Haus eines Künstlers (Kapitel 1 überarbeitet)
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Unsere Geschichte beginnt in einer kalten Februarnacht 1987 in Madison, Wisconsin.
Die Dunkelheit atmete sanft zwischen den kahlen Bäumen welche zu meiner Linken, sowie zu meiner Rechten, wie dürre Arme in den sternklaren Nachthimmel ragten und sich durch ihre blattlosen Kronen, hoch über meinem Kopf zu schemenhaften Netzen verbanden, durch welche das Mondlicht dünne Schatten auf den Schotter-bedeckten Waldweg warf, über den ich ging. Der Wind strich sanft durch das Geäst und irgendwo im Schatten der tiefen Finsternis hörte ich den klagenden Ruf einer Eule. Für manche mochte dieses Szenario unheimlich erscheinen, doch ich liebte die Nacht. Ich liebte es, bei Nacht durch den Wald zu wandern. Ich liebte die Stille, die mich umgab, nur unterbrochen von dem Geräusch meiner eigenen Schritte und den Schreien der Eule, welche mich auf meinem Weg begleiteten.
Die Stille beruhigte mich. Sie ordnete meine Gedanken und half mir einen Ausgleich zu der Reizüberflutung zu schaffen, welche mir im Alltag immer und immer wieder die Nerven raubte.
Für die, die mich nicht kennen: Mein Name ist Elijah Davis. Ich musste zu der Zeit in der unsere Geschichte beginnt ungefähr 21 gewesen sein und wohnte in Madison, einer mittelgroßen Stadt, im Staat Wisconsin USA und ich leide an einer psychischen Krankheit.
Nun ja…eine richtige Krankheit habe ich eigentlich nicht.
Genau genommen leide ich an den Nachwirkungen eines Traumatischen Erlebnisses, welches sich in meinem 15. Lebensjahr zugetragen hatte. damals starben meine Eltern und vier weitere Verkehrsteilnehmer bei einem schrecklichen Autounfall auf der State Street nördlich von Black Earth, bei dem keiner, außer mir allein überlebte. Bis auf einige Schürfwunden, ein Paar blaue Flecken und eine Brandverletzung, war ich, seltsamer Weise, vollkommen unversehrt geblieben. Doch die traumatischen Erlebnisse hinterließen Narben, die so tief waren, dass sie selbst heute noch zu bluten beginnen.
Nach dem Unfall hatte ich ständig Panikattacken, Albträume, lang anhaltende Depressionen und immer wieder Mangelerscheinungen, weil ich teilweise tagelang nichts aß, und wenn, kam es mir meist innerhalb weniger Minuten wieder hoch. Ich wuchs die letzten Jahre bis zu meiner Volljährigkeit im Jugendheim und später in einer Psychiatrie auf. Dies waren mit Abstand die schlimmsten Jahre meines Lebens, weshalb ich jegliche Details, hier nicht weiter ausführen möchte. Mit 18 hatte ich mich wieder einigermaßen gefangen und konnte sogar ein Studium in Literatur an der University of Wisconsin- Madison antreten. Ich verließ die psychiatrische Einrichtung ein Jahr später und mietete mir mit dem Erbe, dass mir meine Eltern unfreiwillig hinterlassen hatten eine Wohnung, in unmittelbarer Nähe zur Universität. Mit dem beginn meines Studiums, fand ich neue Freunde und endlich meinen Weg zurück ins Leben.
Trotzdem verfolgten mich die Geschehnisse von damals nach wie vor. Meistens in Form von furchtbaren Albträumen und Angstzuständen. Um diese in den Griff zu bekommen, verschrieb mir mein britischer Psychologe Dr. Ritchfield, den ich zu diesem Zeitpunkt immer noch einmal Wöchentlich aufsuchte, jeden Abend vor dem Schlafengehen einen Spaziergang zu machen. Dieser sollten mir helfen meinen Geist herunter zu fahren und mich Mental zu beruhigen. Was auch tatsächlich funktionierte. Meine Albträume wurden seltener und auch die Angstzustände wurden schwächer und verschwanden teilweise ganz.
Mittlerweile stellten die Nachtspaziergänge weniger eine psychische stütze dar, stattdessen brauchte ich ab und an einfach dieses Gefühl der völligen Einsamkeit. Es half mir abzuschalten, den Tag Revue passieren zu lassen und den Kopf freizubekommen. Nur ich und die Natur, welche sich bereits vor Stunden schlafen gelegt hatte. Ich hatte mich daran gewöhnt.
Alles, was Ich bei mir trug, war eine altmodische Kriegs-Taschenlampe, von ausgeblichener grüner Farbe, welche früher einmal meinem Grandpa gehört hatte. Mein Grandpa war der Einzige, der mir von meiner Familie geblieben war. Zusammen mit Oscar. Dem Labrador, der früher meinen Eltern gehört hatte. Grandpa hatte sich ihm angenommen, weil ich damals nicht in der Lage gewesen wäre mich um ihn zu kümmern. Ich hätte das arme Tier elendig verhungern lassen, so wie mich selbst.
Mit der Taschenlampe beleuchtete ich nun ab und zu den Weg vor mir, um nicht von ihm abzukommen. Nachdem ich gut einen Kilometer tief in die Waldlandschaft vorgedrungen war, kam ich, wie gewohnt, an der verlassenen Villa vorbei.
Dieses Haus war in der ganzen Stadt nur als „das Spukschloss im Wald“ bekannt. Ein durchaus treffender Name für solch ein finsteres Bauwerk, bei dem man glauben mochte, dass seine Architekten über Worte wie „Grusel“ oder „Beklemmung“ nur müde zu zu Lächeln vermochten, da das Haus in beiden Kategorien kaum zu überbieten war. Als ich zum ersten Mal hier vorbeigekommen war, hatte ich beim Anblick des gewaltigen Anwesens, das dort verlassen und grau auf einer großen Lichtung, zwischen den Bäumen stand, schleunigst einen anderen Weg eingeschlagen.
Später fand ich heraus, dass es sich bei dem Haus wohl um den ehemaligen Wohnsitz eines selbsternannten Künstlers handelte. Angeblich war der Vorbesitzer ein Designer gewesen, welcher in seinem Haus Kleidungsstücke für sehr reiche Leute anfertigte und sie auch in Demselben verkaufte. Ein paar Uni-Freunde, die bereits ihr ganzes Leben in diesem Stadtviertel gewohnt hatten, erzählten mir, sie hätten nie jemanden aus diesem esoterisch wirkenden Anwesen herauskommen, geschweige denn, hinein gehen sehen, und eines Tages begann das Gebäude schließlich zu verfallen, nachdem die Polizei dort herumgeschnüffelt, und einen glatzköpfigen, völlig ausgemergelten, augenscheinlich todkranken Mann, in Handschellen abgeführt hatte. Der Größe seines Anwesens nach zu Urteilen, musste der Künstler mit seinen Kleidungsstücken allerdings einen beachtlichen Erfolg gehabt haben. Doch keiner der leichenblassen Beamten, welche das Haus untersucht hatten wollte Auskunft geben über das was man dort vorgefunden hatte. Auch Zeitung und Nachrichtendienst, schwiegen sich gänzlich über das Thema aus und mit der Zeit geriet es in Vergessenheit, ebenso der Ort, wo sich alles zugetragen hatte.
Das Haus war ein großes, altes, wuchtiges Gebäude, mit Stuckfassaden, einem gigantischen Walmdach und Wasserspeiern, deren Münder weit aufgerissen waren, wodurch es schien, als wären ihre efeubewachsene Fratzen, auf ewig zu stillen Schreien verzerrt. So thronte es unheilvoll und finster inmitten des kargen Grundstücks auf einer leichten Anhöhe. Selbst die Tiere des Waldes machten vor diesem Ort kehrt. Kein Geräusch war zu hören. Das Rufen der Eule war längst zwischen den Stämmen der unzähligen Tannen verhallt. Ebenso traute sich keine Menschenseele hierher. Keine einzige Reifenspur war auf dem Schotterbedeckten, von Gräsern und Farnen bewucherten Weg, auszumachen. Mein einziger Begleiter an diesem Ort, war der Wind, der leise in den Wipfeln der Tannen pfiff, welche das Grundstück, wie einen toten Fleck in der Landschaft, umsäumten. Ein toter Fleck, der zwar grau und karg war, doch dadurch nicht weniger geheimnisvoll wirkte.
Ich ließ den Strahl meiner Taschenlampe über den verlassenen Hof gleiten. Er erhellte die Überreste der Kunst, für die der ehemalige Besitzer des Anwesens einmal berüchtigt gewesen war. Merkwürdige Stofffetzen hingen dort über morschen Holzkreuzen, welche wahllos überall auf dem Gelände verteilt standen. Die Szenerie jagte mir jedes Mal einen Schauer über den Rücken, allerdings erfüllte sie mich auch immer mit einer gewisse Neugier. Woher genau sie rührte wusste ich nicht, doch irgendwie zog mich das Gebäude in seinen Bann. Jemand, der so wohnte, konnte doch nicht normal sein. Ich ließ meinen Blick einmal die Straße auf und ab schweifen und richtete ihn dann wieder auf das Spukschloss. Seit Jahren kam niemand mehr hierher. Niemand außer mir. Ich bin mir sicher dass die meisten nicht mal wussten, dass das Haus überhaupt noch existierte. Warum ich selbst jedes Mal diesen Weg einschlug? Ich weiß es heute selbst nicht mehr so genau, vermutlich wartete ich einfach auf den Tag, an dem ich den Mut finden würde, über das große, schmiedeeiserne Tor zu klettern und den Geheimnissen, die das finstere Anwesen in seinem Inneren verbarg, auf den Grund zu gehen. Dieser Tag oder, besser gesagt, diese Nacht sollte nun gekommen sein.
Ich beleuchtete das bereits erwähnte Tor, aus dunklem, rostüberzogenem Stahl, welches den Hof von der schmalen Straße abtrennte, über die ich hierher gekommen war. Spitze, lange Metalldornen ragten auf der Oberseite auf. Würde ich bei dem Versuch, dort rüber zu klettern, abrutschen, würde ich als aufgespießtes Mahnmal für jeden anderen neugierigen Wanderer enden. Falls mich überhaupt jemals Jemand finden sollte. Wie auch immer, ich musste es versuchen. Jedes Mal, wenn ich hier lang kam, spürte ich die Neugier in mir aufsteigen, die mich einfach nie so richtig loszulassen schien. Heute würde ich ihr nachgeben. Verlassene Orte haben mich schon immer fasziniert und was sollte schon passieren wenn ich einfach nur ein bisschen herumstöbere? Also griff ich kurzerhand nach den rostigen Metallstangen und begann meinen Anstieg. Das Tor hatte eine Höhe von gut zwei Metern. Schnell war ich oben angekommen und schwang mein rechtes Bein über die Spitzen. Als ich den Fuß vorsichtig auf der anderen Seite wieder aufsetzte, kam mir der Gedanke: Würde ich nun abrutschen, würde ich vermutlich den schmerzhaftesten Tod sterben, den ein Mensch überhaupt sterben konnte. Umso vorsichtiger ließ ich den anderen Fuß folgen. Dann sprang ich, ohne groß nachzudenken, ab und landete auf dem Hof des Anwesens.
Der Aufprall war härter als erwartet, und ich musste mich mit den Händen am Boden abfangen. Meine Handflächen brannten, als ich mich aufrichtete und mir den Staub von der Hose klopfte. Ein seltsames Gefühl, plötzlich hier im Inneren des Grundstücks zu stehen, das ich nun schon so oft von außen betrachtet hatte und jedes Mal war es, als hätte es mich gerufen und ich hätte seine Einladung jedes Mal ausgeschlagen. Nur dieses Mal nicht. Langsam ging ich zwischen den stoffbehangenen Kreuzen hindurch. Sie waren etwas kleiner als ich selbst und sahen im Schein meiner Taschenlampe aus, wie groteske Vogelscheuchen. Ich schluckte bei dem Gedanken daran, was ich empfinden würde, würden sie plötzlich anfangen, sich zu bewegen. Mir nachschauen. meine Nackenhaare stellten sich auf. Auf einmal fühlte ich mich beobachtet. Eine leichte Unsicherheit stieg in mir auf. Sollte ich wirklich weitergehen? War es das wirklich wert? Ich warf einen Blick hinüber zu dem Anwesen. Jetzt wo es so nah war sah es imposanter und unheimlicher aus denn je. Dem Dach fehlten einige Kacheln und unterhalb der Fenster hatten sich mit der Zeit verwaschene Schatten aus Dreck abgelagert, so dass es aussah als würden sie weinen. Die Fassade war dunkel und grau. Das Haus war eindeutig seit Ewigkeiten verlassen.
„Feigling. Hier ist niemand außer dir, also was soll dieser Unsinn?“, schimpfte ich mich selbst gedanklich aus, fasste aber dennoch den Entschluss, sofort umzukehren, sobald mir etwas merkwürdig vorkam, oder mir die ganze Sache zu unheimlich wurde. Mit diesem Gedanken konnte sich mein ängstliches Ich anfreunden, also setzte ich meinen Weg fort, bis ich vor der schweren Eingangstür aus massivem Ebenholz stand. Ein dicker, schwerer Türklopfer in der Gestalt eines Rabenkopfes beäugte mich kritisch aus seinen wachsamen Augen. Nur aus Spaß zog ich ihn zurück und klopfte dreimal gegen das schwere Holz. Das laute Geräusch, welches so plötzlich die Stille durchbrach, ließ mich selbst zusammenzucken und hallte noch lange zwischen den Bäumen nach. Ein wenig eingeschüchtert wich ich zurück. Dann fasste ich mir ein Herz und rüttelte an dem rostigen Türgriff. Natürlich war das völlig vergebens. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter. „Was hatte ich eigentlich anderes erwartet?“ murmelte ich leise. Tja das war’s dann.
Gerade wollte ich dem spitzen Schnabel des Raben den Rücken zukehren, um unverrichteter Dinge, den Rückweg anzutreten, als mir etwas auffiel. Ein metallisches Schimmern im Schein meiner Taschenlampe ließ mich innehalten. Als ich noch einmal die düstere Fassade und die ungezügelt wuchernden Hecken links und rechts des Hauses ab-leuchtete, sah ich das Blitzen erneut. Dann erkannte ich seinen Ursprung. Zwischen dem Gestrüpp ragte ein kleines Metalltürchen auf, welches vermutlich in den Hinterhof des Anwesens führte. Einen versuch war es Wert.
Gerade als ich darauf zugehen wollte, stockte mir der Atem. War da etwa jemand? Mir war für einen Moment, als hätte der Strahl meiner Taschenlampe zwischen dem ungeschnittenen Gewächs, welches sich um das Türchen rankte, für den Bruchteil einer Sekunde einen kahlen weißen Hinterkopf beleuchtet, welcher just in dem Moment zwischen dem Gewächs in der Dunkelheit verschwand. Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist doch Unsinn! Hier war seit Jahren niemand mehr“, ermahnte ich mich abermals. „Vermutlich habe ich mir schlichtweg etwas eingebildet. Oder einfach eines dieser Kreuze mit einer Person verwechselt.“ Wäre nicht gerade unwahrscheinlich gewesen, die standen hier schließlich an jeder Ecke. Außerdem spielte mir meine Fantasie gerne mal Streiche, wenn ich mich unwohl fühlte oder Angst hatte.
An der Seite des Hauses war das Gras so hoch, dass es bis an meine Knie reichte und ich mich mit meinem ganzen Gewicht gegen das alte Türchen lehnen musste, um es über das dichte Gestrüpp zu schieben. Doch schließlich war es weit genug geöffnet, dass ich mich hindurchzwängen konnte. So schob ich einen Fuß in die wild wuchernde Vegetation und ließ dann den Rest von mir folgen. Als ich mich durch Zweige und Blattwerk gekämpft und endlich freie Sicht auf den seitlichen Teil des massiven Gebäudes hatte, lief mir ein leichter Schauer über den Rücken. Das dutzend Kreuze, welches auf dem Vorhof verteilt stand, war nichts gegen das, was sich hier drinnen abspielte. Hier standen die Kreuze so dicht aneinander, dass es schier unmöglich war, sich einen Überblick von dem Gelände zu verschaffen. Alles, was ich sah, waren diese Kreuze und die hohe dunkle Flanke des Anwesens zu meiner Linken.
Die Kreuze wirkten, als würden sie mich mit ausgebreiteten Armen am Weitergehen hindern wollen. Das gesamte Szenario war surreal, Als hätte sie jemand im Wahn aufgestellt. Als hätte es jemand eilig gehabt. Jedes Kreuz war behangen mit einem dieser seltsam grotesken Stofffetzen. Ich verstand absolut nicht, was das Ganze sollte. Was brachte es, Stoff draußen aufzuhängen? Im Laufe der Jahre hatten die Fetzen anscheinend ihre Farbe verloren. Schmutzig und blass wie altes Leder hingen sie dort. Die Neugier ergriff mich abermals und kämpfte nun den Rest, der noch von meiner Angst geblieben war, endgültig nieder. Ich wollte in dieses Haus hinein. Auch wenn es mir bei dem Gedanken kalt den Rücken hinunterlief, wollte ich wissen, was es mit diesem Künstler, Designer oder was immer er sein mochte, auf sich hatte. Mit diesem Haus. Mit diesem Ort.
Ich begann zu überlegen. Am naheliegendsten erschien es mir, ein Fenster einzuschlagen, doch ich musste erst einmal hoch genug kommen, um eines von ihnen überhaupt zu erreichen. Da fiel mein Blick plötzlich auf ein kleines Dach, weiter hinten, vor den dunklen Tannen, die das Anwesen umgaben. Möglicherweise ein Geräteschuppen.
Ich begann mich zwischen den grotesken Gebilden hindurch zu schlängeln, wohlbedacht darauf, möglichst keinen dieser alten Fetzen dabei zu berühren.
Tatsächlich handelte es sich um das Dach eines kleinen Geräteschuppens. Als ich hineinleuchtete, sprangen mir diverse Gartenwerkzeuge ins Auge. Eine Mistgabel, eine Schaufel, eine Sense, Harken, und… da… eine Leiter! Mit ein paar kräftigen Rucklern befreite ich sie aus all dem Gerümpel und zog sie heraus. Sie war nicht sonderlich lang aber sicher lang genug, um bis an eines der tieferliegenden Fenster zu reichen. Diesmal schlängelte ich mich nicht ganz so behände zwischen den Kreuzen hindurch wie auf meinem Hinweg. Ich stolperte ein paar mal, riss dabei versehentlich einige von ihnen mit der Leiter um und fluche halblaut. Dann stand ich schließlich wieder vor der Hauswand. Ich lehnte die Leiter unterhalb eines der hohen Fenster an und begann zu klettern. Als ich auf Höhe des Fensters ankam, versuchte ich mit der Taschenlampe durch das schmutzige Glas in den Innenraum zu leuchten. Doch hinter dem Fenster herrschte absolute Schwärze.
Zögernd betrachtete ich die Rückseite meiner Taschenlampe. Sie war aus Metall und sicher im Stande eine Glasscheibe zu zerbrechen. Ich holte aus und schlug oder – besser gesagt – klopfte mit ihr zaghaft gegen das Glas. Nichts passierte. Natürlich nicht. Ich hatte es ja nicht mal wirklich versucht. Was zum Teufel tat ich hier eigentlich gerade? Ich brach in ein Haus ein, das mir nicht gehörte. Ich beging ein Verbrechen. wer weiß ob das Anwesen nicht längst von jemand anderes aufgekauft worden war Ich sah von meiner erhöhten Position aus das metallene Tor, über welches ich geklettert war. Nein, dieses heruntergekommene Anwesen gehörte sicher niemandem. Noch hätte ich umkehren können doch schließlich entschied ich mich, es nicht zu tun. Ich war jetzt so weit gekommen und wollte wenigstens einen Blick hinein riskieren. Eine kaputte Scheibe war nun auch für niemanden ein Weltuntergang. Genauso gut hätte die Scheibe bei einem Sturm zerstört worden sein können. Vermutlich würde sie eh niemals jemand bemerken.
Diesmal holte ich aus und schlug etwas kräftiger zu. Das Glas sprang an der Stelle, an der ich es getroffen hatte, und zackige Risse zogen sich über die gesamte Scheibe. Vorsichtig, damit ich mir keinen Splitter einfing, klopfte ich die Fensteröffnung systematisch frei. Dann leuchtete ich in das gähnende Loch, welches sich vor mir aufgetan hatte.
Der Raum schien eine Art altmodisches Arbeitszimmer zu sein. Unterhalb des Fensterbrettes stand ein hölzerner Schreibtisch und dahinter ein verstaubter Lehnstuhl aus dunkelbraunem Leder. An den Wänden standen mehrere bemalte tafeln. Allesamt versehen mit technischen, maßgenauen Zeichnungen, Entwürfe für neue Hosen, Pullover, Hemden und Kleider. Auf dem Schreibtisch lagen einige Pläne, teils zusammengerollt, teils ausgebreitet. Auch sie zeigten komplizierte Zeichnungen von unterschiedlichen Kleidungsstücken. Zeichenutensilien lagen und standen kreuz und quer über den Tisch und die Pläne verteilt und ein großer Fleck schwarzer, getrockneter Tinte, welche von einem scheinbar umgekippten Glas ausging, färbte einen Teil des Papiers in einem tiefen Pechschwarz. Auf dem Boden war ein vergilbter Perserteppich ausgebreitet und von der hohen Stuck-bewehrten Decke hing ein Kronleuchter, aus schwarz gefärbtem Stahl. Es sah beinahe so aus, als hätte der Bewohner den Raum nur kurz verlassen, um sich eine Tasse Kaffee zu holen, oder etwas zum aufwischen, dieser seltsamen Flüssigkeit. Wäre nicht alles von einer dicken Staubschicht überzogen gewesen, hätte ich das Anwesen sofort wieder verlassen, in der Sorge, er könne jeden Moment zurückkehren und mich dort auf seinem Fensterbrett hockend vorfinden.
Offenbar hatte die Polizei den Kerl damals festgenommen und sofort eingesperrt. Es war ihm nicht gestattet gewesen, in sein Anwesen zurückkehren, bevor seine Haftstrafe begann. Warum, wusste wie immer keiner, aber seine Verbrechen mussten ohne jeden Zweifel schrecklich gewesen sein. Zögernd stieg ich in das Zimmer ein. Mein Herz begann ein wenig schneller zu klopfen. Ich befand mich nun tatsächlich in dem Gebäude, vor dem sich die ganze Stadt so sehr fürchtete. Diese verfluchte Neugier. Langsam schritt ich durch den Raum. Die Luft roch modrig und der Boden knarrte bei jedem Schritt, den ich auf das alte Parkett setzte. Ein wenig zu laut für meinen Geschmack. Behutsam drückte ich die Klinke der Zimmertür hinunter.
Beim Öffnen knarrte sie zehnmal so laut wie der Boden und ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen. Ich tat einen Schritt durch die Tür und schaute direkt gegen eine holzgetäfelte Wand. Ich befand mich in einem breiten Flur. Zersprungene oder ausgebrannte Glühbirnen steckten in gleichmäßigen Abständen, in altmodischen blütenförmigen Lampenschirmen an den Wänden. Keine von ihnen war funktionstüchtig und hätte ich meine Taschenlampe, nicht bei mir gehabt, stünde ich nun in völliger Finsternis.
Ich leuchtete den Flur in beide Richtungen ab. Nach rechts schien er sich in völliger schwärze zu verlieren. Weitere Türen säumten die Wand in regelmäßigen abständen.
Nach links machte der Flur einen Schlenker und es schien es als würde das Mondlicht in einiger Entfernung, das Ende eines langen Tunnels verheißen. Bereitwillig schlug ich eben jenen Weg ein und und staunte nicht schlecht, als ich den Flur ein Stück entlang geschlichen war.
Ich kam auf einer Art Empore, über der Eingangshalle des Hauses, aus. Eine Eingangshalle, wie aus einem Märchenbuch.
Sie war nach all den Jahren immer noch so prunkvoll und wunderschön, dass ich wie versteinert auf der Balustrade stand und mit halb geöffnetem Mund das hypnotisierende Schauspiel genoss, dass sich mir in diesem Augenblick bot. Die gesamte Halle schimmerte in einem Perlweiß wie geschliffener Mondstein. Weiße Marmorfliesen pflasterten den Boden. Mir gegenüber befand sich eine zweite Empore, von der aus man ebenfalls in die unterschiedlichen Räumlichkeiten des Anwesens gelangen konnte. Zwei geschwungene Treppen, welche sich in der Mitte der Halle trafen, führten zu den beiden Emporen hinauf, welche von ionischen Säulen getragen wurden. Zwischen den Emporen, am Fuße der beiden Treppen, direkt gegenüber der hohen Eingangstür aus pechschwarzem Ebenholz lag eine kleinere Doppel-Tür, welche offenbar in den hinteren Teil des Gebäudes führte. Doch das beeindruckendste war der gigantische gläserne Kronleuchter der von der hohen verzierten Decke hing. Das Mondlicht, welches durch zwei schmale Fenster, links und rechts der Eingangstür fiel, ließ ihn funkeln wie einen riesigen, geschliffenen Diamanten. Nach ungefähr einer Minute schaffte ich es endlich, mich von dem Anblick loszureißen und stattdessen nahm ich die Tür ins Visier, welche tiefer in die Eingeweide des Gebäudes hineinzuführen schien. Ich ging die Treppe zu meiner Rechten hinunter und brach mir beinahe das Genick, als ich versehentlich eine der Stufen übersah und auf dem glatten Marmor ausrutschte, weil ich den Blick einfach nicht von diesem überwältigenden Anblick abwenden konnte. Doch dann riss ich mich endgültig von ihm los und lief die letzten Stufen hinunter zur Tür. Ich war nun sehr viel selbstsicherer. Irgendwie hatte die Halle mir neuen Mut gegeben.
Ohne zu Zögern riss ich die Tür auf und stand in einem Korridor. Doch ich merkte sofort, dass hier etwas nicht stimmte.
Er war so… anders als der gesamte Rest des Gebäudes. Lang und beklemmend. Es gab kein einziges Fenster. Stattdessen hingen finstere Ölgemälde an den Wänden. Der Boden war ein altmodischer Teppichboden mit dunkelroten Mustern. Die Wände und die Decke waren mit einer beißenden, dunkelgrünen Tapete ausgekleidet, was nicht gerade zu einer auffrischenden Atmosphäre beitrug. Das Unangenehmste war allerdings, dass der Korridor in völlige Schwärze zu führen schien. Selbst der Strahl meiner Taschenlampe reichte nicht aus, um das, scheinbar weit entfernte Ende dieses Absurd langen Flures zu erreichen. Dieses ganze Szenario bereitete mir Unbehagen. Es war, als wäre ich von einem Königsschloss direkt in den dunklen Keller meiner Uroma getreten, und genauso roch es hier auch. Umso mehr erschrak ich, als die Tür hinter mir zufiel und ich allein in der undurchdringlichen Dunkelheit stand. Alles, was ich hörte, war das Blut, welches in meinen Ohren rauschte.
Sofort schnellte ich herum und stieß die Tür wieder auf. Hier eingesperrt zu sein war das Letzte, was ich jetzt wollte. Ich atmete erleichtert auf, als die Tür problemlos aufschwang. Ich weiß nicht, was ich anderes erwartet hatte, aber der neue Mut, den ich in der Eingangshalle geschöpft hatte, war jetzt schon wieder vollständig verebbt. Dieses Mal stellte ich einen Fuß zwischen Tür und Rahmen, damit sie nicht wieder hinter mir zuschlug und leuchtete erneut mit meiner Taschenlampe in den scheinbar endlosen Korridor. Düstere Gemälde, Oma-Teppiche und völlige Schwärze. Sehr einladend… Dann fiel mir etwas auf. Rechts von mir war ein Lichtschalter an der Wand. So ein altmodisches Ding zum Drehen. Ich versuchte probehalber, ihn zu betätigen, und er… funktionierte.
Wie zum Teufel konnte denn das sein? Das Haus stand doch schließlich schon seit Jahren leer. Strom dürfte es hier eigentlich längst nicht mehr geben. Resigniert schüttelte ich den Kopf. Die angelaufenen Lampen, welche in einem Abstand von etwa zwei Metern, von der decke baumelten, tauchten den Flur in ein schummriges, gelbes Licht, und am Ende des Ganges, beleuchteten die Lampen in der ferne eine zweite Tür. In diesem Moment war ich mir nicht sicher, ob ich wirklich weitergehen wollte. Ich hatte mich mit der Erwartungshaltung angefreundet, dass ich mich aufgrund des Alters des Hauses und der Einsamkeit, die in ihm herrschte vielleicht etwas gruseln würde, doch dass ich tatsächlich etwas vorfinden sollte, das einfach nicht sein konnte, ja, sein durfte, damit hatte ich nicht gerechnet.
Andererseits hatte ich jetzt schon mal Licht. Wie schlimm konnte es also schon werden? Letztendlich siegte meine Neugier. Ich atmete tief durch und zog den Fuß aus der Tür. sie schloss sich mit einem leisen klicken.
Langsam ging ich durch den Korridor auf die Tür am anderen Ende zu. Währenddessen sah ich mir die Gemälde zu meiner Linken und meiner Rechten an. Sie wirkten sehr alt. Viktorianisches Zeitalter, oder älter. Ich kam an dem Gemälde einer Frau vorbei, die vor einem hölzernen Spinnrad saß, an einem Gemälde eines Ehepaars, beide in feine Abendgarderobe gekleidet, eine Person, die in einen großen, runden Spiegel blickte und sich die Haare zurechtmachte. Diese Bilder waren alle in dunklen Farben gehalten und lösten ein tiefes Unbehagen in mir aus, Hauptsächlich zeigten sie Motive, die wohl mit dem Thema „Kleidung“ in mehr oder weniger direktem Zusammenhang standen. Es waren gewöhnliche Bilder etwas düster und angelaufen, aber gewöhnlich. Doch dann kam ich an einem Bild vorbei, das mich schließlich doch verstörte.
Das Gemälde zeigte nicht mehr als ein Portrait zweier Personen. Scheinbar ebenfalls ein verheiratetes Ehepaar. Der Mann trug einen Pullunder, die Frau ein Bluse. Sie lächelten und hätten vermutlich freundlich, ja sogar liebenswürdig ausgesehen. Doch Das unheimliche war nicht das Motiv selbst, sondern dass scheinbar irgendjemand die Augen der beiden Personen mit einem spitzen Gegenstand so sehr zerkratzt hatte dass sie nicht mehr zu erkennen waren. Doch obwohl ihr Antlitz so bizarr entstellt war, kamen mir die beiden Personen seltsam bekannt vor. Die zerfurchten Gesichter zeigten eine gewisse Zuneigung und durch ihre Zerkratzten Augen war es als würden sie über meine Anwesenheit hier in diesem Haus, tränen vergießen. Ich trat näher an das Bild heran, doch bei genauerem hinsehen, verschwamm dieser Eindruck und ich blickte in die Gesichter, zweier Fremder.
Schließlich stand ich vor der Tür am anderen Ende des Flurs. Ich drehte mich noch einmal um und blickte zurück zur Tür, welche nun zur Eingangshalle führte. „Nicht so viel nachdenken!“, ermahnte ich mich selbst. Dann, ohne zu zögern, riss ich die Tür auf und stand vor einer Kellertreppe, welche ins Nichts zu führen schien. Sie war in denselben düsteren Farben gehalten wie der Korridor und mündete genau wie dieser in völliger Schwärze. Keine zehn Pferde würden mich dort hinunter bekommen, da war ich mir sicher. Das wars, Ich war schon viel zu weit in dieses merkwürdige Haus vorgedrungen und Ich wollte keine Sekunde länger hier bleiben.
Ich schloss die Tür wieder und lief zurück, den Korridor entlang. Meine Schritte klangen Dumpf auf dem Weinroten Teppichboden. Mittlerweile war mir völlig gleich, was irgendein Künstler hier vor Jahren einmal getrieben hatte. Meine Neugier war endgültig verebbt und ich wollte nur noch hier raus. Mittlerweile freute ich mich auf mein warmes Bett in meinen eigenen vier Wänden. Ich drückte die Klinge der Tür zur Eingangshalle hinunter und…
Sie bewegte sich nicht. Ungläubig drückte ich die Klinke erneut hinunter und rüttelte daran. Wieder nichts. Langsam stieg Panik in mir auf und erneut versuchte ich sie zu öffnen. Ich zog und drückte, doch sie gab nicht nach. Ich begann gegen das Holz zu schlagen, mich dagegen zu werfen, zu schreien, doch sie gab nicht nach. Ich war eingesperrt. Hier! In diesem ekelhaften Korridor. Nach dem vierten oder fünften Versuch, die Tür einzuschlagen, rutschte ich erschöpft an ihr herunter und blieb dort, nach Luft schnappend, sitzen. Tränen sammelten sich in meine Augen.
Dieser Korridor war der letzte Ort, an dem ich jemals eingesperrt sein wollte. Diese Teppiche, diese furchtbaren Gemälde, die Lampen, die allmählich zu flackern begonnen hatten, doch, was mir aber am meisten zu schaffen machte, war die Tatsache, dass ich offenbar nicht allein war.
Irgendjemand musste die Tür von außen abgeschlossen haben. Irgendjemand wollte, dass ich diese verfluchte Treppe hinunterging. Energisch wischte ich mir mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. Also gut! Vielleicht will mich auch nur irgendein Arschloch erschrecken. Falls dies der Fall war, wollte ich ihm nicht zeigen, wie sehr ihm dies gelungen war. Ich richtete mich auf und ging abermals auf die Tür am anderen Ende des Korridors zu. Der Flur zog sich ewig hin und ich drehte mich mehrmals hektisch um, weil ich glaubte ein Atmen oder sich nähernde Schritte hinter mir zu hören. Die Erkenntnis, dass außer mir noch jemand hier war, machte mich halb Wahnsinnig. Ich öffnete sie und stand wieder vor der Treppe, welche in unergründliche Dunkelheit führte. Ich atmete tief durch, knipste meine Taschenlampe an und begann den Abstieg in meine ganz persönliche Hölle.
Völlige Dunkelheit umgab mich. Es war, als würde die schwärze dem Schein meiner Taschenlampe nur widerwillig Platz machen. Meine Schritte klangen dumpf auf den, mit Teppich bezogenen, Stufen. Ansonsten war es vollkommen still. Ich wusste nicht, wo diese Treppe hinführte, doch ich musste bereits weit ins Erdreich vorgedrungen sein. Offenbar führte sie in irgendeinen Keller tief unter dem Haus. Ich traute mich kaum, schneller zu gehen. Die Treppe hatte bereits drei Schlenker gemacht und zunehmend reifte in mir die Angst heran, dass mir hinter dem nächsten, jemand oder etwas auflauern könnte. Dann fand ich mich auf einmal in einer quadratischen Kammer wieder. Ich war etwas überrascht als ich plötzlich nicht mehr das dumpfe klopfen des Teppichs hörte, sondern spürte, wie meine Fußsohlen auf harten Beton traten. Die Kammer war etwa fünf mal fünf Meter groß und wurde von einer einzelnen angelaufenen Neonröhre in ein mattes Licht getaucht. Die Treppe endete in einer Öffnung in der Wand hinter mir. An jeder der drei anderen Wände befand sich eine verschlossene Tür. Wo zum Teufel war ich hier gelandet? Das alles konnte doch nur ein verrückter Albtraum sein. Ich beschloss, systematisch vorzugehen und mir zuerst die rechte Tür vorzunehmen. In ihrer Mitte war ein Schild angebracht, auf dem stand: E.G. Archiv.
Ich wusste nicht, was E.G. zu bedeuten hatte. Vermutlich waren das die Initialen dieses Künstlers.
Langsam drückte ich die Klinke hinunter und stieß die Tür vorsichtig auf, darauf bedacht, möglichst kein lautes Geräusch zu machen. Ich ließ den Strahl meiner Taschenlampe, welche ich in der Kammer ausgeschaltet hatte den Raum erhellen und als ich sah, was sich in ihm befand, bekam ich einen solchen Schock, dass ich zurücksprang und die Tür sofort wieder zuknallte.
Mein Atem ging heftig, genau wie mein Herzschlag. Der Raum war riesig und überall, standen Leute! Nicht zwei oder drei, sondern dutzende schemenhafte Gestalten. Vollkommen regungslos. Geräuschlos. Langsam öffnete ich die Tür wieder und spähte erneut hinein. Keine Einbildung. Sie standen immer noch da. Ich traute mich kaum, sie direkt anzuleuchten. Doch schließlich tat ich es und atmete erleichtert aus.
Schaufensterpuppen. Dutzende von Schaufensterpuppen standen auf dem Boden, in Regalen und in Galerien an den Wänden; jede von ihnen trug ein anderes Kleidungsstück. Langsam ging ich auf ein Paar von ihnen zu. Sie trugen Kleider unterschiedlichster Art. Pullover, T-Shirts oder feine Abendgarderoben. Die Kleidungsstücke sahen sehr viel besser aus als die zerschlissenen Stofffetzen, welche draußen über den Kreuzen hingen, doch waren sie zweifellos alle von ähnlicher Farbe. Weiß, über beige bis dunkelbraun. Ich ging näher an eines der Stücke heran. Es war eine Art Pullover mit einem Rollkragen. Der Schnitt war weiblich und man konnte klar sehen, dass es sich hierbei um perfekte Detailarbeit handelte. Beinahe ein bisschen zu perfekt. Es waren keinerlei Nähte oder Fäden zu erkennen. Es war, als bestünde der Pullover aus einem einzigen Stück Stoff und passte dennoch, wie angegossen. Ärmel und Kragen gingen nahtlos in den Torso über, was zugegebenermaßen ein wenig befremdlich aussah, aber auch irgendwie stilvoll. Bei genauerem Hinsehen konnte ich nicht einmal bestimmen, um welches Material es sich handelte. Es fühlte sich ebenso merkwürdig an wie es aussah. Ledrig. Ob es wohl Leder war? Ich kannte mich nicht besonders gut mit Stoffen und Schneiderei aus. Doch etwas faszinierte mich an diesem Kleidungsstück. Der Pullover hatte eine beige-weißliche Färbung. Später fand ich heraus, dass es sich um „Cremeweiß“ handelte. Ich konnte meinen Blick kaum von diesem eigenartigen Kleidungsstück lösen. Diese Liebe zum Detail, die der Hersteller offenbar in seine Arbeit gesteckt hatte, war bemerkenswert und faszinierte mich. Plötzlich fiel mir etwas am unteren Ende des linken Ärmels auf. Hier waren wieder die Initialen E.G. eingraviert. Darunter hing ein Schild an einem dünnen Faden. Ich nahm es in die Hand und las, was dort stand. Laura Mcmillon, 23 Jahre, Hauttyp: III, Preis: 320.000 $. Ich stutzte und las den Zettel erneut. Ich hatte mich nicht geirrt, da stand 320.000 $. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Mochte ja sein, dass E.G. ein Modedesigner, noch dazu recht begabt, war, doch diesen absurden Preis verstand ich, beim besten Willen nicht. Ich ging noch einige weitere Puppen ab und überprüfte die Kleidungsstücke. Sophia Abigail, 20 Jahre, Hauttyp: I, Preis: 450.000 $; James Pritchfield, 30 Jahre, Hauttyp IV, Preis: 650.000 $; Edward Cooper, 18 Jahre, Hauttyp: V, Preis: 1.000.0000 $. Wer auch immer diese Leute waren, sie hatten offenbar einen ganzen Haufen Geld übrig. Vor allem der Letzte machte mich stutzig. Welcher 18-jährige gab eine Million Dollar für ein verdammtes Kleidungsstück aus? In was für einer Welt leben wir? Da fiel mir eine Notiz auf der Rückseite des Zettels auf, ich hob ihn nah an meine Augen und begann, im Schein meiner Taschenlampe zu lesen:
Anmerkung
Sehr geehrter Mr. Davis.
Hauttyp V war wahrlich nicht leicht zu finden. Menschen Die an Albinismus leiden, sind sehr selten, und in Kombination mit ihren Anforderungen, noch weit seltener. Einen Hauttyp von solcher Reinheit zu finden, hatte sich als ungemein Komplex und nervenaufreibend herausgestellt. Doch schließlich hatte ich, nach langer Reise das Glück in West Hickory, Einer kleinen Ortschaft im herzen Pennsylvanias den Jungen Edward Cooper kennen zu lernen. Ein netter Junger Mann, mit dem reinsten Hautbild, das ich je gesehen habe.
Der Junge musste nicht lange leiden, so wie sie es gewünscht hatten. Ich habe seine Haut vor der Verarbeitung 5 Winter-Monate auf gehangen, was zu einem komfortablen Tragen und der nötigen Dehnbarkeit führt, die es braucht, um ihre Maße entsprechend abzudecken. Ich möchte sie damit natürlich keinesfalls beleidigen, sie sind schließlich nach all den langen Jahren mein bester Kunde. Wir alten Leute sind einfach nicht mehr ganz taufrisch, nicht wahr?
Ich danke ihnen herzlichst für mein bisher größtes Geschäft und würde mich freuen, sie bald wieder in meinem Anwesen, hier im ruhigen Madison begrüßen zu dürfen. Ich wünsche ihnen und ihrer Gattin alles Gute.
Hochachtungsvoll
E.G.
Ich ließ den Zettel fallen. Plötzlich wurde mir das gesamte Ausmaß des Wahnsinns klar, welcher mich hier umgab. Diese irren Preise, die Angaben der Hauttypen, die Namen und diese merkwürdigen Kleidungsstücke. Haut!
Das war zu viel. Mir wurde augenblicklich übel. Ich taumelte rückwärts, die Welt um mich herum begann sich zu drehen. Ich fiel und fand mich auf allen Vieren kauernd, auf dem harten Betonboden wieder. Im nächsten Moment entleerte sich mein gesamter Mageninhalt über den grauen Stein.
Im nächsten Moment, ließ mich ein Geräusch aus dem hinteren Teil des Lagers, erschrocken hochfahren. Ich hielt den Atem an und versuchte es erneut auszumachen. Da war es wieder. Ein Geräusch, als würde man eine Metallstange oder einen anderen Gegenstand aus schwerem Metall über den Boden schleifen. Und es wurde lauter. Adrenalin schoss in meine Adern. Im Dunkeln tastete ich den Boden hektisch nach meiner Taschenlampe ab und fasste dabei mehrmals in mein eigenes Erbrochenes. Zum Glück fand ich sie schnell und knipste sie an. Dann richtete ich den Lichtkegel in die Dunkelheit, während ich mich rückwärts in Richtung Tür vortastete, die Batterien der Lampe war schwach geworden und leuchteten kaum noch weiter als vier, vielleicht fünf Meter tief in den finsteren Raum hinein. Allmählich gesellten sich schwere Schritte zu dem schleifenden Geräusch. Was hier passierte, war völlig surreal. Die Geräusche mussten von irgendeinem großen Tier kommen, das man hier unten eingesperrt hatte. So etwas wie Monster gab es doch nicht oder? Naja, menschliche Monster gab es offenbar, das wusste ich jetzt. Aber alles andere war doch absurd. Angstschweiß rann mir die Stirn und den Rücken hinab, als die Schritte lauter und immer lauter wurden. Zu laut für einen Wachhund. Zu schwer für einen Menschen. Ein Bär vielleicht? Gerade als ich mit fahrigen Fingern die Türklinke des rettenden Ausgangs hinter mir ertastete, brach die Gestalt aus der Dunkelheit hervor und enthüllte sein groteskes Antlitz, welches mir augenblicklich alle Sinne raubte und eine Leere aus blankem entsetzen zurückließ.
In solch einem Moment, wenn einem etwas so offensichtlich Übernatürliches direkt vor die Nase geworfen wird, stellt man sich folgende Fragen: Träume ich oder bin ich wach? Kann ich meinen Augen trauen? Passiert das gerade wirklich? Bis mich dann die harte Realität wie ein fester Schlag ins Gesicht traf und die Panik in mir entflammte. Das Ding, welches da mitten im matten Schein meiner Taschenlampe stand, war riesig und hätte Frankensteins Monster neben sich so bedrohlich wirken lassen wie eine harmlose Barbie-Puppe.
Dieses Wesen, das einem Menschen mehr ähnelte, als mir lieb war, überragte mich locker um einen Meter. Der Oberkörper war merkwürdig gestreckt und vornübergebeugt, was ihm einen hässlichen Buckel bescherte. Trotzdem sah es kräftig aus. In der rechten Hand hielt es eine gewaltige Keule, welche auf seiner seltsam knubbeligen Schulter ruhte. Sie schien mit Stacheldraht umwickelt worden zu sein. Seine linke Hand schliff dank seiner unnatürlich langen Arme über den Boden und war dadurch so verstümmelt, dass sie kaum mehr als Hand zu erkennen war. Doch das schien das Ding nicht weiter zu stören. Das Schlimmste war aber sein Kopf. Er war merkwürdig schmal und hoch. Lange, fettige, schwarze Haare hingen an beiden Seiten seines Gesichts herunter. Zwischen dem Vorhang aus Haaren ragte eine lange, dünne Nase hervor. Der Mund war nichts weiter als ein klaffendes Loch, an dessen Seiten die Mundwinkel schlaff nach unten hingen. Seine Augen schienen mit einem blutigen Leinentuch verbunden zu sein. Wie bei einem Huhn zuckte sein Kopf unkontrolliert in alle Richtungen, während es mit seiner absurd langen Nase hie und da in die Luft stieß und zu schnuppern begann.
Er ist blind, schoss es mir durch den Kopf, während ich immer noch wie zur Salzsäule erstarrt mit meiner Hand auf der Türklinke dastand. Ich wagte es nicht, auch nur einen Muskel zu bewegen. Ich konnte meinen Blick einfach nicht von diesem monströsen Etwas abwenden, das da in der Finsternis vor mir stand. Plötzlich hielt es mit seinen komischen Kopfbewegungen inne und sah genau in meine Richtung. Ich schluckte. Er oder es hatte mich aufgespürt. Eine Gänsehaut breitete sich über meinen gesamten Körper aus, ich musste hier sofort raus! Kaum hatte ich diesen Gedanken gefasst, stieß das Ungetüm einen markerschütternden Schrei aus. augenblicklich rutschte mir das Herz in die Hose, als das Ding begann, auf mich zu zu rennen und dabei weitere hohe, allzu menschliche Schreie von sich zu geben. Panisch drückte ich die Türklinke hinunter, um diesem Alptraum endlich zu entfliehen.
Doch zu meinem Entsetzen stellte ich fest, dass sich auch diese Tür keinen Zentimeter bewegte. Jetzt machte mein letztes bisschen Verstand der blanken Panik Platz. Wie von Sinnen begann ich an der Tür zu rütteln und gegen sie zu schlagen. Ich sah über die Schulter, Das Ding war nur noch wenige Schritte entfernt und ruderte mit seinen absurd langen Armen und seiner grotesken Keule durch die Luft. Sein Mund war weit geöffnet und sein Gesicht erweckte den Eindruck, als würde das Monster, nicht aus Wut, sondern aus Trauer schreien. Ich drehte mich wieder um und versuchte noch energischer an der Tür zu rütteln. Aber Vergebens. Ich konnte nichts tun, ich würde hier sterben. Ich hörte hinter mir das Surren, mit dem die Keule durch die Luft schnellte, panisch stieß ich einen aller letzten Schrei aus. Gerade als ich bereits zu spüren glaubte, wie mein Kopf durch den gewaltigen Aufschlag der enormen Keule, zerschmettert wurde, schwang die Tür auf. Ich duckte mich und ließ die Keule in das Holz des Türrahmens, statt in meinen Schädel krachen. Holzsplitter regneten auf mich nieder als ich zurück in die Kammer stürzte und in das Gesicht eines kahlköpfigen Mannes mit eingefallenen, müden Augen blickte. Es war das letzte was ich sah, bevor ich einen stechenden schmerz spürte der meinen Schädel durchzuckte und alles in ein gleißendes Licht getaucht wurde.
Mum. Mum sag doch was. Ich blickte in das reglose Gesicht meiner Mutter. Der Regen trommelte gegen das Zersplitterte Glas. Schreie. Schreie überall um uns herum. Doch ich hatte nur Augen für sie. Ihre Haare waren vom Blut verklebt und ihre Augen welche einst so voller Stolz und Lebensfreude waren blickten mich nur noch Emotionslos an. Mum bitte. Bitte sag etwas.
Feuer. Überall. Feuer und Wasser. Regentropfen die sanft die durch das zerstörte Dach vielem und mein Gesicht benetzten, während die Flammen meine Haut versengten. Ich hörte noch durch meine eigenen gequälten Schreie hindurch wie die Tür zu meiner linken aufgebrochen wurde. Blaulicht. ein Paar kräftige Hände, die mich packten und aus dem brennenden Auto zogen. Sie wickelten meinen Arm in eine Decke und löschten die Flammen. Mum. bitte lass mich nicht allein. dann verlor ich das Bewusstsein und die Welt um mich herum versank in Finsternis.
Für einen Moment halte ich inne. Was hatte ich da Geschrieben? die Erinnerung. Ich hatte sie schon völlig vergessen. langsam lege ich den Stift auf das Papier und ziehe den Ärmel meines Pullovers bis zum Ellenbogen hoch. Mein entstelltes Fleisch sieht heute noch aus wie ein abstraktes Gemälde. Eine einzelne Träne läuft meine Wange hinab, während ich langsam mit dem Finger über die Konturen der tiefen Narben fahre, die die Vergangenheit hinterlassen hatte. Im nachhinein betrachtet sehen sie nicht einmal mehr wie Brandnarben aus. 50 Jahre ist es nun her. Mir hätte früher klar werden müssen, dass Feuer nicht schneidet. Ich lasse den Pullover wieder über mein Handgelenk gleiten. nehme den Stift in die Hand und setze ihn zurück aufs Papier.
Keuchend und schweißgebadet erwachte ich in meinem Bett. Ich zitterte am ganzen Körper.
Langsam stand ich auf und taumelte in Richtung Badezimmer. Wieder einer dieser Träume. der Unfall. 6 Jahre ist es her und ich Träume immer noch davon. Doch diesmal war es nicht das einzige was ich geträumt hatte. Ein paar Bruchstücke vielen mir ein. Der finstere Hof mit den Kreuzen. Der lange, unheimliche Korridor, in dem ich eingesperrt war, die Treppe und schließlich der Raum mit den Schaufensterpuppen und ihren Kleidern aus… Menschenhaut. Doch was sich am meisten eingebrannt hatte, war das Gesicht. Das Gesicht, welches ich immer noch sah, wenn ich die Augen schloss. Das Gesicht eines haarlosen Mannes mit eingefallenen Augen. Wer war dieser Mann? Wie waren noch gleich die Initialen? E.E.? G.B.? So sehr ich versuchte mich zu erinnern, ich konnte es nicht.
Und dann war da dieses merkwürdige Ding. dieses… Monster. Oder war es überhaupt wirklich da gewesen? Ich spürte, wie mir die Erinnerung an meinen Traum nach und nach entglitt. War er eben noch so lebhaft gewesen, so bröckelten immer größere Erinnerungsstücke von ihm ab und irgendwann stand ich allein in meinem Badezimmer mit nichts als gähnende Leere in meinem Kopf. Was hatte ich noch gleich geträumt?
Resigniert schüttelte ich den Kopf, drehte den Wasserhahn auf und wusch mir ausgiebig das Gesicht mit kaltem Wasser, dann stützte ich mich auf den Seiten des Waschbeckens auf und sah in den Spiegel. Soweit ich mich erinnere, habe ich meinem gesamten Leben noch nie so fertig ausgesehen. Meine Haare waren nass vom Schweiß, genau wie das dünne weiße Shirt, welches ich zum Schlafen angezogen hatte durch den nassen Stoff schimmerten die großen Brandnarben an meinem linken Arm. Die Erinnerung an meine dunkle Vergangenheit. Ich warf einen Blick zum Fenster. Draußen war es noch dunkel, doch an Schlaf war jetzt kaum mehr zu denken. Ich stieg die metallene Wendeltreppe meiner Wohnung hinunter und ging in die Küche. Es gab nur eins, was mir jetzt noch einen tiefen Schlaf garantieren konnte: Ein neues Outfit und Alkohol.
Mit einem Griff unter die Bar beförderte ich meinen stärksten Whiskey hervor und goss mir eine großzügige Menge in ein Glas. Ich nahm einen großen Schluck und dann noch einen. Augenblicklich spürte ich, wie mein Mund taub wurde und das Gebräu mir die Kehle verbrannte. Doch es war ein angenehmes Brennen. Der rauchige Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, und ich spürte bereits wie das Getränk meine Sinne benebelte. Nachdem ich das Glas – und darauf noch ein weiteres – geleert hatte, stieg ich die Treppe langsam wieder hinauf, ließ mich in mein Bett und damit in einen tiefen und sorglosen Schlaf fallen.
Am nächsten Morgen wurde ich von einem durchdringenden Klingeln geweckt, zwischen meinen Vorhängen fielen bereits die ersten Sonnenstrahlen hindurch. Ich setzte mich auf und streckte mich. Dann stellte ich mit einem Blick auf die Uhr fest, dass es 7 Uhr morgens war. Mein Telefon klingelte immer noch.
Genervt nahm ich es von der Halterung mit der altmodischen Drehscheibe hob den Hörer verschlafen an mein Ohr. Alles, was ich daraufhin hervorbrachte, war ein leicht gequältes „Hallo?“
„Elija? Ey Alter, du klingst ja echt scheiße, hab ich dich geweckt?“ Die Stimme meines besten und unglücklicherweise immer hochmotivierten Freundes Allan drang an mein Ohr und löste damit ein unangenehmes Dröhnen in meinem Kopf aus. „Ja, hast du“, gab ich zähneknirschend zurück. „Dir auch einen guten Morgen. Was verschafft mir die Ehre?“ „Ach, ich dachte, ich ruf dich einfach mal an und sorge dafür, dass du nicht wieder verpennst.“ „Dass ich was nicht verpenne?“, fragte ich stirnrunzelnd und rieb mir die schmerzenden Augen. „Alter, du bist ja echt noch halb im Tiefschlaf. Was schon? Die Uni, Mann. Vorlesung beginnt um Halb 9, also raus aus den Federn.“ Genervt stöhnte ich auf. Allan hatte sich vor etwa zwei Wochen ein Mobiltelefon gekauft. Ein hässliches Ding in der Größe einer Milchtüte. Er gehörte damit zu den ersten in unserem Semester und Rief jetzt nur aus Langeweile, aus den dämlichsten gründen, seine Freunde an um sie an völlig alltägliche dinge wie das Aufstehen, das Einkaufen oder das Schlafengehen zu erinnern.
„Elija? Hey Mann, bist du noch dran?“ Allans Stimme riss mich unsanft aus meinen Gedanken. „Ja… ja, bin noch dran. Hör zu, ich hab heute Nacht echt scheiße geschlafen… ich glaube nicht, dass ich schon zur ersten Vorlesung komme.“
„Du hast scheiße geschlafen?“ Allans Stimme klang auf einmal besorgt. „Aber Albträume hast du keine Mehr oder. Und du machst immer noch diese Abendspaziergänge?“
Keine Albträume mehr? Hatte ich gestern Nacht einen Albtraum? Ich wusste es nicht mehr.
„Ja, mache ich. Keine Ahnung, was heute Nacht los war“, gab ich zurück, ein wenig dankbar über die Sorgen, die er sich meinetwegen machte. Nachdem ich meine Eltern verloren hatte und in Therapie musste, haben sich viele meiner Freunde von mir abgewendet. Das Hat mir damals das Herz gebrochen, doch Allan war immer an meiner Seite geblieben. Teilweise hatte er mich sogar zu meinen Therapiestunden begleitet. Al war der beste Freund den man sich nur Wünschen konnte.
„Tja“, sagte Allan nun wieder etwas fröhlicher als zuvor, „Wird schon nichts heißen. Du hast halt einfach schlecht geschlafen, das passiert jedem anderen auch ab und zu. Ich denke, du musst einfach mal wieder unter Menschen. Du vergräbst dich zu sehr. Also raff dich auf und komm her.“
Ich rollte genervt mit den Augen. „Ja, kann schon sein, du alter Hobbypsychologe“, wiederholte ich resigniert, gefolgt von einem langgezogenem Seufzer. „Also guut. Vielleicht hast du ja Recht. Wir sehen uns später. Danke fürs Erinnern“, sagte ich schließlich und besiegelte damit mein Schicksal für diesen Morgen.
Geschlagene acht Stunden später stand ich wieder vor meiner Haustür und kramte mit beiden Händen in meinem Rucksack nach dem Schlüssel, bis er mir mit einem leisen Klirren durch die Finger glitt. Ich zog ihn heraus und steckte ihn ins Schloss. Das bekannte Klicken ertönte und ich trat ein. Der Eingangsbereich war Menschenleer. Mein verschwommenes Spiegelbild blickte mir aus den Silbernen Briefkästen zu meiner rechten entgegen. Alle waren leer bis auf einen. Irgendwie war vor einer Weile der Aufkleber, welcher „keine Werbung“ verkündete abgeblättert und mein Briefkasten quoll mal wieder, dank unzähliger Prospekte und Flyer über.
Ich öffnete ihn und ein ganzer Schwall von ihnen kam mir entgegen. Die meisten konnte ich auffangen, zwei von ihnen fielen auf den Boden. Und dann war da noch etwas. Ein dumpfer Aufschlag von etwas Festem. Ich blickte hinab auf meine Füße. Zwischen ihnen lag ein kleines, braunes Päckchen. Es sah seltsam aus. Irgendwie unförmig. Ich stopfte den anderen Kram vorerst achtlos zurück in den Briefkasten und begann damit, das Päckchen zu öffnen. Dabei viel mir auf, dass das Paket keinen Absender hatte. Das Papier war vollkommen unbeschriftet. Als ich es öffnete, fiel mir ein weißes Kärtchen in die Hände. In geschwungenen, handschriftlich verfassten Lettern stand dort:
Übermut tut selten Gut.
Ihr Besuch in meinem Anwesen letzte Nacht hat mich durchaus sehr überrascht.
Für gewöhnlich Empfange ich keine unangekündigten Gäste, erst recht nicht um diese Unzeit. Ich bin schon ein alter Knabe, wissen sie, und hätten sie nach dem Klopfen gewartet, bis ich öffne, wären wir sicher ins Geschäft gekommen. Sie hielten es stattdessen für richtig, sich unbefugten Zugang in mein Haus zu verschaffen und in meiner Arbeit herumzuschnüffeln.
Nun denn, die Reparatur des Fensters sowie die Reinigung der… Verschmutzung, die sie hinterlassen haben, werde ich selbst übernehmen. Ich warne sie eindringlich, von einem erneuten Vorhaben dieser Art in Zukunft abzulassen und möchte sie darum bitten, bei Interesse an meinen Waren zukünftig im Vorfeld einen Termin mit mir zu vereinbaren. als Zeichen meines dennoch guten Willens habe ich ein kleines Geschenk beigefügt.
Hochachtungsvoll
Edward-Theodore Gein