KreaturenLangeTod

Fünf Klänge des Todes – Fünf Erzählungen

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Prolog

Oh. Hallo, guter Freund, komm nur herein… Ja, ich weiß… tut mir leid. Es ist etwas eng in meinem Baumhaus. Doch wenigstens haben wir hier drin eine Beleuchtung. Und – Achtung hinter dir -: wie du sehen kannst, spenden die Infrarotlampen dort hinten sogar Wärme. Nicht so schüchtern… Setz dich nur. Ich mache dir einen Tee. Heute ist wahrlich eine wunderbare Herbstnacht. Ach ja, habe mich noch gar nicht vorgestellt: Ich bin der Gruselkauz. Der, der abgeschieden im Wald lebt und immer Gruselgeschichten zu erzählen hat. Das weißt du bereits? Du hast mich aufgesucht, um dich von meiner Existenz zu überzeugen? Nun denn… hier bin ich! Dass ich nur sehr schwer zu finden bin, hier im Wäldchen ist beabsichtigterweise. Möchte nichts mit diesen idiotischen Städtern zu tun haben… Doch dass du meinen Wohnsitz trotz der Dunkelheit gefunden hast, ist wahrlich beeindruckend!

Und jetzt lass mich dir etwas über Geräusche erzählen. Ja, du hörst richtig… Geräusche. Geräusche gibt es, seit wir uns des Hörens bewusst sind. Es gibt sie in allen möglichen Variationen, zu jedem Ort, jeder Zeit; vom Schnarchen bei Nacht bis hin zu Kindergeschrei auf dem Rummelplatz, vom Rabenkrähen bis zu nächtlichem Gelächter aus irgendwelchen Gassen; die Liste wäre endlos.

Im Gegensatz zum Sehen ist das Hören immer allgegenwärtig, selbst wenn du schläfst, ist es meist ein Geräusch, das dich bei Nacht aus dem Schlaf zerrt, (spätestens das Weckerklingeln am Morgen) und seien wir mal ehrlich, das wahre Grauen fängt nicht erst an, sobald das Monster vor dir steht und dich bereits aufgeschlitzt oder gefressen hat (dann bist du erlöst und die Qual endet hier) es entfaltet sich dann, – wenn sich dir unbekannte Fußschritte nähern, du ein Klopfen oder ein Kratzen bei Nacht vernimmst, das Rütteln an der verriegelten Türklinke oder das wahnsinnige Schreien im Wald. Geräusche sind die heimlichen und wahren Überbringer des sich verkündenden Schreckens.

Ich sehe, du verstehst langsam, worauf ich hinaus will. Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich dir nun noch erklären, dass dies soweit in der Zeit zurückreicht, als der Mensch noch in seiner Affenform von den Bäumen sprang und um zu überleben, penibel auf jedes Rascheln im Gras der Savanne achten musste. Doch hierbei wollen wir es nun belassen… Lehne dich zurück und lausche den Erzählungen des alten Kauzes.

Die dunkle Gasse

Das Jahr 1890. London. Wie jede Nacht schlug der Glockenturm, wenn die Stadt zur Ruhe kam oder anderen Ortes womöglich erst erwachte, wobei sich dessen finstre Fratze so langsam und unscheinbar zu erkennen gab wie eine unter der London Bridge vorbeiziehende Wasserleiche zur Mitternachtsstund‘, die blass den Mond beäugte.

Die gähnend dunkle Gasse, die vereinzelnd hindurch flatternde Taube, das leise Rauschen aus Kanalschächten, entferntes Gelächter und zerspringende Glasflaschen – dies waren die Bestandteile der dunkel gegenwärtigen Kulisse, in der sich der Hut tragende Wanderer bewegte. Solch abgelegenen Gassen wurden zu dieser Uhrzeit von den meisten zur Gänze gemieden. Doch heute war er schon recht spät auf dem Heimweg, deshalb neigte er zum Abkürzen. Vielleicht hatte der Wanderer ein verspätetes geschäftliches Treffen hinter sich? Vielleicht war es auch nur ein Nachtspaziergang? Oder womöglich war er auch von einer weltlichen Reise wiedergekehrt? Was ihn auch immer dazu verleitete, jene unheilvolle, jahrhundertealte und verdreckte Gasse zu passieren, war nur ihm selbst gewiss.

»Tapp, Tapp, Tapp, Tapp, Tapp…«

Er begann zu frieren, zog deshalb den Kragen etwas an. Auch rückte er den Hut noch einmal zurecht. Sein schwarzer Umhang wehte im Lauf eindrucksvoll im Wind. Seine weiteren Begleiter waren seine eigene Stiefelschritte, die durch den Widerhall des Backsteins in den Mauerbauten nur allzu klar und deutlich ertönten, während die abgewinkelten Seitengassen so weit im Schatten lungerten, dass man die eigene Hand in der Schwärze nicht wiedererkennen konnte und die einzige Lichtreflexion dem feuchten Pflasterstein oblag, wenn auch nur recht schwach.

»Tapp, Tapp, Tapp, Tapp Tapp, Tapp Tapp.«

Zuerst nicht sicher, ob nur Einbildung, klangen die Laufschritte seit den letzten Metern ein wenig anders. Sie klangen so, als ob sich nach jedem dritten Auftreten seiner Stiefel zwei weitere Schritte dazugesellten und die nicht nur etwas überstürzter, torkelnder erfolgten (es war nur minimale Zeitdifferenz, kaum vernehmbar), sondern genau dann auftraten, wenn der Wanderer bereits zum nächsten Schritt ansetzte. Unter der Mutmaßung: Ein Verfolger sei ihm auf der Schliche, drehte er sich geschwind um. Erblicken konnte er nichts. Die trügerische Einbildung akzeptierend lief er weiter.

»Tapp, Tapp, Tapp, Tapp Tapp, Tapp Tapp.«

Sonderlich weit vorangekommen war er nicht, ehe er wieder jenes Tappen vernahm, das nicht von den eigenen Bewegungen herrührte – nicht herrühren konnte -, stets vor jedem dritten Male, bei dem die klackenden Schuhsohlen in Kontakt mit dem Pflasterstein traten. Zwar wunderte er sich doch sehr, prüfte zwischenzeitlich sogar seine Stiefel; ob diese etwas mitschleiften, doch blieb jeglicher Hinweis einer infrage kommenden Ursache weiterhin aus. Auch wenn in seinem Nacken nun der Dämon saß, der sich Argwohn nannte, blieb ihm nur das Weiterlaufen.

»Tapp, Tapp, Tapp, Tapp Tapp, Tapp Tapp.«

Drei Schritte… Drei Schritte. Dann zwei schnelle Schritte. Plötzlich und überraschend wirbelte der Wandernde herum, um den möglichen Schurken hinter ihm gekonnt zu überraschen, dabei wehte dessen Umhang in die Höh und glitt durch ein Luftpolster langsam wieder hinab, als fiele der Vorhang eines grotesken Theaters. Hinter ihm war jedoch nichts, – zu dieser Einsicht musste er nun gelangen. Endgültig. Er war doch kein Narr!

»Tapp, Tapp, Tapp, Tapp Tapp, Tapp Tapp.«

Dem Wanderer fiel etwas auf, das ihn blass werden ließ, und er schluckte schwer… Seine Aufmerksamkeit folgte nun der etwa acht Fuß hohen Mauer neben sich, die er völlig außer Acht ließ… Was ihn die ganze Zeit über verfolgte, lauerte in Jagdposition auf der Mauer. Und was ihn gerade auch immer so anstarrte… er wusste genau: Es war etwas Böses. Zwei Hufen. Zwei dürre Beine mit hundeähnlichen Sprunggelenken. Lange Krallenhände. Ein sehniger und mit Adern durchsetzter Hals. Ein gehörnter Knochenschädel mit giftgrünen Pupillen.

Der Wanderer schrie einen Todesschrei durch die dunklen Gemäuer so entsetzlich: dass jedweder Trunkenbold sofort das Kinn hob, jedwede Hurerei augenblicklich verstummte und sich die Toten in ihren Gräbern wälzten.

Jock

Der leicht bittere Geschmack im Mund wandelte sich sofort zu fruchtiger Süße, nachdem Horst erst vom schwarzen Kaffee geschlürft hatte, sich dann das Croissant mit Marmelade gefüllt zu Gaumen führte. Wenn ihn dann auch noch die warmen Sonnenstrahlen an der Nase kitzelten, er seine Zeitung vor sich liegen hatte, – war alles gut. Wenn der Morgen angenehm verlief; musste dies ebenso für den restlichen Tag gelten, so Horsts Einstellung. Alles wäre wunderbar.

Wäre da nicht… »Wiuh wiuh wiuh wiuh! Drull drull drull!«; genau das.

Horsts Augenbrauen zogen sich zusammen, und er begann zu fluchen, als er die heiße Tasse versehentlich über den Tisch stieß und der heiße Kaffee über die Tischkante auf den Boden tropfte. »Moritz…«, entwich es ihm mit einem Seufzen, während er zeitgleich nach Handtüchern griff, um der Sauerei Herr zu werden.

Um ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen: Auf dem Jahrmarkt gestern hatten sie ihrem fünfjährigen Sohn ein kleines Feuerwehrauto gekauft, das Geräusche machen kann. Er hatte es unbedingt haben wollen. Leider hatte sich das kleine Feuerwehrauto mit dessen Geräuschpegel als nerviger herausgestellt als gedacht; eine Erfahrung, die wohl alle Eltern irgendwann mal machten.

Die Stufen knarzten unter seinen Füßen. Dann erblickte Horst den kleinen Mann in seiner Latzhose mit Entensymbol, wie er grinsend und geradeaus herein blickend vor seinem Kinderzimmer stand, woraus abermals die kantigen Sirenen des Autos dudelten.

»Was ist so lustig, Moritz?«, fragte Horst väterlich.

»Er ist eingestiegen! Er fährt im Kreis herum!«, folgte die begeisterte Antwort des Sohnemanns.

Herrje. Wenn die kindliche Fantasie mal wieder drunter und drüber ging, dachte sich der Vater, der einfach mal darauf einging und mitspielte. Doch als dieser beim kleinen Moritz ankam, nun beide vorm Türrahmen aus ins Kinderzimmer blickten, verwandelte sich sein väterliches Lächeln kurzerhand in Verwirrung.

»Sein Name ist Jock!«, verriet ihm Moritz mit riesigen Augen und rosigen Bäckchen.

»Wiuh wiuh wiuh wiuh! Drull drull drull!«

Zeigefinger und Daumen bildeten eine Kuhle, in der der Vater sein Kinn ablegte, dabei schaute er so skeptisch drein, als ob er über den nächsten Einkaufszettel nachdachte, – denn er konnte es nicht glauben, wie das Spielzeugauto von ganz allein seine Bahnen zog. Horst schritt verdutzt auf das Auto zu, und als er es auf einen versteckten Mechanismus überprüfen und fangen wollte, entglitt es ihm immer wieder zwischen den Fingern wie in einem albernen Cartoon. Als dann auch noch ein plötzliches, frohlockendes »Nit möööööglich!« aus dem kleinen Feuerwehrauto ertönte, begann sein Herz an die Brust zu hämmern, was ihn erschrocken zurückweichen ließ. Irgendwann blieb das Feuerwehrauto stehen, es kicherte kauzig dabei, und das Kinderzimmer verkam akustisch zum Jahrmarkt. Kinderlachen, Knallerbsen, Drehorgeln entrannen jeder Ecke des Raumes.

Vater und Sohn wurden zunehmendes zu verstörten Zeugen, wie eine der Miniaturautotüren aufsprang und sich eine etwa 70 Zentimeter lange Klarinette herausschob (allen physikalischen Gesetzen zum trotze). Rasch wurde mit schiefen Tönen darauf geblasen, ehe die Klarinette gelangweilt und klirrend zu Boden fiel, seitlich davonrollend.

Die Begeisterung des Sohnes verflog allmählich. Er begann sich nun ängstlich an Horsts Bein zu schmiegen, als ob er wüsste, dass gleich etwas furchtbares passieren würde. Und als der weiße Handschuh sich wie ein Wiesel windend aus dem Auto befreite, dreimal so groß wie das Spielzeugauto selbst und nur dessen Fingerspitzen mit roten Kringeln umrundet waren, fing der kleine Moritz zu weinen an. Auch der Vater war indessen in Ketten gelegt; genannt Schockstarre. Die Hand schoss dem Sohn entgegen. Sie packte ihm am Hosenträger. Ihn zielsicher an sich ziehend. Sie hatte ihn schneller gepackt, als es der entsetzte und überforderte Verstand des Vaters realisieren konnte. Ein surreal langer Arm war mit im Schlepptau im Ärmel eines Clownskostüm, – doch Horst reagierte zu spät, um den schreienden, zappelnden und um sich schlagenden Moritz nochmal befreien zu können. Moritz wurde ohne Umwege in das Spielzeugauto gezerrt, was bildlich nur mit „ausgepresstem Tomatenmark“ beschrieben werden konnte, währenddessen ein Lied über knirschende Knochen und zerquetschte Organe zu spielen begann… Ein letztes Lachen folgte aus dem Inneren des Miniaturautos.

Das Finale dieser grotesken Show fand seinen Abschluss mit Blutfontänen, die mit Hochdruck aus den Wasserspritzen des Feuerwehrautos empor schossen, dabei das Zimmer (einschließlich Horsts regungsloses Gesicht) gänzlich rot besprenkelten.

Zurück blieb ein ins Leere starrender Vater mit kreisrundem Urinfleck in der Jeans, und dem das Blut des eigenen Sohnes aus den Haaren tropfte.

Der Bibliotheksschläfer

Jeffrey hielt sich gerne in der Schulbibliothek auf. Zum einen bot sie ihm Rückzugsraum, zum anderen konnte sie selbst den größten Schreihals zum Schweigen bringen, was diesem Ort fast schon eine magische Kraft verliehen hatte. Demgegenüber waren selbst alle Schreihälse der Welt machtlos. Je längere Zeit man in diesem Tempel des Wissens und Literatur verbrachte, umso schärfer wurden die Sinne; speziell der des Hörens. Dieser konnte zuzeiten scharf wie die Messerschneide eines Katanas werden, wenn nicht sogar noch schärfer. Geräusche, die im Alltag völlig trivial erschienen wie Husten, Aufstoßen oder Niesen, Magenknurren, Räuspern, schleifende Schritte oder das Klappern der Schultaschen beim ein- und aus gehen, das Herumblättern von Seiten, das Herausziehen von Büchern, ja selbst Atemzüge erschienen dafür zuzeiten laut wie eine Straßenparade. Deshalb war Jeffrey heilfroh, dass der einzige Besucher meistens nur er war. So konnte er sich nun vollständig um Romulus und Remus und der mythologischen Gründung Roms widmen, die sie gerade in Geschichte durchkauten.

Als er eben das Geschichtsbuch aufklappte, um einen Abschnitt zu lesen, bemerkte er es wieder… Das erste Mal, als er es hörte, war am Montag, da hatte er gerade als Letzterer seinen Platz aufgeräumt, da nahm er es nur schulterzuckend zur Kenntnis. Das zweite Mal hörte er es am Dienstag, da war er gerade auf der Suche nach irgendeinem Buch. Zum dritten Mal erfolgte am Mittwoch ab, da gedieh es zu einer größeren Präsenz, da Jeffrey sich bewusst geworden war, dass es sich nicht bloß um Einbildung handelte. Auch wenn er es am Donnerstag einfach durchweg ignoriert hatte, hinterließ das Geräusch bei ihm ein verdutztes Gefühl und ein gewisses Maß an Unbehagen. Es handelte sich um Schlafgeräusche. Permanentes, kaum zu hörendes Ein- und Ausatmen – irgendwo im Hintergrund aus den Regalreihen. Er erhob sich vom Tisch und begab sich nun entschlossen auf die Sache nach dem Ursprung des Geräuschs. Die Neugier hatte ihn übermannt.

Nach Osten wie auch Westen standen jeweils sechs Regalreihen, die umso dunkler wurden, je weiter sie sich nach hinten erstreckten, während der Boden einen ungesunden Grünstich an die grauen Wände warf. Das zentrale Licht wurde von zwei längliche Kästen zur Decke geworfen, die an eingerahmte Särge erinnerten. Er schaute abwechselnd nach links, dann wieder nach rechts, als er den geradlinigen Bibliotheksflur entlang ging und jeden einzelnen der sechs ihn umgebenen Bücherkorridore auf das Schlafatmen überprüfte, in die er mit ernsten Augäpfeln hineinschielte. Außer Bücherreihen, von denen manche Bücher akkurat zusammenstanden, andere diagonal seitlich abwichen, wieder andere gänzlich in den Schatten lungerten, hatte er keinen weiteren mutmaßlichen Bibliotheksbesucher entdecken können, der ein Nickerchen hielt. Jeffrey fühlte sich zunehmend seltsam und Verwirrung, und auch Argwohn stieg in ihm auf. Er konnte eindeutige Schlafgeräusche vernehmen, doch wusste er einfach nicht, von wo sie kamen? Spielte man ihm einen albernen Streich? Hatte sich womöglich ein Waschbär hierher verirrt, der sich irgendwo in den Wänden verkroch? Oder sonst irgendein Tier? Er war inzwischen die ganze Bibliothek abgelaufen, doppelt und dreifach. Schließlich blieb er nachdenklich vor dem Spiegel stehen.

Dann begann er etwas zu tun, dass er sich normalerweise in der Bibliothek niemals anmaßen würde -: »HALLO? IST DA WER?«, rief Jeffrey durch die Regale.

»HALLO?«, er rief nochmal. Und nochmal.

Mit ausbleibender Reaktion und zurück in den Spiegel blickend, schob er seine Brille etwas zurecht. Vor der Ausgangstür hing immer ein Schild mit der Aufschrift: »Schhhhh…! Leise sein!« Jeffrey war sein Verstoß klar, doch da er die Bibliothek eh immer für sich hatte, machte er eine einmalige Ausnahme.

»DIE SCHULBIBLIOTHEK IST KEIN ORT FÜR EIN SCHLÄFCHEN.«, rief er bis nach hinten und betrachtete sich im Spiegel.

Das Schlafgeräusch stoppte abrupt. Es wechselte zu diesem typischen Grunzen, das manche von sich geben, wenn sie gerade vom Schlaf erwachen. Was folgte, war ein Geräusch, das so klang, als ob sich irgendwo Klamotten regen würden.

Jeffreys Blick veränderte sich schlagartig ins Besorgniserregende, als er es zuerst nur in einer Ecke des Spiegels bemerkte und sich langsam herumdrehend Zeuge für jenes Szenario wurde, das sich auf einmal zwischen den Regalen hinter ihm zutrug. Zuerst kam das linke Bein hervor… gefolgt von der rechten Hand… dann der Kopf… und letztlich kam der ganze Rest der Gestalt aus dem Fach des Bücherregals herausgeklettert, so wie der Körperkünstler aus einer verdammten Freakshow…

Sein Gehirn wiederholte und wiederholte das Geschehen. Jeffreys tränende Augen quollen fast bis zu den Brillengläsern hervor, bis er es endlich realisierte: Aus dem Bücherregal kam gerade eine Pantomime gestiegen.

Sie trug eine klassische Melone mit hin und her wippendem Drahtblümchen, die weißen Handschuhe von einer Trickfilmfigur und ein gestreiftes Hemd, dazu Schlapphose in Schwarz mit Hosenträgern. Sie hatte diesen typisch sterilen Ausdruck, ohne zu blinzeln, und sie hatte schwarze Kringel an den Wangen.

Die weißgeschminkte Pantomime begann mit ihrer Show. Dazu tastete sie einer imaginären Wand entlang, passierte eine imaginäre Tür, die sie zuvor mit einem imaginären Schlüssel geöffnet hatte, und zog sich an einem imaginären Strick Stück für Stück zu Jeffrey heran; solange, bis sie direkt vor ihm stand, süffisant lächelnd. Auch Jeffrey befand sich nun in einer Imagination, genauer gesagt vor der Weggabelung Pfad Furcht und Gasse Handlungsunfähigkeit. Wobei es ohnehin keinen Sinn mehr machte, das Unechte vom Echten zu unterscheiden, denn um den am Boden zuckenden Jeffrey war es bereits geschehen.

Weshalb es bereits um ihn geschehen war, konnte recht einfach erklärt werden: Das Teppichmesser, welches im Hals des Jungen in alle Richtungen baumelte, war nicht-imaginär sowie das warme Blut, das nun den Boden labte. Nicht-imaginär war auch die Schere der Pantomime, die ihm damit – Schnipp Schnapp! – um dessen Zunge erleichterte.

Die Pantomime deutete ihren Zeigefinger an die Lippen zur abschließenden Gestik, die geräuschlos besagte: »In der Bibliothek wird weder geredet noch gerufen… Weiß doch jedes Kind!«

Herr Löhrichs Fliegensummen

Herr Löhrich schnitt seine Steaks immer komplett, niemals schnitt er sie Stückchenweise und gefolgt auf Biss für Biss, bevor er sie verzerrte. Einmal vertikal und einmal längs. Heute hatte der vierundsiebzigjährige Rentner sein Leibgericht vor sich stehen: Zwiebelrostbraten mit Ackersalat.

Während er beim Verzerr aus dem Fenster blickte, das schöne Wetter studierte, umkreisten ihn bereits zwei kleine dunkle Punkte. Diese Jahreszeit, im Volksmund auch goldener Herbst genannt, war besonders von lästigen Fliegen heimgesucht; besonders wenn man auf dem südlichen Land lebte.

Fliegen. Wer kennt sie nicht? Manche dieser Plagegeister sind kleiner, flinker als andere. Manche Brummer sind so fett, dass es schon erstaunlich ist, dass sie sich überhaupt in die Luft befördern können, wenn auch mehr besoffen als nüchtern. Andere Fliegen scheinen eine Sondereinheit für Scheiße darzustellen, die haben immer so ein Schimmern. Wieder andere scheinen der Inbegriff von Beharrlichkeit zu sein, da sie – egal wie oft man sie wegschlägt – immer und immer wieder auf derselben Hautoberfläche landen, meistens auf den empfindlicheren Stellen; in solchen Fällen könnte man meinen, hinter deren Fassettenaugen stecke der Teufel.

Und so focht Herr Löhrich auch heute zwei Stubenfliegen mit dem Besteckmesser entgegen (allerdings viel zu langsam, als dass der Rentner eine Chance gegen sie hätte), das sich im Griff seiner zittrigen Hand befand. Die Schwirrschmarotzer wollten ihm gerade das Steak streitig machen… Fliege Eins peilte mehrfach Herr Löhrichs Gesicht an, während Fliege Zwei auf den Fleischwürfeln krabbelte, wobei ihr gieriger Rüssel jegliche Richtungen abtastete. Schlimm, diese Plagegeister, dachte er sich. Doch was sollte er schon tun?

Es folgte der nächste Tag. Wie immer schnitt Herr Löhrich sein Steak einmal vertikal und einmal längs, so wie er wohl sein Umfeld inzwischen wahrnehmen musste, aufgrund alternder Augen, und er wurde das Gefühl nicht los, etwas Wichtiges vergessen zu haben… Seit mehreren Tagen ging es ihm schon so. Da es ihm partout nicht einfallen wollte, kümmerte er sich stattdessen um den Abwasch, wobei ihm die angestiegene Zahl Fliegen in der Küche auffiel. Er zählte die nervigen Brummer: Es waren vierzehn Stück. Die Zwei von gestern hatten sich also jetzt versiebenfacht. Herr Löhrich hoffte auf den frühen Winter -, dann würden die Fliegen eingehen, und er hätte endlich seine Ruhe.

Es war nun der dritte Tag. Herr Löhrich merkte, wie er bereits im Treppenflur von mehreren Augenpaaren beobachtet wurde. Er ahnte nichts Gutes… was sich bestätigte, als er das Erdgeschoss erreichte und das Summen zu hören bekam: Die Fliegenanzahl musste auf die hunderte angewachsen sein. Überall schwirrten schnelle schwarze Punkte. Sie krabbelten an der Tapete, an Regalen, an der Deckenleuchte, an den Gardinen, am Kühlschrank, auf dem Tisch. Überall summte es. Er musste etwas dagegen unternehmen. Den Kammerjäger jedoch konnte er nicht rufen, da ihm am Hörer keiner verstand, deshalb musste er selbst mit dem Problem fertig werden. Allerdings sollte es sogar noch schlimmer kommen.

Am vierten Tag dachte Herr Löhrich bereits beim Erwachen, dass ein Bienenschwarm ins Haus eingedrungen war. Als er sich auf den Weg ins Wohnzimmer begab, hatte er bereits vom Weiten einer regelrechten Membran-Kakophonie lauschen können. Wenn sie ans Fenster flogen, prasselte es fast schon wie beim Regen. Im Wohnzimmer angekommen, erblickte er die nun abertausenden Fliegen darin. Unzählige schwarze Punkte schwirrten überall umher, und da fiel es ihm auch schlagartig wieder ein: Seine Gemahlin, Frau Löhrich, sie saß nach wie vor im Couchsessel!

Inzwischen war sie übersät mit Fliegen. Ihr Kopf lehnte leblos nach hinten, ihre Augen waren glasig, ihr Mund war schräg und verzerrt und stand weit offen; darin lungerte ein dunkler Klumpen aus unzähligen weiteren wuselnden Fliegen, von dem vereinzelte Exemplare ein und ausflogen. Mit achtundsiebzig Jahren hörte ihr Herz einfach auf zu schlagen. Es passierte vor wenigen Tagen. Vor drei Tagen, um genau zu sein. Dass er sie doch noch bestatten musste, war, worauf er die ganze Zeit nicht kam und noch dringend erledigt werden musste! Herr Löhrich war leider schon etwas senil geworden.

Seine großen, stummen Augen schauten ein letztes Mal in die ihren. Was seien das nur für kostbare Jahre gewesen, dachte er sich. Über fünfzig Jahre lang führten sie ein glückliches Leben und das, obwohl sie weder Kinder zeugen noch Worte wechseln konnten. So toll ihre Jahre auch gewesen sein mögen, hier endete es. Wenn er dazu imstande wäre, hätte er sofort den Tränen nachgegeben. Doch es blieb ihm verwehrt. Auch wenn noch etwas Erwartungsvolles in seinem Blick gelegen hatte -, sie schielte nur noch leblos zur Seite, und bevor der Abschied von seiner Gemahlin für immer anstehen würde, bevor er sie im Garten vergraben würde, musste er all seine Kraft zusammennehmen, um nicht dem steten Drang nachzugeben; seine Lippen an ihrem verwesenden Körper zu laben. Dies führte bei ihm schon immer zu gewissen Problemen, insbesondere wenn er was verrottetes vor sich hatte.

Sich die Menschenhautmaske bis über die hervorstehenden Augen zu stülpen, war für ihn ebenso immer ein schwieriges Unterfangen, genauso den trichterförmigen Rüssel unter dem Schal zu verbergen. Doch letztlich griff Herr Löhrich zum Spaten und schritt zur Haustür hinaus.

Im Hausflur schaute ihm das private Hochzeitsfoto hinterher. Ein Schwarzweißbild mit ovalen Buchenrahmen. Darauf zu sehen: ein zur Kamera schauender Anzugträger mit zwei großen Fassettenaugen. Ihm gegenüber, eine junge Braut mit Schleier und Blumenstrauß.

Fotoknipsen

Es war mein zehnjähriger Geburtstag, an dem ich den Fotoapparat geschenkt bekommen hatte. Freudenstrahlen, Saus und Braus, Kinderlachen, alles mit auf der Fete. Das übliche eben. Eines Tages jedoch, es war an einem düsteren Herbsttag, stellte ich den Defekt fest (oder eher Halbdefekt). Er war irgendwann einfach da. Innerlich aufgewühlt, doch gleich wieder beruhigt, da nur jedes siebte Foto diesen kleinen dunklen Fleck im Bild aufwies, tat ich es als verschmerzbar und weiterhin nicht störend ab. So vergingen ein paar Monate.

Irgendwann stand eine längere Autofahrt an, wobei ich die Kamera natürlich wie immer mit dabei hatte.

Ich saß nun im Auto. Rückbank. Es ging zu Opa Jakob. Irgendwas regeln. Erwachsenenkram.

Ich hatte schon drei vorbeiziehende Straßenpfeiler fotografiert. Das Geräusch der fahrenden Reifen mochte ich übrigens nie, es wurde immer so laut, wenn das Radio erblasste.

Nun waren es vier Fotos. Das Rauschen trat immer mehr in den Hintergrund.

Ich knipste das fünfte Foto. Inzwischen hörte ich es kaum noch.

Das sechste Foto. Man könnte sagen: Umso leiser das Rauschen, umso lauter das Knips-Geräusch, sobald ich den Auslöser betätigte, auch bereitete ich mich auf jenes siebte Foto vor, bei dem der schwarze Fleck erscheinen würde und das Knips-Geräusch mehr nach einer rostigen Feder klang.

Das siebte Foto und ich erschauderte und fuhr erschrocken zusammen, als ich Oma Gertrude genau dort am Straßenrand stehen sah, wo normalerweise der dunkle Fleck immer sein sollte… Ihr fehlte der Unterkiefer, und sie deutete mit dem Zeigefinger geradeaus, als würde sie uns den Weg weisen. Wir würden Opa Jakob heute deswegen treffen, um Papiere auszufüllen und um über Oma Gertrudes Beerdigung zu sprechen, meinten meine Eltern.

Ich Idiot begriff es leider zu spät. Oma Gertrude deutete uns nicht den Weg, sie deutete auf den heran rauschenden LKW vor uns.

Epilog

So. Mehr gibt’s für dich heute nicht mehr. Das waren fünf Geschichten, die ich mir für dich ausgedacht habe. Ich hoffe, du hattest deinen Spaß, dem alten Gruselkauz zu lauschen. Da ich mir extra für dich die Mühe gemacht habe, mir diese Geschichten aus dem Hut zu zaubern, verlange ich eine rechtmäßige Vergütung: Deine Seele!

Nein. Entspann dich. Nur ein kleiner Scherz am Rande… Doch nun hinfort mit dir! Schere dich weg und gönne dem alten Greis seine wohlverdiente Ruh. Es ist auch schon reichlich spät. Deine Eltern sind sicherlich bereits in Sorge. Gib acht, wenn du auf dem Heimweg den dunklen Wald durchquerst.

Ach ja, und achte immer auf die Geräusche in deiner Umgebung…

Bewertung: 0 / 5. Anzahl Bewertungen: 0

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Überprüfen Sie auch
Schließen
Schaltfläche "Zurück zum Anfang"