächlich gesagt, um sich selbst zu beruhigen, während aus dem Lächeln ein teils beschämtes, teils nervöses Lachen geworden war.
„Laura, ist dir bewusst, welchen Tag wir heute haben?“, fragte er, während er die Akte des Mädchens durchblätterte.
„Dienstag, der… Moment…“. Über dem Kopfende der Couch, dass Dr. Pohl von seiner Position am Schreibtisch normalerweise jeden Blick auf den Patienten verwehrte, erschien ein schmaler, etwas blasser linker Arm, um dessen Handgelenk eine fast schon altmodische Armbanduhr mit Lederband geschnallt war. Allerdings nicht wirklich altmodisch. Das Zifferblatt enthielt eine integrierte Datumsanzeige.
„Der zehnte September. 2016. Warum?“. Sowie die Stimme des Mädchens verstummte, verschwand auch der Arm wieder hinter der Lehne. Aus Dr. Pohls Perspektive war sie wieder unsichtbar geworden.
Er blätterte weiter in dem dicken Stapel Papier, der durch seine ständig anwachsende Höhe dafür gesorgt hatte, dass sich die braunen Pappwände der Aktenmappe in den letzten Jahren immer weiter und unrettbar nach außen verbogen hatten.
„Richtig. Also…“, ihm schien das Thema unangenehm zu sein. Er wischte sich fahrig mit dem Handrücken über die Nase.
„Also, es ist heute auf den Tag genau zehn Jahre her, dass du zum ersten Mal hier saßt“, verkündete er und versuchte, seiner Stimme einen feierlichen Klang zu geben.
Laura drehte sich auf der Couch bäuchlings und sah ihn über das Kopfende hinweg an.
„Tatsächlich?“, fragte sie in einem überraschten Tonfall. Für einen Moment verlor sich ihr Blick am Boden, bis ihre braun-grünen Augen wieder zu ihm zurück wanderten.
„Ist wirklich erstaunlich. Ich hab unsere Termine so sehr als Teil meines Lebens wahrgenommen, wissen Sie, schon solange ich mich wirklich bewusst zurückerinnern kann. Ich hab gar nicht mehr darüber nachgedacht, dass wir ja auch mal irgendwann damit angefangen haben müssen.“
Dr. Pohl lächelte väterlich und hielt ihr ein etwas verknicktes Papier entgegen, dass die letzten zehn Jahre vergraben in dieser Mappe verbracht hatte.
„Erinnerst du dich noch daran?“, fragte er. Es war eine Zeichnung. Wachsmalstifte. Unwürdige Malutensilien. In ihrer Deckungsqualität eine Stufe unter Buntstiften, die sich wiederum damit abgeben mussten den Platz unter den Filzstiften einzunehmen, so die landläufige Meinung vieler Künstler unter dem Alter von zehn.
Laura erkannte ihr eigenes Werk sofort. „Ja!“, lachte sie fröhlich. „Das ist das erste Bild, dass ich damals für sie gemalt habe. Ich und Finn an der Weser“.
Das Bild zeigte auf krude, kindliche Weise zwei doch unverkennbar menschliche Gestalten am Strand. Beide mit einem überzogenen Wachsmallächeln auf den Gesichtern. Der Strand war eine gelbe Linie, das Wasser eine Anhäufung blauer Beulen am Bildrand und aus der oberen, rechten Ecke erstrahlte das, was Lauras Kunstlehrer in der fünften Klasse abfällig als „Erstklässler-Sonne“ bezeichnet hatte: Eine schräge gelbe Linie, die zwischen beiden Rändern des Blattes verlief und von der aus mehrere Strahlen in die Mitte des Papiers strebten. Niemand hätte anhand dieses Bildes abschätzen können, welches künstlerische Talent dieses Mädchen eines Tages noch offenbaren würde.
„Genau“, bestätigte Dr. Pohl und betrachtete es noch einmal selbst gedankenverloren.
„Heute vor zehn Jahren…“
„Ich erinnere mich noch sehr gut. Das war wirklich kein schöner Abend“, fuhr Laura fort. „Sie werden das sicher verstehen. Mit sechs Jahren kann man das Wort ‚Psychotherapeut‘ kaum richtig aussprechen und die einzige Definition, die einem dazu einfällt ist: Ein Arzt, zu dem Verrückte gehen. Ich wollte nicht, dass man mich für verrückt hält“.
Dr. Pohls Lächeln war nun völlig gefroren. „Naja, wer will das schon?“, fragte er.
„Ich muss zugeben, du hast mir schon damals gehöriges Kopfzerbrechen bereitet und wenn ich völlig ehrlich bin, Laura… über die Jahre ist es nur schlimmer geworden. Es ist in einem gewissen Alter für Kinder völlig normal einen imaginären Freund zu haben. Mein älterer Bruder zum Beispiel hatte auch einen. Das war, bevor ich geboren wurde. Er erzählte mir, dass er sich selbst nicht mehr wirklich daran erinnern könnte. Er wusste nur noch das, was unsere Eltern ihm später erzählt hatten. Aber bei ihm und bei so ziemlich allen anderen Kindern bleibt so ein imaginärer Freund eigentlich nicht lange. Höchstens ein halbes Jahr, vielleicht etwas länger. Als deine Eltern sich damals mit mir in Verbindung setzten und mir erzählten, dass du und… Finn schon seit zwei Jahre Freunde wärt“,er setzte das Wort ‚Freunde‘ mittels Zeige- und Mittelfinger seiner Hände in Anführungszeichen,“war das schon mehr als ungewöhnlich. Aber mittlerweile kannst du wohl für dich in Anspruch nehmen der komplizierteste Fall meiner Laufbahn zu sein“.
Das junge Mädchen grinst beinahe frech. Sie hatte sich auf eine irgendwie lasziv wirkende Weise komplett auf den Bauch gelegt und stützte den Kopf auf die Unterarme, die übereinander gefaltet am Kopfende ruhten.
„Finn legt es eben darauf an den Langlebigkeitsrekord zu brechen“. Sie lachte und er lachte sogar ein bisschen mit.
„Ich bin mir sicher, was seine Art angeht hat er das schon längst getan“. Er zog einige Seiten bedrucktes Papier aus dem Stapel, der nach wie vor aus der geöffneten Aktenmappe quoll. Er wurde wieder ernst.
„Ich stehe bei dir wirklich vor einem Rätsel, Laura. Offen gesagt weiß ich schon lange nicht mehr, was ich noch mit dir anfangen soll. Wir hatten schon vor Jahren alle einschlägigen Therapieformen für diese Art von… äh… Zwangsvorstellungen, wenn du mir den Ausdruck gestattest, abgefrühstückt. Der Ablauf unserer Sitzungen ist Monat für Monat derselbe. Deshalb habe ich heute, zur Feier des Tages, beschlossen, etwas völlig neues auszuprobieren“. Er hielt die bedruckten Seiten in die Höhe, als handle es sich um eine stark abgespeckte Bibel. „Das ist das Protokoll unserer ersten Sitzung. Damals hast du mir erzählt, wie du Finn begegnet bist. Ich möchte, dass du mir diese Geschichte heute nochmal erzählst. Ich werde beide Erzählungen vergleichen und mögliche Unterschiede oder Unklarheiten ausfindig machen“.
„Und was glauben Sie bringt das?“, fragte Laura.
Dr. Pohl zog aus seinem Schreibtisch nichts geringeres als ein uraltes, aber gut gepflegtes Diktiergerät hervor, dass Laura eine Moment lang mit einer Mischung aus Verwirrung und Faszination musterte.
„Wie bei allen vorherigen Therapieansätzen geht es auch hier darum, deinem Unterbewusstsein klarzumachen, dass Finn keine reale Person ist. Was hoffentlich dazu führt, dass du endlich von ihm ablassen kannst“, erklärte er.
„Na gut…“, murmelte das Mädchen wenig überzeugt.
Eine der Tasten an Dr. Pohls Gerät rastete knackend ein und das Magnetband darin begann sich leise surrend zu bewegen. „Aufnahme läuft“, verkündete er.
Laura drehte sich wieder auf den Rücken, sah in die ihr gegenüberliegende Ecke hinüber und lächelte mir zu. Ich lächelte aufmunternd zurück.
Und so erzählte Laura noch einmal die Geschichte, wie wir einander kennengelernt hatten.