ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Unter all den vielen Welten, die ich im Laufe meiner Reisen besucht habe, sticht eine ganz besonders heraus. Nicht weil sie grausamer oder bizarrer wäre als die anderen rätselhaften Orte auf meinem Weg, sondern weil mir ihre bloße Existenz am wundersamsten erscheint. Sie hört auf den Namen „Noestria“ und sie gehört nicht zu jenen Welten, die im Reisekatalog von „Endless Horizons“ verzeichnet sind. Vielmehr habe ich sie während der rauschhaften, düsteren Zeit in meinen Diensten für On-Grarin besucht, als ich die Portalmaschine von Hyronanin als Fangnetz nutzte, um frisches Fleisch für die Gesunder zu ernten, dem sie die Gesundheit abzapfen konnten. Je mehr ich darüber nachdenke, desto stärker wird in mir die Überzeugung, dass keine Aufzeichnung meiner Reisen vollständig wäre, ohne diese kleine, eigenartige Episode zu erwähnen. Also werde ich genau dies tun.
~o~
Als sich mein Körper endlich vollständig in Noestria materialisiert hatte, spürte ich sofort einen eiskalten, schneidenden Wind, der mir umso mehr zusetzte, da ich von den Seuchenhöhlen gleichbleibende, eher höhere Temperaturen gewohnt war und mich auch meine bisherigen Kurztrips mittels des mysteriösen Apparats mich zumeist in ein mildes Klima geführt hatten. Entsprechend luftig war ich gekleidet und so begann ich bereits nach wenigen Augenblicken heftig zu zittern. Die Kälte drang jedoch nicht nur mit Leichtigkeit durch das dünne Hemd und die Anzughose, die ich mir auf meiner letzten Mission angeeignet hatte, sondern sickerte auch in meine Schuhe, da der Schnee, in dem ich stand, mir bis über die Knöchel reichte. Gleichzeitig schleuderte der Wind pudrigen Schnee in mein Gesicht, der zwar nicht so dicht war, dass er mir die Sicht nahm, jedoch weiter dazu beitrug mir jeden Funken Wärme aus meinem Körper zu ziehen.
Lange, das war mir sofort klar, würde ich das hier ohne angemessene Kleidung nicht überstehen. Ich musste also schnellstens warme Klamotten auftun oder den Weg zurück antreten und mich On-Grarins Zorn ausliefern, wenn ich nicht über kurz oder lang erfrieren wollte. Dabei hätte dieser foltergeile Sadist eher MEINEN Zorn verdient gehabt. Mit keinem Wort hatte er vor dem Antritt meiner Mission darauf hingewiesen, was für ein Klima in Noestria herrschen würde. Er hatte mich nur darauf hingewiesen, dass es sich um eine Welt aus der Manifia-Ebene handelt. Einer Ebene, in der kulturelle Traditionen und fiktionale Erzählungen verschiedenster Völker als sehr reale Orte Gestalt annehmen. Mehr Infos gab es für seinen Schergen natürlich nicht und nach unserer letzten Auseinandersetzung, bei der ich nicht sehr gut ausgesehen hatte, hatte ich mich nicht getraut, hier länger nachzuhaken. Theoretisch hätte ich mich also im finsteren Zentrum eines obskuren außerirdischen Pantheons oder in einer kitschigen Manifestation des Valentinstages wiederfinden können.
Aus den klimatischen Bedingungen schloss ich jedoch sofort, dass es sich entweder um ein mir unbekannte Winterfest einer der vielen Rassen des Multiversums oder aber um eine Weihnachtswelt handeln musste. Wäre letzteres der Fall gewesen, wäre das nicht nur ein erneuter Beweis für On-Grarins kranken Humor, sondern vor allem auch dafür, dass er mehr über mich und meinen Planeten wusste, als er eigentlich wissen sollte. Es war allerdings noch zu früh, um das mit Sicherheit sagen zu können.
Trotzdem hoffte ich selbstverständlich darauf, dass es sich tatsächlich um eine Weihnachtswelt handeln würde. Weihnachten war – zumindest von seinem Grundgedanken her – ein eher harmloses und naives Fest, während außerirdische Traditionen durchaus Blutopfer und finstere Kreaturen umfassen konnten. Zudem waren die Welten der Portalmaschine, anders als die meisten im Katalog, nicht zwingend finster. Eine Weihnachtswelt um ein paar ihrer Einwohner zu erleichtern, sollte also eigentlich nicht allzu schwierig sein. Womöglich sogar einfacher, als in Cestralia, zumal meine Skrupel zu dieser Zeit bereits weit geringer waren, als noch bei meiner ersten Mission. Andererseits gab es – selbst wenn es hier um Weihnachten und nicht um das andrinische Fest des unheiligen Sankt Daumenschraube gehen sollte – auch keine Garantie dafür, dass dieser Ort wirklich harmlos sein würde. Immerhin gab es auch in der weihnachtlichen Tradition eher unsympathische Gestalten, wie den Krampus und Knecht Ruprecht und selbst der Weihnachtsmann hatte als urteilende und praktisch allwissende Instanz auch nicht gerade unerhebliches Diktatorenpotenzial.
Unabhängig davon hatte ich, wie gesagt, ein ganz anderes, handfestes Problem, mit dem ich mich auseinandersetzen musste: nämlich, nicht zu erfrieren. Da Kleidung und Wärme in kaum einer Welt einfach so auf der Straße herumlagen, musste ich dafür irgendeine Art Behausung finden, ganz egal ob eine Holzhütte, ein Iglu oder das beschissene Haus vom Nikolaus.
Dummerweise war so etwas weit und breit nicht zu entdecken, was vor allem daran lag, dass es Nacht war und das Schneetreiben meine Fernsicht erheblich einschränkte. Das Einzige, was ich grob erahnen konnte, waren ein paar blasse, hochgewachsene Schatten am Horizont zu meiner linken, bei denen es sich sowohl um gewöhnliche Nadelbäume, als auch um gefährliche Kreaturen handeln konnte, die dabei waren mich einzukreisen. Ansonsten gab es nur eine gleichförmige, wenn auch leicht hügelige Schneelandschaft, die keinerlei Anhaltspunkte dafür bot, wohin ich mich hätte wenden können. Fast hätte ich bereits an diesem Punkt die magischen Worte gesprochen und mich On-Grarins Zorn ausgeliefert, da es eigentlich völlig illusorisch war, innerhalb einer Stunde genügend Opfer aufzutreiben, um meinen Herren zufriedenzustellen. Im Zweifel wollte ich lieber im Warmen sterben, als im Schnee, da ich Kälte schon immer abgrundtief gehasst hatte. Doch auch wenn meine Augen mir nicht groß weiterhalfen, so konnte ich mich wenigstens auf meine anderen Sinne verlassen, denn mit einem Mal nahm ich neben dem Geruch von Schnee auch etwas wahr, was ich als Kind geliebt, jedoch seit Ewigkeiten nicht mehr gerochen hatte: Karamellisierten Zucker.
Der Geruch schien aus einer ganz bestimmten Richtung zu kommen und jetzt wo ich diese Richtung anhand des Geruchs bestimmen konnte, glaubte ich durch den Schnee hindurch grauen Rauch wahrzunehmen, der von irgendwo aufstieg. “Irgendjemand verbrennt Zucker”, sagte ich grübelnd zu mir selbst und entschied, dass es dort, wo etwas verbrannt wurde, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zwei Dinge geben musste: Wärme und Lebewesen, die diesen Verbrennungsvorgang in Gang gesetzt hatten. Zudem konnte ich – da ich kein offenes Feuer sah – davon ausgehen, dass die Verbrennung nicht unter freiem Himmel, sondern in irgendeinem Gebäude stattfand.
Ich warf einen kurzen Blick auf meine Uhr, stellte fest, dass mir noch etwa 58 Minuten blieben und trat meinen Weg durch den knirschenden Schnee in die Richtung an, aus der der Rauch zu kommen schien. Die ersten Schritte waren schon nicht angenehm, da ich ständig ein wenig in der Schneedecke versank und das Gelände leicht bergauf verlief, aber erst als meine durchnässten Füße von der Kälte zu Schmerzen begannen, wurde es so richtig beschissen. Trotzdem ließ ich mich nicht entmutigen. Zum einen blieb mir immer noch der Ausweg in die Portalhöhle und zum anderen hatte ich in Hyronanin schon schlimmeres ertragen müssen.
Schon bald darauf wurde ich für meine Hartnäckigkeit belohnt, denn aus der Vermutung, dass der Nebel aus einer Behausung aufstieg, wurde schnell Gewissheit, als nach einiger Zeit im vom Schnee reflektierten Sternenlicht die Umrisse eines kleinen Backsteinhäuschens auftauchten. Womöglich würde meine Reise doch nicht so beschwerlich werden, wie befürchtet, dachte ich.
Ermutigt durch das klar erkennbare Ziel vor meinen Augen beschleunigte ich meine Schritte so gut es meine halbtauben Füße eben zuließen. Dabei bemerkte ich jedoch auch etwas Beunruhigendes. Unter meinen Füßen und in meinem Gesicht begann der Schnee zu mir zu sprechen. Es war fast schon ein Flüstern, mit dem die Flocken zu mir sprachen, doch schienen ihre Stimmen in der ansonsten vollkommen stillen Landschaft fast ohrenbetäubend laut widerzuhallen. Dabei führten die Schneeflocken mit mir kein Gespräch im eigentlichen Sinne, sondern gaben einen trübsinnigen, mantrahaften, düsteren Monolog von sich, der sich endlos wiederholte.
“Fallen, Fallen, tief und tiefer
Kaum geboren, schon bedrängt
von den Winden, die uns riefen
Ein vergiftetes Geschenk
Fallen, Fallen, ohne Ruder
Aus dem Himmel, auf den Grund
Eisverklebtes weißes Puder
Auf für eine neue Rund’
Wie ein Rad aus weißer Leere
Führen wir ein Schauspiel auf
Dreh für Dreh zerdrückt die Schwere
Unsere Schönheit, frisst sie auf.
Fallen, Fallen, ineinander
auf der Suche nach dem Meer
Auf und ab und endlos wandern
Ausgewaschen, tot und leer.”
“Wunderbar”, bemerkte ich sarkastisch, “jetzt auch noch depressiver Schnee. Diese Welt gefällt mir immer besser.”
Ich tat mein bestes, um den gleichförmigen Chor zu ignorieren, während das Haus vor mir langsam Gestalt annahm. Erst jetzt erkannte ich, dass in dessen Fenster tatsächlich ein schwacher Lichtschein schimmerte, auch wenn er nicht hell genug war, um zu einem Kaminfeuer zu gehören. Eher zu einer Kerze. Höchstens. Neben dem Fenster besaß das kleine Haus noch eine hölzerne Tür, von der ich nicht wusste, ob sie verschlossen war. Doch selbst wenn nicht, wäre es wohl besser anzuklopfen, bevor ich einfach eintrat. Wenn das, was dort drin wohnte eine eher freundliche Natur besäße, könnte es trotzdem zu Missverständnissen kommen. Selbst die netteste Geschöpfe mochten gerne zur Waffe greifen, wenn sie etwa ihre Familie durch einen Eindringling bedroht sahen. Und wenn der Bewohner kein nettes Geschöpf war, war ich hier draußen in einer besseren Kampfposition, als wenn ich einfach in ein unbekanntes Gebäude platzen würde. Anklopfen ist gut, entschied ich.
“Du bist offenbar kein Bartnuckler”, hörte ich plötzlich eine raue Stimme hinter mir sagen, “Was machst du hier? Suchst du deinen Sohn oder deine Tochter?”
Erschrocken drehte ich mich um und blickte in die rötlich glitzernden Augen eines schlanken, vielleicht 1,30 Meter großer Kerls mit spitzen Ohren, dunkelbraunem wuscheligen Haar, einem silbernen Ohrring in seinem linken Ohr und einem zwar jugendlichen, aber ganz und gar nicht kindlichen, sondern ziemlich zynisch dreinblickendem Gesicht. Er war gehüllt in einen schwarzen Kapuzenmantel, dessen Kapuze zurückgeschlagen war. Auf den Mantel waren – neben dem Symbol einer Schneeflocke – mit silbernen Lettern die Worte “Munera sibi” gestickt, was nach meinen beschränkten Lateinkenntnissen so viel hieß wie “Geschenke verpflichten”, womit der Ursprung dieser Welt immerhin einigermaßen geklärt war. In der rechten Hand, trug er ein Schwert aus Eis, welches für seine Größe ungewöhnlich lang war. Er ritt auf einem größtenteils schneeweißen Rentier, welches jedoch ein schwarzes Geweih, sowie schwarze Hufe und Augen und einen schwarzen Schwanz besaß, der aufgeregt hin und her peitschte. Das Tier schnaubte genervt und machte einen noch unsympathischeren Eindruck als sein Reiter, auch da sein Gebiss scharfe Zähne erkennen ließ, als es drohend nach mir schnappte. Seine Zähne schienen aus Eis zu bestehen. Natürlich.
“Vielleicht”, log ich, da mir der Ton des Elfen ganz und gar nicht gefiel. Sollte ich ihn mit nach Hyronanin nehmen, fragte ich mich. Ein Geernteter wäre immerhin besser als keiner, wenn auch nicht unbedingt viel besser. Aber erst Mal sollte ich wohl schauen, was genau dieser Kasper von mir wollte.
“Dann kommst du zu spät”, sagte er düster lachend, “Die sind längst Staub geworden.”
“Könnte dir auch passieren, wenn du weiter dein Maul zu weit aufreißt oder dein Vieh mir zu nahe kommt”, sagte ich trocken.
“Die letzten, die Lord Firns’ Fingern so dumm gekommen sind, ruhen friedlich im Eis. Ihr Tod war aber nicht friedlich, dass kann ich dir versichern”, drohte der Elf.
Ich verzog meinen Mund zu einem überheblichen Grinsen, “Das schreckt mich nicht”, sagte ich, “Ich habe unzählige Seelen zu Schlimmerem als dem Tod verdammt.”
Das Rentier schien die Bedeutung meiner Worte vor seinem Herren zu bemerken. Seine gläsernen Zähne schnappten nach meiner menschlichen Hand, und ich bin mir sicher, dass sie trotz ihres fragilen Aussehens in der Lage gewesen wären, diese in einen unbrauchbaren Klumpen Fleisch zu verwandeln. Jedoch waren meine Reflexe von den unzähligen Einsätzen und wohl auch damals schon von dem in mir wohnenden Kwang Grong dermaßen verstärkt, dass sie lediglich das harte Material meines Waffenarms zu greifen bekamen. Knirschend hörte ich sie splittern und sah winzige Kristallsplitter wie in Zeitlupe umherfliegen, während ich dem Kwang Grong den Befehl gab zu schießen. Und wie eigentlich immer seit meiner ersten Ernte in Cestralia, gehorchte er mir.
Knisternde, dunkle Blitze fuhren durch das Maul der Kreatur in ihr Innerstes hinein, wo sie restlos alles verdampften, sich schließlich nach außen Gruben und das weiße Fell zu schwarz verkohlten, bevor das leblose Wesen samt seines Reiters im Schnee zusammenbrach. Noch bevor der gestürzte Elf, in dessen Schulter sich ein Teil des Geweihs gebohrt hatte, sich vom Kadaver seines Rentiers befreien konnte, hielt ich ihm meine Waffe an den Kopf.
„Was willst du von mir, Mensch? Und warum hast du Ronkh getötet?“, knurrte der Elf.
„Das wundert dich ernsthaft?“, fragte ich, „hätte ich ein Kind, hättest du gerade zugegeben es verbrannt zu haben.“
„Du hast aber keins“, schloss der Elf, „was also treibt dich sonst hier her?“
„Ich stelle hier die Fragen“, sagte ich drohend, „Was genau ist das für eine Welt? Wer zur Hölle ist Lord Firn? Und vor allem: Gibt es hier in der Nähe einen Ort, wo ich die Chance habe, auf möglichst viele Personen zu treffen?“
„Eine seltsame Frage“, sagte der Elf, aus dessen wunde dunkelrotes Blut sickerte nachdenklich, „aber wir tun schon genug für euresgleichen und eure Bälger. Ich habe also wenig Lust euch auch noch mit Antworten zu beschenken.“
„Wie du meinst“, sagte ich schulterzuckend und ließ den Schädel des Elfern in schwarzem Feuer vergehen. Meine Arbeit in der Portalmaschine hatte nicht nur dazu geführt, dass ich reichlich wenig Skrupel besaß, sondern auch dazu, dass ich erkannte, wann etwas den Zeitaufwand lohnte und wann nicht. Ich würde meine Antworten schon auf eigene Faust bekommen.
Ich zog den Mantel und den linken, fellbesetzten Handschuh des Elfen aus und streifte ihn über, auch wenn die ein oder anderen Spritzer vom Blut des Mannes und seines Reittiers daran klebten. Der Mantel endete zwar bereits ein Stück oberhalb meines Hinterns, aber da der Elf zwar kleiner, aber nicht viel weniger breit war als ich, saß er zwar eng, aber nicht zu eng. Gleiches galt für den Handschuh und auch wenn beides vielleicht nicht sonderlich kleidsam war, so wärmte es mich doch immerhin etwas, wenn auch noch nicht genug. Ich überlegte auch das Eisschwert des Toten mitzunehmen, aber bevor ich danach greifen konnte, verwandelte es sich vor meinen Augen in Wasser. Offenbar war es an die Lebenskraft seines ehemaligen Besitzers gebunden.
Ich warf einen Blick auf die Uhr, wonach ich noch etwa 51 Minuten Zeit hatte und ärgerte mich entsprechend maßlos über die Störung. Mir war allerdings klar, dass aus dem lästigen Zwischenfall schnell eine Gefahr werden konnte, wenn mehr von diesen Elfen hier auftauchten. Zwar war ich durchaus daran interessiert, eine große Gruppe an Bewohnern dieses Landes zu ernten und dass es sich dabei offenbar um Kinder tötende Drecksäcke handelte, kam auch meinem kümmerlichen Restgewissen entgegen, aber ich war auch nicht unverwundbar. Damals schenkte mir der Kwang Grong noch keine Heilfähigkeiten und weder wusste ich, was solch ein Eisschwert bei mir anrichten könnte, noch ob die Kollegen des Elfen vielleicht mit Bögen, Armbrüsten oder sogar modernen Schusswaffen aus Eis ausgerüstet waren. Ich konnte also schneller vom Jäger zum erlegten Wild werden, als es mir lieb wäre.
Schon allein aus diesem Grund beeilte ich mich umso mehr in die Hütte zu kommen, deren Bewohner offenbar keinen Anlass gesehen hatten, in unsere kleine Streitigkeit einzugreifen oder schlicht nichts davon mitbekommen hatten.
An der Tür angekommen, klopfte ich wie geplant vorsichtig dagegen und kündigte so freundlich und höflich wie möglich mein Anliegen an. „Guten Abend. Ich möchte nicht stören, aber haben Sie vielleicht warme Kleidung oder einen Platz am Feuer für mich? Es ist ziemlich kalt hier draußen.“
„‘omm reeeinn…“, erklang es mit einer schrillen, gackernden Stimme von innen, „iisss oooffenn.“
Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter und warf einen Blick in das Innere der Hütte.
Sofort schlug mir ein widerlicher Gestank entgegen, der so heftig war, dass ich beinahe wieder rückwärts hinaus gestolpert wäre. Da ich jedoch aus Hyronanin so einiges an üblen Düften gewohnt war, blieb ich standhaft und erblickte so die Quelle des Geruchs. Das Haus war eine Mischung aus Kloake und Müllhalde. Der hölzerne Boden war nicht nur bedeckt mit schmutzigen Klamotten und zersplittertem Geschirr, sondern auch mit Lachen aus Urin, Erbrochenem und Kot. Auf dem dicken, grob geschreinerten Tisch in der Mitte stand halb gegessenes, verdorbenes Essen herum und in all dem Chaos hockte ein kleiner männlicher Elf mit dürren, fettigen, blonden Haaren, eingefallenen, etwas faltigen Gesichtszügen und zerrissener Kleidung und verbrannte in einem metallenen Ständer eine schwarzweiße Zuckerstange, während er ihre Dämpfe so gierig in sich aufnahm, als hinge sein Leben davon ab.
Den süßliche Geruch, der von der Verbrennung ausging war zwar stark, trat aber gegenüber der hier vorherrschenden Wand aus üblen Aromen fast in den Hintergrund.
Man sah dem Mann an, dass er einmal gutaussehend gewesen war, aber was immer es genau war, was er da rauchte und was sich auch in einem riesigen Haufen in der einzigen Ecke des Zimmers stapelte, die halbwegs sauber war, hatte das geändert.
Einen Moment lang befürchtete ich, dass ich selber nach dieser Scheiße süchtig werden könnte, aber fürs Erste zumindest verspürte ich weder eine berauschende Wirkung, noch ein gesteigertes Verlangen nach Zuckerstangen.
„‘omm, setzt dich ans Feuer. Genieß die ‘üße des Lebens“, sagte der Mann nuschelnd, während er mit blutunterlaufenen Augen zu mir aufblickte, „wie heißu denn?“
„Das spielt keine Rolle“, schob ich diese Frage beiseite, während ich bereits mit dem Gedanken spielte diese Hütte wieder zu verlassen. Hier würde ich nichts finden, was ich gebrauchen konnte. Ich glaubte nicht mal, dass dieses Wrack sonderlich viel Gesundheit liefern würde. Allerdings stimmte das vielleicht nicht ganz. Womöglich konnte ich immerhin auf Informationen hoffen. Wie hieß es so schön: „Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit“, vielleicht traf das auch auf Elfen zu, die schwer auf Zuckerstangen waren.
„Schon in Ordnung. Namen sin‘ nichso wichtig“, erwiderte er grinsend und wurde sofort darauf traurig, „meinen hab‘ ich auch schon vergessen. So viel vergessen … so viel.“
Hoffentlich nicht alles, dachte ich zynisch, auch wenn mir sein Leid dann doch nahe ging. Ein bisschen zumindest.
„Lebst du allein hier?“, versuchte ich mein Glück.
Der namenlose Elf zuckte zusammen und ich konnte förmlich hören wie sich die verrosteten Zahnräder in seinem benebelten Kopf träge drehten.
„Allein“, antwortete er schließlich, „aber nich‘ immer. Irgendwann … andere … ich weiß noch … ich weiß …An … Ar…. Ach verdammt!“
Plötzlich fing er an unkontrolliert zu weinen und seine Tränen fielen auf den staubigen Tisch.
„Gehörst du vielleicht auch zu Firns‘ Fingern?“, versuchte ich ihm auf die Sprünge zu helfen.
Plötzlich verwandelte sich sein Selbstmitleid in Wut. „Nein!“, schrie er mit einem Mal überraschend klar, „nicht zu ihnen! Niemals!“, bevor er seinen Zorn in einem weiteren tiefen Zug der aufsteigenden Dämpfe erstickte.
Hinter mir erklang das Knarzen der Tür. Sofort drehte ich mich um und richtete meine Waffe auf die Eindringlinge, bei denen es sich um zwei weibliche Elfen handelte, die beide unbewaffnet waren, was ihnen auch das Leben rettete. Vorerst. Dabei boten die beiden ein sehr unterschiedliches Bild. Die eine war blass, ziemlich dünn, fast schon dürr, hatte lange, braune Haare und steckte in einem Anzug aus grünem Filz, der so ziemlich dem perfekten Klischee einer Weihnachtselfe entsprach, blickte mit einer Mischung aus Angst, Ekel, Mitleid und Fassungslosigkeit zwischen dem Drogensüchtigen und mir hin und her, „Norro was ist nur mit dir passiert“, sagte sie mehr zu sich selbst. Ihre Stimme war hell, zittrig und zerbrechlich.
Die andere hatte ein volleres, etwas dunkleres Gesicht und eine rundlichere weiblichere Figur, die in einem verstärkten, braunen Lederpanzer mit Nieten steckte. „Beschlagener Lederwams + 2“, flüsterte das alte Nerd-Ich aus meiner Rollenspielzeit in meinem Kopf. Ihr Blick war wild und streitlustig und wurde von einem strengen, kurzen, schwarzen Zopf unterstrichen. Passend zu meiner Assoziation hielt sie die Hände ausgestreckt wie ein Rollenspielmagier, der einen Feuerball schleudern wollte. „Was machst du in Norros Haus?“, fragte sie mit einer zwar tiefen, aber dabei nicht unweiblichen Stimme. Irgendwie gefiel sie mir, so lächerlich das auch war.
Doch mein Jägerinstinkt war stärker. Das wären immerhin schon zweieinhalb, dachte ich. Sollte ich die nehmen oder noch höher pokern? Die Vernunft riet mir dazu, aber nun war die Neugier – Fluch und Segen meiner Existenz – erst recht geweckt.
„Wenn du ihm irgendetwas angetan hast, bist du tot“, fügte sie drohend hinzu und ich verkniff mir das Lachen, das sich bei dem Gedanken aufdrängte, wie leicht ich die beiden hätte verkohlen oder nach Hyronanin verschleppen können.
„Das alles hier hat er sich selbst angetan, fürchte ich“, erwiderte ich ruhig, „ich habe bei ihm lediglich nach Wärme und vielleicht etwas Kleidung gesucht …“
Als der Blick der Streitlustigen noch finsterer wurde, fügte ich hinzu, „ich wollte sie ihm nicht stehlen, nur darum bitten.“
Um ein wenig Spannung aus der Situation zu nehmen, senkte ich meine Waffe. Ich glaubte immerhin nicht, dass die beiden Frauen mir gefährlich werden konnten.
„Hört mal“, sagte ich, „ich bin keine Gefahr für euch. Ich bin lediglich ein Wanderer, den es hierhin verschlagen hat.“
„Ein Wanderer mit einer Waffe als Arm?“, wandte die kräftigere Elfe skeptisch ein.
„Ich komme aus einer gefährlichen Welt“, sagte ich wahrheitsgemäß.
„Und du bist in eine gefährliche Welt geraten. Wie auch immer du das angestellt hast“, kommentierte die Elfe und schien zu einer Entscheidung gelangt zu sein. Sie streckte ihre Hand aus.
„Mein Name ist Marina“, sagte sie, „Ehemals Vorarbeiterin von Santa Claus und das ist Linna. Meine Schwester.“
Also doch. Eine Weihnachtswelt. Immerhin hatte ich darüber nun Gewissheit.
Sie zeigte auf die blonde Frau, mit der sie höchstens eine vage Ähnlichkeit verband. „Unseren Bruder Norro kennst du ja bereits. Oder das, was von ihm übrig ist.“
Der Mann blickte die beiden Frauen nicht an, noch sagte er ein einziges Wort. Eher aus Scham, als wegen seines Drogenrauschs, vermutete ich.
„Tim“, stellte ich mich mit dem erstbesten Namen vor, der mir einfiel, da ich vermutete, dass sie einen Namen würden hören wollen.
„Hast du den Finger dort draußen auf dem Gewissen?“, fragte Marina geradeheraus.
„Ja“, antwortete ich.
„Glückwunsch“, sagte sie und etwas an ihrer Haltung änderte sich, wurde entspannter, ja fast schon freundlich, „auch wenn du dir leider nicht die Zeit genommen zu haben scheinst, ihn ordentlich leiden zu lassen.“
„Marina!“, ermahnte sie ihre Schwester schockiert, „so etwas darfst du nicht sagen. Immerhin ist er ein Elf wie wir.“
„Diese Eisratte ist überhaupt nicht wie wir“, polterte Marina, „er ist ein Monster. So wie sein gefühlskalter Herr. Er hat unzählige Kinder verbrannt, Linna. Er hat uns aus unserer alten Heimat vertrieben, er hat Norro und vielen anderen das hier angetan. Wie kannst du ihn da noch in Schutz nehmen? Wenn ich so einen in die Finger bekäme, würde ich seine Zehen und Finger in so lange in Eis tauchen, bis sie abfrieren und sie ihn dann langsam essen lassen. Ich würde ihm seine Ohren abschneiden, ich würde …“
Doch Linna hörte ihrer Schwester nicht zu. Stattdessen ging sie auf ihren verwahrlosten Bruder zu. Hob seinen faltigen Kopf und küsste ihn. Auf den Mund. Leidenschaftlich.
„Erkennst du mich noch, mein Liebster“, sagte sie unter Tränen, während der Mann den Kuss verschämt über sich ergehen ließ.
Inzest, dachte ich, warum nicht. Das half einem sicher gut durch die kalten Nächte hier. Ehrlich gesagt war mein moralischer Kompass zu diesem Zeitpunkt bereits recht flexibel geworden, weswegen mich dieser Kuss auch weniger aus moralischen Gründen abstieß, denn aus ästhetischen. Ich hätte Norro in Wahrheit nicht einmal dann geküsst, wenn man mir dafür einige LKW-Ladungen Gold angeboten hätte.
„Natürlich … Linna ….“, sagte Norro verwaschen, bevor er sich einen weiteren Zug genehmigte.
„Schluss damit!“, schrie die zarte Elfe plötzlich und schleuderte den größten Teil der zu etwa einem Drittel abgebrannten Zuckerstange mit einem harten Schlag ihrer Hand auf den Boden, während der abgebrochen Rest im Ständer verblieb, „das Zeug macht dich kaputt.“
„Was hast du getan, du dumme Schlampe!“, schrie Norro wütend, nahm den Eisenständer in seine dreckige Hand und schlug damit so fest nach seiner Schwester, dass sie taumelnd und blutend auf den Boden fiel. Bevor er sich, ohne sich um sein Opfer zu kümmern, auf den schmutzigen Boden begab und nach den noch schwelenden Überresten des Rauschmittels suchte.
Ich nutzte die Gelegenheit den Gentleman zu spielen, ging zu der zwar erschütterten, aber anscheinend nicht lebensgefährlich verletzten Frau hin und hielt ihr meine menschliche Hand hin, die sie zwar erst anschaute, als wäre sie irgendwie giftig, sie aber letztlich doch dankbar ergriff.
Fast ebenso schnell war Marina bei Norro und drehte ihm mit einem geschickten Griff beide Arme auf den Rücken. „Entschuldige dich bei deiner Schwester, du erbärmliches Stück Scheiße!“
Offenbar wurde dem Elf nun selbst wieder bewusst, was er getan hatte, „es … es tut mir leid, Linna“, jammerte er, „es tut mir wirklich leid!“
„Schon OK“, sagte Linna, deren Wange stark angeschwollen war.
„Gar nichts ist hier OK“, widersprach Marina voller Zorn, „Sei froh, dass du Linna nicht umgebracht hast. Genau das hätte ich dann nämlich mit dir getan und das werde ich auch tun, wenn du noch ein einziges Mal deine schmutzigen Finger an eine dieser verfluchten Zuckerstangen legst. Verstanden?“
„Aber ich brauche …“, wollte Norro protestieren und sofort drückte Marina fester zu, woraufhin der Elf aufschrie.
„Du brauchst Linna und sonst gar nichts“, sagte Marina hart, „wenn du das nicht erkennst, brauchen wir dich nicht!“
„Du hast recht“, sagte Norro schließlich, woraufhin Marina ihren Griff zwar etwas lockerte, ihren Bruder aber weiterhin festhielt. Sie wandte sich mir zu.
„Danke, dass du meiner Schwester geholfen hast“, sagte Marina, „trotzdem interessiert es mich, was du hier eigentlich vorhast. Es fällt mir schwer zu glauben, dass du einfach so nach Noestria gestolpert bist. Außer du bist ein Vater, der sein Kind sucht. Eltern von verschwundenen Kindern gelingt es gelegentlich hierherzukommen, wenn ihre Verzweiflung nur groß genug ist. Aber entschuldige meine Direktheit: Du siehst nicht wie ein Vater aus.“
„Das bin ich auch nicht“, antwortete ich, „ich bin tatsächlich durch einen dummen Zufall hierher geraten. Ich habe auf der Flucht vor einem schrecklichen Feind eine Art – Dimensionstor – betreten, ohne genau zu wissen, wo es mich hinführen würde. Ich weiß also nicht viel über diese Welt. Aber ich weiß, wer Santa Claus ist und ich hoffe, dass er mir dabei helfen kann zurückzukehren.“
„Das kann er vielleicht“, sagte Marina, „Das Dumme ist nur, dass er in Lord Firns Kerker feststeckt.“
„Wer ist dieser Lord Firn?“, wollte ich wissen.
„Ein Blender. Ein Monster und Lügner“, antwortete Marina, „es gibt eine Menge über ihn zu erzählen und nur wenig davon ist gut, aber ich gebe dir einfach die Kurzfassung. Einige Elfen waren mit ihrem Leben in der Geschenkeproduktion unzufrieden geworden. Sie hatten keine Lust mehr auf ihre Arbeit gehabt und darauf den Befehlen von Claus zu gehorchen, obwohl er unser aller Vater ist. Derjenige, der uns alle ursprünglich erschaffen hatte. Der lauteste unter diesen Rebellen war Firn gewesen. Eigentlich war er nur ein einfacher Schrauber gewesen, womit er zu den untersten Rängen gehört hatte, aber irgendwie hat er es geschafft, die anderen Unzufriedenen um sich zu sammeln und die uralte, verbotene Magie des Eises für sich zu nutzen. Gemeinsam haben sie einen Aufstand angezettelt, die Geschenkefabrik übernommen, viele von uns treuen Elfen getötet und unser aller Vater gefangengenommen, während der Rest von uns fliehen musste.
Sie hätten Santa sicher gerne getötet, aber sie brauchten ihn noch, denn allein seine Magie ermöglicht den Betrieb der Geschenkefabrik und nur solange die Geschenkeproduktion läuft, haben wir Elfen auch die Möglichkeit zu existieren. Immerhin wurden wir allein zu diesem Zweck geschaffen. Die Rebellen, die sich selbst als Firns Finger bezeichnen, wissen das, aber statt wenigstens die Fabrik in Eigenregie und durch ihre eigene Arbeit weiterzuführen, bedienten sie sich eines fürchterlichen Tricks: Sie entführen Kinder, verbrennen ihre Körper und nutzen die frei werdende Lebensenergie, um die Fabrik vollautomatisiert zu betreiben, während sie sich auf die faule Haut legen oder die freie Zeit nutzen, um uns zu terrorisieren. Genau das wollen wir beenden, Tim. Diese Barbarei darf keinen einzigen weiteren Tag mehr andauern. Wir haben uns lange genug versteckt. Nun wird es Zeit die Getreuen zu versammeln und die Fabrik wieder an uns zu nehmen. Du könntest uns dabei helfen. Wie du mit dem Finger und seinem Reittier fertig geworden bist, zeigt mir, dass du in der Lage bist zu kämpfen. Wenn wir Erfolg haben und Claus wieder frei ist, wird er dir sicher ermöglichen können nach Hause zurückzukehren. Was sagst du, wirst du uns helfen?“
Nun, dachte ich innerlich grinsend, das ist tatsächlich wie Weihnachten. Ich würde in einer Gruppe von Rebellen marschieren und sie jederzeit mit mir nehmen können, während ich mir diese Welt vorher noch entspannt ansehen konnte, zumindest so lange die Zeit noch reichte. Das klang gut. Verdammt gut.
„Ja“, sagte ich, „ich bin dabei. Nicht nur, weil es in meinem Interesse liegt, sondern auch weil es das Richtige ist.“
Ein bisschen Pathos konnte nie schaden und wie es aussah, verfehlten meine Worte ihre Wirkung bei Marina nicht. Lediglich Linna wirkte nicht so begeistert, so als hätte ich etwas Falsches gesagt.
„Gut“, sagte Marina, „dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren“, und zog den auf dem Boden knienden Norro mit einem Ruck in die Höhe.
„Du kannst ihn unmöglich mitnehmen“, protestierte Linna, „du siehst doch in welchem Zustand er ist. Wenn er so mit uns gegen Firn marschiert, wird er sterben.“
„Wenn er hierbleibt, wird er auch sterben“, sagte Marina hart, „nur langsamer und elender. Außerdem werde ich auf ihn Achtgeben. Das verspreche ich dir.“
Linna wirkte nicht überzeugt und wollte erneut protestieren, aber ein strenger Blick ihrer Schwester ließ sie verstummen. Marina schien ihre kleine Familie ganz gut im Griff zu haben.
~o~
Ein paar Minuten später waren wir abreisebereit. Der eher unwillige und apathische Norro war von Marina mit mitgebrachter, warmer und sauberer Kleidung ausgestattet wurden, was seinen Gestank wenigstens ein bisschen reduzierte. Während er sich umgezogen hatte, hatte ich beobachtet, wie er eine handvoll Zuckerstangen eingesteckt hatte, was ich seinen Schwestern jedoch nicht mitgeteilt hatte. Im Grunde ging es mich auch nichts an. Was mich schon deutlich mehr anging waren die Fellmütze, die warmen Stiefel und die gefütterte Jacke, die Marina mir überlassen hatte. Alles davon saß extrem eng, aber mir war mangelnde Bequemlichkeit allemal lieber als zu frieren.
Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, dass ich noch knapp 39 Minuten hatte, bevor ich zurückkehren musste. Allerdings machte ich mir deswegen nicht allzu viele Sorgen. Die zweieinhalb Dosen Gesundheit, die hier mit mir reisten, waren zwar kein sicherer Schutz vor On-Grarins Zorn, aber die Wahrscheinlichkeit auf weitere Elfen zu treffen, schien mir bei diesem Vorhaben nicht gerade gering zu sein. Trotzdem entschied ich mich, Marina, die neben mir voranmarschierte, während Linna und Norro hinter uns gingen, danach zu fragen.
„Wo finden wir den Rest der Getreuen?“, fragte ich, „Müssen wir jetzt jede Hütte einzeln abgehen?“
„Normalerweise müssten wir das, ja“, antwortete Marina, „allein schon, um den Patrouillen von Firns Fingern zu entgehen, die sonst allgegenwärtig sind und die uns auch lange davon abgehalten haben unser Häufchen Elend von Bruder zu besuchen. Aber die Umstände sind gerade günstig, wenn man so will. Die Meisten von ihnen sind zur Fabrik zurückgekehrt. Wahrscheinlich planen sie dort irgendetwas Finsteres und es macht auch den Angriff um einiges schwieriger, aber gleichzeitig ermöglicht es uns auch, uns ganz offen zu versammeln. Die Meisten von uns sind sicher schon in unserem geheimen Hauptquartier. Wir gehören zu den Nachzüglern.“
„Wie weit ist es bis zu eurem Hauptquartier?“, stellte ich die entscheidende Frage.
„Etwa eine halbe Stunde“, sagte Marina, „wenn nichts Unvorhergesehenes passiert.“
Sofort sank meine Stimmung etwas. Das war knapp, verdammt knapp. Aber es brachte nichts, sich verrückt zu machen, auch wenn ich es schon schade fand, dass ich diese mysteriöse Geschenkefabrik und diesen Lord Firn nicht zu Gesicht bekommen würde. Am liebsten hätte ich die anderen drei darum gebeten schneller zu laufen, aber das hätte mich nur verdächtig gemacht. Also schwieg ich.
„Hunger?“, fragte sie und kramte einen Lebkuchen aus dem Beutel, den sie über ihrem Rücken trug.
Der skeptische Blick, mit dem ich die Süßigkeit beäugte, schien ihr nicht zu entgehen.
„Keine Panik“, sagte sie, „nicht alles hier macht so süchtig wie diese verfluchten Zuckerstangen. Das ist einfach nur lecker. Mehr nicht.“
Um nicht wie ein Feigling dazustehen, nahm ich den Lebkuchen und biss hinein. Er war aromatisch, würzig und süß. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Erst jetzt merkte ich, wie ich es vermisst hatte, etwas zu essen.
„Wie wollt ihr denn gegen Firn und seine … Finger vorgehen?“, fragte ich kauend, „Sie haben immerhin Schwerter, während ihr …“
„Du denkst, wir wären unbewaffnet?“, sagte Marina grinsend, während sie eine Augenbraue hob, „dann pass mal auf.“
Marina zog einen weiteren Lebkuchen aus ihrem Rucksack, warf ihn hoch in die Luft, brachte ihre Hände erneut in diese seltsame Magierposition und beschwor dann tatsächlich etwas aus der leeren Luft herauf. Jedoch keinen Feuerball, sondern glitzernden Staub, der den Lebkuchen gleich mehrfach perforierte und ihn als ein Haufen Krümel und Bruchstücke hinabregnen ließ. Erschrocken bemerkte ich, wie ein Teil des zerstörerischen Staubes auf meine Uhr und auf meinen menschlichen Arm hinabsank.
„Keine Angst“, beruhigte mich Marina, „der Elfenstaub ist intelligent. Er schadet nur den Zielen, denen er schaden soll. Das aber richtig. Das, was ich mit dem Lebkuchen angestellt habe, könnte ich auch problemlos mit einem Elfen anstellen.“
„Beeindruckend“, sagte ich, während das Adrenalin in meinem System nun wieder etwas abebbte, „können das Firns Leute auch? Immerhin sind sie doch auch Elfen.“
„Nein“, sagte Marina, „Firn macht etwas mit ihnen. Er zieht seine Kraft aus dem Eis und lässt sie darauf schwören. Sie haben ihre Eiswaffen, aber den Staub haben sie verloren, als sie ihren Vertrag mit ihrem Schöpfer gebrochen haben.“
„Ich verstehe“, sagte ich.
„‘leiben wir stehen? Ich brauch ne Pause“, erklang Norros Stimme hinter uns.
„Nichts da!“, widersprach Marina, „Eine Pause bekommst du frühestens, wenn wir im Hauptquartier sind.“
Norro grummelte etwas vor sich hin, verstummte dann jedoch.
„Du bist herzlos, Marina“, sagte Linna.
„Herzlos wäre es auf sein Plärren zu hören“, konterte Marina, „ich denke an seine Zukunft. Solange Firn herrscht hat er nämlich keine, außer vielleicht eine, die man rauchen kann.“
Während wir die Hütte immer weiter hinter uns ließen, hatte ich das Gefühl, dass es zunehmend kälter wurde. Und nicht nur das. Es wurde auch dunkler. Das ohnehin spärliche Sternenlicht, das bisher aber zumindest durch das reflektierende weiß des Schnees ausgereicht hatte, um die Umgebung ganz gut zu erkennen, schien nun geradezu verschluckt zu werden. Zu allem Überfluss frischte der Wind auf und ein schrilles, geisterhaftes Heulen erklang, welches fast schon in den Ohren schmerzte und mir auch das ständige Flüstern des Schnees wieder bewusst machte, an welches ich mich schon fast gewöhnt hatte.
„Was ist das?“, fragte ich Marina, „geschieht so etwas öfter?“
„Nein“, sagte Marina, „ich denke es hat mit dem zu tun, was sie in der Fabrik aushecken. Wir sollten uns lieber beeilen.“
„Das könnte schwierig werden bei dieser schlechten Sicht“, wandte Linna ein und wahrscheinlich hatte sie damit recht.
„Kein Problem“, sagte ich und aktivierte die Taschenlampe an meiner Bravianischen Uhr. Sofort schnitt ein scharfer, heller, breiter Lichtkegel durch die Nacht, der unsere Sichtweite wieder deutlich erhöhte. Dabei fiel mir noch etwas anders auf. Die Uhr, die zuletzt 27:34:21 Uhr angezeigt und mir damit noch ein Zeitfenster von etwa dreiunddreißig Minuten eingeräumt hatte, zeigte nun, einige Minuten später noch immer exakt dieselbe Zeit an. Ich beobachtete die Zeitanzeige auf dem beleuchteten Display eine Weile, um auszuschließen, dass ich mich schlicht vertan hatte oder das lediglich die Sekundenanzeige defekt war, aber die Uhr bewegte sich nicht mehr weiter. Kein Stück.
Der Elfenstaub, wurde es mir sofort bewusst. Er mochte mir nicht den Körper zerschnitten haben, aber er war auch nicht ohne Wirkung auf meine Uhr geblieben. Oder auf mich. Wäre es vielleicht möglich, dass der Staub eine Art Zeitblase um mich geschaffen hatte, in der die Zeit langsamer verlief? Wahrscheinlicher war natürlich, dass das komplexe Gerät nun einfach schrottreif war, und dass ich mich nur noch auf mein Zeitgefühl verlassen konnte. Ein verdammt großes Risiko. Wenn ich Pech hatte, würde ich mich verschätzen und mit leeren Händen nach Hyronanin zurückkehren. Zum Glück gab es eine Möglichkeit, um das festzustellen. Sollte sich die Uhr in nächster Zeit wenigstens etwas weiterbewegen, und sei es auch nur um wenige Sekunden, bedeutete das, dass die Zeit für mich tatsächlich langsamer verstrich. Tat sie es nicht, sollte ich besser davon ausgehen, dass ich nicht so viel Glück hatte.
„Norro, was tust du?“, rief Linna plötzlich, „du holst dir den Tod“, woraufhin wir uns sofort umdrehten und sahen, wie sich der Elf seine neuen Kleider förmlich vom Leib riss und begann sich nackt im Schnee zu wälzen, während er immer wieder flüsterte. „Das Fahleis erwacht, in der endlosen Nacht und im Herzen von allem, was lebt. Das Fahleis erwacht, in der endlosen Nacht und im Herzen von allem, was lebt. Das Fahleis erwacht. In …“
Als Linna versuchte ihn von seinem irrsinnigen Tun abzuhalten, hielt er sie mit verkrampften Händen fest und bis ihr herzhaft in den Arm.
„Norro!“, schrie Linna und versuchte ihren wahnsinnigen Bruder abzuschütteln. Doch da war ich schon bei ihm und schlug ihm mit wohldosierter Wucht mit meinem Waffenarm gegen den Kopf, noch bevor Marina einschreiten konnte. Ich musste meine Beute schützten, bevor sie sich auch noch gegenseitig auslöschte. Doch der Schlag ließ Norro nicht wie erhofft bewusstlos werden. Zwar ließ er von seiner Schwestergeliebten ab, aber dafür stürzte er sich auf mich und versuchte meine Kehle zu greifen. Glücklicherweise gelang es mir, meinen Waffenarm in Stellung zu bringen, so das seine Zähne sich stattdessen in das relativ unempfindliche Material gruben. Trotzdem spürte ich etwas. Und zwar Kälte. Kälte die durch den Kwang Grong bis in den biologischen Teil meines Arms ausbreitete und immer weiter kroch. Ich sah wie sich eine Schicht aus Eiskristallen über meinen Arm legte. Es war eine brutale Kälte. Schneidend und stechend und gefährlicher als die bloße Abwesenheit von Wärme. Sie würde mich töten, wenn ich Norro nicht loswurde und der Kwang Grong schien das zu wissen. Auch wenn zwischen uns damals noch keine ernsthafte Verbindung bestand und er sich noch nicht entschieden hatte, ob er mich auslöschen oder mit mir verschmelzen wollte, spürte ich, wie sich an der Spitze meines Waffenarms Energie sammelte.
„Nein, du Idiot“, protestierte ich gedanklich, wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich es nicht sogar laut ausgesprochen hatte, „ich brauche ihn lebend. Ich schaffe das schon selber.“
Auch wenn ich nicht damit gerechnet hatte, schien der Kwang Krong mich nicht nur gehört zu haben, sondern auch ausnahmsweise auf meine Wünsche Rücksicht zu nehmen. Zumindest schien er mir die Chance einräumen zu wollen, mich ohne tödliche Waffengewalt aus dieser Lage zu befreien. Dummerweise gelang mir das jedoch nicht. Ich versuchte Norro abzuschütteln, aber mein Arm war bereits viel zu kalt und taub, um noch nennenswerte Kraft zu entwickeln und auch mit meinem anderen Arm konnte ich seinen Kiefer nicht von mir lösen.
Zum Glück gab es Marina. Und ihren Elfenstaub, den sie erneut zum Einsatz brachte. Statt ihren Bruder jedoch zu zerschneiden, schien er etwas anderes mit ihm anzustellen. Norro hörte damit auf, seine kälteverbreitenden Zähne in die harte Waffe an meinem Arm zu versenken und auch damit seine Litanei herunterzubeten, die er die ganze Zeit über weiter vor sich hingenuschelt hatte. Stattdessen sank er zurück in den Schnee und fing an sich zu kratzen. Und damit meine ich, sich wirklich zu kratzen. Nicht wie bei einem Mückenstich, sondern eher wie bei einer Neurodermitis aus der Hölle. Seine schmutzigen Nägel fuhren so manisch über seinen frierenden Körper, als könnten sie es kaum erwarten die störende Haut weg zu schaben. Aus meiner Haut hingegen zog sich endlich die Kälte zurück und auch die Schicht aus Eiskristallen verschwand.
„Bist du jetzt vollkommen wahnsinnig?“, brüllte Linna ihre Schwester an, ohne auf die blutende Wunder an ihrem eigenen Arm zu achten.
„Wieso? Weil ich dich, Tim und unseren Nichtsnutz von Bruder gerettet habe?“, blaffte Marina zurück.
„Weil du einen Juckfluch auf Norro angewendet hast. Du weißt wie riskant der Scheiß ist. Wenn du ihn etwas zu stark dosiert hast, dann …“, versuchte Linna zu erwidern, wurde jedoch von Marina unterbrochen.
„Mir ist nichts Besseres eingefallen“, erklärte Marina, „jedenfalls nichts, was ihn nicht gleich umbringt.“
„Nichts Besseres eingefallen?“, fragte Linna, „ach komm schon, Marina. Du hast überhaupt nicht nachgedacht. Dir ist Norros Leben scheißegal. Genau wie das aller anderen, die in deinen Augen unter dir stehen. So war es schon gewesen, als wir noch für Santa gearbeitet hatten und du Vorarbeiterin gewesen warst. Hauptsache wir haben Leistung gebracht und wenn wir das nicht konnten, mussten wir dazu … ermuntert werden. Notfalls mit Gewalt.“
„Disziplin ist wichtig!“, antwortete Marina, „das war sie damals und das ist sie heute. Das heißt nicht, dass ihr mir egal seid.“
„Genau das heißt es!“, fragte Linna, „wäre es anders, hättest du Norro gefesselt oder gelähmt.“
„Ich habe wenigstens gehandelt, während du blöd herumgestanden hast. Jetzt benimm dich nicht wie ein bockiges Kind. Die Welt ist nicht so einfach wie du vielleicht meinst, dass solltest du vielleicht inzwischen mitbekommen haben“, gab Marina kalt zurück.
„Was ich mitbekommen habe ist, dass ich mich vielleicht für die falsche Seite entschieden habe“, sagte Linna, „womöglich hat Lord Firn doch recht. Santa und Leute wie du, ihr seid nichts als miese Unterdrücker.“
„LINNA!“, rief Marina fassungslos und auch ihrer Schwester schien erst jetzt bewusst geworden zu sein, was sie gesagt hatte, „wie kannst du dich ernsthaft mit dem Feind solidarisieren? Mit einem Monster? Mit einem Kindermörder?“
„Es tut mir leid“, sagte Linna zerknirscht, „Das hätte ich nicht sagen sollen. Ich war nur wütend, ich…“
„Es ist mir egal, warum du es gesagt hast. Du hast es gesagt“, sagte Marina eiskalt, „deine Entschuldigungen interessieren mich nicht. Kümmer dich lieber um deinen Bruder, wenn dich dieser kleine Fluch so stört.“
„Marina …“, versuchte es Linna erneut, aber ihre Schwester reagierte nicht, also konzentrierte sie sich auf Norro, der inzwischen blau gefroren und rotgekratzt war, sich aber immer noch mit Juckreiz im Schnee hin- und herwälzte. Sie versuchte ihn zu packen und festzuhalten, aber aufgrund ihrer eigenen Verletzung und der beachtlichen Kraft, die der Elf in seiner Verzweiflung entwickelte, gelang ihr das nicht.
Marina interessiert das nicht, also wollte ich auf die beiden zugehen.
„Lass es!“, verlangte Marina, „sie muss allein damit klarkommen. Vielleicht kommt ihr ja auch ihr geliebter Lord Firn zur Hilfe.“
Selbst damals fand ich das hart. Allerdings stemmte ich mich auch nicht dagegen. Es war im Grunde ihre Familienangelegenheit und die Gesundheit von Norro kümmerte mich inzwischen auch nicht mehr sonderlich. Mit ihr war es ohnehin nicht mehr weit her und wahrscheinlich war er den Aufwand ihn zu retten überhaupt nicht wert. Also nickte ich und wandte mich von Linna ab, die noch immer versuchte ihren Bruder zu beruhigen.
„Hast du auch Geschwister, Tim?“, fragte Marina.
„Nein“, antwortete ich.
„Sei froh“, antwortete Marina, „sie machen nichts als Ärger.“
„Was ist überhaupt mit ihm los?“, wollte ich wissen, „kommt das von seiner Sucht oder vom Entzug?“
„Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht direkt“, vermutete Marina, „Stangensüchtige drehen mitunter ziemlich durch, aber sie verbreiten keine Kälte mit ihrem Biss. Möglich, dass das – genau wie die Stimmen im Schnee und dieses grauenhafte Heulen – mit dem zusammenhängt, was Firn plant. Ich denke, da er süchtig ist, war es für das, was auch immer hier am Werk ist, leichter ihn zu übernehmen. Wahrscheinlich sind wir deshalb nicht davon betroffen. Noch nicht zumindest.“
„Das ergibt Sinn“, antwortete ich, „was wirst du tun, wenn dein Fluch endet und er immer noch so drauf ist?“
„Ihn töten“, sagte Marina hart, auch wenn dabei Tränen in ihren Augen glitzerten, „dann wäre es zu gefährlich ihn am Leben zu lassen.“
Mit einem Mal war es hinter uns auffallend ruhig geworden. Beinah gleichzeitig drehten Marina und ich uns um und sahen, dass Norro damit aufgehört hat sich zu kratzen und sich im Schnee zu wälzen. Stattdessen stand er neben Linna, die liebevoll einen Arm um ihm gelegt und ihr Bestes getan hatte, ihm seine zerstörte Kleidung wieder überzuwerfen, ergänzt durch ihren eigenen, warmen Schal, mit dem sie die größten Lücken in seinen Lumpen geschlossen hatte. An einigen Stellen waren aber noch immer die Kratzer erkennbar, die sich Norro durch Marinas Fluch zugezogen hatte. Genau wie die Bisswunde an Linnas eigenem Arm waren sie jedoch größtenteils von einer schützenden Wundkruste umgeben. So wie es aussah, hatte Linna ihren Elfenstaub für eine Art Heilmagie genutzt. Dennoch schien nicht alles in Ordnung zu sein. Norros Blick war geistlos, leer und zugleich auf seltsame Weise wütend und auch wenn er still wie eine Statue stand, gab er brummende, dunkle Laute von sich. Eine glitzernde, halb-transparente, bläuliche Schicht hüllte den Elfen ein. In Linnas Augen glitzerten Tränen.
„Wenn so deine Liebe aussieht, Schwester, dann kann ich wohl froh sein, dass du mich hasst“, sagte Marina.
„Halt dein verdammtes Maul!“, keifte Linna unter Tränen und man sah ihr an, dass ihr Zorn ebenso sehr gegen sich selbst gerichtet war, wie gegen Marina.
Marina ignorierte sie und drehte sich stattdessen zu mir um. „Nur, damit du verstehst, was mein Schwesterherz da angerichtet hat; da Norro, wie jeder mit Augen im Kopf erkennen kann, noch immer nicht wieder er selbst ist, hat sie einen Marionettenfluch auf ihn geworfen. Wahrscheinlich um zu verhindern, dass ich ihn töte. Dabei wäre das eine Gnade gewesen. Dieser Fluch ist nämlich alles andere als harmlos. Natürlich, er verhindert, dass sich Norro auf uns stürzt, da sie damit die Kontrolle über seinen Körper übernimmt. Auch wird seine Haut dadurch hart und unempfindlich wie Holz, was ganz praktisch ist, um Kälteschäden zu vermeiden. Dummerweise hat der Fluch aber eine Nebenwirkung. Je länger er andauert, desto mehr nimmt das Opfer das Wesen eines devoten Befehlsempfängers an. Diese Haltung gräbt sich tief in seinen Charakter ein und die Veränderung ist unwiderruflich. Je nachdem wie lange wir brauchen werden, um Santa zu befreien, wird Linna am Ende also einen ziemlich handzahmen Lover haben. Und Santa einen folgsamen Arbeiter. Eine Win-win-Situation also. Für uns alle. Außer für Norro natürlich.“
„Sei endlich ruhig, die herzloses Monster!“, verlangte Linna.
„Ich bin nicht deine Marionette, Schwesterlein“, antwortete Marina, „du kannst mir nicht den Mund verbieten. Trotzdem werde ich dir den Gefallen tun. Gespräche mit dir sind ermüdend. Außerdem denke ich, dein eigenes Gewissen hat dir noch genug zu erzählen und wir müssen endlich weiter, wenn wir diese Revolution und vor allem das, was Firn da treibt, nicht verpassen wollen.“
Ich hatte natürlich nichts dagegen, schon allein weil dieser Vorfall sicher einiges an Zeit gekostet hatte. Während Marina einfach weiterging, ohne ihre Schwester zu beachten und Linna sich kurz darauf zusammen mit ihrem Bruder auf den Weg machte, der sich so mechanisch wie ein Zinnsoldat bewegte während er immer wieder unverständliche, halb erstickte Laute von sich gab, riskierte ich einen Blick auf meine Uhr.
Bei dem, was ich sah, hätte ich – ungeachtet der Tragik der Situation – vor Freude heulen können. Die Uhr stand nun auf 27:34:22 Uhr und hatte sich damit genau eine Sekunde weiterbewegt. Ich konnte natürlich nicht sicher sein, dass es so war, aber es war zumindest ein starkes Indiz dafür, dass meine Zeit tatsächlich anders ablief als gewohnt. Wem dem so war, hatte ich nun alle Zeit der Welt, diesen seltsamen Ort zu erforschen.
In der nächsten Zeit redeten wir nicht sonderlich viel. Die beiden Schwestern hatten sich ohnehin nichts mehr zu sagen. Linna warf mir nur wütende Blicke zu, da ich mich auf Marinas Seite gestellt hatte, Norro konnte nichts weiter als Knurren und Brabbeln und Marina hatte genug damit zu tun das Gelände im Blick zu behalten. Das wurde nun nämlich immer hügeliger und zu dem Schnee gesellten sich nun immer öfter auch spiegelglatte, vereiste Flächen in denen ein geisterhaftes, grünliches Licht eingeschlossen zu sein schien. „Fahleis“ kam mir sofort wieder der Begriff in den Sinn, von dem Norro vorhin gesprochen hatte. Ich fragte mich, was es damit auf sich hatte und vermied so gut es ging das Eis zu betreten, auch wenn ich vorerst – außer seiner glatten Oberfläche und gelegentlichen scharfen Kanten – nichts sonderlich gefährliches daran bemerken konnte. Trotzdem beunruhigte es mich.
Da niemand mit mir sprach waren das depressive Lied des Schnees, das Geknurre von Norro und das schrille, halb organische, halb mechanische Kreischen, das von fern zu uns herüberdrang und kontinuierlich lauter wurden, das Einzige, was ich hörte.
Zudem stieg zunehmend der Geruch von verbranntem Fleisch in meine Nase, der umso schlimmer war, da ich wusste, woher er wahrscheinlich stammte: nämlich aus der Fabrik.
Da Ohren und Nase mir wenig Erfreuliches boten, versuchte ich mich ganz auf meine Augen zu konzentrieren und mich mit der Umgebung zu beschäftigen, soweit ich sie im Strahl meiner Taschenlampe erkennen konnte. Dabei stach mir eine Sache ganz besonders ins Auge. Der schattenhafte Nadelwald, der sich stets nur am Rand meines Blickfeldes befunden hatte, war nun ganz in unserer Nähe. Kaum zehn Meter von uns entfernt erhob sich eine Wand aus gewaltigen Nadelbäumen, deren Spitzen eigenartig verkrümmt waren und die ganz anders als es bei diesen Bäumen üblich war, bis hinunter zur Wurzel zu einem dichten Geflecht aus Nadeln verwachsen waren. Die Baumreihe reichte dabei in beiden Richtungen so weit meine Augen sehen konnten.
„Liegt es daran, dass diese Stimmen mich wahnsinnig machen oder waren diese Bäume gerade noch nicht dagewesen?“, verlieh ich meiner Verwirrung Ausdruck.
„Das waren sie eindeutig noch nicht“, sagte Marina, „sie müssen dorthin gewandert sein, so bescheuert das auch klingt.“
Ich war schon längst an einem Punkt, an dem ich solche Unmöglichkeiten ohne große Überraschungen akzeptierte. Naturgesetze waren für mich spätestens seit Hyronanin, wo der Tod keine Macht mehr hatte, nicht länger universal und unumstößlich. Jede Welt folgte anderen Gesetzen und selbst die konnten sich jederzeit wieder ändern.
Norro gab plötzlich ein irres, schwachsinniges Lachen von sich, so als würde er das alles äußerst amüsant finden.
„Behalte deine Handpuppe besser im Griff, das nervt“, verlangte Marina.
„Geh sterben du gehässiges Stück Dreck!“, erwiderte Linna.
„Wenn du das willst, musst du das schon selbst besorgen“, antwortete Marina kühl, „bis dahin solltest du lieber mit uns zusammen nach einem Weg durch dieses Dickicht Ausschau halten.“
Linna antwortete nicht darauf, schloss aber zu uns auf, nahm eine Kerze aus ihrem Rucksack und entzündete diese mit ihrem Elfenstaub, wodurch eine ungewöhnlich helle, weitreichende Flamme entstand. Ein angenehmer Duft nach Zimt und Anis breitete sich aus. Kurz darauf tat Marina es ihr gleich.
„Warum habt ihr diesen Trick nicht schon vorher angewendet?“, fragte ich verwirrt, „dann hätten wir die Hindernisse und Eisflächen viel besser erkennen können.“
„Kerzen sind für Marina zu wertvoll“, erhielt ich die gehässige Antwort unerwarteterweise von Linna, „wertvoller als das Leben ihrer Familie. Ich dagegen habe schlicht darauf gehofft, dass sich einer von euch das Bein bricht.“
„Sehr freundlich“, kommentierte ich.
„Beachte sie gar nicht“, riet mir Marina, „das bestärkt sie nur. Lass uns lieber versuchen durch dieses Gestrüpp zu kommen. Wir suchen auf der rechten Seite nach einem Ausweg. Linna kann Norro mitnehmen und auf der linken Seite danach suchen. Wenn es ihr genehm ist, heißt das.“
Linna nickte widerwillig im Kerzenschein.
„Vielleicht ist es keine gute Idee sich zu trennen“, gab ich zu bedenken, da ich einfach schon zu viele Horrorfilme gesehen hatte, in denen das der Anfang vom Ende gewesen war.
„Keine Sorge“, sagte Marina, die durchaus verstand worauf ich hinauswollte, „meine Schwester will mich tot sehen und Norro würde uns entweder fressen oder einfrieren, wenn er nicht ihre Marionette wäre und vielleicht tut er es am Ende noch gerade deswegen. Ich denke ohne die beiden steigen unsere Überlebenschancen sogar drastisch.“
Da ich gegen diese Logik nichts einwenden konnte, folgte ich Marina entlang der unnatürlichen Barriere aus Nadelbäumen und versuchte mit meiner Taschenlampe eine begehbare Lücke ausfindig zu machen. Dabei behielt ich, genau wie auch Marina, instinktiv einen gewissen Abstand zu den Gewächsen bei. Denn die Bäume, das erkannte ich selbst aus dieser Entfernung, unterschieden sich noch weit mehr von gewöhnlichen Nadelbäumen als ich zunächst gedacht hatte. Ihre Äste waren nicht starr und trocken wie etwa bei Fichten oder Tannen, sondern wirkten beweglich, biegsam und auf gewisse Weise auch weich. Selbst dann, wenn keine der heftiger werdenden Sturmböen durch sie hindurch fegte, schienen sie sich leicht zu bewegen, wie die Hände eines Schlafenden, der im Traum unwillkürlich zuckte und nach Dingen zu greifen versuchte, die in seiner Alltagsrealität nicht existent waren. Ich war mir nicht sicher, aber ich hatte das unterschwellige Gefühl, dass sie diese Bewegungen nutzten, um jede noch so kleine Lücke zu schließen, sobald wir uns ihnen näherten. An ihren Nadeln glitzerte eine feuchte, glitschige Schmierschicht, so als hätte sie jemand mit Öl eingerieben. Zudem ging ein Geruch von ihnen aus, der zwar durchaus an den Duft von Tannennadeln gemahnte, dabei aber auch etwas Faules, Umgekipptes, Vergorenes an sich hatte, das jede Assoziation zu weihnachtlicher Gemütlichkeit auslöschte. Zu allem Überfluss legte der schwere, widerliche Duft, sich wie Kleber auf die Schleimhäute und überdeckte sogar den Geruch von verbrennenden Menschenkindern, was ich nur bedingt als einen Segen begriff.
Als wir sicher schon eine gute Viertelstunde gegangen waren – die Sekundenanzeige meiner Uhr hatte sich um eine Sekunde weiterbewegt – und weder Marina noch ich eine Lücke in dem unsympathischen Gestrüpp hatten entdecken könne, fragte ich Marina: „Könntest du nicht deinen Elfenstaub verwenden, um einen Durchgang zu schaffen?“
„Das würde ich höchstens im Notfall tun“, sagte Marina, „Magische Wesen – und darum handelt es sich bei diesen Pflanzen mit Sicherheit – reagieren auf Zauber höchst unberechenbar. Gut möglich, dass das Zeug hier explodiert und uns um die Ohren fliegt oder das es auf die zwanzigfache Größe anwächst.“
„Klingt gar nicht gut“, kommentierte ich, „aber ich frage mich, wie weit wir noch laufen und vergeblich nach einem Durchgang suchen wollen. Langsam habe ich das Gefühl, dass sich diese Tannenmauer über das ganze Land erstreckt und vor allem, dass diese Pflanzen zahlreich und intelligent genug sind, um uns kein Durchkommen zu ermöglichen. Theoretisch könnten wir versuchen sie einfach zu überklettern, allerdings traue ich diesen Gewächsen nicht.“
„Ich auch nicht“, stimmte Marina zu, „ich glaube zwar nicht, dass Firn sie absichtlich gegen uns in Stellung gebracht hat, aber es wird sicherlich mit der dunklen Magie zu tun haben, die er heraufbeschwört. Doch sie zu überklettern würde genauso auf Selbstmord hinauslaufen wie der Einsatz von Elfenstaub. So wenig Lust ich auch habe, noch länger darauf warten zu müssen ins Hauptquartier vorzudringen: Ich denke, nach einem Durchgang zu suchen, ist nach wie vor unsere einzige Chance. In dieser Richtung beginnen früher oder später die Mandelgebirge. Spätestens dort sollte diese Plage an ihre Grenzen stoßen und wir können auf die andere Seite gelangen.“
„Möglich. Wenn wir Pech haben stören sich die Bäume aber nicht an ein paar Felsen oder Mandeln oder woraus auch immer diese Gebirge bestehen. Vielleicht gibt es aber auch eine andere Möglichkeit“, überlegte ich.
„Und die wäre?“, fragte Marina
Zur Antwort tippte ich auf meinen Waffenarm. „Die Geschosse dieser Waffe basieren nicht auf Magie. Zumindest nicht auf deiner. Und sie sind sehr zerstörerisch. Womöglich kann ich mit ihnen ein Loch in die Mauer brennen. Natürlich kann auch ich nicht garantieren, dass es nicht alles noch schlimmer macht, aber wenn dieser Firn tatsächlich gerade ein finsteres Ritual durchführt, sollten wir wohl nicht noch mehr Zeit verlieren. Gut möglich, dass uns dann noch viel gefährlichere Dinge begegnen, als ein bisschen unartiges Gestrüpp.“
„Einen Versuch ist es vielleicht wert“, sagte Marina.
„Gut. Dann tritt besser zur Seite“, sagte ich und Marina gehorchte, während ich selbst noch einige Schritte zurücktrat und irgendwie ein bisschen Angst hatte mich dabei zu blamieren, falls der Kwang Grong meinen Befehlen nicht gehorchen sollte. Es war schon paradox: Ich war zu dieser Zeit empathielos genug, um Marina ohne große Gewissensbisse den Schrecken von Hyronanin auszuliefern, aber ich hätte nicht damit leben können, wenn sie mich für einen Versager hielt.
Doch offenbar brauchte ich mir deswegen keine großartigen Sorgen zu machen. Ein riesiger schwarzer Energieball verließ anstandslos meinen Arm und brannte ein etwa medizinballgroßes, zischendes Loch durch die Tannenwand, woraufhin ein schriller, widerlicher Schrei ertönte, der eigentlich nur von den Tannen selbst kommen konnte. Ein zweiter und ein dritter, jeweils tiefer platzierter Schuss folgte und erneut schrie die Tannen auf, während stinkender, beißender Rauch von verschmorten Ästen, durchlöcherten Stämmen und verkohlten Nadeln aufstieg. Aber immer war der Durchgang nun hoch und breit genug, um hindurchgehen zu können.
„Mein Held“, sagte Marina nur halbironisch und drückte mir unverhofft einen Kuss auf den Mund, was ihr nur deshalb gelang, weil ich mich für den letzten Schuss hatte hinknien müssen.
Sie schmeckte nach Zimt und Plätzchenteig, jedoch auch irgendwie aufregend. Sie wollte sich wieder von mir lösen, aber ich hielt sie fest und verlängerte den Kuss dadurch mit sanfter Gewalt. Für einen Moment stieg der dunkle Drang im mir auf, sie einfach hier im Schnee zu nehmen, und zwar unabhängig davon, ob sie es wollen würde oder nicht.
Das war etwas, was mich zutiefst schockierte, denn auch wenn ich schon viel Grausames getan hatte, hatte Vergewaltigung bislang nicht dazu gehört. Zum Glück gelang es mir, diese aufsteigenden, dunklen Triebe niederzukämpfen und mir wenigstens in diesem Punkt einen Funken Menschlichkeit zu bewahren. Ich ließ sie los und entweder schien sie meine Absichten nicht gespürt zu haben oder es geschickt zu überspielen.
„Deine Küsse sind ziemlich … fordernd“, sagte sie nur und wies dann auf das von mir geschaffene Loch, „aber wir haben aber keine Zeit für so was. Der Durchgang schließt sich bereits.“
Ich sah, was sie meinte. Die verletzten Äste, Nadeln und Stämme bewegten sich bereits wieder zögernd aufeinander zu und wenn wir zu lange warten würden, wäre es zu spät. Theoretisch hätte ich Mithilfe des Kwang Grong ein neues Loch schaffen können, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es dem Symbionten nicht gefallen würde auf diese Art missbraucht zu werden. Schon der letzte Schuss war etwas zögerlicher gekommen und auch etwas schwächer ausgefallen.
„Was ist mit Linna und Norro?“, fragte ich, während wir beide auf die Öffnung zustürmten.
„Norro ist ohnehin Geschichte“, sagte Marina, „und Linna hat ihren Weg gewählt. Ich werde nicht mein Leben oder die Rettung von Santa aufs Spiel setzen, wegen einer Frau, die mit Firn sympathisiert.“
„In Ordnung“, sagte ich. Nach weihnachtlicher Harmonie klang das nicht. Es war für mich in gewisser Weise OK, dass ich zu den Bösen gehörte. Die Umstände hatten mir fast keine andere Wahl gelassen. Aber dennoch hatte es mich stets getröstet zu wissen, dass es noch Wesen gab, die sich für andere einsetzten, die sich um sie kümmerten und deren Bedürfnisse wenigstens nicht mit Füßen traten, wenn sie sie schon nicht über die eigenen stellten. Zu beobachten, dass andere wie ich waren oder sogar noch schlimmer, gab mir das Gefühl, dass sich die Krankheit, an der ich litt, ausbreitete. Und die Schlimmsten waren dabei nicht die im Endstadium. Die kranken Psychopathen, die lachend durch ein Meer unschuldigen Blutes wateten. Es waren Wesen wie Marina, die damit begannen das Leben anderer als unwert zu brandmarken und das für eine gute und gerechte Sache hielten. Andererseits war ich wohl nicht in der Position, mir ein Urteil darüber zu erlauben.
„Wer geht zuerst?“, fragte Marina, als wir die Öffnung fast erreicht hatten
„Du“, sagte ich aus einem Impuls heraus mal wieder etwas Selbstloses zu tun, einfach um mich daran zu erinnern, wie sich das anfühlte.
Marina nickte und begab sich ohne zu zögern in die Öffnung hinein. Dabei macht die ohnehin schon nicht gerade große Frau sich so klein, wie sie nur konnte und versuchte nicht mit den veränderten Tannen in Berührung zu kommen, während sie sich vorsichtig hindurchschob und sich die verbrannten Äste und vor allem ihre Nadeln sich langsam immer weiter auf sie zubewegten, wie die sich windenden Spitzen von Tintenfischarmen.
„Das stinkt bestialisch“, sagte sie hustend, „noch schlimmer als ich dachte“ und kurz darauf „Sie sprechen, Tim. Sie sprechen zu mir!“
„Bald hast du es geschafft“, sprach ich ihr Mut zu. Und das stimmte. Bereits einige Momente später glitt sie auf die andere Seite.
„Beeil dich lieber“, sagte sie und damit hatte sie wohl recht. Die Äste und Nadeln wuchsen zwar weitaus schneller, als es für solche Pflanzen normal gewesen wäre, aber doch nicht wirklich schnell. Dennoch war der Korridor, der schon für eine Weihnachtselfe wie Marina nicht komfortabel gewesen war, inzwischen richtig schmal geworden. Das hab ich nun von meiner Selbstlosigkeit, dachte ich. Ein Schweißfilm trat auf meine Stirn, als mir bewusst wurde, dass das hier ZU knapp werden konnte. Ich ließ es nochmal auf einen Versuch ankommen und versuchte das Loch Mithilfe des Kwang Grong zu erweitern, aber wie befürchtet reagierte der Symbiont nicht.
„Dir gefällt es, wenn ich leide, was?“, flüsterte ich wütend zu der Kreatur in mir. Aber es half alles nichts. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend begab ich mich in die unfreiwillige Obhut der wuchernden Tannen. Da die oberen Teile des Lochs schneller zuwuchs als der untere, ging ich zunächst so nahe wie möglich an die Mauer heran und ließ mich auf den Bauch hinab, um hindurch zu robben. Kaum, da ich meinen Kopf durch die Tannen gesteckt hatte, nahm ich den widerlichen Geruch wahr, von dem Marina gesprochen hatte und der mir wohl für immer die Lust auf das Weihnachtsfest nehmen würde, sollte ich je in meine Heimatwelt zurückkehren. Gleichzeitig beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie die Nadeln sich Millimeter für Millimeter auf mich zubewegten. Noch konnte ich einen Kontakt vermeiden, aber wie lange noch? Motiviert vom Anblick und dem Geruch der wurmartigen, biegsamen Nadeln kämpfte ich mich ein ganzes Stück vorwärts, bis mein Kopf und der größte Teil meines Oberkörpers schon in der Freiheit waren. Dann schlugen die Stimmen zu.
Wie glühende Beile stachen sie in mein Gehirn und stimmten einen Chor an, der all meine Gedanken hinwegfegte und meine Bewegungen zum Stillstand brachte. „Schlaf, Adrian“, riefen sie, „Schlaf in Mutters Schoß, wo die Ängste klein sind und die Hoffnungen groß.“
Mit diesen Stimmen kamen Bilder. Bilder von meiner Mutter, die mich in den Armen hielt und mir etwas vorsang. Bilder, von denen ich nicht einmal wusste, ob sie überhaupt je der Realität entsprochen hatten, die aber eine solche Kraft hatten, dass sie mich zu Tränen rührten. Es war der Anfang meines Lebens. Als alles noch möglich schien. Als es keine Gefahren gab, keine schwerwiegenden Fehler. Eine Zeit, in der ich noch nicht gewusst hatte, was ich mit meinem Leben anfangen würde, in der ich aber keinen Zweifel daran gehabt hatte, dass es etwas Wunderbares und Großartiges sein würde. Die Welt war schön, ich war ein Held und meine Mutter mein Schild, der mich davor bewahrte zu scheitern. Ich befand mich am Beginn meiner eigenen Mentravia und es würde die beste Mentravia aller Zeiten werden.
„Schlaf, Adrian, schlaf in Mutters Arm, denn das Leben ist kalt, doch bei ihr ist es warm.“
Als mich die ersten Nadeln berührten und meine kalte Haut wie neckende Finger kitzelten, begrüßte ich es, lachte innerlich auf. Ich wollte einfach nur schlafen. Und träumen. War das Leben nicht selbst ein Traum? Was machte es da für einen Unterschied, welchen Traum man träumte?
„WAS MACHST DU DA, DU SCHWACHSINNIGER!“, durchbrach Marina schrill die wohlige Harmonie, „BEWEG DICH GEFÄLLIGST!“
Die Stimmen verstummten, die Versuchung zog ihre gefährlichen Finger aus meinem Kopf zurück. Doch die Nadeln blieben. Nicht streichelnd und kitzelnd, sondern bohren und saugend. Schwäche breitete sich in mir aus. Trotzdem versuchte ich mich loszureißen, mich weiterzubewegen, aber auch wenn sich einige der Nadeln mit einem schmerzhaften Stich von mir lösten und ich spürte wie etwas Blut aus den Wunden tropfte, kam ich nicht wirklich von der Stelle.
„Hilf mir!“, flehte ich Marina an, „Nimm meine Hand. Ich schaffe es nicht alleine!“
Für einen kurzen Moment befürchtete ich, dass Marina sich einfach aus dem Staub machen würde. Wenn ihre Schwester ihr schon dermaßen egal war, wie sah es erst bei mir aus? Doch nach kurzem Zögern seufzte sie, packte meine menschliche Hand und zog mit all ihrer Kraft, die so unerwartet groß war, dass ich anfangs fast dachte, sie würde mir den Arm aus dem Gelenk reißen.
Weitere Nadeln lösten sich aus mir und ich schrie aufgrund der Schmerzen laut auf. Doch die Bäume ließen nicht locker und die noch verbliebenen Nadeln packten mich nur noch fester, während neue sich in mich hineinbohrten. Ich würde es nicht schaffen. Nicht so. „Hör mal zu, du Bastard“, flüsterte ich zu dem Symbionten, „ich weiß, dass du ein ziemlich unzuverlässiger Mistkerl bist und wahrscheinlich magst du mich nicht sonderlich. Aber wenn du dennoch noch nach einem guten Weihnachtsgeschenk für mich suchst, hätte ich da eine Idee.“
Mit diesen Worten streckte ich meinen Waffenarm nach hinten aus. Und schoss. Der Kwang Grong schien seine weihnachtliche Ader entdeckt zu haben, denn mein Arm erwärmte sich, ich hörte ein Knistern, einen spitzen Schrei und nur wenige Sekunden später lockerten die Nadeln ihren Griff. Ich zögerte keine Sekunde, wuchtete meinen Körper mit Marinas Hilfe aus der Tannenwand heraus, und blieb auf der anderen Seite erschöpft im Schnee liegen.
„Danke“, brachte ich schwach hervor.
„Es ist die Aufgabe von uns Elfen, Menschen zu helfen. Außerdem küsst du ganz akzeptabel“, sagte Marina, „aber wir haben keine Zeit uns auszuruhen. Wir sind für meinen Geschmack noch viel zu nah an diesen wild gewordenen Nadelbäumen.“
Sie streckte mir erneut die Hand entgegen, um mir beim Aufstehen zu helfen, als sie plötzlich mit einem Aufschrei in die Knie ging. Als sie das tat, erkannte ich – immer noch benommen und mit schmerzenden, wunden Beinen – warum das so war. Norro hatte sich grunzend in ihre Schulter verbissen, aus der rotes, mit glitzernden Kristallen versetztes Blut. Entweder hatte er sich aus Linnas Kontrolle befreit, oder …
„Linna“, zischte Marina mit bibbernden Lippen, während sich die Eiskristalle von der Bissstelle an ihrer Schulter immer weiter ausbreiteten, „diese verräterische Schlampe.“
Konnte das sein? War der Hass auf ihre Schwester so groß? Ich überlegte, auf den außer Kontrolle geratenen Elf zu feuern, aber von hier aus war das unmöglich, ohne Marina dabei ebenfalls zu treffen. Theoretisch hätte mich das nicht kümmern müssen. Aber irgendwie mochte ich sie. Und vor allem hatte meine Begegnung mit den verfluchten Nadelbäumen mich geschwächt und wahrscheinlich verfügte sie – wie ihre Schwester – über Heilfähigkeiten. Ich brauchte sie. Also musste ich irgendwie zu ihrem Rücken gelangen. Ich rappelte mich auf, wobei ich merkte, dass meine Beine und meine Hüfte von all den Einstichstellen mehr schmerzten, als ich zunächst gedacht hatte. Wahrscheinlich hatten die stinkenden, ätherischen Öle der Tanne mein Fleisch gereizt und vielleicht sogar bereits Entzündungen ausgelöst. Es wurde ein wahrer Kraftakt mich in die Höhe zu stemmen, während der verfluchte Elf mich aus stumpfsinnigen Augen beobachtete und gierig die Wärme aus Marinas Körper saugte, der nun bereits bis zum Hals von Eiskristallen bedeckt war, die langsam aber sicher zu ihrem Kopf hinaufkrochen.
Ich wusste ja bereits, wie sich das anfühlte, nämlich grauenhaft. Mit stolpernden Schritten kämpfte ich mich vorwärts, um in eine bessere Schussposition zu kommen. Marina, die anfangs noch versucht hatte ihren Angreifer abzuschütteln, hatte ihre Bemühungen inzwischen eingestellt. Wahrscheinlich war sie zu schwach. Der Schneefall war hier auf der anderen Seite der Tannenmauer heftiger, ja es war schon ein regelrechter Schneesturm und er peitschte mir gnadenlos ins Gesicht, was mein Vorankommen und meine Orientierung zusätzlich erschwerte. Dennoch konnte mich trotz meiner Schmerzen und der kurzen, aber heftigen Krämpfe, die mich immer wieder überkamen, irgendwie auf den Beinen halten. Jedenfalls so lange bis ich auf etwas schleimigem, glatten ausrutschte, dass sich weniger anfühlte wie Schnee oder gewöhnliches Eis, sondern eher noch wie das Schmieröl, welches damals als Nektar die Zahnradblumen in Dank Qua benetzt hatte. Mein rechtes Bein rutschte weg, und ich legte einen derart heftigen Spagat hin, dass ich das Gefühl bekam, etwas in meiner Leistengegend würde reißen. Ich blickte an mir hinab und sah das grünlich-leuchtende Fahleis, welches hier tatsächlich eine schmierige Substanz absonderte. Ekel durchfuhr mich und ich versuchte erneut aufzustehen, aber es gelang mir nicht. Meine Verletzungen, die Kälte, die Erschöpfung, der schleimige Untergrund und die Zerrung, die ich mir aller Wahrscheinlichkeit nach zugezogen hatte, machten das unmöglich.
Zudem war der Schneesturm noch heftiger geworden. Marina konnte ich nur noch als blassen Schemen im Schneegestöber ausmachen. War sie bereits tot? Oder würde sie so wie Norro werden, wenn das, was auch immer mit ihr passierte, abgeschlossen war?
Sollte das tatsächlich passieren, wäre meine Chance auf eine reiche Ernte wahrscheinlich dahin und ich müsste On-Grarin mit leeren Händen gegenübertreten. Schon der Verzweiflung nahe machte ich eine weitere, kleiner Gestalt in Schnee aus. Linna, dachte ich. Wollte sie sich versichern, dass Norro sein Werk auch zu Ende brachte?
Auch wenn ich nicht viel mehr als Umrisse von ihr erkennen konnte, bemerkte ich doch, dass sie ihre Hände bewegte. Führte sie einen Zauber aus? Wollte sie mich oder Marina damit treffen? Ich schmiss die Kwang-Grong-Lotterie an, wie ich sie inzwischen für mich nannte, um sie aufzuhalten und zog eine Niete. War ja klar, dachte ich. Selbst wenn der Kwang Grong inzwischen deutlich kooperativer geworden war, gab es keine Garantie, dass er mir half.
Linna gab einen gleichermaßen zornigen und verzweifelten Schrei von sich, während sie ihren Elfenzauber schleuderte und … der wahnsinnige Norro der, sich wie ein bösartiger Affe an Marinas Schulter festgeklammert hatte, fiel regungslos in den Schnee.
Als hätte sein Tod den Wettergott dieser Welt überrascht, ließ der Schneesturm mit einem Mal nach. Es wurde vollkommen windstill und der Schnee rieselte wieder sanft und zärtlich wie in einer Schneekugel hinab, sodass ich die Lage wieder gut erkennen konnte.
Marina lebte. Heftig zitternd lag sie in den Armen ihrer weinenden Schwester, die mit der anderen Hand zärtlich über das reglose Gesicht ihres toten Brudermannes strich, der nun wenigstens endlich von seiner Sucht und dem Fluch der finsteren Magie erlöst war.
„Danke, dass du uns gerettet hast“, sagte ich zu Linna, da ihre Schwester noch nicht wieder in der Lage war zu sprechen.
„Sei still!“, verlangte Linna, „ich will nichts von dir hören. Wegen dir und deiner Rasse leiden wir überhaupt. Wegen euch und eurer bescheuerten Kindern kämpfen Elfen gegen Elfen und Firn fühlt sich zu so radikalen Maßnahmen gezwungen, die mich dazu gebracht haben den wichtigsten Elfen in meinem Leben zu töten. Wegen euch Menschen sind wir überhaupt in diesem Albtraum gefangen!“
Ich verkniff mir sie darüber zu belehren, dass wir in MEINER Heimatwelt den Kindern selbst Geschenke kauften und weder der Weihnachtsmann, noch das Christkind oder irgendwelche Weihnachtselfen die Lieferung übernahmen. Zum einen hätte das ihre Wut sicher nur noch weiter angestachelt und zum anderen wusste ich schon damals genug über das Multiversum, um sagen zu können, dass es darin von Parallelwelten wimmelte. Wahrscheinlich gab es eine Version der Erde, in der das genauso ablief und in der die hier produzierten Geschenke landeten. Womöglich stammten von dort auch die entführten Kinder, denn es wäre wohl aufgefallen, wenn in meiner Heimat ständig Kinder spurlos verschwinden würden.
„Du weißt, dass … dass das nicht stimmt“, sagte Marina bibbernd, „Firn hat einen dunklen Weg gewählt, an dem nichts richtig ist.“
„Doch!“, widersprach Linna, „Etwas daran ist richtig. Nämlich, dass wir auf seinem Weg unser Schicksal selbst bestimmen. Das System, dass du so leidenschaftlich verteidigst, ist schlimmer. Santa ist ein aufgeblasener Tyrann, der uns in Knechtschaft hält und dem unsere Leben nichts bedeuten.“
„Das ist eine Lüge“, antwortete Marina.
„Was war mit Huma? Was war mit Nolla?“, konterte Linna, „waren sie etwa auch Lügen?“
Marina schwieg. Also blickte Linna zu mir.
„Anscheinend hat es meiner Schwester die Sprache verschlagen“, sagte sie, „aber ich sehe in deinen Augen, dass du wissen willst, was mit den beiden passiert ist. Ein paar schöne Geschichten aus dem Zauberland wo die Geschenke herkommen, was? Etwas von dem ihr euren fetten, übersättigten Kindern am warmen Feuer berichtet könnt, während ihr beiläufig die mit unserem Herzblut hergestellten Geschenke auspackt. Das kannst du haben, Mensch!“
„Huma war ein Techniker. Er war für die komplexeren Spielzeuge verantwortlich. Autos, die sich von selbst bewegen, sprechende Puppen, Spielekonsolen. All diesen ganzen Mist. Er war wirklich gut in dem, was er tat. Aber er war Santa nicht gut genug. Ständig wollte er noch mehr, noch besser, noch schneller. Die Kinder müssen glücklich sein. Die Kinder müssen zufrieden sein. Aber um sein Glück hat man sich einen Scheiß gekümmert. Auf seine Zufriedenheit hat man einen großen Haufen geschissen. Er hat gesagt, dass er eine Pause braucht. Dass er einfach nicht mehr kann. Dass er mehr vom Leben erwartet als nur das hier. Aber Santa wollte genauso wenig darauf hören, wie meine feine Schwester.
Erst gab es Motivationsreden. Auf die Tränendrüse wurde gedrückt, wegen der armen Kinder. Huma ließ sich davon erweichen und ignorierte die Signale seines Körpers. Irgendwann begann er Fehler zu machen. Statt Verständnis bekam er eine Standpauke. Ihm wurde mit Ausschluss gedroht. Man wollte ihn allein in der Wildnis aussetzen, wenn er nicht spurte. Er hat einen anderen Weg gewählt. Eines Morgens fanden wir ihn am Strick. Santa hat es nicht gekümmert. Er hat jemand anderen für die Stelle ernannt und dann wurde auf den Müll geworfen. Nulla musste sich nicht die Mühe machen, selbst aktiv zu werden. Sie war eine Verpackerin. Ganz unten in der Hierarchie. Als kurz vor Weihnachten besonders viele Wünsche eintrudelten, musste sie dreifach Schichten schieben. Man hat ihr verboten zu essen, zu trinken, auf die verdammte Toilette zu gehen, weil es zu viel Zeit kosten würde. Irgendwann ist sie einfach umgefallen. Der Kreislauf. Oder das Herz. Genau weiß man es nicht. Sie wurde genauso schnell draußen im Schnee entsorgt wie Huma. Und die beiden waren nicht die einzigen. Andere sind zumindest innerlich gestorben oder dem Konsum der schwarzen Zuckerstangen verfallen, den Santa in kleinen Dosen toleriert, ja geradezu gefördert hat, solange es der Produktivität dienlich war. Dort hat auch Norros Sucht ihren Anfang genommen. Eins ist sicher, Tim: In dieser Fabrik wurden schon immer Lebewesen verbrannt. Bisher sind sie nur noch nicht als Rauch in den Himmel aufgestiegen.“
„Es ist ein hartes Los“, sagte Marina von deren Körper sich das Eis inzwischen wieder vollständig zurückgezogen hatte, „aber das ist nun mal unsere Bestimmung als Elfen. Unser Lebenszweck. Und wenn wir uns dagegen auflehnen, kommt so eine Barbarei dabei heraus. Das kannst du doch nicht ernsthaft wollen.“
„Tut mir leid, Marina, aber wenn ich nur die Wahl habe zwischen Knechtschaft und Selbstausbeutung und Freiheit und Grausamkeit, wähle ich Letzteres“, erwiderte Linna hart, „nur damit du es weißt, ich werde mich Firn anschließen und auf seiner Seite kämpfen, sobald ich kann. Lebe damit.“
Zorn huschte über Marinas Gesicht wie ein flüchtiges Gewitter und machte schließlich hilfloser Enttäuschung Platz. „Wenn du so denkst, warum hast du mich dann gerettet?“, fragte Marina gepresst, „warum hast du Norro mich nicht einfach töten lassen und bist weitergezogen?“
„Weil du meine Schwester bist, gottverdammt“, sagte Linna, „und eine Elfe noch dazu. Du magst ziemlich verquere Ansichten haben und du hast mir Grund genug gegeben dich zu hassen, aber sterben lassen konnte ich dich nicht.“
„Und was nun?“, fragte Marina, „wie geht es weiter. Du weißt, dass ich mich Firn nie anschließen
werde.“
„Das weiß ich“, antwortete Linna, „aber wahrscheinlich spielt das sowieso keine Rolle mehr. Du siehst, welche Kräfte Firn entfesselt hat. Gut möglich, dass eure kleine Konterrevolution bereits verloren ist, bevor sie angefangen hat. Doch selbst wenn nicht, werde ich mich dafür einsetzen, dass man dir nichts antut.“
„Ich bezweifle, dass Firn diese Kräfte überhaupt unter Kontrolle hat“, gab Marina zurück, „und ich bezweifle noch mehr, dass er und seine Leute auf das Wort einer Außenseiterin hören würden.“
„Ich bin keine Außenseiterin“, sagte Linna verschmitzt lächelnd, „ich stehe schon länger in Kontakt mit ihnen und was das andere betrifft: Wir werden sehen.“
Das Wort „Verräterin“ lag Marina auf den Lippen, das konnte ich ganz genau sehen, dennoch hielt sie sich zurück.
„Schau nicht so erschrocken, Schwester“, sagte Linna, der das nicht entging, „ich habe ihnen nichts über eure Pläne verraten. Das musste ich auch nicht. Sie sind nicht dumm. Ihnen war klar, dass ihr es früher oder später versuchen würdet. Erst recht nun, wo Firn alles auf eine Karte gesetzt hat. Bevor du fragst: Nein, ich weiß nicht, was genau er geplant hat. Solche Informationen haben sie nicht an mich weitergegeben. Jedenfalls habe ich folgenden Plan: Wir gehen zu dem geheimen Treffpunkt. Wenn da noch welche von deinen Leuten sind, gut. Dann setze ich dich dort ab, ziehe weiter zur Fabrik und wenn wir Pech haben, begegnen wir uns irgendwann im Kampf. Wenn nicht, bist du vernünftig und kommst mit mir. Bist du damit einverstanden?“
Marina dachte lange nach, während der Wind wieder etwas auffrischte und neben dem Schnee auch den starken, widerlich-süßlichen Geruch von verbranntem Fleisch zu uns trieb.
„Einverstanden“, sagte sie schließlich, „auch wenn ich dir deine Taten nie werde vergeben können, Linna.“
„Dann sind wir schon zu zweit“, antwortete die so zierlich wirkende und doch so entschlossene Elfin, „aber nie ist ein großes Wort. Erst mal sollten wir schauen, ob wir überhaupt diesen Tag überleben.“
„Was ist mit mir?“, fragte ich.
„Es interessiert mich einen Scheiß, was mit dir oder den deinen passiert, Mensch“, sagte Linna harsch, „außer wenn du versuchst gegen Lord Firn zu kämpfen. DANN mache ich dich kalt.“
Ich ließ die Drohung unkommentiert über ihn ergehen. Ich hatte weitaus bedrohlichere Situationen erlebt und mir von den Geernteten schon viel schlimmere Feindseligkeiten anhören müssen.
„Santa wird aller Wahrscheinlichkeit überleben, egal was passiert“, sagte Marina deutlich freundlicher, „er muss es, da sonst unsere ganze Welt kollabiert. Er wird dir also nach wie vor helfen können. Doch selbst wenn nicht kannst du es noch immer mit Firn versuchen. Er ist ein Arschloch und Menschen mag er nach allem, was man hört nicht sonderlich, aber es liegt wahrscheinlich in seiner Macht dich zurückzuschicken.“
„In Ordnung“, sagte ich, wissend, dass ich auf diese Dienste ohnehin nicht angewiesen sein würde, „doch was geschieht mit Norro? Wir können ihn doch nicht einfach so hier liegen lassen.“
Linna funkelte mich wütend an, so als wäre es mir verboten den Namen ihres Brudermannes auch nur in den Mund zu nehmen. Wahrscheinlich sah sie es auch genau so.
„Natürlich nicht“, sagte Linna, „es gibt einen Platz im Zimtwäldchen, gleich hinter der Fabrik, den er über alles geliebt hatte. Dort wird er Ruhe finden.“
„Du willst ihn den ganzen Weg über tragen?“, erkundigte sich Marina skeptisch.
„Nein“, sagte Linna, „er wird mit uns kommen.“
Dann warf sie mit einer raschen Handbewegung etwas Elfenstaub auf den toten Körper von Norro, der sich direkt darauf erhob und ein paar ungelenke Schritte lief. Seine Augen blieben geschlossen. Nun war er wahrhaft eine Marionette, dachte ich.
Marina beobachtete die Szene fassungslos und mit vor Schreck geweiteten Augen.
„Ein Wort, Schwester“, drohte Linna, „und die Freundlichkeiten sind vorbei.“
Marina schwieg.
~o~
Bald darauf setzten wir unseren Weg fort. Da die Schwestern einander nicht wirklich trauten und sich nicht den Rücken zuwenden wollten, gingen wir alle nebeneinander her. Linna zu meiner Linken und Marina zu meiner Rechten, während der allein durch Magie bewegte Norro wie ein Banner aus Fleisch und Blut vor uns hermarschierte.
Jenseits der Tannenmauer führte das Gelände relativ Steil bergab, was es nicht gerade leichter werden ließ zu verhindern, dass man darauf ausrutschte.
Der zu Anfang noch reichlich fallende Schnee wurde immer weniger und versiegte letztlich ganz und das nicht nur am Himmel. Auch am Boden gab es nun immer wieder schneefreie Areale, die jedoch selten von gewöhnlichem Erdboden, sondern viel häufiger von grünlich schimmerndem, schleimigen Fahleis bedeckt waren. Wir taten unser Bestes, um diese Stellen zu umgehen, aber manchmal war es nicht möglich, da die Flächen schlicht zu breit waren. In diesen Fällen waren wir gezwungen uns gegenseitig Halt zu geben oder sogar den toten Norro als eine Art Brücke zu verwenden. Besonders dann, wenn das Eis an einigen Stellen dünner und das Geisterlicht heller war. Denn niemand von uns war sonderlich scharf darauf in diesem „Wasser“ zu versinken.
Einmal wäre es dennoch fast passiert. Als wir mitten auf einer solchen Eisfläche waren brach eine kleine Herde Rentiere aus einem nahen Nadelwald, der zwar ebenfalls grässlich verändert, aber wenigstens nicht mobil war. Die Rentiere hingegen waren mobil und sie sahen abstoßend aus. Einigen von ihnen fehlten Haut und Fell am hinteren Teil ihres Körpers, die stattdessen wie ein kranzförmiger Fächer um Bauch und Rücken um abstanden. Andere besaßen fünf oder sechs Beine, drei Köpfe, Augen, die wie prall gefüllte Wasserballons aus ihren Höhlen quollen, Geweihe, die sie verwachsen und groß waren, dass sie kaum den Kopf heben konnten oder Organe wie Lungen, Magen, Herzen oder Gehirn, die von außen an ihrem Körper festgewachsen waren. Diese Mutationen waren – auch wenn sie sicher unsere Konzentration störten – jedoch nicht das Schlimmste. Zwar griffen uns die Tiere nicht an, aber sie galoppierten nur knapp an uns vorbei und das letzte der Tiere, welches ein zu langes Hinterbein und einen unidentifizierbaren, mit einer bräunlichen Flüssigkeit gefüllten Gewebesack hinter sich herzog, durch das dünne Eis brach und in der darunterliegenden Brühe versank. Die Risse, die dadurch entstanden, breiteten sich aus und am Ende wäre Linna, die als letzte über das Eis gegangen war, wohl ebenfalls im Fahlwasser versunken (wenn man die Flüssigkeit denn so nannte), falls Marina und ich sie nicht rechtzeitig auf eine halbwegs sichere Schneefläche gezogen hätten.
„Danke“, sagte Linna, als sie den Schrecken überwunden hatte, „das war widerlich.“
„Das sind die Dinge, die dein geliebter Lord Firn mit unserer Welt anstellt“, sagte Marina, „und ich vermute, wir haben längst noch nicht alles gesehen.“
Nur wenige Minuten danach – so sagte es mein Bauchgefühl, da meine Uhr sich lediglich eine weitere Sekunde vorwärts bewegt hatte – erreichten wir den Treffpunkt, von dem Marina gesprochen hatte. Ein Haus, welches Norros Hütte nicht so unähnlich war, nur das es ungefähr fünfmal so groß war und einen kleinen Vorgarten besaß, in dem Apfel-, Nuss- und Nadelbäume wuchsen. Es war geschmückt mit Lichterketten, Rentieren aus Plastik, Tannenzweigen, Kunstschnee und weiteren weihnachtlichen Dingen. Die grün lackierte Eingangstür, die in das aus dunklem Holz gefertigte Gebäude führte, war verschlossen.
„Dort sind Spuren im Schnee“, bemerkte Marina, „Viele Spuren. Sie werden also da sein. Wenn du dich nach wie vor auf die falsche Seite stellen willst, kannst du dich jetzt auf den Weg machen. Die anderen werden von deiner Entscheidung noch weniger begeistert sein, als ich. Ich hoffe, dass wir uns nicht begegnen werden, bevor der Kampf entschieden ist.“
„Ich habe meine Meinung nicht geändert“, sagte Linna entschlossen, während sie gemeinsam mit Marina und mir näher auf das Haus zuging, „aber ich werde besser noch nicht gehen. Sieh doch, die Spuren führen auch wieder von der Hütte weg.“
„Also sind sie schon ohne mich aufgebrochen?“, wunderte sich Marina, „das ist seltsam. Eigentlich wollten wir unseren Angriff erst im Morgengrauen starten.“
„Und das ist noch nicht alles“, bemerkte ich, da ich die Spuren nun ebenfalls erkannte und sie dank meiner Erfahrung als Ernter deuten konnte, „Seht euch die Abstände der einzelnen Fußabdrücke zueinander an. Sie sind viel größer als die Spuren, die zum Haus hinführen. Außerdem verlaufen sie nicht gerade, sondern im Zickzack. Sie müssen also gerannt sein und Haken geschlagen haben. Irgendetwas hat sie verfolgt. Irgendetwas, das wahrscheinlich im Haus ist.“
„Dann sollten wir vielleicht doch besser einen großen Bogen um das Haus machen“, sagte Linna, „immerhin haben wir jetzt denselben Weg.“
„Auf keinen Fall!“, widersprach Marina, „bevor ich nicht weiß, was genau hier passiert ist und ob noch jemand von den anderen dort drin ist, werde ich nirgendwo hingehen. Ich dachte eigentlich, du würdest genauso denken. Immerhin sind dir deine Mitelfen doch wichtig genug, um deswegen Massenmord zu unterstützen.“
„Das sind sie“, antwortete Linna, „deshalb will ich ja DEIN Leben bewahren. Ich glaube nicht, dass es hier noch irgendeinen anderen Elfen zu retten gibt. Der Mensch hat recht. Das hier sieht nach einer Flucht aus und jeder, der nicht entkommen ist, wird bereits tot sein.“
„Wir werden sehen“, sagte Marina und ging zielstrebig auf die Tür zu, um den Griff herunterzudrücken.
„Warte“, sagte Linna, „wenn man dich schon nicht davon abhalten kann, dann schicken wir wenigstens zuerst Norro rein.“
Marina zog eine Augenbraue hoch, „du hast wirklich keinen Respekt vor deinem Bruder, oder?“
„Genug Respekt, um dir dein gehässiges Maul zu stopfen, wenn du noch einmal auch nur eine Andeutung in diese Richtung machst“, sagte Linna empört, „Norro ist tot. Ich vermisse ihn und mir gefällt es ganz und gar nicht, ihn wie eine Puppe mit mir führen zu müssen. Aber wenn ich das schon tun muss, können wir diese Tragödie wenigstens nutzen. Wenn dort drin etwas Gefährliches lauert, dann sollte es sich besser auf einen toten Elfen stürzen, als auf einen lebenden. Ich denke nicht, dass dein tapferer Menschenfreund sich dafür opfern würde.“
„Warum nicht“, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung und weiß heute noch nicht, warum ich das eigentlich sagte. Denn natürlich war es vollkommen dumm. Aber wahrscheinlich wollte ich nicht das Risiko eingehen, vor Marina als Feigling dazustehen. Verfluchte Eitelkeit, „so schlimm wird es schon nicht sein.“
„Das musst du nicht tun“, sagte Marina.
„Ich weiß“, sagte ich, „aber das werde ich. Ich bin von Natur aus neugierig und werde ganz sicher nicht einem Toten den Vortritt lassen.“
„Männer“, sagte Linna lachend, konnte sich aber einen anerkennenden Blick nicht verkneifen.
Nun, wo ich mich mit Vollgas in diese Situation hineinmanövriert hatte, sah ich keinen Sinn darin, es noch länger hinauszuzögern.
Ich bedeutete Marina zur Seite zu treten und das tat sie und öffnete die Tür. Ich hatte vieles erwartet. Das Tor zur Hölle womöglich, einen lachenden irren Killer oder das Zentrum eines fanatischen Kultes, aber stattdessen fand ich nur ein gewöhnliches, recht gemütliches Haus vor. Der Raum, den ich zuerst betrat, war der größte und mein einem langen, grob geschnitzten Tisch aus hellem Holz und mit einer roten Tischdecke, urigen Holzstühlen mit weißen Kissen und diversen Schränken möbliert. In einer Ecke brannte in einem kleinen Kamin ein Feuer, welches eine Wärme verströmte, die nach dem strapazierenden Weg durch den Schnee ziemlich wohltuend war. Auf dem Tisch lagen Teller mit Früchten, Brot und dunklem Fleisch, welches wohl von einem angeschnittenen Braten stammte, der sich in der Mitte des Tisches befand und in dem noch ein Messer und eine Fleischgabel steckten. Keiner der mit Schneeflocken, Glocken und Rentieren bemalten Teller war leer, genauso wenig wie die bauchigen Tassen in denen sich kalter, aber noch immer würzig riechender Glühwein befand.
Wenn hier nicht wirklich schlecht gekocht worden war, dann hatten die Gäste an dieser Tafel ihre Plätze tatsächlich sehr schnell räumen müssen. Darauf wies auch ein umgekippter Stuhl hin, der vor dem mit Kugeln, Figürchen und Lametta geschmückten Weihnachtsbaum lag. Auch wenn dieser Baum überraschend gewöhnlich aussah und sich weder bewegte, noch stank oder schleimig glänzte, hielt ich mich instinktiv davon fern.
Ich blickte nach oben. Von der Decke tropfte an einigen Stellen Feuchtigkeit, die sich in winzigen Pfützen auf dem Boden oder auf einem an sich gemütlich aussehenden, roten Sessel nahe am Kamin sammelte, der durch die Feuchtigkeit inzwischen nicht mehr ganz so einladend wirkte. Offenbar gab es am Dach gleich mehrere Schäden, die jedoch für sich genommen zu klein waren, um sie mit bloßem Auge zu erkennen. Trotzdem war auch die Luft hier drin feucht, ja, es war geradezu schwül, selbst wenn durch die angelehnte Tür stets kühle Luft hineinströmte.
Auf den Schränken und Regalen gab es viel geschmacklose Dekoration. Große Plüschweihnachtsmänner, Schneemänner und Teddybären mal mit strengem und mal mit freundlichem Blick. Puppen in bunt geblümten Kleidern. Trophäen wie ausgestopfte Rentierköpfe und dergleichen mehr. Aber ein Zeichen von Gefahr konnte ich genauso wenig entdecken, wie einen Hinweis auf den Verbleib von Santas Anhängern. Das einzige Spektakuläre war eine Schneekugel, die auf einem der Regale stand. Ihre Glashülle war in mehrere Splitter zerbrochen, die jedoch nicht einfach heruntergefallen waren, sondern wie ein Asteroidengürtel in einiger Entfernung um das Innere schwebte, aus dem weder das Wasser, noch der Schnee herausgeflossen waren, der sich in einer endlosen Folge auf die kleine Stadt senkte, die die Kugel beherbergte und dann wieder davon aufstieg. Deren Häuser sahen nicht sonderlich idyllisch aus, sondern waren schwarz, unproportional hoch und schmal und dabei ziemlich schräg. Zwischen ihren Mauern schienen winzige Schatten umher zu huschen und auch wenn ich mir nicht sicher war, glaubte ich aus ihrem Zentrum leise Schreie wahrzunehmen. Der Anblick dieser den Naturgesetzen trotzenden Schneekugel war verstörend, aber darüber hinaus erschien sie mir nicht sonderlich interessant.
Ich durchsuchte die anderen drei Räume, die es hier gab. Einer davon war die Küche, in der ein Chaos aus verdreckten Tellern, verkrusteten Töpfen und Pfannen und anderen Küchenutensilien herrschte. Auch angeschnittene Äpfel, Marzipanstücke und Fleischreste lagen wild verstreut herum und wenn es hier drin nicht viel kälter gewesen wäre, als im Wohnzimmer, würden sich hier wohl längst die Fliegen tummeln, falls solche Tiere in Noestria überhaupt existierten. Die beiden Schlafzimmer waren hingegen reichlich unspektakulär, kaum geschmückt und beherbergten nichts weiter als einige an Elfenbedürfnisse angepasste, kleine Betten.
„Wie sieht es aus?“, fragte Linna von Draußen, als ich wieder im Wohnzimmer ankam.
„Scheint alles in Ordnung zu sein“, antwortete ich, auch wenn ich mir diesbezüglich nicht so sicher war. Irgendetwas musste hier sein, „aber es ist niemand mehr hier.“
„Hab ich’s doch gesagt“, sagte Linna.
„Das glaube ich nicht“, sagte Marina skeptisch und betrat ebenfalls das Haus, „wahrscheinlich hat Tim nur nicht gründlich genug gesucht.“
„Lass uns weitergehen“, verlangte Linna mit Nachdruck, „wir vergeuden hier nur unsere Zeit.“
„Geh ruhig, wenn du magst“, antwortete Marina, „ich werde mir das genauer ansehen.“
„Dann werde ich mir auch nicht die Gelegenheit entgehen lassen, mich ein wenig aufzuwärmen“, sagte Linna seufzend und trat ebenfalls – gefolgt von der magisch belebten Leiche ihres Brudermannes – ein. Ich erwartete die beiden bereits.
„Wie gesagt, hier findet sich nichts besonderes“, sagte ich , „außer vielleicht diese …“
„Was zur Hölle ist hier passiert?“, fragte Marina mit vor Schreck erbleichtem Gesicht.
„Was meinst du?“, fragte ich verwundert.
„Die Möbel. Die Einrichtung. Dieser ganze Plunder. Das meiste davon war noch nicht dagewesen, als ich zuletzt hier gewesen war“, erwiderte Marina.
„Was ist daran so schlimm?“, fragte Linna schulterzuckend, „dann hat Niro eben ein bisschen umdekoriert.“
„Du weißt genau, dass Niro ein Purist ist. Er hasst es, wenn zu viel Kram herumsteht. Und dieses … Essen …“, Marina verzog angewidert das Gesicht, „wir Elfen sind seit jeher Vegetarier. Mag sein, dass es bei Firn und seinen Leuten zur Verrohung der Sitten gekommen ist, aber niemand von uns Getreuen würde einen solchen Braten anrühren.“
Ein mulmiges Gefühl wuchs in meiner Magengegend. Die Schwüle, die Feuchtigkeit, die kitschige, schrille Einrichtung und Marinas Schilderungen sorgten dafür, dass ich den Eindruck bekam, dass die Wände uns umzingeln und sich die Decke wie ein Fangnetz über unsere Köpfe senken wollten.
„Vielleicht sollten wir besser hier raus“, sagte ich nervös.
„Was ist das?“, fragte Linna, ohne auf mich zu reagieren, „hört ihr das auch?“
Ich lauschte angestrengt und hörte in der Tat etwas. Es waren die Schreie, die – leise, aber wahrnehmbar –aus der Schneekugel drangen. Doch da war auch noch etwas anderes. Ein Lied. Ein feierliches, trauriges Lied. Und die Stimme, die es sang, erinnerte mich stark an die, die ich von den Schneeflocken vernommen hatte.
„Der Leib und das Blut
Und das Brot und die Wut
Gefangen im ewigen Kreis
Der Drang zu verzehren
Sich stets zu vermehren
Sich zu wärmen im lieblosen Eis,
Das Brennen, das Sehnen
Nach salzigen Tränen
Nach Feuer und bitterem Schweiß
Komm seid unsere Gäste
Wir verspeisen die Reste
Auf dem Tischtuch so lieblich und weiß.“
„Das ist unheimlich“, bemerkte Linna, „warum hast du uns nicht gleich darauf aufmerksam gemacht?“
„Wollte ich ja gerade“, sagte ich abwesend, da mir in diesem Augenblick noch etwas anderes bewusst wurde: Die Glassplitter, welche sich zuvor fast vollständig von ihrem Inhalt entfernt hatten, hatten nun beinah wieder zueinandergefunden. Lediglich einige Risse waren noch in der Kugel zu sehen, die sich zunehmend schlossen.
Plötzlich rastete etwas in meinem Kopf ein, so als wäre ein Schalter umgelegt worden. Es war lediglich eine Ahnung, aber doch teilte sie mir eindeutig mit, was jetzt zu tun war. „Rennt!“, brüllte ich, „Raus hier, um Gottes willen!“
Ich rannte bereits, während ich das sagte und Marina, die mir deutlich mehr vertraute, als ihre Schwester, schloss sich mir kurz darauf an, bevor auch in Linna und Norros Leiche endlich Bewegung kam.
Wir kamen alle vier zu spät.
Ich war noch etwa zwei Schritte von der Tür entfernt, als sich diese nicht etwa mit einem hölzernen Donnern, sondern mit einem ekelhaften schmierigen Klatschen schloss. Kurz darauf geschah dies auch mit den Türen zu den anderen Zimmern. Ich trat und hämmerte gegen die Eingangstür, brachte sogar meinen Schattenstrahler zum Einsatz, aber nichts davon half. Bei den anderen Türen hatte ich genauso wenig Erfolg. „Lass es mich mal versuchen“, schlug Marina vor, als plötzlich ein hässliches, gläsernes Knirschen erklang und wir uns alle zu dessen Quelle umdrehten. Die Glaskugel hatte sich geschlossen und die Schreie, wie auch der Gesang, waren verstummt. Für einen Herzschlag lang, blieb noch alles, wie es war. Dann zerplatzte die Illusion wie eine Seifenblase.
Mit einem Mal besaß das Haus kein einziges Möbelstück mehr. Jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinne. Die Wände, der Boden und die Decke waren noch da und relativ normal. Der Tisch, die Stühle, ein paar der Schränke und Regale und der Sessel bestanden jedoch aus feuchtem, rosa glänzendem, von pulsierenden, weißen Adern durchzogenem Fleisch. Selbst die Teller, das Besteck und das darauf liegende Essen waren daraus geformt und schienen allesamt damit verbunden. Ein Teil der Masse hatte sich auch über Decke, Boden, Wände und die Tür ausgebreitet. Die meisten der Schränke jedoch, so wie auch die Plüschtiere und Dekorationen hatten einen anderen Ursprung gehabt. Dort wo sie gestanden oder gehangen haben, sah ich blonde, rothaarige, schwarzhaarige, weibliche, männliche, junge und ältere Elfenköpfe, an denen zum Teil auch noch die dazugehörigen Körper befestigt waren. Sie waren in die fleischige Masse eingesponnen, wie in einem Kokon. Ihre Augen waren geschlossen, aber ihre Münder waren wie zu einem nie enden wollenden Schrei geöffnet und die Eiswolken, die von Zeit zu Zeit aus ihnen hervordrangen, bewiesen, dass sie wohl noch lebten. Das, was von ihrer Haut noch sichtbar war, war von feinen, mir nur zu gut bekannten Eiskristallen bedeckt und da begriff ich auch, woher die Wärme in der Hütte wirklich kam. Jedenfalls nicht vom staubigen, erkalteten Kamin. Dieses grauenhafte Gewebe saugte sie ihren Opfern ab und strahlte sie dann als Abwärme ab.
„Nara, Jonnin, Tischka, Nurn! Was ist mit euch geschehen?“, fragte Marina entgeistert, während sie vorsichtig auf einen der Eingesponnenen zuging.
„Das was gleich mit uns geschieht, wenn wir nicht bald hier rauskommen“, sagte Linna und warf ihren Elfenstaub gegen die zugewucherte Tür. Ihr Zauber bewirkte eine kleine Explosion und das Fleisch begann zu bluten, aber schon nach wenigen Sekunden stoppte die Blutung und die Barriere war wieder so undurchdringlich wie vorher. Sie warf einen weiteren Zauber mit dem gleichen Ergebnis.
„Marina, hilf mir!“, verlangte sie, aber ihre Schwester starrte nur wie gebannt auf ihre eingesponnenen Kameraden. Sie streckte die Hand nach einem rothaarigen Mann aus, der etwa auf Höhe des Bodens von der fleischigen Substanz eingesponnen worden war.
„Ich glaube, das solltest du lieber lassen“, riet ich ihr. Aber sie schien auch mich nicht zu hören und berührte den Mann am Gesicht.
Dieser reagierte nicht darauf. Dafür reagierte sein Gefängnis. Kleine, gierige Gewebefäden schossen daraus hervor und wickelten sich um Marinas Hand, wie die Finger eines Neugeborenen. Marina schrie und schüttelte ihre Hand, während sich weitere Fäden um sie schlangen, durch die sich – aufgereiht wie an einer Perlenschnur – immer neue, kleine Eiskristalle auf sie zubewegten. Sie versuchte ihren Elfenstaub zum Einsatz zu bringen, aber da eine ihrer Hände gefangen war, schien das nicht zu funktionieren. „Linna! Hilfe!“ rief sie, aber ich war schneller.
Da die Fäden zu dünn waren, um ein gutes Ziel abzugeben und ich nicht riskieren wollte Marinas Hand zu verletzen, handelte ich instinktiv und nutzte meine Waffenhand wie eine Keule, mit der ich immer wieder auf das rohe Fleisch einschlug. Bei der Berührung mit dem Kwang Grong zuckten die Fäden kurz und hörten damit auf, sich enger um Marinas Hand zu wickeln, ließen jedoch nicht gänzlich von ihr ab. Dann jedoch kam mir eine Idee: Statt mit roher, sinnloser Gewalt auf das Gespinst einzuschlagen, drückte ich meinen Arm direkt in das Gewebe hinein und ließ ihn dort. Heller, grauer Rauch stieg auf, Tauwasser tropfte von den Fäden herunter und letztlich zogen sich die widerlichen Eis-Fleischfäden in den Kokon des gefangenen Elfen zurück.
„Danke“, sagte die noch immer schreckensbleiche Marina, „auf dich kann man sich anscheinend verlassen. Im Gegensatz zu meiner Schwester. Linna ist …“
„Sieh doch!“, sagte ich und zeigte auf Linna, die von ihren fruchtlosen Versuchen mit der Tür abgelassen hatte und nun mit offenem Mund vor dem stand, was sich vor ihr ereignete. Dort, wo der Fleischsessel gestanden hatte, hatte sich eine grob humanoide Form herausgebildet, deren Substanz sowohl von dem allgegenwärtigen Fleisch, als auch von den – tatsächlich Wasser enthaltenden – Pfützen auf dem Boden gespeist wurde. Entsprechend war der Körper der Gestalt ein verworrenes Gemisch aus Eis und Fleischfäden. Ansonsten besaß er bislang noch keine Konturen, sondern erinnerte in seiner Form eher an eine große, matschige Birne, auf die jemand einen zu großen Kopf gesetzt hatte. Aber langsam begann sich das zu ändern. Augen begannen sich anzudeuten, Arme bildeten sich aus und ein breiter Mund wurde wie mit einer unsichtbaren Klinge in das Wesen hineingeschnitten.
„Was zum Teufel hat Firn da entfesselt“, sagte
„Das spielt jetzt keine Rolle. Wir müssen das Ding bekämpfen, bevor es vollständig ist“, schrie Linna, „vielleicht haben wir gemeinsam eine Chance.“
Marina nickte, „du hast recht. Ich will, dass das Vieh für das bezahlt, was es meinen Leuten angetan hat. Es ist ein Eiswesen. Also verwenden wir am besten einen Feuerzauber. Tim?“
„Ja?“, sagte ich.
„Du attackierst es gemeinsam mit uns, das Wesen scheint deinen Waffenarm nicht zu mögen“, befahl Marina.
Ich nickte. Und dachte mir, dass das hier ein großartiger Zeitpunkt wäre, um aus dieser Welt zu verschwinden. Dieses Wesen und der ganze organische Matsch hier, brachte zusammen mit den zwar ausgebeuteten, aber wahrscheinlich noch lebenden Gefangenen sicher eine ganze Menge Gesundheit ein. On-Grarin würde sich also nicht beschweren können. Zwar war mir bewusst, dass ich damit dem Kampf nicht aus dem Weg gehen, sondern ihn nur in die Portalhöhle tragen würde, aber wieso sollte der alte Menschenschinder nicht auch mal etwas zu tun bekommen? Zudem würden dann zu viert gegen das Monster antreten, denn auch wenn Marina und Linna sicher nicht begeistert über ihre Entführung sein würden, würden sie schon aus Selbsterhaltungsgründen sicher weiterkämpfen.
„Gut“, sagte Marina, während sich bereits große Augen aus klarem Eis, mit einer Pupille aus Schnee, ein riesiger Mund mit aus Eis bestehenden Zähnen, vier lange, krallenbewehrte Arme und ein Nackenkamm aus fleischfarbenen Stacheln aus der schlanker werdenden Gestalt ausbildeten, „Auf drei. Eins, zwei …“
Marina und Linna ließen ihre Attacken los. Ich jedoch nicht. Stattdessen rief ich: “Xabit Drajit Gandrit”. Doch obwohl ich fest damit gerechnet hatte, dass sich diese Welt vor meinen Augen auflösen und mich mitsamt allen Lebewesen in diesem Haus nach Hyronanin und zu einem ziemlich verdutzten Andrin transportieren würde, geschah das nicht. Stattdessen wurde die Kreatur von brennendem Elfenstaub getroffen, der zwar wie erhofft ihr Fleisch in Brand setzte und die Eiselemente ihres Körpers ein Stück weit schmolz, sie aber nicht außer Gefecht setzte.
Rauch und Wasserdampf stiegen in dichten Schwaden auf und ein grauenhafter Geruch nach verbranntem Fleisch stieg in meine Nase, während es mir eiskalt den Rücken runterlief. Denn mehr noch als die akute Bedrohung durch dieses Wesen ängstigte mich die Erkenntnis, dass ich gefangen war. Wenn ich Glück hatte, nur innerhalb dieses Raumes, was an der unheilvollen Präsenz des Geschöpfes liegen konnte, die die Wirkung der Portalmaschine unterdrückte. Wenn ich aber weniger Glück hatte, hatte Marinas Elfenstaub mehr bewirkt, als nur die Zeit für mich zu verlangsamen.
In diesem Fall würde ich für den Rest meines Lebens in dieser verfluchten Weihnachtswelt feststecken. Eine Welt, in der Bürgerkrieg herrschte und in der irgendein wahnsinniger, Kinder verbrennender Rebellenführer ein Tor zur Hölle oder zu einer ähnlich düsteren Ebene geöffnet zu haben schien. Das war zwar immer noch besser als Hyronanin, aber leider war es auch in einem wesentlichen Punkt schlechter: In Hyronanin befand sich noch immer mein Katalog, selbst wenn er zu dieser Zeit auf dem Grund des Keimpfuhls ruhte, in Noestria jedoch war ich entweder auf die Gnade dieses dubiosen Lord Firns oder des verdammten Weihnachtsmannes angewiesen. Der eine schien Elfenleben weit höher zu schätzen als Menschenleben und der andere würde mich ganz sicher nicht als artiges Kind betrachten, falls er wie sein folkloristisches Vorbild über die unangenehme Eigenschaft verfügte, über alle Verfehlungen einer Person Bescheid zu wissen. Davon abgesehen bestand durchaus die Chance, dass beide nicht mehr lebten. Oder, dass wir alle den Aufenthalt in diesem Haus nicht überlebten.
Marina etwa, hatte ein viel konkreteres Problem als ich. Eine der langen, flexiblen Klauen, die das Ungeheuer inzwischen vollständig ausgebildet hatte, hatte sie mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert. Zwar hatte die Kreatur dabei glücklicherweise eine Stelle erwischt, an der das übergriffige Fleisch noch nicht wucherte, aber dafür schien Marina zumindest vorübergehend das Bewusstsein verloren zu haben.
„Warum hast du nicht geschossen, du Idiot?“, fragte Linna.
„Meine Waffe hat geklemmt“, sagte ich entschuldigend, da mir nichts Besseres einfiel.
„Lüg mich nicht an“, brüllte Linna, „ich habe genau gehört, dass du irgendwelchen Kauderwelsch von dir gegeben hast. Das war eine Art Zauberspruch. Wir Weihnachtselfen brauchen so etwas nicht, aber ich weiß durchaus, dass andere Völker derartiges benutzen. Ich weiß nicht, was es war, Mensch, aber an deinem selbstgerechten Grinsen habe ich erkannt, dass es nichts Gutes sein konnte und an deiner enttäuschten Fresse sehe ich, dass es nicht funktioniert hat.“
„Du hast recht“, improvisierte ich, „es war ein Zauber. Ich dachte, er wäre effektiver als meine Waffe. Das war dumm und es tut mir leid. Ich habe mich einfach verschätzt.“
„Nein, du bist nicht dumm, Mensch“, sagte Linna kalt, „du bist nur ein verdammt beschissener Lügner. Ich denke, Marina wird das genauso sehen, wenn sie wieder wach wird und wir das hier überleben. Wenn nicht, werde ich sie schon davon überzeugen.“
Das wäre sehr ungünstig. Ohne elfische Verbündete wäre ich in dieser Welt aufgeschmissen. Aber darüber musste ich mir später Gedanken machen.
Zunächst konzentrierte ich mich lieber auf den unmittelbaren Feind. Diesmal nutzte ich wirklich meine Waffe und feuerte Mithilfe des Kwang Grong, direkt auf den Kopf der Kreatur. Ihr linkes Eisauge verdampfte augenblicklich, als schwarze Blitze darin einschlugen. Die Kreatur grunzte, ließ sich ansonsten aber nicht davon beirren. Denn anstatt sich seinen noch kampffähigen Kontrahenten zu widmen, schien sich das Ungeheuer dazu entschieden zu haben, das zu Ende zu bringen, was es an Marina begonnen hatte.
Diesmal ließ es nicht nur einen, sondern gleich vier Arme auf die bewusstlose Elfin zufliegen, deren Krallen sie sicherlich in Stücke reißen würden. Und es wäre wohl auch so gekommen, wenn Linna nicht ihren toten Bruder wie eine Handpuppe vor Marina geschleudert und mit ihm als Schild alle Angriffe abgewehrt hätte. Die Leiche von Norro wurde dabei regelrecht zerfetzt und blutige Fleischstücke, die zum Teil gierig von den Wänden absorbiert wurden, verteilten sich im gesamten Raum. Eines davon – ein Teil seines Rumpfes – traf Marina mitten ins Gesicht, die davon immerhin wach wurde, auch wenn sie mit einem panischen Schrei reagierte.
„Du verdammtes Drecksvieh!“, brüllte Linna, „deinetwegen wird Norro nie seinen Frieden finden können!“
Wie von Sinnen stürmte sie auf das Ungeheuer zu und warf dabei unentwegt mit Elfenstaub um sich. Weitere Flammen entstanden und versengten das Wesen, scharfe Splitter von Weihnachtskugeln flogen durch die Luft und schnitten durch sein Fleisch, ätzender Regen traf seinen Körper und klebrige Strahlen aus Zuckerguss verklebten seine Gliedmaßen. Linnas Wut war so groß, so kompromisslos, dass der Dämon dagegen nicht viel dagegen aufbieten konnte. Zumindest im Moment nicht. Doch das würde nicht so bleiben, wenn wir jetzt nicht Nägel mit Köpfen machten. Also feuerte auch ich alles, was ich hatte und Gott sei Dank war der Kwang Grong auch dieses Mal nicht geizig mit seiner Feuerkraft. Der Gigant geriet ins Wanken, fiel schließlich krachend auf den Boden und brutzelte in seinen eigenen, kochenden Körpersäften. Und als sich auch noch die wieder erwachte Marina in den Kampf einmischte und ihn ihrerseits mit tödlichen Überraschungen aus Elfenstaub eindeckte, dauerte es nicht lange, bis er als geschmolzene, dampfende, blubbernde Brühe auf dem Erdboden lag und keine Anstalten mehr machte, sich zu erheben.
„Nun müssen wir nur noch hier raus“, sagte Marina schwer atmend und offenbar noch immer etwas benommen, während sie sich ihren von den Klauen des Monsters verletzten Arm hielt.
Linna warf mir einen vielsagenden Blick zu, ging dann aber erst zu ihrer Schwester, um sie zu heilen.
„Danke“, sagte diese und fügte dann hinzu, „das mit Norro tut mir so leid.“
Linna nickte traurig, „mir auch. Aber es ist besser einen Toten zu opfern, als einen Lebenden. Du bist genauso seine Schwester gewesen wie ich. Auf diese Weise hat er dir immerhin in gewisser Weise das Leben gerettet.“
„Das stimmt“, stimmte Marina ungewohnt sanft zu, „aber vor allem hast du mir das Leben gerettet. Und das auch nicht zum ersten Mal. Ich will nicht gegen dich kämpfen, Linna.“
„Ich auch nicht gegen dich“, sagte Linna und auch ihre harte, fast fanatische Fassade bekam Risse, „und das werde ich auch nicht. Sollte Firn das von mir verlangen, kann er sich ins Knie ficken.“
Und inmitten des stinkenden Chaos der vom bösen verseuchten Hütte fielen sich die beiden Schwestern zum ersten Mal, seitdem ich sie kannte in die Arme. Irgendwie fand ich diese Szene rührend und zugleich unangenehm. Verrat, Misstrauen, Sarkasmus – all das waren Dinge, mit denen ich zu dieser Zeit sehr vertraut war. Aber Harmonie und Versöhnung waren mir so fremd, so unendlich fern geworden, dass ich es als geradezu lächerlich, ja fast schon als grotesk empfand, sie mitzuerleben.
„Wir müssen hier raus“, sagte ich ernst, „ich weiß nicht, ob sich das Ding nicht noch einmal erhebt.“
Linna sah mich wütend an und ihr Blick drückte Vorfreude darauf aus, mich bei Marina zu verpfeifen. Aber vorerst nickte sie. Sie wollte diese stinkende Hütte letzten Endes genauso dringend verlassen wie ich.
Wir versuchten alles. Ich schoss sicher ein dutzend schwarzer Blitze auf die Tür ab und die Schwester bombardierten sie mit Feuer, Hagelkörnern, Eisenkugeln, versuchten sie mit schwebenden Werkzeugen aus den Angeln zu heben und ersannen sogar verschiedene Schlüssel, in der Hoffnung sie damit öffnen zu können. Doch nichts davon half.
„So eine Scheiße!“, fluchte Marina, „woraus besteht diese Tür eigentlich? Diamant?“
Während sie fluchte, schleuderte sie mit einer unwillkürlichen Geste versehentlich Elfenstaub davon, der sich in Form von scharfkantigen Splittern manifestierte und sich in das Fleisch eines der gefangenen Elfen bohrte, der etwa einen halben Meter über dem Boden festgemacht worden war.
„Oh Nino, es tut mir leid“, sagte sie zu dem dunkelhaarigen Mann. Aber der bislang schlafende Elf schien nicht bereit zu sein, diese Entschuldigung anzunehmen.
Seine Augen, die wie bei dem von uns besiegten Ungeheuer aus Eis und Schnee bestanden, öffneten sich und sein Fleischgefängnis gab ihn frei. Oder besser gesagt: Es ließ sich mit ihm zusammen auf den Boden hinab, denn es war ganz offensichtlich kein wirkliches Gefängnis, sondern vielmehr zu einem Teil seines Körpers geworden. Während sein Unterleib eine schneckenartige, unförmige Masse blieb, auf der er sich langsam, aber beharrlich vorwärts schob, spreizten sich zwei dünne, mehrgelenkige, mit langen Klauen ausgestattete Arme aus dem Fleisch. Anders als bei dem großen Ungeheuer nutzte Nino sie aber nicht, um uns damit zu attackieren. Jedenfalls nicht direkt. Stattdessen griff er sich mit beiden Klauen in den fleischigen Unterleib und riss große Klumpen daraus ab, die er wie wertvolle Geschenke festhielt und präsentierte. Sein Mund öffnete sich und mit einer dampfen Wolke eisigen Gestanks, die aus seinem bleichen Mund entwich, begann er sein Mantra: „Das Fleisch, das Fleisch. Unser Leib ist rein. Das Brot, das Blut, es soll deines sein.“
Als seine linke „Hand“ gezielt auf meinen Mund zuschoss, rettete mich nur ein unelegantes Ausweichmanöver vor einer unfreiwilligen Mahlzeit. Die andere Hand streifte Linna, die nicht ganz so viel Glück hatte, im Gesicht, so das die matschige Substanz ihre Wange verschmierte, aber durch einen hastig gewirkten Elfenzauber, der die Klaue mit einem weißen Blitz wegschlug, konnte sie immerhin verhindern, dass Nino sie gegen ihren Willen fütterte. Zusammen mit Marina ging sie zum Gegenangriff über und auch ich feuerte ein paar halbherzige Schüsse auf den veränderten Elfen ab, aber vor allem versuchte ich in Bewegung zu bleiben und mir einen Plan zu überlegen, denn als sich dann auch noch die anderen vermeintlichen Gefangenen von den Wänden lösten wurde mir bewusst, dass wir sie auf herkömmliche Weise nicht würden besiegen können. Glücklicherweise kam mir eine Idee, die mir eigentlich schon viel früher hätte kommen sollen. Sie betraf die Schneekugel. Nicht nur, dass sie der einzige offensichtlich magische Gegenstand in diesem Gebäude war – als sie sich zusammengesetzt hatte, hatte der ganze Albtraum hier überhaupt erst begonnen. Wäre es da nicht logisch, dass er enden oder zumindest unterbrochen werden würde, wenn wir sie wieder zerstören würden? Es war nur eine Theorie, aber letzten Endes war sie das Einzige, was ich hatte.
Noch hatte ich freie Schussbahn auf die Kugel und hätte meine Theorie so auch direkt überprüfen können, aber ich zögerte noch. Marina war ein nützliches Werkzeug für mich, aber Linna war eine Last, ja geradezu eine Gefahr. Wenn ich nicht wollte, dass sie bei Marina Misstrauen mir gegenüber schürte, musste sie sterben. Doch natürlich konnte ich sie nicht einfach vor Marinas Augen abknallen und hatte auch nicht die Zeit eine Falle oder ein heimliches Attentat vorzubereiten. Nein, diese Elfenmarionetten hier, waren meine einzige und beste Möglichkeit das zu bewerkstelligen.
Praktischerweise befand sich Linna in einer Ecke des Zimmers, an der sich besonders viele dieser Fleischelfen dazu bereitmachten, sich auf uns zu stürzen. Während immer mehr von ihnen versuchten, uns ihre mutmaßlich infektiöse Körpermasse in den Mund zu stopfen, tat ich mein Bestes, um den allgegenwärtigen Attacken auszuweichen, was mir dank meiner schon damals recht gut geschulten Reflexen auch gelang. Der Kwang Grong, dem mein egoistischer Plan zu gefallen schien, ließ mich noch besser, häufiger und präziser schießen, wodurch ich es nicht nur schaffte Marina zweimal das Leben zu retten, sondern auch die gesteuerten Elfen auf Linna zuzutreiben, der es zunehmend schwerer fiel auszuweichen oder die Ungeheuer mit ihrem Elfenstaub auf Distanz zu halten.
„Wir müssen meiner Schwester helfen!“, bat mich Marina verzweifelt, „sie hält nicht mehr lange durch!“
Ich gab ein paar pflichtschuldige Schüsse auf die Elfen ab, die Linna am nächsten standen, was erwartungsgemäß wenig bewirkte, während Marina ein Geflecht aus klebrigem Zucker über sie warf, welches sie jedoch nur unwesentlich behinderte, da sie einfach eine Schicht auf Feuchtigkeit um ihre Körper ausschieden, um sich davon zu befreien.
„Das bringt alles nichts“, sagte ich, als ich bemerkte, dass Linna endlich der Erschöpfung nah war und ihre Bewegungen langsamer wurden und ich mir sicher war, dass sie den nächsten Attacken nicht würde ausweichen könne, „aber ich habe vielleicht eine andere Idee.“
Wie geplant hatte ich es geschafft, mich so nah wie nur möglich an der Schneekugel zu positionieren. Um sicherzugehen wartete ich noch einen Sekundenbruchteil ab, bis ich zufrieden beobachtete, wie gleich drei Arme mit Fleischbrocken auf Linnas verschwitztes Gesicht zurasten. Dann handelte ich. Während ich den Eisatem eines Elfen im Nacken spürte und der „Fleischspende“ einer rothaarigen Elfe so knapp entging, dass mir ein wenig stinkender Saft an der Stirn herunterfloss, feuerte ich einen schwarzen Blitz auf die mysteriöse Schneekugel ab und betete stumm zum Gott der Glücksritter und Egoisten.
Er erhörte mich. Und das gleich in doppelter Weise. Denn die Glashülle der Kugel zerbarst zwar erneut in dutzende kleiner Teile, die sich wie zuvor mit etwas Abstand um das noch immer formstabile Wasser gruppierten, aber mehr geschah vorerst nicht und so konnte ich bei einem Blick auf Linna erleichtert feststellen, dass die Arme offenbar mit Gewalt in ihren Mund eingedrungen waren und sie folglich nicht mehr in der Lage wäre, mich bei ihrer Schwester schlechtzumachen. Mit fiebrigen, schmerzerfüllten Augen zerkaute sie wie im Wahn das dämonische Fleisch, während dickflüssiger Saft an ihren Lippen hinunterrann und ihr Kehlkopf gierig schluckende Bewegungen machte. Schon sah ich, wie rosa Schnüre des glänzenden Fleisches aus ihren Schenkeln hervorbrachen und damit begannen, ihre schlanken Beine in einen unförmigen Sack zu verwandeln.
„Nein!! Linna!“, schrie Marina wie von Sinnen und versuchte trotz der Gefahr zu ihrer Schwester zu gelangen, was sicher auch ihre Verwandlung bewirkt hätte, wenn die Elfen nicht plötzlich innegehalten, wie ferngesteuert an ihre ursprünglichen Plätze zurückgekehrt und wieder dort festgewachsen wären. Als Marina ihre Schwester erreicht hatte, deren Verwandlung nun gänzlich abgeschlossen war, blickte Linna sie mit ihren Schneeaugen an, riss sich mit ihrem klauenhaften Arm ein Stück Fleisch aus dem Leib und präsentierte es ihrer Schwester zögernd, fast zärtlich wie ein weihnachtliches Abschiedsgeschenk, während sie ein letztes Mal sagte: „Das Fleisch, das Fleisch. Unser Leib ist rein. Das Brot, das Blut, es soll Deines sein.“
Dann zog sie zitternd ihren Arm zurück und verwandelte sich vor unseren Augen in einen Spiegelschrank, so wie auch die anderen Elfen sich wieder in Möbelstücke, Stofftiere und Dekorationen verwandelten. Die Türen zu den anderen Räumen sprangen wieder auf. Dann die Haustür. Ein kalter Luftzug schnitt in die stinkende Schwüle des Raumes während Marina hemmungslos weinte.
„Es tut mir leid“, sagte ich, wobei ich meine natürliche Hand auf ihre Schulter legte, „es ist meine Schuld. Ich hätte schneller auf diesen Gedanken kommen müssen.“
„Schwachsinn“, sagte Marina, „ohne dich wäre auch ich tot. Ich hätte außerdem genauso darauf kommen können, dass die Schneekugel der Schlüssel zu all dem ist oder sie wenigstens besser beschützen sollen.“
Glücklicherweise sah Marina nicht, wie ich bei diesen Worten erleichtert lächeln musste, da sie ihren Blick auf den Boden gerichtet hielt. Aber ich selbst sah dieses Lächeln im Spiegel, der in Wahrheit nur eine Illusion, eine Tarnung für eine monströs veränderte Frau war. Und was ich in diesem Spiegel sah, konnte ich kaum ertragen. Es war ebenfalls das Lächeln eines Monsters. Eines noch grausameren Monsters, das sich zwar damals noch nicht aus freien Stücken, jedoch zumindest aus Feigheit dazu entschieden hatte, eines zu werden. Dennoch änderte dieses kurze Aufflackern von Scham weder etwas an meinen künftigen Taten, noch an meinen Worten. Weder in dieser Welt, noch in irgendeiner, die darauf folgte und gleichzeitig mit dem deplatzierten, schadenfrohen Lächeln verschwand auch meine Reue. Beides war nichts, was ein Ernter gebrauchen konnte.
„Du hast getan, was du konntest“, sagte ich, „und auch wenn ich Linna nicht die Schuld an ihrem Tod geben will, wäre es ohne diesen Firn und das, was auch immer er da heraufbeschworen hat, wohl nie so weit gekommen.“
„Damit hast du wohl recht“, erwiderte Marina, „aber trotzdem fühle ich mich schuldig. Selbst wenn ich ihr Schicksal nicht hätte verhindern können, so hätte ich ihr Leben doch wenigstens angenehmer gestalten können. Ich habe nie wirklich ernsthaft darüber nachgedacht, aber vielleicht war ich wirklich zu hart zu ihr und zu den anderen Arbeitern. Vielleicht war unser System doch ungerecht. Vielleicht hätte es eine Alternative gegeben.“
„Die Alternative kann jedenfalls nicht darin bestehen Kinder zu verheizen“, sagte ich und war tatsächlich stolz darauf, dass ich moralisch noch ein bisschen über dem industrialisierten Massenmord von Minderjährigen stand. Dass ich dabei geholfen hatte ein Kind für die Ewigkeit einzusperren, blendete ich dabei freilich aus.
„Auf keinen Fall“, stimmte mir Marina nachdenklich zu.
„Wir sollten schnell hier verschwinden“, ermahnte ich sie sanft, „wir wissen nicht, wie lange es dauert, bis uns der Ausweg wieder versperrt ist und wir erneut gegen das Monster und seine Diener kämpfen müssen. Inklusive Linna.“
„Wir können sie unmöglich hier zurücklassen“, widersprach Marina, während sie immer wieder unwillkürlich ihre Hand nach dem Spiegelschrank ausstreckte, aber immer kurz davor innehielt, weil sie wusste, welche Gefahr eine Berührung bedeuten würde, „wir müssen sie irgendwie retten!“
Ich hatte das Gefühl, dass das unmöglich war. Dass in diesem Ding nicht mal mehr die kleinste Spur von Linna steckte. Aber auch, wenn ich persönlich darauf hoffte, dass meine Vermutung zutraf, durfte ich Marina nichts dergleichen sagen. Ich brauchte eine kämpferische Begleiterin, keine resignierte. „Vielleicht kann sie gerettet werden“, sagte ich also, „aber ganz sicher nicht jetzt und nicht von uns. Wir brauchen die Hilfe von Santa oder Notfalls von Lord Firn. Außer du hast zufällig einen Zauber parat, der sie zurückverwandeln könnte.“
Marina schüttelte den Kopf.
„OK“, erwiderte ich, „dann lass uns Hilfe suchen und nicht länger hierbleiben. Dieser Ort gefällt mir ganz und gar nicht.“
Marina nickte und sagte dann mit zitternder Stimme, „Leb wohl, Linna. Ich komme wieder“ und verließ dann zusammen mit mir die Hütte, ohne noch einmal zurückzuschauen.
~o~
Als wir wieder nach Draußen traten, schlug die Kälte mit geballter Wucht zu. Dennoch begrüßte ich sie nach der stinkigen, stechenden Luft im Haus und ich hatte den Eindruck, dass es Marina nicht anders erging, selbst wenn sie sehr unter dem möglichen Verlust ihrer Schwester zu leiden hatte. Ich selbst verspürte kurz die Versuchung die Rückkehrformel auszuprobieren, tat es aber natürlich nicht. In dieser Angelegenheit gab es keine Tests. Ich musste einfach hoffen, dass es das nächste Mal, wenn ich ernsthaft versuchen würde sie anzuwenden, auch funktionierte.
Wir suchten nach den Spuren der geflüchteten Rebellen, die es offenbar irgendwie geschafft hatten, dem Schrecken im Inneren zu entgehen. Jedoch waren sie verschwunden. Das war angesichts des starken Schneefalls nicht eben verwunderlich, aber gab mir dennoch ein beunruhigend unwirkliches Gefühl.
Die fehlenden Spuren waren insofern kein Problem, da Marina den Weg auch so gut genug zu kennen schien. Jedenfalls machte sie nicht den Eindruck sich erst orientieren zu müssen, sondern ging unbeirrt geradeaus. Gleichzeitig war ich mir aber nicht sicher, ob das ein Zeichen von Zielsicherheit oder Selbstaufgabe war. Ihre Schritte wirkten mechanisch und lustlos. Zweimal stolperte sie über einen umgefallenen Ast, der anders als die – auch hier stark veränderten – Bäume ein ganz gewöhnlicher Ast war. Als ihr dies sogar noch ein drittes Mal passierte, blieb sie einfach liegen, sodass ich mich gezwungen sah ihr aufzuhelfen. Wobei „helfen“ hier eher untertrieben war, da sie kaum Anstrengungen unternahm, mich dabei zu unterstützen.
„Was ist los?“, fragte ich besorgt, als sie wieder einigermaßen sicher auf ihren Beinen stand.
„Ich kann nicht mehr, Tim“, antwortete sie, „all diese Kälte …“
„Ich dachte eigentlich, du wärst an diese Temperaturen gewöhnt“, gab ich zurück.
„Ich rede nicht von den Temperaturen, du Idiot“, zischte sie wütend, bevor wieder Resignation in ihre Stimme zurückkehrte, „ich rede von der Kälte in mir. Norro ist tot. Die meisten meiner Freunde sind tot oder verschollen. Linnas Schicksal ist noch schlimmer als der Tod. Unser Vater Santa ist in Gefangenschaft. Meine Heimat verwandelt sich immer mehr in ein Abbild der Hölle. Meine ganz verdammte Welt löst sich auf!“
„Wir bekommen das in den Griff …“, begann ich.
„Ich will keine leeren Worte, Tim“, sagte sie, „ich will Wärme!“
Mit diesen Worten schloss sie mich in die Arme. In dieser Geste war nichts Leidenschaftliches, sondern lediglich der Wunsch nach Geborgenheit, nach irgendeiner Form von Halt. Und ich tat mein Bestes, ihn ihr zu geben, so Absurd das auch war. Immerhin konnte ich meine dunkleren Triebe beherrschen und nach einigen Minuten lösten wir uns wieder voneinander.
„Danke“, sagte sie, „das habe ich gebraucht. Nun können wir weitergehen.“
Nach unserer Umarmung wurden ihre Schritte tatsächlich leichter und wir beschleunigten unser Tempo sogar noch ein Stück, auch wenn das Wetter zunehmend schlechter und der Schneefall immer heftiger wurde.
Irgendwann mischten sich unter die weißen Flocken auch grüne, rote und schwarze, die einen absonderlichen Geruch besaßen und sich als bunte Farbhäufchen auf der weißen Schneedecke niederließen. Bei den Roten hatte ich sogar den Eindruck, dass sie warm waren.
„Meinst du, die sind gefährlich?“, fragte ich Marina.
Sie zuckte mit den Schultern, „keine Ahnung. Aber entkommen können wir ihnen ohnehin nicht.“
Auch wenn der Schnee nicht gut roch, war es der Geruch von verbranntem Fleisch, der mir wirklich Übelkeit bereitete und der nun immer stärker wurde. Der stetig auffrischende Wind drückte ihn mit macht in unsere Nasen und als die ersten steinernen, mit Tannenzweigen und kleinen Lichterketten geschmückten Häuser hinter der Schneewand auftauchten, bei denen es sich – wie Marina mir erklärte – um die Arbeiterhäuser handelte, war der Gestank so stark geworden, dass ich kaum noch etwas anderes wahrnehmen konnte.
„Ich begreife nicht, wie man so etwas tun kann“, schrie Marina gegen den Wind an.
„Man muss die Grausamkeit daran einfach nur ausblenden. Einen Teil von sich abspalten, dann geht es“, sagte ich fast automatisch und fügte dann, als ich Marinas erschrockenes Gesicht sah, hinzu, „nicht, dass ich das irgendwie gutheißen würde.“
Es dauerte nicht mehr lange, bis sich Santas Geschenkefabrik als titanischer Moloch vor uns zeigte. Sie war größer als die meisten Fabriken, die ich kannte und hatte wenig von jenen romantischen kleinen Werkstätten aus Zeichentrickfilmen. Sie war aus dunkelgrauen Ziegeln errichtet und besaß einen großen, qualmenden Schornstein, aus dem sich öliger Rauch in den Himmel kringelte. Ein rhythmisches, maschinelles Dröhnen und Kreischen drang aus ihr hervor.
Eher hätte man meinen können, dass dort drinnen ein Airbus oder eine Raumfähre gefertigt wurde, als Kinderspielzeug. Das einzig weihnachtliche daran, war der lächelnde Kopf eines Weihnachtsmannes, der über dem Eingang auf dem Dach steckte. Im ersten Moment dachte ich, dass er Santa persönlich gehören würde, aber zum einen war er nicht verrottet oder blutig und zum anderen war er dafür schlichtweg zu groß. Wahrscheinlich war er also eher künstlichen Ursprungs. Unter dem Kopf flatterte eine große, schwarze Fahne mit Lord Firns Symbol: der Schneeflocke und den Worten „Munera sibi“.
„Siehst du irgendwo welche von meinen oder wenigstens von Firns Leuten?“, fragte Marina.
„Leider nein“, sagte ich und suchte dabei angestrengt die Umgebung ab, „eigentlich sollte es doch hier von ihnen wimmeln.“
„Was ist das?“, fragte ich und zeigte auf einen Haufen von pechschwarzen Würfeln und Quadern, die unweit von uns im Schnee lagen.
„Geschenke“, sagte Marina, „Sie tragen Lord Firns Farbe, deswegen sehen sie nicht so aus, wie man es gewohnt ist.“
Ich bückte mich und hob ein etwa Schuhkarton-großes Geschenk auf. Es war schwerer, als ich erwartet hatte und ich fragte mich sofort, was es wohl enthielt.
„Ich würde das an deiner Stelle lieber nicht öffnen“, warnte mich Marina, „mit etwas Pech ist da eine Bombe drin. Eigentlich haben sich Firns Finger dazu verpflichtet, die artigen Kinder weiterhin zu belohnen, aber man weiß ja nie.“
„Es ist nur ein Geschenk“, wiegelte ich ab, weil ich es nicht ertrug einfach weiterzugehen, ohne zu wissen, was in den Geschenken war, „und soweit ich das höre, tickt es nicht.“
Ich löste die Schleife des ebenfalls schwarzen Geschenkbandes, was mit nur einer Hand nicht so einfach war und riss dann das Geschenkpapier auf. Im Inneren befand sich tatsächlich so etwas wie ein Schuhkarton. Vorsichtig hob ich den Deckel an und …
… erblickte einen Klumpen rosafarbenen Fleisches, der sich sofort auf mein Gesicht stürzte. Ich schaffte es gerade noch den Mund zu schließen, doch das Fleisch übte sofort einen schmerzhaften Druck auf meine Lippen und meine Zähne aus und mir war klar, dass es diese Hindernisse früher oder später überwinden würde. Ich überlegte, den Schattenstrahler zum Einsatz zu bringen, aber damit hätte ich mich höchstwahrscheinlich selbst umgebracht.
Nicht unwahrscheinlich, dass meine Neugier zu einem ziemlich dummen Tod oder noch schlimmerem geführt hätte, wenn nicht Marina mich davor bewahrt hätte. Ich spürte das Kitzeln von Elfenstaub in meinem Gesicht und kurz darauf hörte das widerliche Fleisch damit auf in meinen Mund gelangen zu wollen, und fiel stattdessen als bewegungsloser Klumpen auf die Erde.
„Ich habe dir doch gesagt, dass du es lieber nicht öffnen solltest“, kommentierte Marina trocken.
„Danke“, sagte ich, „aber damit hätte ich ganz sicher nicht gerechnet. Du etwa?“
„Nein“, sagte Marina düster, „das hier ist schlimmer als alle meine Befürchtungen. Wenn das hier an die Kinder in der Menschenwelt rausgeht, dann …“
„… werden sie alle so werden wie Linna“, beendete ich ihren Satz.
„Genau“, stimmte mir Marina zu, „ich kann einfach nicht begreifen, wie Lord Firn so etwas auch nur in Erwägung ziehen kann. Natürlich, er hat schon viel Grausames getan, aber das hier …“
„Er war nicht seine Schuld, jedenfalls nicht direkt“, erklärte eine weibliche Stimme hinter uns. Sofort drehten wir bei uns um. Ich machte meinen Waffenarm bereit und Marina hob ihre Hände für einen Zauber.
„Nicht schießen“, sagte eine dunkel gewandete, schlanke Weihnachtselfe mit langen schwarzen Haaren, in deren Hand ein Bogen aus Eis ruhte. Sie gehörte zweifellos zu Firns Fingern, auch wenn sie anders als der erste Angehörige dieser Organisation, den ich getroffen und getötet hatte, weder auf einem Rentier ritt, noch eine Kapuze trug. Neben ihr stand ein in ein braunes Lederwams und weiße Leinenhosen gehüllter Elf mit roten, kurzen Haaren und ungewöhnlich vollen, dicken Lippen. Er lächelte warmherzig.
“Niro!“, sagte Marina aufgeregt, „du lebst!“
„Ja“, sagte der Rothaarige, „leider können das nicht viele von uns sagen. Genauer gesagt bin ich der einzige.“
„Was!!“, fragte Marina entgeistert, „wie ist das möglich? Wir waren doch sicher fast achtzig Leute gewesen. Und wenn Lord Firn sie einfach alle getötet hat, dann frage ich mich, warum du noch lebst und vor allem, was du in Gesellschaft von einer von Firns Dienerinnen machst. Bist du ihre Gefangene?“
„Ist er nicht“, sagte die Frau, „und ich bin keine Dienerin. Mein Name ist Frella. Und ich dachte eigentlich, dass du dich an mich erinnern würdest, Marina. Ich war Holzschnitzerin. Unter deiner Aufsicht. Aber wahrscheinlich sollte ich mich nicht darüber wundern, dass du mich nicht kennst. Für deine Untergebenen hast du dich immer nur dann interessiert, wenn du etwas von ihnen wolltest oder wenn etwas nicht so lief, wie es sollte.“
„Halt du mir keine moralischen Vorträge“, sagte Marina, „du bist eine Kindermörderin. Und du hast auch Elfen getötet. Das ist alles, was ich über dich wissen muss.“
„Ich habe niemanden getötet“, sagte Frella, „vielleicht hätte ich es getan, wenn ich keine andere Wahl gehabt hätte. Aber so kam es nicht.“
„Was meinst du damit?“, fragte ich.
Frella beäugte mich kritisch, „wäre nett, wenn ich erst mal wüsste, wer du bist, bevor ich zu einem wildfremden Menschen aus dem Nähkästchen plauder.“
„Er heißt Tim“, antwortete Marina, bevor ich Gelegenheit hatte es zu tun, „er ist durch einen dummen Zufall hier und hat mir dabei geholfen den Weg hierher überhaupt zu überleben. Man kann ihm vertrauen. Jedenfalls vertraue ich ihm mehr als dir.“
Frella sah zu Niro, so als wollte sie sich seiner Zustimmung versichern und dieser nickte.
„Also gut“, sagte Frella, „dann kläre ich euch mal über unsere Lage auf. Auch wenn ihr Lord Firn für eine Inkarnation des Teufels höchstpersönlich haltet, gefällt es ihm genauso wenig Kinder leiden zu lassen, wie mir und den anderen. Genau wie wir alle hatte er viele schlaflose Nächte und war nach jeder Entführungswelle vollkommen am Boden zerstört. Deshalb hat er zusammen mit uns nach Wegen gesucht, diese grauenhafte Notwendigkeit zu umgehen, ohne dabei unsere eigene Existenz aufs Spiel zu setzen oder uns wieder in Santas Knochenmühle begeben zu müssen. Dabei haben wir zuerst versucht, Santa zu befragen.“
„Du meinst, ihn zu foltern“, bemerkte Marina.
„Wie auch immer“, fuhr Frella fort, „jedenfalls wollte der bärtige Tyrann nicht mit uns reden. Weder als wir es auf vernünftige Weise versuchten, noch als wir etwas härtere Methoden anwandten. Also haben wir nach anderen Wegen gesucht. Und die fanden wir auch. In Santas Büro entdeckten wir ein Buch. Ein Buch mit Zaubersprüchen aus einem anderen Land. Es trug den Titel „Der Schlüssel zu allem“ und wie es in seinen Besitz gelangt war, wussten wir nicht. Sein Autor hieß „Sir Marius Azred“, doch auch mit diesem Namen konnten wir nichts anfangen. Jedenfalls war darin von einer Möglichkeit die Rede, eine unbegrenzte Energiequelle zu rufen. Das – so dachten wir – wäre die Chance unserer Zwickmühle zu entkommen.
Es brauchte dafür nicht viel. Keine Menschen- oder Elfenopfer oder dergleichen, sondern lediglich genügend Stimmen, die den Spruch aufsagten und von denen jeder einen Tropfen Blut in einen mit Eiswasser gefüllten Kelch gab. Genau dieses Ritual führten wir durch. Zuerst sah alles gut aus. Eine riesige, grün schimmernde Kugel erschien, die sich mit unseren Fließbändern und Maschinen verband. Voller Hoffnung stellten wir den Betrieb der Öfen ein und warteten gespannt, ob die Bänder stillstehen und unser Schwinden beginnen würde oder ob sie wie erhofft weiterlaufen würden. Sie liefen weiter.
Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie glücklich wir darüber waren. Wir planten die Kinder zu befreien, endlich Frieden mit euch zu schließen und ja, auch Santa zu freizulassen, wenn er versprechen würde seinen Herrschaftsanspruch über uns aufzugeben und uns unsere eigenen Verbrechen zu vergeben, damit wir einen echten Neuanfang starten konnten.
Doch als wir Santas unterirdisches Gefängnis betraten, war er nicht mehr dort. Seine Zelle war leer. Genau wie die Zellen von Knecht Ruprecht und Krampus, seinen treuesten Dienern, die wir ebenfalls hatten festsetzen müssen.
Wir sahen sie erst wieder, als wir in die Fabrik zurückkehrten. Jedoch waren sie nicht mehr dieselben. Die Veränderungen an Santa waren noch die subtilsten gewesen. Sein Gesicht und sein Körper waren unverändert. Jedoch leuchteten seine Augen im fahlen Grün des eigenartigen Eisthrons, auf dem er sich niedergelassen hatte und der einfach aus dem Boden gewachsen zu sein schien. Jeder von uns, der diesen Thron zu lange ansah, bekam heftige Kopfschmerzen und wir spürten darin dieselbe Magie, die wir erst kürzlich mit dem Buch heraufbeschworen hatten. Der deutlichste Unterschied zum alten Santa war jedoch, dass sein Mantel und seine Mütze nicht mehr aus Stoff, sondern aus glänzendem, rosafarbenen Fleisch bestanden, von dem sich – wie Fühler – feine, tastende Fäden in die Luft ausstreckten. Einige davon hatte er in den Kopf von Inno, einem Freund von mir, gesteckt.
Inno war nackt, flehte, zitterte und schien unvorstellbar zu frieren, während die Fäden in seinem Kopf tanzten. Trotz all dieser bizarren Besonderheiten sah Santa noch vergleichsweise gewöhnlich aus, wenn man ihn mit seinen beiden Dienern verglich. Krampus, schon immer halb tierisch, war nun vollkommen zu einer animalischen, glutäugigen, sabbernden Bestie degeneriert, die vor unseren Augen auf den Knochen und dem Fleisch einiger unserer Schwestern und Brüder herumkaute, die sie offenbar erst kürzlich erjagt hatte und deren Identität nicht mehr festzustellen war. Auf dem Rücken des Wesen gab es eine riesige, aufgeblähte Beule in deren Inneren fahlgrünes Eis leuchtete und die bei jedem schmatzenden Bissen freudig pulsierte.
Knecht Ruprecht, der von jener schlank und ernst gewesen war, war nun geradezu spindeldürr, wodurch sein ausgezehrter, finster dreinblickender Kopf viel zu groß für seinen Körper wirkte. Seine Haut war schwarzverbrannt, so als hätte man ihn zu lange über dem Feuer geröstet. Die Rute in seiner Hand bestand aus dem gleichen rosafarbenen Fleisch, in welches Santa gekleidet war und besaß Spitzen aus grünlichem Eis, die er immer tief in die Haut einer schreienden, blutenden Elfin namens Urana trieb, die versuchte vor ihm zu flüchten, jedoch immer wieder von seinen dünnen Armen eingefangen wurde.
Die gesamte Halle war erfüllt von grünem Licht, sich windenden Schatten und einer grauenhaften Kälte, die in den Lungen schmerzte.
„Santa! Was ist hier los?“, fragte Firn während wir unsere Waffen bereitmachten, um uns der Bedrohung zu stellen, „Lass sie sofort frei!“
„Wohl eher nicht“, sagte Santa mit ruhiger Stimme, während er mit seinen Fleischfäden in Innos Kopf herumwühlte.
„Warum tust du das?“, fragte Firn, „was hat dich derart verändert?“
Santa begann zu lächeln. Es war kein wahnsinniges, fratzenhaftes Grinsen, sondern ein seliges, scheinbar wirklich glückliches Lächeln. „Das Chaos, Firn. Alnuron. Die chaotische, freie Energie, die ihr heraufbeschworen habt. Sein Chaos hat meine Ketten gesprengt. Es hat mich nicht nur aus eurem Kerker befreit, sondern auch aus meinem Gefängnis aus Traditionen und Regeln. Alles ist nun möglich. Er hat es mir gezeigt, Firn. Ich kann alles tun, was ich will, ganz egal, ob es meiner Rolle entspricht oder nicht. Du hattest von Anfang an recht: Wir haben uns blind von den Traditionen leiten lassen, die unsere Welt geformt haben. Wir waren Sklaven unserer Gewohnheiten und sinnentleerter, endlos wiederholter Abläufe. Es war richtig von dir gewesen dagegen aufzustehen. Und es war richtig von dir gewesen die unartigen Kinder zu bestrafen. Auch, wenn du nicht den Mut gehabt hast den letzten Schritt zu gehen.“
„Ich wollte die Kinder nie bestrafen“, schrie Firn, „es war nur eine grauenhafte Notwendigkeit, mehr nicht. Ich bin bei jedem Mord ein wenig selbst gestorben.“
„Du magst deine Dunkelheit, deine wilde Lust nach Herrschaft mit Mitleid kaschieren“, sagte Santa abfällig, „ich habe das nicht länger nötig. Dank ihm. Dank Alnuron, kann ich endlich das tun, was mein Herz begehrt. Und mein Herz begehrt nach Wertschätzung. Die Kinder respektieren uns nicht, Firn. Sie nutzen uns aus, beuten uns aus, lachen uns aus, da sie wissen, dass ein kleiner Klapps von Knecht Ruprecht oder ein harmloser Besuch des Krampus das Schlimmste ist, was ihnen drohen kann. Und die artigen Kinder sind noch schlimmer. Grinsende, gelackte Streber, die fein ihre Gedichtchen vom Weltfrieden aufsagen und dabei tief in ihrem Herzen doch nur nach immer neuen Geschenken gieren. Sie alle müssen bestraft werden. Ausnahmslos!“
„Was hast du vor, du kranker Bastard?“, fragte Firn.
„Das wirst du früh genug erfahren“, sagte Santa, „falls du dich uns anschließt!“
„Du glaubst wohl kaum, dass wir uns einem Schlächter anschließen, der unsere Leute vor unseren Augen foltern und verspeisen lässt“, erwiderte Firn.
„Sie haben mich angegriffen“, erklärte Santa, „da habe ich wohl das Recht mich zu verteidigen.“
„Du hast das Recht zu krepieren du arrogantes Stück Scheiße“, rief Firn, „du warst schon vorher ein Tyrann, aber jetzt hast kann ich deine Existenz nicht länger verantworten. Angriff!“
Eine ganze Reihe Eispfeile flog auf Santa zu, aber er erschuf mit einer beiläufigen Handbewegung eine Flammenwand und ließ sie verglühen. „Wie du willst Firn. Dann holt sich Alnuron deine Energie eben auf andere Weise.“
Dann ließ er Krampus und Knecht Ruprecht los und nachdem diese in sekundenschnelle ein Viertel unserer Leute niedergestreckt hatten, erkannte Lord Firn, dass wir nichts weiter tun konnten, als unsere Haut zu retten.
Diejenigen, die es – wie auch ich – schafften vor Santas wilden Dienern zu fliehen, verbarrikadierten sich zusammen mit Firn in Santas altem Büro. Firn schuf eine dicke Eismauer – aus gewöhnlichem Eis, nicht diesem widerlichen grünen Zeug –, der wir es zu verdanken hatten, dass weder Krampus noch Ruprecht oder Santa zu uns vordringen konnten. Jedoch saßen wir damit in der Falle. Denn wenn wir herauskämen, würde Santa oder Alnuron oder was auch immer jetzt dort draußen die Aufsicht führte, uns holen.
Die Stimmung wurde mit jedem Tag, der verging, immer schlechter. Denn auch wenn uns das Eis mit Wasser versorgte, hatten wir kaum Nahrungsmittel. Der Platzmangel setzte uns zu, da wir mit einundfünfzig Leuten in diesem viel zu engen Raum waren und ab und zu – wenn Firn das Eis durchsichtig werden ließ, erblickten wir Ruprecht oder Krampus, die uns verhöhnten und uns auflauerten und manchmal sahen wir auch ehemalige Gefährten an uns vorbeiziehen, die allesamt grausam verändert waren. Neben all dem fragten wir uns auch, was genau Santa mit den Kindern der Menschenwelt vorhatte. Und ja, auch wenn wir vielen von ihnen ebenfalls schlimme Dinge angetan hatten, sorgten wir uns auch um sie. All das führte schon bald zu den ersten Streitigkeiten und kurz darauf sogar zu handfesten Auseinandersetzungen, die nur mit Firns harter Hand zu unterbinden gewesen waren.
Wahrscheinlich hätten wir uns da drin irgendwann gegenseitig umgebracht, wenn wir nicht plötzlich Geräusche und Stimmen von Draußen gehört hätten, die nach ganz gewöhnlichen Elfen klangen und nicht nach Mutationen oder Santas Dienern. Firn kam schnell darauf, dass es sich nur um einen Angriff durch Santas Getreue handeln konnte. Und wir sahen darin eine Chance auf einen erneuten Angriff oder zumindest auf eine Flucht. Kaum, da die ersten Elfen die Eismauer passierten, ließ Firn den Schutzwall verschwinden und wir strömten heraus, um mit ihnen zu reden und uns ihnen anzuschließen. Leider fassten sie das jedoch als Angriff aus dem Hinterhalt auf. Trotz unserer Beteuerungen, uns mit ihnen verbünden zu wollen und unseren hastig vorgebrachten Berichten, dass Santa nun der wahre Feind für uns alle war, ließen sie ihre Zauber auf uns los und notgedrungen verteidigten wir uns mit unseren Eiswaffen.
Viele von uns starben auf diese Weise sinnlos, auch wenn es zumindest einigen – wie auch mir – gelang, keine tödliche Gewalt anzuwenden. Erst als Ruprecht, Krampus und einige der mutierten Elfen sich in den Kampf einmischten, erkannten Santas Getreue, dass wir die Wahrheit gesprochen hatten. Nun jedoch war es fast schon zu spät. Die meisten von uns hatten sich bereits gegenseitig ausgelöscht und Alnurons Schergen hatten leichtes Spiel. Einige von uns rannten hinaus, aber nur ich und Niro schafften es lebend ins Freie. Kurz bevor ich geflohen bin, glaube ich noch gesehen zu haben, wie Firn versuchte hatte sich mit einer handvoll Leute wieder hinter die Eismauer zurückzuziehen. Aber ich konnte nicht mehr sehen, ob ihnen das auch gelungen war. Nun wisst ihr, was sich zugetragen hat und warum ich hier Draußen mit einem von Santas Anhängern stehe.“
„Was für ein Schwachsinn“, sagte Marina, „Firn ist ein Arschloch. Ein gewissenloser Demagoge. Und doch stellst du ihn hier als halben Helden dar. Das kaufe ich dir nicht ab. Und was Santa betrifft, so ist er viel zu mächtig, um sich von irgendwelchen Dämonen überwältigen zu lassen.“
„Selbst wir konnten deinen rauschebärtigen Heiland überwältigen, bevor Alnuron von ihm Besitz ergriffen hatte“, bemerkte Frella trocken.
„Halt dein gehässiges Maul, Kindermörderin!“, erwiderte Marina.
„Hört auf euch zu streiten“, sagte Niro, „das bringt nichts. Und wenn du Frella nicht vertrauen willst, Marina, dann vertraue mir. Du kennst mich lange genug und du weißt, dass ich für Firn und seine Leute wenig übrig habe. Wenn es nach mir geht, sollten sie alle für ihre Verbrechen bestraft werden, wenn das hier vorbei ist. Aber es ist noch nicht vorbei. Und deshalb müssen wir erst mal zusammenhalten, wenn wir eine Chance haben wollen.“
„Welche Chance soll das sein?“, fragte ich skeptisch, „Wenn ich das richtig verstehe, habt ihr selbst in voller Stärke wenig gegen Alnuron ausrichten können und selbst wenn Firn und ein paar von seinen Leuten noch leben sollten, wären sie wahrscheinlich keine große Hilfe.“
„Das sehe ich anders“, widersprach Frella, „damals wurden wir überrascht. Diesmal wären wir in der Offensive. Firn ist mächtiger, als du vielleicht denkst. Bislang hat er sich aus deshalb noch zurückgehalten, weil er Angst hatte, dass er unseren eigenen Untergang besiegeln könnte, falls er Santa im Kampf mit Alnuron töten würde. Doch wenn ich ihm erzähle, dass Alnuron bereits damit begonnen hat, diese verfluchten Pakete an die Kinder zu schicken, wird er das Risiko sicher eingehen.“
„Ist das nicht mehr als nur ein bloßes Risiko?“, gab ich zu bedenken, „ich kann mir kaum vorstellen, dass man eine solche Kreatur einfach gefangen nehmen kann. Immerhin ist sie euch ja schon einmal entkommen. Letztlich bleibt euch doch keine andere Wahl als sie und ihren Wirt zu töten.“
„Vielleicht doch“, sagte Frella und zog ein in Leder gebundenes Buch aus ihrem Rucksack hervor, „hiermit. Das Buch lag noch immer dort herum, wo wir das Ritual durchgeführt hatten. Irgendwie hat Alnuron es in seinem Machtrausch übersehen und ich konnte es im Chaos des Kampfes an mich reißen. Es enthält einen Gegenzauber, der diese wilde Energie angeblich wieder in ihre Heimatebene verbannen kann. Wir müssen ihn also nur zur Anwendung bringen. Laut dem Buch reicht es aus, die Zauberworte in Anwesenheit des Dämons auszusprechen.“
„Falls wir es schaffen dorthin zu gelangen“, wandte Niro ein, während ich neugierig auf das Buch blickte und darin ein weiteres interessantes Machtpotenzial erkannte. Kurz erwog ich, ob ich es an mich nehmen sollte, falls sich die Gelegenheit ergeben sollte. Dann jedoch überlegte ich es anders. Ich hatte das ein oder andere von Lovecraft gelesen und wusste deshalb, dass solche Beschwörungen nie gut ausgingen und vor allem vom Beschwörer miserabel zu kontrollieren waren. Die Ereignisse in Noestria führten mir noch mal vor Augen, dass dies offenbar nicht nur in der Fantasie so war.
„Falls wir das schaffen, ja“, stimmte Frella zu, „aber letztlich haben wir keine andere Option, als es zu versuchen. Und das nicht nur wegen der Kinder in der Menschenwelt. Auch unsere Welt verwandelt sich langsam in einen ausgewachsenen Albtraum. Die Naturgesetze sind außer Kontrolle geraten und selbst wenn wir und die anderen, die dort Draußen in ihren Hütten leben und sich nicht am Kampf beteiligt haben, uns verkriechen, werden wir früher oder später unter die Herrschaft von dem fallen, was von der Fabrik Besitz ergriffen hat. Es wird sich sicher nicht allein auf die Fabrik beschränken. Nicht auf Dauer.“
„Da hast du leider recht“, stimmte Marina zu, „auf dem Weg hierhin mussten wir bereits eine andere Kreatur bekämpfen, die sich in unserem Stützpunkt eingenistet und viele von uns in Monstrositäten verwandelt hat.“
„Dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren“, sagte ich, „Gehen wir dem Weihnachtsmann den Teufel austreiben!“
Während ich mir ein albernes Kichern verkneifen musste, nickten die anderen drei ernst und entschlossen, was mir nur noch deutlicher machte, in welch einer absurden Lage ich mich hier befand.
~o~
Der Weg ins Innere der Fabrik war leicht. Weder war die Tür versperrt, noch lauerten unmittelbar dahinter irgendwelche Wächter, auch wenn wir uns bemühten, die mit Fleisch gefüllten Geschenkpakete zu umgehen, die überall herumlagen. Dafür war es hier drin, anders als ich es erwartet hatte, stockfinster. Als das wenige Licht der Sterne sich nach ein paar Schritten verlor, erwartete uns eine regelrechte Wand aus Dunkelheit. Ich versuchte die Taschenlampe meiner Uhr zu aktivieren, aber sie flackerte nur kurz und ging dann wieder aus. Entweder war sie kaputt oder etwas in dieser Fabrik störte ihre Funktion. Dafür fiel mir etwas anders auf: Die Zahlen auf der Uhr veränderten mich wieder. Wahrscheinlich hatte der erneute Kontakt mit Marinas Elfenstaub die Zeitblase um mich herum zerstört, was mich letztlich ziemlich erleichterte, da es mir das Gefühl gab, endlich wieder das Spiel zu spielen, dass ich kannte und beherrschte. Demnach blieben mir noch etwa dreißig Minuten. Das sollte ausreichen. Länger wollte ich mich ohnehin nicht mehr in dieser Welt aufhalten.
„Das war vorhin noch nicht so“, stellte Niro fest.
„Aber es ergibt Sinn“, sagte Marina, während sie mithilfe von Elfenstaub und einer ihrer Kerzen ein kleines Licht entzündete, welches die Umgebung wenigstens etwas erhellte, „dadurch werden elfische Angreifer geschwächt. Ich muss mich entscheiden, ob ich meine Magie als Beleuchtung oder für den Angriff verwende. Beides zusammen geht nicht. Wenn ich meine Magie aus der Kerze zurückziehen würde, wäre es, als hätte ich sie nie entzündet. “
Die Fabrik war ein grauenhafter Ort. Das Rattern, Poltern, Kreischen und Dröhnen der Maschinen, deren Lärm von den Mauern zurückgeworfen wurde, schuf zusammen mit unseren eigenen, hallenden Schritten eine gespenstische Geräuschkulisse. Der süßliche, ölige Duft verbrannten Fleisches mischte sich mit dem Miasma von kürzlich vergossenem Blut und Exkrementen. Während erstere von den getöteten Kindern stammen musste, wurde uns die Quelle von letzterem schon bald offenbart, als Marina in dem schwachen, von verwirrenden Schatten begleiteten Licht über die gestapelten Körper von gleich drei toten Elfen stolperte, die allesamt schrecklich zugerichtet waren. Ein blonder Elf, der über den beiden anderen lag, hatte sich dabei im Tode besonders ausgiebig beschmutzt.
„Widerlich“, bemerkte Marina.
„Der Gestank vergeht“, antwortete Frella ernst und traurig, „der Verlust bleibt.“
Wir passierten den Eingangsbereich durch ein großes Tor und kamen zu den eigentlichen Produktionsanlagen mit den Fließbändern, auf denen Pakete in unterschiedlicher Form und Größe lagen, die – wie ich nun wusste – alle das Gleiche enthielten: Rosafarbenes, infektiöses Fleisch. Die Bänder leuchteten dabei unendlich schwach in einem grünlichen Licht, welches mich vage an das gespenstische Schimmern des Fahleises erinnerte.
Soweit es das ungesunde Glühen und das von Marina erzeugte Licht zuließen, versuchte ich zwischen all den Maschinen und verwinkelten Fließbändern eine mögliche Bedrohung auszumachen und hielt meinen Schattenstrahler schussbereit vor mich. Vorerst jedoch entdeckte ich nichts.
„Wo sind sie alle hin?“, fragte ich, wobei ich flüsterte, um keine unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen.
„Wahrscheinlich in der Lagerhalle, dort wo Alnuro in Santas Körper residiert“, antwortete Frella.
„Wäre es nicht viel sinnvoller uns aus dem Hinterhalt zu attackieren?“, gab Niro zu bedenken.
„Vielleicht rechnen sie nicht mit einem weiteren Angriff“, vermutete Marina.
„Oder sie sehen in uns keine Bedrohung“, bemerkte ich düster.
Da die Fließbänder nicht gerade, sondern äußert verwinkelt verlief und gelegentlich verstreute Geschenke oder tote Körper herumlagen, wurde unser Weg zu einem ziemlich verwirrenden Hindernislauf, der uns vollste Konzentration abverlangte. Entsprechend erschrocken war ich, als ich einen heftigen Luftzug an meiner Stirn bemerkte. Instinktiv duckte ich mich, sah nach oben und erblickte ein verkrüppeltes Rentier mit einem Schlitten, in dem sich ein Haufen frisch verpackter Geschenke befand.
„Was zum Teufel ist das?“, fragte ich, während ich die Flugbahn der Kreatur verfolgte, die sich zur Decke der Fabrikhalle bewegte.
„Der Geschenketransport“, erklärte Frella, „zumindest ein Teil davon. Er bringt die Fracht zu den artigen Kindern in die Menschenwelt.“
„Aber wie …“, begann ich, als sich an der Wand, nahe der Decke der Fabrik ein großer, weiß-roter, leuchtender Strudel öffnete, der mich von seiner Farbe und Struktur ein wenig an Zuckerstangen erinnerte und durch den das Rentier sofort verschwand. Interessant, dachte ich, ein weiteres Dimensionsportal. Ob ich in der dahinterliegenden Welt den Beschränkungen durch die Portalmaschine entgehen könnte? Andererseits wäre eine verseuchte Parallelwelt, aus der ich nicht würde entfliehen können, nicht gerade eine Verbesserung. Selbst wenn ich es schaffen würde, mich an das nächste Rentier zu hängen, das diese Reise antrat.
„Wir sollten sie abschießen!“, schlug Marina vor.
„Du hast lange genug hier gearbeitet, Marina“, antwortete Frella, „du weißt, dass Santas persönliche Rentiere unsterblich sind. Daran hat sich auch durch die neue Energiequelle nichts geändert.“
„Für die Anlage gilt das aber nicht“, entgegnete Marina, „wenn wir die Fließbänder zerstören …“
„… sterben wir alle sofort“, beendete Frella ihren Satz, „die Produktion muss weiterlaufen. Um jeden Preis.“
„Aber wir müssen doch etwas tun können“, wandte Marina frustriert ein.
„Das können wir auch“, antwortete Frella, „wir befreien Santa von diesem Dämon.“
„Und dann?“, fragte Marina, „sperrt ihr ihn wieder ein und fahrt mit dem Kindermorden fort oder nehmt ihr endlich Vernunft an.“
„Was danach ist, werden wir sehen, wenn es ein Danach gibt“, sagte Frella ausweichend.
„Hört ihr das?“, fragte Niro.
Ich lauschte mit den anderen in die Dunkelheit und tatsächlich hörte ich etwas: Schritte.
„Sie kommen!“, sagte Marina, „Sie nutzen es aus, dass wir in diesem Labyrinth kaum eine Fluchtmöglichkeit haben. Haltet euch bereit! Ich werde das Licht ausmachen müssen, um zu kämpfen, am besten stellen wir uns alle Rücken an Rücken, damit niemand versehentlich verletzt wird.“
Ich versuchte anhand der näher kommenden Schritte zu bestimmen, wie viele Gegner auf uns zukamen. Acht. Vielleicht auch zehn, vermutete ich. Keine unmögliche Herausforderung, aber auch nicht gerade ein Spaziergang.
„Wer ist da?“, erklang eine unbekannte Stimme.
„Lord Firn“, sagte Frella begeistert, „ihr seid es.“
„Frella! Schön, dass du noch lebst. Zu gerne würde ich dein Gesicht sehen, nur leider ist es hier drin ein wenig finster.“
„Niro. Entzünde auch du einen Lichtzauber“, verlangte Frella, „vielleicht hilft es unseren Freunden, zu uns zu gelangen.“
„Welche Freunde?“, knurrte Marina, „ich sehe hier nur Verbrecher.“
~o~
Lord Firn war ganz anders als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er war ein freundlich dreinblickender, gutaussehender, ungewöhnlich muskulöser Elf mit hellbraunen Locken. Er trug keinen Umhang, sondern nur eine pechschwarze Lederrüstung, in die feine, weiß-silberne Verzierungen eingearbeitet waren und führte eine schmuckvolle Axt, deren Blatt einem Schneekristall nachempfunden war. Er wirkte weder wie ein Kindermörder, noch wie ein rücksichtsloser Rebell oder Menschenhasser, sondern eher wie der Held eines Märchen. Lediglich eine gewisse Strenge und Autorität, die in seinen Augen lagen und ein trauriger Zug um seinen Mund, trübten dieses Bild. Mit ihm gekommen waren drei mit Eisschwertern gerüstete Elfinnen und vier mit Bögen bewaffnete Elfen von denen einige leichte Verletzungen erlitten zu haben schienen.
„Es sieht so aus, als wären wir das letzte Aufgebot unseres Volkes“, sagte Lord Firn mit sanfter Stimme, nachdem er Frella zur Begrüßung umarmt hatte.
„Spar dir deinen Pathos, Schlächter“, sagte Marina.
„Ja, ich bin ein Schlächter“, gab Firn zu, „und du hast einem Tyrannen gedient. Trotzdem haben wir einen gemeinsamen Feind, der noch viel schlimmer ist als wir alle.“
„Wag es nicht, uns auf eine Stufe zu stellen“, zischte Marina.
„Das will ich gar nicht“, sagte Firn eher traurig als streitlustig. Er wirkte wie ein zutiefst müder, desillusionierter Mann. Ein bisschen – und dieser Gedanke erschreckte mich – erinnerte er mich dadurch an mich selbst, „früher hätte ich das vielleicht getan, aber inzwischen nicht mehr. Ich habe viel nachgedacht, Marina. Wir haben versucht unser Volk aus einem untragbaren Zustand zu befreien, aber der Weg, den wir wählten, war definitiv der Falsche und mit allem, was wir taten, haben wir es nur noch schlimmer gemacht.“
„Dann gibst du deine Rebellion auf?“, fragte Marina vollkommen überrascht.
„Ja“, sagte Firn.
„Das kann unmöglich dein Ernst sein!“, zischte Frella, die anders als die Elfen in Firns Gefolge nicht in dessen Gedankengänge eingeweiht war.
„Doch, das ist es“, sagte Firn, „ich kann den Geruch von verbranntem Fleisch nicht länger ertragen, die Schreie der Kinder nicht mehr hören. Das alles muss enden. Sobald wir Santa befreit haben, müssen wir die Konsequenzen ziehen.“
„Verräter!“, sagte Frella wütend, „bin ich jetzt etwa die einzige, die noch auf der richtigen Seite steht?“
„Es gibt keine richtige Seite“, sagte Firn, „wir Elfen haben nur die Wahl zwischen verschiedenen Albträumen. Wahrscheinlich ist der, in dem keine unschuldigen Sterben, die bessere Wahl.“
„Wir Elfen sind auch unschuldig“, wandte Frella ein.
„Inzwischen nicht mehr“, sagte Firn, „und vielleicht waren wir es auch nie.“
„Vielleicht hast du auch nur dein Feuer verloren“, zischte Frella.
„Gut möglich“, sagte Firn schulterzuckend, „wie du weißt, beziehe ich meine Macht aus dem Eis. Doch für Alnuron wird mein Feuer immer noch reichen. Das hoffe ich zumindest.“
„Ich kann das nicht akzeptieren“, sagte Frella, „ich kann nicht einfach brav in diese Knochenmühle zurückkehren, in der ein Elfenleben einen Scheiß wert ist.“
„Jetzt sei nicht so pessimistisch“, sagte Niro, „Santa wird uns sicher für seine Rettung danken und er wird auch erkennen, dass er netter zu uns sein muss, wenn es nicht erneut zu einem Aufstand kommen soll. Dass er uns nicht so unter Druck setzen kann.“
„Willst du es nicht verstehen oder kannst du es nicht?“, fragte Frella, „es ist vollkommen irrelevant, ob wir uns unter einem wohlwollenden oder bösartigen Diktator kaputtmachen lassen. Es ist das System, das uns knechtet, Niro. Nicht Santas mieser Charakter. Am Ende muss eine bestimmte Produktionsmenge erbracht werden und für die müssen wir höchstpersönlich sorgen, wenn uns keine Magie dabei hilft. Jetzt, wo so viele von uns tot sind, wird es eher noch schlimmer werden. Nicht besser.“
„So ein Schwachsinn“, sagte Marina nur. Niro hingegen wusste darauf nichts zu erwidern.
Für einen Moment kehrte Stille ein.
„Was denkst du, Mensch?“, fragte mich Firn schließlich, „wie ich sehe, befindest du dich durch irgendeine Laune des Schicksals in unserer Mitte. Was würdest du an unserer Stelle tun?“
Beinah hätte ich laut losgelacht. Dass man mich als moralische Instanz konsultierte, hatte schon seinen ganz eigenen Humor.
„Ich denke, der einzige Ausweg aus eurem Dilemma wäre der Tod“, sagte ich finster.
„Was?!“, fragte Marina, „wer hat dir denn ins Hirn geschissen?“
Mit Marinas Reaktion hatte ich gerechnet, aber es war der ertappte Ausdruck in Firns Augen, der mich wirklich interessierte. Firn plante nicht wirklich aufzugeben. Jedenfalls nicht auf die friedliche Art. Das lag in der Natur von Extremisten. Ihre Missionen hatten zumeist etwas latent apokalyptisches an sich, das offen hervortrat, sobald sie sie als gescheitert ansahen. Sie konnten sich eher das Ende der Welt vorstellen, als eine Niederlage.
In Firns Fall kam noch hinzu, dass die Rückkehr zum Status Quo auch objektiv betrachtet keine gute Option war. Also plante er den Selbstzerstörungsmechanismus zu aktivieren und seinem gesamten Volk das Licht auszuknipsen. Die Frage war nur wie und wann, wobei ich vermutete, dass dies nicht vor dem Kampf mit Alnuron passieren sollte, denn solange der Dämon hier war und die Geschenkeproduktion kontrollierte, würden weitere Kinder sterben und das – so viel glaubte ich Firn – lag nicht in seinem Interesse.
„Tut mir leid“, sagte ich entschuldigend, „ich will ja keine schlechte Laune verbreiten und auch nicht vorschlagen, dass ihr euch umbringt, aber mir fällt einfach kein guter Ausweg ein. Wahrscheinlich bin ich einfach zu schlecht in solchen Dingen. Ich bin besser im Kämpfen als im Denken.“
„Dann sollten wir das tun“, sagte Firn, „alles andere wird sich ergeben.“
~o~
Wir passierten den Abschnitt mit den Fließbändern ohne weitere Zwischenfälle. Im nächsten Raum kamen wir vorbei an einem abgetrennten, mit einer stählernen Tür gesicherten Bereich von dem eine spürbare Wärmeabstrahlung ausging. Schreie drangen nicht daraus hervor, dennoch war mir relativ klar, worum es sich dabei handelte, spätestens als ich sah, dass besonders Niro und Marina einen großen Bogen darum machten.
„Wie gelangen die Kinder dort hinein“, fragte ich Firn, „und warum höre ich sie nicht?“
„Die Öfen sind zwar stets in Betrieb“, erklärte Firn, „aber die Kinder kommen nur dreimal am Tag an. Sie werden direkt in die Feuer hineinteleportiert. So war es jedenfalls bei uns. Wie es Alnuron handhabt, weiß ich allerdings nicht. Immerhin lässt er die Öfen aus reiner Bosheit weiterlaufen.“
„Praktisch“, sagte ich voll Sarkasmus, „dann musstet ihr euch nicht die Finger schmutzig machen.“ Das Wissen, dass sich hier drin organisierter Massenmord und Kindern abspielte, holte sofort das flehende, verständnislose Gesicht des kleinen Xadin zurück in mein Gedächtnis. Mir wurde übel.
„Diesen Spott haben wir wohl verdient“, sagte Firn.
„Ihr habt noch viel mehr verdient als Spott, ihr gewissenlosen Monster“, sagte Marina, „und ihr werdet eure Strafe erhalten.“
„Noch ein Wort und du erhältst einen Pfeil“, drohte Frella.
„Seid lieber leise“, sagte Niro, „Hinter diesem Tor lauert der Feind.“
Tatsächlich war der letzte Abschnitt der Fabrik von einem großen Rolltor versperrt.
„Kann es jemand von euch öffnen?“, fragte ich in die Runde.
„Ich könnte es“, sagte Frella frustriert, „aber ich wüsste nicht, warum.“
„Das ist kindisch, Frella“, sagte Firn.
„Nicht so kindisch wie der Glaube daran, dass du ein guter Anführer sein könntest“, giftete Frella.
Firn seufzte hörbar und gab dann den Sicherungscode für das Tor selbst ein. Langsam und rappelnd schob es sich nach oben.
Dahinter wartete erneut Dunkelheit und eine Kälte, wie sie im Rest der Fabrik nicht geherrscht hatte, aber niemand versuchte uns anzugreifen. Während wir die Lagerhalle betraten, leuchteten Marina und Niro mit ihren Zaubern in verschiedene Richtungen, aber außer Rollen von Geschenkpapier und Geschenkband, Zuckerstangen, Paketen mit Lebkuchen, Kanistern mit Schmieröl und diversem Werkzeugen war nichts Bemerkenswertes zu entdecken.
„Wo ist der Pisser?“, fragte Marina nervös.
„Er liebt es offenbar, mit uns zu spielen“, stellte Firn fest.
„Santa, du alter Elfenschinder. Zeig dich, verdammt nochmal!“, rief Firn. Dann erklang ein Knurren und der ehemalige Rebellenführer wurde von etwas tierhaften zu Boden gerissen, dass sich gierig in seine Seite verbiss. Krampus, dachte ich. Sofort stürzten sich Firns Schwertkämpfer auf die Bestie und hieben mit ihren Eisschwertern auf sie ein, wobei es jaulende Geräusche von sich gab, aber vorerst an ihrer Beute festhielt, die das Tierwesen nicht mit ihrer Axt erreichen konnte. Marina ließ nach kurzem Zögern ihr Licht erlöschen und schleuderte eine Feuerkugel auf das Biest. Der Geruch von verbranntem Haar erfüllte die Luft. Ich wollte mich ebenfalls an dem Kampf beteiligen, aber als ich meine Strahlenwaffe zum Einsatz bringen wollte, hörte ich einen scharfen Knall, spürte einen kurzen, reißenden Schmerz und merkte dann, wie mein Arm ruckartig weggerissen wurde und der schwarze Blitz ins Leere ging.
„Nicht artig“, krächzte eine schrille, geisterhafte Stimme, begleitet von einem humorlosen Lachen. Ich konnte Knecht Ruprecht in der schlechten Beleuchtung kaum sehen, aber seine Worte genügten mir. „Das geht dich einen feuchten Scheiß an“, sagte ich, wandte all meine Kraft auf, stemmte mich gegen den Druck der flexiblen, peitschenartigen Rute, die sich um meinen Waffenarm geschlungen hatte und schoss ein paar Blitze direkt dorthin, wo ich Ruprechts Bauch vermutete. Santas Diener keuchte auf, ließ meinen Arm los und stolperte ein paar Schritte zurück. Nach ein paar weiteren Schüssen verzog er sich wieder in die Dunkelheit. Ein Blick zu dem zwar blutenden, aber noch lebenden Firn, der – wenn auch nur dank der Hilfe seiner Anhänger – wieder aufrecht stand, zeigte mir, dass auch Krampus sich zurückgezogen hatte.
„Ho! Ho! Ho!“, hallte eine tiefe, väterliche Stimme durch den Raum, „es wird Zeit die Lichter anzuzünden. Das Fest naht.“
Kaum da Santa, der wieder auf dem geisterhaften Thron saß, von dem Frella berichtet hatte, das gesagt hatte, glühte zunächst selbst in einem grünlichen Licht auf. Nur einen Moment später glühten dreißig weitere grüne Lichtern in der gesamten Halle auf. Sie stammten von Elfen, die jedoch nicht länger Elfen aus Fleisch und Blut waren, sondern wandelnde Skulpturen aus Fahleis. Wahrscheinlich stellten sie das Endstadium der Verwandlung dar, die auch Norro durchgemacht hätte, wenn Linna ihn nicht vorher getötet hätte. Zwischen diesen Fahleiselfen bewegten sich weitere Elfenmutationen mit unförmigen Unterleibern, die mich an die „Fleischelfen“ aus der Rebellenhütte erinnerten. In ihren langen Klauen befanden sich bereits tropfende, glänzende Fleischstücke. „Vorsicht!“, rief ich, als einer davon direkt auf einen von Lord Firns Anhängern zuraste.
Leider schaffte es der Mann nicht, sich rechtzeitig wegzuducken und bekam direkt eine volle Ladung Fleisch in den Mund. Ich zögerte nicht lange und tötete ihn mit drei Schüssen, bevor die Verwandlung einsetzen konnte. So viel Gnade war noch in mir. Die restlichen Mitglieder unserer Gruppe stellten sich zum Glück geschickter an und schafften es den Armen zu entgehen, hackten sie mit ihren Eisschwertern in Stücke oder feuerten Eispfeile auf sie und die Fahleiselfen ab. Dennoch war absehbar, dass wir diese Schlacht verlieren würden. Die Gegner waren in der Überzahl und es war nur eine Frage der Zeit, bis Knecht Ruprecht oder Krampus wieder in den Kampf eingreifen würden. Von Santa ganz zu schweigen.
„Vater!“, sagte Marina voller Schmerz und enttäuschter Liebe, „was ist nur aus dir geworden?“
„Ich bin nicht euer Vater!“, sagte der Dämon böse, „Ich bin euer Besitzer. Ihr alle seid nichts als Werkzeug für mich und Werkzeug, das nicht funktioniert, ist wertlos!“
Tränen rannen über Marinas Gesicht, wie ich selbst in der schlechten Beleuchtung erkannte. „Lügner“, rief sie, „hör auf mit seinem Mund zu sprechen, du Ungeheuer!“
Dann schleuderte sie einen Strom aus scharfkantigen, zerbrochenen Christbaumkugeln auf ihren „Vater“, was jedoch nicht viel Schaden bei ihm anrichtete. Arnulon lachte und feuerte einen grünen Flammenstrahl auf unsere Gruppe ab, die Firn geistesgegenwärtig mit einem Schild aus Eis konterte.
Währenddessen kamen auch die Fahleiselfen immer näher. Wobei es vor allem Firns Schwertkämpfern zu verdanken war, dass sie halbwegs auf Distanz blieben, da sie mit ihren Waffen große, schleimige Eisstücke aus den zwar unbewaffneten, aber hartnäckigen Gegnern herausschlugen, die den Boden nach und nach immer glitschiger machten.
Ich dagegen versuchte vor allem die Fleischelfen auf Distanz zu halten, was mir ausgesprochen gut gelang, da mein Waffenarm feuerte wie ein Maschinengewehr. Zudem gelang es mir mehrere Male Ruprecht und Krampus zu verscheuchen, wann immer sie einen neuen Angriff wagten. Diese beeindruckende Macht, die mir der Kwang Grong gewährte, fühlte sich gut an. Aber dennoch glaubte ich nicht, dieses Tempo ewig durchhalten zu können.
„Frella“, rief Firn keuchend, während er den hieb eines scharfkantigen Eisarms gerade so abwehrte, „was ist? Benutze endlich den Zauber!“
„Warum sollte ich?“, fragte Frella wütend und verzweifelt zugleich, „es wird alles werden wie vorher. Die gleiche Hölle. Die gleiche abgefuckte Endlosschleife. Ich hasse diesen Leben, Firn! Ich hasse euch ALLE!“
„Ich verabscheue unser Schicksal auch“, sagte Firn, während er zu einem weiteren Schlag ausholte, „aber dieses Ding hier hasse ich noch mehr. Wir müssen es vernichten. Es ist unsere Schuld, dass es überhaupt hier ist. Wir haben diesen Kindern schon genug Leid zugefügt. Wir können nicht zulassen, dass es noch mehr wird.“
„Argh! Immer diese scheiß Blagen!“, schrie Frella frustriert, „ständig dreht sich alles nur um sie. Ich habe es so satt. Aber gut, von mir aus!“
Widerwillig holte Frella das Buch aus ihrem Rucksack, schlug die entsprechende Seite auf und begann den Gegenzauber zu rezitieren, während Niro ihr Licht spendete und der Rest von uns sein Bestes tat, um die anrückenden Feinde von ihr fernzuhalten.
„Anumen Krawa. Darun Echnor. Havinad Krawa. Darlendo Achbor. Dillmata …“
„Hallo, Ernter“, sagte plötzlich eine Stimme in meinem Kopf, deren Präsenz mich wie ein Hammerschlag traf.
„Du weißt, wer ich bin?“, fragte ich.
„Ein Diener. Ein Jäger. Ein Fortgeschrittener. Eine Bedrohung“, sagte Arnulon, denn ich war mir sicher, dass es sich um ihn handelte.
„Du hast Angst vor mir“, stellte ich fest, „nicht etwa vor Frella oder Firn?“
„Ohne dich hätte ich sie längst zerquetscht“, antwortete Arnulon. Es schmeichelte mir.
„Ich habe ein Angebot an dich“, fügte der Dämon hinzu.
„Ich höre?“, sagte ich.
„Wir wissen beide, warum du hier bist, Ernter“, behauptete Arnulon, „das Schicksal dieser Elfen und dieser ganzen Welt ist dir vollkommen gleichgültig. Du willst so viel Gesundheit erlangen wie nur möglich. Das allein ist dein Begehr und dabei kann ich dir helfen. Santas Diener – Krampus und Knecht Ruprecht – verfügen über eine Menge Lebensenergie. Wenn du mir hilfst, werde ich sie dir kampflos überlassen. Das wird deinen Herren beeindrucken.“
„Und was willst du dafür?“, fragte ich.
„Du musst lediglich verhindern, dass Frella diesen Zauber vollendet. Töte sie, störe ihre Konzentration, lass zu, dass einer meiner Diener sie vernichtet oder nehme sie mit zurück nach Hyronanin. Das liegt ganz bei dir“, erklärte Arnulon, „sind wir im Geschäft?“
„Klingt gut“, sagte ich lächelnd, „allerdings vergisst du, dass mir diese Elfen vielleicht egal sind, aber die Kinder nicht. Egal ob sie aus einer Parallelwelt stammen oder nicht. Außerdem kenne ich ein Wesen, das sicher noch mehr Gesundheit besitzt, als deine läppischen Diener. Dich!“
„Für diese Anmaßung werde ich dich vernichten“, drohte der Dämon wütend.
„Wenn du das könntest, hättest du es längst getan“, sagte ich und machte mich daran, meine Worte in die Tat umzusetzen. Dabei war mir klar, dass auch ich Frella zuvorkommen musste, wenn ich Santa UND den Dämon ernten wollte. Dem Kwang Grong schien meine Idee zu gefallen, denn er stattete mich dafür mit beinah so viel Macht aus, wie ich nach meiner vollständigen Vereinigung mit ihm besessen hatte. Mit einem unmenschlich hohen Sprung katapultierte ich mich über die Köpfe der angreifenden Fahleiswesen und Fleischelfen hinweg und direkt auf Santa zu. Santa versuchte noch, mich mit einem seiner Tentakel zu greifen, doch sowohl dieser, als auch die von Ruprecht geschwungene Peitsche gingen ins Leere und bevor mich die zuschnappenden Kiefer von Krampus erwischen konnten, rief ich die magischen Worte. „Xabit Drajit Gandrit!“
Ich will nicht behaupten, dass der nachfolgende Kampf in Hyronanin ein Kinderspiel gewesen wäre. Aber wir gewannen ihn und On-Grarins Gesicht, als ich mit Krampus, Ruprecht, einigen Fleischelfen und Fahleiswesen, Lord Firn, Frella, Marina, Niro und drei von Firns Fingern in der Portalhöhle auftauchte, war unbezahlbar. Ein schöneres Weihnachtsgeschenk hätte ich mir selbst nicht machen können. Anfangs fürchtete ich, es zu weit gerieben zu haben, aber nachdem wir die reiche Ernte eingefahren hatten, die vor allem der von Alnuron besessene Santa, aber auch Ruprecht und Krampus boten, war der Andrin einigermaßen versöhnt.
Ob ich den Elfen mit all dem einen Gefallen getan hatte, war hingegen fraglich. Immerhin jedoch, würden sie nie wieder Spielzeug herstellen müssen oder zu einer Gefahr für andere werden. Und auch von Santas Knechtschaft und ihrem Status als Diener waren sie nun endlich befreit. Denn in der Hölle des Verwahrers, waren alle gleich.
Wobei, eine Ausnahme gab es: Marina, die zuvor schon eine loyale Dienerin Santas gewesen war, entging dem Verwahrer, da sie einwilligte als Botin und Geleitschutz für die Gesundheitstransporte zu dienen. Ich mochte diese Elfe tatsächlich und so machte ich On-Grarin diesen Vorschlag und auch wenn sie mich lautstark einen Verräter und ein Monster schimpfte, ging sie am Ende auf mein Angebot ein. Auch On-Grarin gefiel dieser Gedanke. Denn wenn er eines noch mehr liebte, als andere Wesen zu quälen, war es, sie zu korrumpieren.
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