Haus eines Künstlers Kapitel 5
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
1982- 5 Jahre zuvor.
Es war bereits nach Mitternacht. Der Regen prasselte nur so auf das dünne Aluminium, als der alte grüne Chevrolet klappernd und holpernd über die nasse Straße schlingerte. Die gelben Scheinwerferlichter leuchteten in der verregneten Dunkelheit nicht weiter als 20 Fuß. Die Scheibenwischer kamen kaum gegen den Bach an, welcher die Windschutzscheibe verschleierte und die Tanknadel schwebte unheilvoll knapp über dem roten Bereich des verstaubten Tachometers. Abby trippelte nervös mit der Ferse ihres linken Fußes auf den Boden, während ihr rechter auf dem Gaspedal ruhte. Sie hatte sich hoffnungslos verfahren. Umgeben von nichts als Bäumen. Kieferstämme, soweit das Auge reichte. Die gewaltigen Wälder von Wisconsin waren ein undurchdringliches Labyrinth aus dicht an dicht stehenden Bäumen. Abby schaltete das Radio ein und drehte an dem Lautstärkeregler. Nichts als Rauschen. Gleichgültiges Rauschen. Ein wenig Musik gegen die Anspannung hätte ihr sicher gut getan. Auf einmal fühlte sie sich einsam und vollkommen, von jeglicher Zivilisation abgeschnitten. Sie schaltete das Radio wieder ab und biss sich angespannt auf die Unterlippe. Würde der alte Wagen jetzt liegen bleiben, hätte sie ein echtes Problem. Ihr Autotelefon hatte keinen Empfang und abgesehen davon, dass niemand sie hier draußen finden würde, hatte Abby keine Ahnung wo sie war. Irgendwo in der näheren Umgebung von Madison, vermutlich. Das beunruhigende Trommeln des Regens, begleitete ihr nervöses schweigen. Abby spürte wie ihr Herz zu klopfen begann. Fuck, Fuck!! Wütend schlug sie mit beiden Händen auf das Lenkrad. Nahm dieser verdammte Wald denn überhaupt kein Ende? Sie spürte wie ihr Atem flach wurde. Ruhig bleiben! ermahnte sie sich streng. Fahr einfach weiter… Früher oder später kommst du schon aus dieser grünen Hölle heraus. Doch was, wenn sie sich, statt in die richtige Richtung zu fahren, Kilometer um Kilometer, bloß noch weiter von der Stadt entfernte? Was, wenn der Motor mitten in den tiefen Wäldern, mit einem blubbern verstummen und der Wagen endgültig schlapp machen würde? Daran wollte sie gar nicht denken.
Wie zum Teufel war sie überhaupt hier in diese verworrene Finsternis hineingeraten? Sie hatte die gleiche Strecke wie immer genutzt. Nachdem sie die Redaktion pünktlich um 18 Uhr verlassen hatte, war sie über die Route 18 Richtung Madison gefahren und vor der Stadt, aufgrund hohem Staugeschehens vorzeitig auf die J abgebogen um den Stau über die unbefestigten Waldwege zu umgehen. So wie an fast jedem anderen Tag auch. Doch einen kurzen Augenblick der Unachtsamkeit später, hatte sie vollkommen die Orientierung verloren. Sie hatte den Wagen gewendet, doch war dadurch nur noch tiefer in die Waldlandschaft abgetaucht. Hilflos, wie ein Fisch im Stellnetz. Es war, als hätte der Wald sie verschluckt. Radio und Telefonempfang brachen ab und strömender Regen ergoss sich über den Baumwipfeln, und dem grünen Chevrolet, der wie ein einsamer kleiner Käfer durch das düstere Unterholz holperte. Abby schluckte schwer, als sie sah, wie die schlammige Straße zunehmend von Pflanzen und kleinen Bäumen überwuchert wurde, die immer wieder an der Unterseite ihres Wagens entlang kratzten, als wäre seit Jahren niemand mehr hier entlang gefahren. Verdammt, Das konnte doch überhaupt nicht sein…so riesig war dieser Wald doch gar nicht. Sie warf einen Blick auf ihre schwarze Lederhandtasche, die auf dem Beifahrersitz lag. Sonnenbrille, ein kleiner, koketter Fotoapparat – sie liebte dieses Ding – und ein schwarzes Tonbandgerät mit einer durchsichtig -weißen Kassette im Laufwerk. Journalistin. Manchmal glaubte Abby, es gehöre zum Berufsrisiko, sich in missliche Situationen hinein zu manövrieren, ohne es zu wollen. Dieser Gedanke, frustrierte und beruhigte sie gleichermaßen, denn die Reporter schienen stets die zu sein, die die schlimmsten Situationen auf, beinahe magische Weise überlebten. Abby seufzte und richtete ihre Aufmerksamkeit, wieder auf die schmale Straße.
Etwa 15 Minuten später, war die Tanknadel, hinab in den roten Bereich gesackt und Abbys Herz machte einen kleinen Satz. Der Sprit ging zur Neige. „Scheiße, Baby komm schon, lass mich jetzt nicht im Stich“, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Sie fühlte sich auf einmal so klein und hilflos. Sie musste nach Hause. Einfach nur nach Hause. Sie kniff die Lippen erneut zusammen und für einen Moment beschäftigte sie ihre schleichende Verzweiflung so sehr, dass sie den goldenen Lichtschimmer, der in einiger Entfernung an dem verschleierten Seitenfenster vorbeihuschte, nur aus dem Augenwinkel wahrnahm. Hecktisch drehte sie sich zur Seite und blickte über die Schulter. Was war das? Das schimmern verblasste in der verregneten Dunkelheit, langsam drehte Abby sich wieder nach vorne. Gerade noch rechtzeitig um den gewaltigen Baumstamm zu sehen, der quer über der Straße lag. „Scheiße!“, schrie sie, trat mit voller Kraft in die Bremse und drehte hektisch am Lenkrad. Der Chevy schleuderte, wie ein Schlitten auf einer Eisfläche. Die Reifen, brachen durch den schlammigen Rand der Straße und der Wagen rutschte mit einem ohrenbetäubenden Quietschen und Knarzen hinab in den matschigen Graben. Der Motor blubberte und verstummte, die Scheinwerfer erloschen und Abby hing in den Sicherheitsgurten und schnappte nach Luft.
Ihr Herz klopfte bis zum Hals und sie bebte am ganzen Körper. Der Wagen hatte Schieflage, das rechte Fenster war zersprungen und die Öffnung, in den Schlamm gepresst. Auf das linke trommelte jetzt von oben der Regen. Langsam löste Abby ihren Gurt und stieg vorsichtig von ihrem Sitz. Ihre Absätze versanken tief im Schlamm, der durch die zerschlagene Fensteröffnung quoll. Unbeholfen kletterte sie über die Sitze hinweg und drückte die Fahrertür auf. Sie öffnete sich nach oben wie eine Falltür und ein eiskalter schwall aus Regen prasselte ihr ins Gesicht. Das Wasser war so kalt dass ihr augenblicklich eine Gänsehaut über den Rücken fuhr. Sie bückte sich und pflückte ihre nasse Handtasche vom Boden. Dann kletterte sie aus der Öffnung heraus und setzte einen Fuß zurück auf die Straße. „Scheiße“, fluchte sie abermals, als ihr zweiter Fuß am Seitenspiegel hängen blieb. Sie Stolperte und musste sich mit den Händen abstützen. Ihr Schuh riss sich los, rutschte ihr vom Fuß und viel polternd zurück in das Innere des Wagens. Sie setzte ihren nackten Fuß auf den Boden und spürte das stechen von Kiefernnadeln und die Kälte des Schlamms. Für einen Moment stand sie einfach nur da und blickte geistesabwesend, auf das zerbeulte Wrack, während der Regen ihre Haare und Kleider durchnässte. Dann packte sie ihre Handtasche und schleuderte sie mit einem wütenden Aufschrei gegen das nasse Metall. „Nein, Nein, NEIN!“ Warme Tränen vermischten sich mit kaltem Wasser auf ihrer Haut, als Abby auf die Knie sank und von unkontrollierten, verzweifelten Schluchzern geschüttelt wurde. Warum musste so eine Scheiße immer Ihr passieren? Was hatte sie falsch gemacht? Sie hatte keine Ahnung wo sie war, keine Ahnung, wo sie hin musste. Ihr Telefon war tot… Ihr Auto lag im Graben, Jegliche Zivilisation war vermutlich etliche Meilen entfernt. Sie war verloren. Sie würde hier draußen doch nicht…
Das Licht! Viel es ihr schlagartig wieder ein. Sie hatte ein gelbliches Schimmern gesehen, vor ihrem Unfall. Abby rappelte sich auf, klaubte ihre durchnässte Handtasche vom Boden und stolperte unbeholfen, auf einem hochhackigen Schuh und einem durchnässten Strumpf zurück durch den Regen, die unbefestigte Straße entlang. Kleine Sträucher, Farne und sonstige Gewächse umspielten ihre Beine. Sie lief und lief, bis sich zu ihrer rechten endlich die Quelle des goldenen Schimmers auftat und Abby abermals den Atem verschlug. Leicht erhaben, auf einer Lichtung zwischen den Baumriesen, stand ein gewaltiges Haus. Gespenstisch und doch majestätisch ragte es über einem Hof auf, auf dem etwa ein Dutzend Kreuze aufgestellt waren. Der Anblick war so beängstigend und Esoterisch, dass Abby für einen Moment die Kälte, den Regen, sowie ihre missliche Lage vergaß und einfach nur hinauf zu dem Anwesen Blickte, dass dort so verlassen mitten im tiefen Wald verborgen lag, und wirkte, wie das Märchenschloss einer dunklen Zauberin. Warmes Licht viel durch die hohen Fenster und obwohl das Haus Abby Angst einjagte, konnte sie ihr unverschämtes Glück, im Unglück kaum fassen. Sie war gerettet.
Das Große, gusseiserne Tor war nicht verschlossen und ließ sich mit ein wenig Kraftaufwand öffnen. Es klapperte über den steinigen Vorhof als es aufschwang und während Abby langsam ihren Weg hinauf zu dem düsteren Anwesen ging, drehte sich mehrfach um die eigene Achse um die vielen Kreuze zu begutachten, die überall auf dem großen Grundstück aufgestellt waren. Wie auf einem Friedhof. Ob hier wohl auch, unter jedem Kreuz ein toter Körper begraben lag und verrottete? Die Kälte des Regens fühlte sich plötzlich so bedeutungslos an. Was war das für ein seltsamer Ort?
Der Weg stieg an und schließlich stand sie vor dem schweren verzierten Eingangsportal. Das nasse, schwarze Holz schimmerte und Wasser tropfte vom Schnabel eines schwarz schimmernden Türklopfers in Form eines Rabenkopfes. Mit zitternden nassen Fingern, nahm Abby ihn in die Hand, zog ihn zurück und klopfte 3-mal. Das metallische Hämmern hallte laut durch die Nacht und Abby trat ein paar Schritte zurück. Für einen Moment geschah nichts, dann zuckte sie plötzlich zusammen, als ein Blitz die nasse Fassade, erhellte und als die Tür geöffnet wurde, folgte ein gellender Donnerschlag. In der Türöffnung stand ein großer, dürrer, kahlköpfiger Mann. Er trug einen Weinroten Mantel und hielt eine dampfende Tasse in seiner knochigen Hand. Er sprach nicht. Stand einfach da und blickte ausdruckslos auf Abby herab.
„Ehm Hi“, ergriff Abby das Wort und versuchte es mit einem Lächeln. Die Miene des Mannes blieb eisern, während er die Tasse langsam zum Mund führte und einen Schluck, von dem dampfenden Gebräu trank. Vermutlich Tee. Oder Kaffee? Nein, sicher nicht um diese Uhrzeit. Etwas verwirrt von der hohlen Teilnahmslosigkeit des Mannes fuhr Abby fort. „Ich Ehm, hatte einen kleinen Unfall, drüben, ein Stück die Straße runter“, sie deutete mit der Hand in die ungefähre Richtung. Langsam drehte der Mann seinen Kopf. Es war, als würde es ihm schwer fallen, Abbys Worten zu folgen. „Ich hab leider keine Möglichkeit die Polizei zu verständigen, und mein Wagen bewegt sich weder vor noch zurück er… liegt im Graben.“
„Ich kann ihnen nicht helfen“, sagte der Mann mit einer kratzigen, leicht keuchenden Stimme, als wäre er außer Atem. „Bis zur Stadt sind es etwa fünf Meilen in diese Richtung“, sein langer Finger stieß in dieselbe Richtung in die Abby gezeigt hatte. „Guten Abend.“ Dann schmiss er die Tür vor ihrer Nase zu, die mit einem lauten Krachen im Schloss einrastete und Abby nass und zitternd im Regen stehen ließ. Regen, der nun mehr einem ausgereiften Gewitter gewichen war. Immer wieder zuckten Blitze vom Himmel, gefolgt von grollenden, mahlenden Donnerschlägen. Abby presste zitternd ihre Handtasche an die Brust und blickte in die Richtung in die der Mann gezeigt hatte. Fünf Meilen in diese Richtung. Was für ein Arschloch. Sie würde sich da draußen nur noch schlimmer verlaufen, während sie sich langsam, aber sicher den Tod holte.
Nachdenklich senkte sie den Blick. Er viel auf das schwarze Tonbandgerät in ihrer Tasche. Dann kam ihr eine Idee. Was auch immer dieser Kerl zu verbergen hatte, es könnte eine interessante Story werden. Sie könnte… ja, warum eigentlich nicht?
Sie zog das Gerät aus der Tasche. Ein Blitz zuckte vom Himmel und das raue Plastik schimmerte im weißen licht. Das Gerät war feucht von außen, doch die Kassette schien unversehrt geblieben zu sein. Abby drückte auf den Record-Knopf und das Tonbandgerät begann zu schnurren. Scheinbar hatte der Regen ihm nichts anhaben können. Sie steckte das Gerät in ihre Hosentasche und schlug ihre Bluse darüber. Niemand würde es bemerken. Nicht einmal das sonore Schnurren der Kassette drang durch den nassen Stoff. Etwas verbissen drehte Abby sich erneut zur Tür um und klopfte abermals drei Mal hintereinander. Hartnäckigkeit. Unverzichtbar, für ihr Berufsfeld. wieder dauerte es einige Augenblicke, bis die Tür aufschwang. Das gleichgültig steinerne Gesicht des Mannes, war einer verärgerten Fratze gewichen. Abbys Magen krampfte sich zusammen. Verflucht war der Typ unheimlich. Aber immerhin nicht halb so unheimlich, wie dieser undurchdringliche Wald, oder die Vorstellung ziellos, in ihm herum zu irren.
„Bitte Sir. Ich habe keine Ahnung wo ich bin. Mir ist eiskalt, mein Telefon ist tot, Mein Auto liegt im Graben“, sprudelte es aus Abby hervor, bevor der seltsame Kerl etwas sagen konnte, „Ich weiß einfach nicht was ich noch machen soll. Bitte… Bitte können sie vielleicht jemanden anrufen der mir mit meinem Auto helfen kann? Meinetwegen die Polizei.“
„Nein“, antwortete der Mann knapp. „Ein Blitz hat die Leitungen getroffen. Kein Empfang.“
Verzweiflung machte sich allmählich in Abby breit. „Aber wo soll ich denn dann jetzt hin?“
Wieder dieses verfluchte Gefühl der Einsamkeit. Der Verletzlichkeit. Wie eine Wunde die nicht heilen wollte. Zur Antwort kam der Mann einen Schritt auf Abby zu und beugte sich vor.
„Es wäre besser für sie, wenn ich sie nicht herein lasse. Gehen sie zu Fuß.“
In welcher Welt wäre es besser wenn er mich nicht herein lässt? dachte Abby still bei sich.
„Bitte Sir. Wenn ich nur bleiben könnte, bis die Leitungen wieder funktionieren… Ich muss mein Auto abschleppen lassen.“
Der Mann richtete sich erneut zu voller Größe auf, rührte langsam seinen Tee um und trank die letzten Schlucke. Ein Paar tropfen landeten dabei auf seinem Morgenmantel. Abby zog die Brauen zusammen. Irgendetwas schien mit diesem Kerl nicht zu stimmen. Seine Bewegungen waren seltsam Marionettenhaft und schienen ihm große Anstrengung abzuverlangen, doch seine Gesichtszüge blieben dabei so unbeweglich wie Stein. Er ließ ein langes rasselndes Seufzen hören.
„Also Gut. Kommen sie herein. Bitte folgen sie mir in meinen Salon Miss…“
„Armstrong ,Sir. Abigail Armstrong. Oh Danke. Vielen, vielen Dank!“, wiederholte Abby, während sie hinter dem großen Mann durch das Portal trat. Im nächsten Moment, blieb sie mit offenem Mund stehen und blickte sich entgeistert in der weißen, Marmorgefliesten Eingangshalle des Anwesens um. Sie erstreckte sich über drei Stockwerke und in ihrer Mitte hing ein gewaltiger gläserner Kronleuchter von der Decke. Der Saal wurde von Kerzen erhellt. Vermutlich wegen des Stromausfalls. „Wow“, machte Abby, während sie ihren Blick geistesabwesend über die Balustraden schweifen ließ. „Sie wohnen hier ja total luxuriös… wie ehm… heißen sie eigentlich?“
„Mein Name ist Gein. Edward Theodore Gein“, sagte der Mann und blieb am Fuß der rechten Treppe stehen „Wenn sie mir bitte Folgen möchten.“
„Eh- Sicher“, sagte Abby, riss sich von dem imposanten Anblick los und stieg hinter Gein die Wendeltreppe empor, die hinauf auf den rechten Balkon führte. Sie gingen gemeinsam einen dunklen, breiten Flur entlang, vorbei an einigen Türen. Die meisten von ihnen waren verschlossen, bis auf eine. Der Türspalt ließ für einen Moment einen großen hölzernen Schreibtisch und einige Schreibutensilien erkennen.
Gerade als Abby, Mr. Gein nach seiner Berufung fragen wollte, öffnete dieser eine weitere Tür, am Ende des Flurs. Sie war größer als die anderen und seltsam verstärkt. Metall-elemente zogen sich über das Holz und die Angeln wirkten Massiv. Als wäre etwas in diesem Raum, das dort besser bleiben sollte. Warmes Licht und wohlige Wärme schlugen ihnen entgegen. Hier drin war es definitiv angenehmer als draußen im Wald.
„Nach ihnen“, sagte Gein und wies mit seiner großen Hand in den Raum hinein. Dankbar trat Abby ein und blickte sich um. Der Salon war geräumig und mit britischem Mobiliar ausgestattet. Auf der linken Seite befand sich eine Bar. Etliche Flaschen in allen Formen und Farben türmten sich an Regalen bis knapp unter die hohe decke. Bilder in bronzenen Rahmen hingen an den Wänden verteilt. Auf der rechten Seite gab es einen Billardtisch. Die großen altertümlichen Fenster-Fassaden, wurden von schweren roten Vorhängen flankiert. Die Wärme ging von einem Kaminfeuer aus, welches in einem Offenen Steinkamin brannte und den Raum in ein orange flackerndes Licht tauchte. Vor dem Kamin standen zwei rote Lehnsessel, mit einem kleinen Beistelltisch dazwischen. Ein knisternder Plattenspieler, spielte klassische Musik in einer Ecke. Abby erinnerte sich wie sie dieses Stück als Kind auf dem alten Klavier ihrer Eltern gespielt hatte. Plötzlich spürte sie einen Klos, der langsam ihren Hals hinaufkroch.
Du hast Heimweh Abby. Hast du im Moment keine anderen Sorgen? fragte eine Stimme in ihrem Kopf. Eine Stimme, der sie stets Recht geben musste. Sie hatte andere Sorgen.
„Bitte setzten sie sich. Wärmen sie sich etwas auf und lassen sie ihre nassen Kleider trocknen.“
Nanu? Woher plötzlich diese Gastfreundschaft? Abby tat wie ihr geheißen. Zog sich die dünne Jacke aus und hängte sie über die Lehne des Sessels. Achtete dabei darauf, dass ihre Bluse weiterhin das Tonbandgerät bedeckte. Dann setzte sie sich hin und versank förmlich in dem weichen Polster. Edward Gein nahm ihr gegenüber Platz und blickte hinab ins Feuer. Für einen Moment herrschte Stille. Dann ergriff Abby schließlich das Wort:
„Entschuldigen sie die Frage, Sir, aber was genau machen sie hier draußen eigentlich?“
Geins glasige Augen fixierten die Ihren. Erst jetzt erkannte Abby, dass dieser Mann irgendwie krank aussah, ausgezehrt, müde. Unter seinen gelblichen Augen zeichneten sich tiefe Ringe ab. Seine Lippen waren rissig und seine Haut blass.
„Sie fragen mich nach meiner Berufung?“
„Ja was arbeiten sie? Und wie können sie sich so ein riesiges Haus leisten? Beinahe ein Schloss.“
„ich bin Künstler.“
„Oh, interessant. Kennt man sie? Also sind sie ein berühmter Künstler.“
Gein antwortete nicht, stattdessen starrte er Abby einfach nur an.
„Ehm…schon gut“, sagte sie nach einigen Atemzügen und senkte den Blick, in der Annahme, ihn mit dieser Frage beleidigt zu haben. „Tut mir leid wenn die Fragen zu persönlich waren, ich dachte nur-“
Sie zuckte leicht zusammen als sie vor sich ein unangenehmes glucksen hörte. Als sie auf sah setzte ihr Herz einen Schlag aus, als sie in das breit grinsende Gesicht des Künstlers blickte. Sein Lächeln sah so falsch und monströs aus, Als würde jemand einen Mechanismus betätigen, der seine Mundwinkel abstrakt nach oben zog. Bei diesem Anblick, hätte Abby am liebsten sofort ihre Tasche gepackt, und sich auf den Fußmarsch Richtung Stadt gemacht. Mit einer seltsamen Bewegung seines Oberkörpers nach hinten, riss der Künstler seinen Mund auf und stieß ein Lachen aus, dass Abby die Haare zu Berge stehen ließ. Himmel… War er etwa wahnsinnig? Oder war jeder Künstler auf seine eigene Weise etwas wahnsinnig? Sie entschied sich sitzen zu bleiben und die seltsame Art des Mannes zu akzeptieren, solange er ihr nicht zu nah kam oder gar handgreiflich wurde. Die Welt brauchte keine Monster. Dafür erledigten Menschen den Job gut genug.
Sie erinnerte sich, wie ihr Vater ihr diese Lektion beigebracht hatte, als sie ihn, mit 11 Jahren nach Monstern unter ihrem Bett und in dem alten knarzenden Wandschrank in ihrem Zimmer suchen ließ. Die Geschichten, die er ihr fortan erzählt hatte, waren furchtbar und handelten von weitaus schlimmerem, als Märchen und Legenden, die von Kreaturen und Ungeheuern erzählten, die die Menschen sich bereits seit Jahrtausenden ausdachten um einen Sündenbock für ihre eigenen abscheulichen Taten zu finden. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie Journalistin geworden war. Sie wollte ihren Lesern, mit grausamer Wahrheit das Fürchten lehren, nicht mit Fiktion.
Es wäre also dumm von ihr, einem schrulligen Künstler blind zu vertrauen, der einsam und abgeschnitten mitten im Wald hauste. Und so schmiegten sich ihre Finger an das kalte Metall des alten 45er Dienstrevolvers ihres Vaters, der in der Handtasche, auf ihrem Schoß ruhte. Sie hatte ihn noch nie benutzt. Noch nie einen Schuss abgefeuert. Doch ihn bei sich zu haben, gab ihr ein Gefühl der Sicherheit. Wie die Hand ihres Vaters, in der eigenen. Damals, als sie klein und wehrlos gewesen war und an Monster geglaubt hatte, die nicht der bitteren Realität, sondern der spielerischen Fantasie eines verängstigten Kindes entsprangen.
Geins Lachen ging in ein ungesundes Husten über.
„Kennen!“, keuchte er, verzerrte schmerzerfüllt das Gesicht und drückte sich die knochige Hand auf die Brust. „Nein, Sie *hustet* kennen mich sicher nicht.“ Er zog ein weißes Taschentuch hervor und hustete ein paarmal hinein. Als Abby die roten Flecken auf dem weißen Stoff sah. Schaute sie betreten hinab ins Feuer.
„Sie brauchen nicht wegsehen“, sagte Gein der sich wieder gefangen hatte.
„Ist… Ehm… ist mit ihnen alles in Ordnung?“
„Ich habe mich damit abgefunden… Der Doktor sagt, im MRT sieht meine Lunge aus, wie ein geplatztes Kissen. Dem Gefühl nach zu urteilen handelte es sich dabei um ein verfluchtes Nadelkissen.“
Abby zog die Augenbraunen zusammen.
„Lungenkrebs. linke Seite. Gestreut in sämtliche Abdominal -Organe. Inoperabel fürchte ich, hatte der Doktor gesagt, mir… bleibt nicht mehr lange.“
„Oh nein. Das tut mir leid“
„Wie ich bereits sagte, ich habe mich damit abgefunden. Wissen sie, am Ende steht nicht immer der Tod. Ich habe getan was getan werden muss um unsterblich zu sein.“
Abby wurde ein wenig unwohl, durch den bedrückten Ton, den das Gespräch angenommen hatte, also wechselte sie das Thema.
„Sir, was für eine Art Künstler sind sie?“
„Ich bin Designer. Modedesigner, um genau zu sein.“
„Oh, wie interessant. Welche Art von Mode?“
„Alles Mögliche. Pullover Hosen, feine Anzüge, Kleider. Was immer sie wollen. Lauf weg.“
„Ehm- wie bitte?“
„Was immer sie wollen. Nur Schuhe sind etwas womit ich nichts zu tun habe.“
„Nein, was sie danach gesagt haben.“
„Ich habe gar nichts weiter gesagt.“ Abby blickte in Geins gelbliche Augen. Keine Lüge lag darin, eher eine undefinierbare Bestimmtheit. Schließlich entschied sie sich, es auf ihre Einbildung zu schieben. Sie war Müde und hatte einen nervenaufreibenden Abend gehabt.
„Aber wenn sie damit so einen Erfolg haben, wieso habe ich ihren Namen noch nie gehört?“
„Nun, die Kreise, in denen ich meine Waren zum Verkauf anbiete, sind etwas speziell, doch ich würde behaupten, dass der Name Gein innerhalb dieser Kreise, sehr geläufig ist.“
„Speziell? Wie meinen sie das?“
„Es ist nicht die Art von Kundschaft, die man in städtischen Kleidungsgeschäften antreffen würde.“ Die Stimme des Künstlers begann allmählich schwächer zu werden, als würde dieses Gespräch ihm seine letzten Kraftreserven abverlangen.
„Verstehe, also eher wohlhabende Leute?“, bohrte Abby weiter.
„Sehr, Ja“
„Darf ich fragen wie viel ein Kleidungsstück von ihnen kostet? Würde sicher ein ganzes Monatsgehalt von mir drauf gehen…“
„Meine Kleidungsstücke bewegen sich zwischen 200- tausend und einer Million Dollar.“
Abbys Augenbrauen wanderten zu ihrem Haaransatz. Jetzt war sie es, die Lachen musste.
„Bitte? Eine Millionen? Wer kann sich denn so etwas leisten?“
„Nur ein bestimmtes Millieu, wie ich bereits sagte.“
„Mit was für einem Material arbeiten sie? Mit purem Gold?“, fragte Abby grinsend.
„Ich arbeite, mit gegerbter Menschenhaut.”, sagte Gein, ohne eine Miene zu verziehen.
Das Grinsen viel Abby, schlagartig aus dem Gesicht. Sie spürte wie sie blass wurde und ihr Herz schneller zu klopfen begann.
Gein erhob sich langsam, mit einem gequälten Ächzen und nahm seine Tasse vom Beistelltisch.
„Miss Armstrong, ich sehe, sie haben noch keinen Tee getrunken. Darf ich ihnen eine Tasse bringen?“
Abbys Unterlippe bebte, doch sie bekam keinen Ton heraus.
„Miss Armstrong“, Wiederholte der Künstler etwas lauter und riss sie damit unsanft aus ihrer Schockstarre.
Er hob die leere Tasse „Einen Tee? Ich wollte mir gerade neuen aufbrühen.“
Auf keinen Fall, nimmst du einen Tee von diesem kranken Bastard an. Mach dass du hier raus kommst. Der Kerl ist völlig irre. Ermahnte sie die aufgebrachte Stimme der Vernunft.
„K-klar, Ich… nehm gern eine Tasse Tee.“, sagte sie, während sich ihre Finger enger um den Griff der Pistole klammerten. Sie war geladen. Immer. Der Mann war unberechenbar. Sie konnte kaum sagen was er als nächstes tun würde. Für einen Moment starrten sie sich tief in die Augen, wie zwei rivalisierende Raubkatzen, bereit zum Angriff. Dann schlich sich erneut das absurde Lächeln auf das Gesicht des Künstlers.
„Gut. Ich werde in die Küche gehen und frischen aufbrühen.“ Damit drehte Gein sich um, ging mit langen Schritten durch den Raum und verschwand in der hohen Tür. Abby blieb für einige Herzschläge sitzen und starrte ihm hinterher. Dann zählte sie im Kopf bis 20, stand auf und schlich auf Zehenspitzen ebenfalls zügig durch den düsteren Raum. Vorbei an dem Billardtisch vorbei an der Bar. Sie musste sofort hier raus. Keine Sekunde länger wollte sie bei diesem Irren bleiben. Sie musste-
„Geh nicht.“
Wie ein Spitzer Pfeil, fuhr Abby der Schock in die Glieder. Sie drehte sich um. Ihre Hand ruhte auf dem kühlen Metall der bronzenen Klinke. Hektisch blickte sie im Raum umher, doch er war Menschenleer.
„Hallo?“, rief sie in die Leere hinein. „Wer ist da?“ Sie atmete schnell und ihr Herzschlag donnerte in ihren Ohren.
„Du darfst nicht gehen. Versteck dich. Schnell.“ Die Stimme war sanft, aber bestimmt.
„Was?“
„Nicht in die Halle. Er wird dort warten. Versteck dich.“
„Was? Wer spricht da?“ Abby spürte, die Panik in sich aufsteigen. Sie zog den Revolver hervor und richtete ihn in den düsteren Raum, das Feuer warf schwarze Schatten, die wie Schamanen an den Wänden umher tanzten.
„Wer bist du?“
„Eine Freun-“
„HÖR NICHT AUF SIE!“, wieder zuckte Abby vor Schreck zusammen. Die zweite Stimme war so viel älter und dröhnender. Sie nahm den gesamten Raum ein und ließ Abby die Nackenhaare zu Berge stehen.
„Wer spricht da?“ Schrie Abby, während ihre zitternden Hände die Pistole umklammerten, deren silberner Lauf in die leere zielte.
„VERSCHWINDE. FLIEH!“
„Nein! Er wird dich Töten.“
„FLIEH!“
Das ließ Abby sich nicht zweimal sagen. Selbst der verregnete, dunkle Wald war ihr lieber, als in diesem Raum mit den Körperlosen Stimmen zu bleiben. Sie drehte sich um, riss die Tür auf, stürmte nach draußen in den Flur, stolperte und verlor ihren zweiten Schuh. Ihre dünnen Strümpfe klangen dumpf auf den abgetretenen Holzdielen, als sie, so schnell sie konnte, Richtung Eingangshalle rannte, den 45er vor sich ausgestreckt. Der gewaltige Saal lag im Schatten. Jemand hatte den Kronleuchter gelöscht und der Raum wurde nur noch durch das flackernde Licht, altertümlicher Kerzenhalter erhellt. Abby brach sich beinahe den Hals als sie die steile Wendeltreppe, so schnell sie konnte hinab stieg. Sie rannte über den kalten Marmor hinüber zu dem schwarzen Portal, begleitet von gespenstischer Stille. Lieber da draußen erfrieren, als zu Smoking und Lederstiefeln verarbeitet zu werden. Sie drückte die große, gusseiserne Klinke des Portals hinunter und rüttelte kräftig daran. Doch nichts geschah. Ungläubig starrte sie das dunkle Holz an. Dann drückte sie erneut die Klinke hinunter und begann sich gegen die Tür zu werfen. Doch das massive Holz war so undurchdringlich wie eine Mauer. Scheiße, Das bringt nichts. Verstecken, hatte die Stimme gesagt. Ich muss mich Verstecken. Es war ihr letzter Gedanke, als sie plötzlich hinter sich ein Geräusch hörte. Ein Schleifen. Ein Kratzen. Als würde jemand etwas schweres über den steinernen Boden ziehen. Zu spät.
Langsam drehte sie sich um. Am anderen Ende der Halle, stand schweigen, eine düstere, groß gewachsene Gestalt. Doch sie war kein Mensch. Dafür war sie zu groß. Viel zu groß. Dünne aber kräftige Beine mündeten in einen gestreckten, buckligen Torso. Langsam ließ sie ihren Blick nach oben wandern. Ein Anblick, wie aus einem lebendigen Albtraum. Der Mund des Ungetüms, das gut achteinhalb Fuß maß, war schlaff wie der eins Pferdes, was ihm ein seltsam trauriges aussehen verlieh. Seine Augen waren mit einem blutigen Leinentuch verbunden und sein langes Gesicht wurde Umrahmt von einem Vorhang aus schütteren, verfilzten schwarzen Haaren. Sie… musste Träumen. Der Schneider stand einfach da und ließ seinen Kopf in seltsam abgehackten Bewegungen, und einem leichten knacken, hin und her fahren. Langsam wanderten Abbys Augen hinab zu den Händen der Abscheulichkeit. Die eine war seltsam verstümmelt und schliff leblos über den glatten Boden, die andere, hatte lange Finger und hielt eine gewaltige Schere die unheilverkündend im Kerzenlicht glitzerte. Bei ihrem Anblick wurde Abby schlecht. Sie spürte, wie etwas Warmes, die Innenseiten ihrer Beine hinablief. Das Monster, setzte sich in Bewegung. Kam direkt auf sie zu. Das war der Moment. Ohne zu zögern hob Abby den Revolver und feuerte einen Schuss auf das abstruse Monster ab. Der 45er ging mit einem ohrenbetäubenden Knall los und das Projektil traf den Schneider mitten in die Brust. Doch er Schrie nicht vor Schmerzen auf. Er blutete nicht. Er stürzte nicht. Ja, er wurde nicht einmal langsamer. Noch ein Schuss. Linke Schulter, doch er, nahm keine Notiz davon. Als der Schneider schließlich nur noch wenige Schritte von ihr entfernt zum Stehen kam, stieß Abby mit dem Rücken gegen das massive Portal und sie blickte direkt hinauf in dieses Gesicht. Dieses Gesicht, das jedwede Menschlichkeit verloren hatte. Und wieder fühlte sie sich klein. Hilflos. Ausgeliefert. Als wäre sie wieder 11 Jahre alt… Siehst du Dad? Es gibt sie also doch. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Sie spürte die Hoffnungslosigkeit, die ihre nassen Beine hinaufkroch. Ein weißer Blitz erhellte die Halle und die höher liegenden Balustraden. Und dann sah sie es:
Ein Mädchen. Sicher nicht älter als 14 Jahre, stand auf einem der Balkone und blickte zu ihnen herab. Ihr silbernes Kleid umspielte ihre Beine und spiegelte das flackernde Kerzenlicht. Abbys Augen weiteten sich. Ihre Lippen formten die Worte: „Hilf mir“ und sie hoffte, die Erscheinung würde nicht plötzlich wieder verschwinden. Doch das Mädchen schüttelte langsam den Kopf.
Gleich ist es vorbei. Es… tut mir Leid.
Sie sprach ohne den Mund zu bewegen und obwohl sie weit entfernt stand hörte Abby die Stimme des Mädchens so deutlich, als würde sie ihr direkt ins Ohr flüstern. Es war dieselbe Stimme, die im Salon zu ihr gesprochen hatte. Ihre Worte hatten etwas beruhigendes, und versetzten Abby in einen beinahe- tranceartigen Zustand, obwohl sie so endgültig waren. Abby ließ den Revolver sinken und wusste, dass sie verloren hatte. Sie hätte auf ihre „Freundin“ hören sollen.
„Was bist du?“, fragte sie das Ungetüm matt, das ihr still-schweigend gegenüber stand. Langsam öffnete der Schneider den Mund. Die rissigen Lippen entblößten dabei zwei Reihen Nadelspitzer Zähne und seine Antwort war ebenso abstrakt, wie seine Erscheinung:
„ICH NICHT. ICH NICHT. SIE LÄSST UNS.“
Abby blickte in sein Gesicht und ihr Herz machte einen Satz, als sie die beiden nassen Flecken sah, die sich auf dem schmutzigen Leinentuch bildeten, das die Augen des Schneiders umschlang. Tränen?
Schnapp
Sie riss die Augen auf. Ein schrecklicher, allumfassender Schmerz empfing sie. Sie wollte schreien, doch sie konnte nicht. Sie wollte Luft holen, doch sie konnte nicht. Sie hörte wie der leblose Rest ihres Körpers unbrauchbar, mit einem Poltern zu Boden viel, wie sich ihr Blut über den weißen Marmor ergoss. Spürte noch, wie sie an den Haaren gepackt, und emporgehoben wurde. Dann verschwamm der Saal im düsteren Nebel. Und Abby versank in ewiger Stille. Sie bekam nicht mehr mit, Wie sich der Schneider zurück in den Künstler verwandelte und auf die Knie viel, wie sich eine alte, knochige Hand, auf die Schulter des kleinen Mädchens legte und wie das Tonbandgerät, mit einem leisen Klicken zum Stehen kam.
Der Regen Trommelte gegen das hohe Küchenfenster als ich, verschlafen den Raum betrat und mich an meiner altmodischen Filterkaffeemaschine zu schaffen machte. Ich warf einen Blick auf die Uhr, die über den blass-grünen Küchenschränken hing. 5 Uhr Nachmittags und ich fühlte mich so schlaftrunken als wäre es sechs Uhr morgens. Während die Kaffeemaschine mit einem gurgelnden Geräusch zu arbeiten begann ging ich hinüber zum Fenster und blickte hinaus, in den Hinterhof des Gebäudeblocks in dem ich wohnte. Es dämmerte bereits. Der Regen zog dünne Wasserschleier über das beschlagene Glas und ließ die kahlen Bäume und matschigen Wiesen, die die Gärten der Anwohner säumten wie das Gemälde eines trauernden Künstlers wirken. Verflucht, ich wünschte mir den Sommer ebenso sehnlich herbei wie noch ein paar weitere Stunden, erholsamen Schlafs. Doch die würde ich nicht bekommen. Allan und ich waren um 6 Uhr an der Bibliothek der Universität verabredet. Glücklicher Weise brauchte ich von hier aus mit der U Bahn nur etwa 20 Minuten zum Campus. Als sich die Kaffeemaschine schließlich mit einem Klack-Geräusch zu Wort meldete, nahm ich die gefüllte Tasse heraus, trank einen Schluck und verbrannte mir sogleich Zunge und Lippen. Ich stellte die Tasse zurück, lief durch die Küche und öffnete den Kühlschrank. Zögernd holte ich die Tüte Milch heraus, die nun bereits seit einer Woche in der Tür stand, öffnete sie und schloss sie gleich wieder, als mir ein widerlich beißender Gestank in die Nase stieg. Ich stellte die Tüte zurück und machte mich auf den Weg ins Badezimmer. Hatte ich erstmal geduscht würde der Kaffee mit Sicherheit abgekühlt sein. Ich öffnete die Tür, schaltete das Licht ein und warf einen Blick in den Spiegel. Mein Gesicht hatte etwas Farbe zurückgewonnen. Selbst in dem grellen, weißen Licht, das einen sofort mit der Nase auf jeden Makel drückte, den man am Körper trug.
Ich fuhr mir mit der rechten Hand durchs Haar, blond wie das meiner Mutter, welches immer wieder in ein kantiges, grünäugiges Gesicht, mit leichtem Bartansatz viel. In der Bewegung hielt ich inne. Die Narben an meiner Hand sahen in dem grellen Licht aus, als würde die Haut, an meinem gesamten Handrücken fehlen. Nur vernarbtes Gewebe war übrig geblieben. Ich hatte Glück, dass das Feuer rechtzeitig gelöscht worden war, bevor es die Funktion meiner Finger für immer beeinträchtigen konnte. Das Feuer. Ich versuchte für einen Moment mich an den Unfall zu erinnern. Ich erinnerte mich wie mich die Beamten in einen Krankenwagen hoben und das Gesicht meiner- plötzlich zuckte mir ein heftiger schmerz von einer Schläfe zur anderen und ich kniff die Augen zusammen.
„Fuck“, keuchte ich und rieb mir die Stirn. Was war das denn? Egal. Ich hatte mir und Allan versprochen endlich mit meiner Vergangenheit abzuschließen. Endlich nach vorne zu blicken.
Ich wandte meinem Spiegelbild den Rücken zu, zog mich aus und stieg unter die Dusche. Das warme Wasser war eine Wohltat, die die trägen Gedanken ebenso fortwusch, wie meine Müdigkeit und als ich wieder aus der Dusche kam und mich abtrocknete, fühlte ich mich, wie neu geboren. Ich zog mir frische Klamotten an, bestehend aus einem gestreiften Pullover und einer Jeans, ging zurück in die Küche und trank meinen Kaffee, der mittlerweile auf eine trinkbare Temperatur herunter gekühlt war. Als ich an eine der Küchen-Anrichten gelehnt da stand, viel mein Blick auf den grauen Mülleimer, der in einer Ecke des Raums stand. Das weiße Kärtchen, das gestern in meinem Briefkasten gelegen hatte, lag oben auf. Langsam schlich ich hinüber und begutachtete das Papier. Besuche mich. Es war also kein Traum gewesen. Vermutlich wäre es klug, Allan dieses Stück Papier zu zeigen. Vielleicht konnten wir uns ja gemeinsam einen Reim darauf machen. Ich fischte das Kärtchen wieder aus dem Müll heraus, ließ es in meine Tasche gleiten und verließ, nach einem weiteren Blick in meinen, üblicher Weise, leeren Kühlschrank, die Wohnung.
Es war 6:05 Uhr als ich das Unigelände betrat und mir den letzten Bissen eines Chicken-Sandwiches in den Mund schob, das ich mir unterwegs gekauft hatte. Die Bibliothek lag im hinteren Teil, weshalb ich das Prunkvolle Hauptgebäude einmal durchqueren musste, um auf seine Rückseite zu gelangen. Die Universität war 1848 gegründet worden und galt mit rund 40.000 Studenten als das Flaggschiff der Universitäten von Wisconsin. Größer noch als die Universität von Milwaukee, der größten Stadt des Staats. Die, in Bronze gegossenen Augen von Abraham Lincoln, der es sich auf einem ebenso bronzenen Sessel gemütlich gemacht hatte, blickten auf mich herab, während ich die steinernen Stufen zum offen stehenden Eingangsportal hinaufstieg. Ich durchquerte das Gebäude mit zügigen Schritten, die in der hohen Eingangshalle, mit den zusammenlaufenden Treppen widerhallten. Schließlich gelangte ich zu dem zweiten Portal, das auf den Campus hinausführte. Der Campus bestand zum größten Teil aus grünen Wiesen, mit vereinzelten kahlen Baumskeletten und wurde durch die übrigen Unigebäude umsäumt und eingegrenzt. Ich sah Allan bereits von weitem, vor dem Eingang der altertümlichen Bibliothek. Ansonsten, waren um diese Uhrzeit kaum Studenten auf dem Gelände. Al trug diesmal eine violette Sportjacke zusammen mit einer grauen Hose. Seine gelben Chucks leuchteten wie Katzenaugen durch die trübe Dämmerung. Er hatte mir den Rücken zugewandt und sprach mit einer massigen Gestalt, die einen rot-weißen Hoodie trug und ihn um gut 10 Zentimeter überragte.
„Hey“, grüßte ich die beiden als ich nur noch etwa fünf Schritte entfernt war. Allan drehte sich um und grinste. Der große Kerl, verzog keine Miene. Stattdessen blickte er mich kurz mit seinen eisernen Zügen, durchdringend an und wandte sich dann wieder Allan zu. Es dauerte einen Moment, bevor ich begriff wer dieser Kerl war. Der Trainer der Wisconsin Badgers sprach mit einer tiefen mechanischen Stimme und erinnerte mich dabei an das Menschliche Äquivalent zu Colossus, dem gigantischen silbernen X-Men aus den Marvel Comics.
„Also Green. Morgen will ich dich in Bestform sehen. Es ist Endsaison. Ich zähle auf dich aber so wie gestern Abend kann ich dich nicht gebrauchen.“
„Schon klar Mann. Ich hatte einfach schlecht geschlafen, alter. Das hat doch jeder mal.“
„Dann schlaf dich heute Nacht aus oder du verbringst unser Endspiel auf der Bank, verstanden?“
„Jaa schon klar“, erwiderte Allan leicht genervt. „Wir sehen uns morgen Bruder, werde dich schon nicht hängen lassen.“
Darauf folgte ein Handschlag, der einem Durchschnittstypen wie mir, vermutlich alle Knochen im rechten Unterarm gebrochen hätte. „Das wollte ich hören.“ sagte Sam, drehte sich auf dem Absatz um und stapfte mit schweren Schritten von dannen. Allan schnitt eine Grimasse hinter seinem Rücken.
„Was war denn los?“, fragte ich.
„Ach, Sam meinte nur mich daran erinnern zu müssen, wie schlecht es Gestern für uns gelaufen ist, weil ich nicht gut gespielt habe… Als hätte es nur an mir gelegen.“
„Was? du warst gestern noch bei einem Spiel gewesen, nachdem wir in Geins Haus waren?“
„Klar“, sagte Allan und zuckte die Schultern.
„Warum? Ich konnte mich kaum drauf konzentrieren die Fotos zu entwickeln und… du spielst Football?“
„Du hast ihn gehört. Es ist Endsaison Jedes Training ist wichtig-“ äffte Al Sams monotone Stimme, auf eine dümmliche Art und Weise nach. „Wäre ich gar nicht gekommen hätte ich genauso gut direkt aus dem Team austreten können.“
„Hmm“, machte ich „Was für ein Arsch…“
„Du sagst es. Wäre dieser Arsch nicht so ein verdammt guter Trainer, hätte ich ihm längst die Meinung gegeigt. Naja wie auch immer… gehen wir rein?“
„Klar“ gab ich zurück. Allan warf seine Kippe auf den Boden, trat sie aus und öffnete die Metall-verstärkten Glastüren, die zur Bibliothek führten.
Zwei Stunden später saßen wir an einem der vielen Tische, die dicht aneinandergereiht zwischen den Gründerzeitlichen Säulen standen, deren Kapitelle sich zu gewaltigen Bögen ausweiteten, über die sich der mächtige Baldachin aus verzierten Oberlichtern legte und in unregelmäßigen Abständen das weiße Licht von Blitzen, die alte Bibliothek erhellen ließ, während der Regen von draußen auf das Glas prasselte. Die Tischreihen, aus dunklem Mahagoni schmückten vereinzelte, sporadisch frisierte, Köpfe von Studierenden, gebeugt über vergessene Literatur aus vergangenen Zeiten und zerfledderten Uni-papieren. Sie lasen, lernten, oder starrten stumpfsinnig hinab auf die Leeren Zeilen, sinnierten darüber nach, welche falschen Entscheidungen sie im Rahmen ihres bisherigen, meist relativ kurzen Lebenslaufs getroffen haben, um nun, einen Samstagabend, an diesem Ort verbringen zu müssen, statt auf der nächstbesten Party, einen Haufen Geld rauszuschmeißen und sich mit Billigalkohol die Kante zu geben, um sich am Ende genau dieselbe Frage zu stellen- Nur sehr viel besoffener.
Und so saßen Allan und ich ebenfalls an einem der polierten Tische und suchten fieberhaft nach Informationen über Edward Gein und das verwunschene Haus am Stadtrand.
Doch dieses Vorhaben gestaltete sich deutlich schwieriger als wir erwartet hatten. Kaum ein Buch gab konkrete Informationen über den Künstler preis. Dafür waren die Vorkommnisse vermutlich einfach noch zu Frisch und selbst die bibliothekseigenen Archiv-Register, auf welche man, über die würfelartigen Computer, die, in einer Ecke des großen Raumes, auf hohen Stehtischen summten, Zugriff hatte, enthielten kaum Informationen über Bücher oder Manuskripte, die etwas erzählt hätten, was uns nicht längst bekannt, oder bereits begegnet war. Zugegeben, ich hatte mir die Haare gerauft um in diesem schrecklichen durcheinander aus digitalen Listen, die im Vorjahr, die analogen Registerkarten am Eingang, der Bibliothek abgelöst hatten, den Überblick zu behalten. Die Universität von Madison stand zwar für Innovation und Modernität, doch manchmal ist es besser, erst mit der Zeit zu gehen, wen die Zeit dafür reif ist und so dauerte es eine geschlagene halbe Stunde, bis wir einige Bücher zusammenhatten, die als Informationsquelle, überhaupt in Frage kamen.
Allan fuhr sich mit der Hand über die kurzen Haare und klatschte eine Ausgabe von Verbrechen die Geschichte schrieben, resigniert zwischen uns auf die Tischplatte.
„Nichts“, sagte er, nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. „Als hätte die Welt noch nicht davon erfahren.“
„Hmm, kein Wunder. Ist ja noch nicht lang her. Fünf Jahre… aber alles was hier steht, findet sich sicherlich in jeder x-beliebigen Polizeiakte wieder”, gab ich zurück und tippte mit dem Finger auf die offene Seite von Jahrhundertverbrechen, als könne ich ihr damit die Antworten entlocken, die ich brauchte.
„Nunja, das war alles was Mr. Bullock mir geben konnte. Ich könnte schwören… der Typ hat was gegen mich.“ sagte Allan und setzte sich die runden Gläser wieder auf die braunen Augen.
„Ach meinst du?“
„Sicher. Sieh dich um. Die Bibliothek ist ein Meer aus weißen Gesichtern.“
„Wonach hast du ihn denn gefragt?“, wollte ich wissen.
„Hab ihm gesagt, dass wir Informationen zu Aktuellen verbrechen brauchen.“
„Ganz schön Unspezifisch“, räumte ich ein und zog die Brauen hoch.
„Der Vorfall ist 5 Jahre her Elija. Ich glaube kaum, dass schon jemand die Zeit gefunden hat, sich ausgiebig mit dem Fall zu beschäftigen.“
„Ich glaube, was wir glauben ist nicht allzu wichtig. Ich denke ich gehe Bullock noch einmal auf die Nerven. Vielleicht kam ja gerade etwas heraus.“
„Das glaubst du doch selbst nicht.“
„Schluss mit glauben. Räum am besten ein Paar der Bücher, die wir schon durch haben, zurück.“
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. 8:15. Um 8Uhr hatte das Personal Feierabend. Doch ich wusste dass Bullock gerne noch etwas Länger blieb um Bücher zu sortieren oder Studenten bei ihren Arbeiten zu helfen. Er liebte diesen Ort voller Geschichte, ebenso sehr wie ich. Es war ein ruhiger Ort, an dem man seine Gedanken schweifen lassen konnte. Eine Festung, die einem eine Atempause, vom geschäftigen Alltag gönnte.
„Alles klar. Aber vorher gehe ich eine rauchen“, sagte Allan, streckte sich und stand auf.
„Gut bis nachher.“ Meine Schuhe quietschten auf dem Linoleum, als ich mich auf dem Absatz umdrehte und auf die hohen Regalreihen zusteuerte. Ein Labyrinth aus altem Wissen und neuer Unwissenheit. Mein Finger fuhr über die rauen, frisch entstaubten Buchrücken, während ich die Reihen aus massivem Eichenholz abschritt. Es dauerte eine Weile, bis ich den grauhaarigen Hinterkopf, Des Bibliothekars, in der Reihe neben mir erspähen konnte. Er trug Walkman- Kopfhörer, die offenbar so laut, klassische Musik in seine alternden Ohren plärrten, dass er mein Rufen kaum hörte. Emsig war er damit beschäftigt, die Buchrücken mit einem Staubwedel zu bearbeiten, zu summen und dabei eine kleine Tanzchoreographie zum Besten zu geben. Ich hätte ihm auf die Schulter getippt, stünde kein gewaltiges Regal vor meiner Nase, das mir den Weg versperrte. „Mr. Bullock“, rief ich, nun etwas lauter. „Hallo, Mr. Bullock.“ Als hätte ich ihn mit einem Gummigeschoss getroffen, zuckte er zusammen und drehte sich um. Hastig zog er sich die Kopfhörer ab und fummelte mit fahrigen Fingern an seinem Walkman herum, während sein Gesicht rot anlief.
„Ach, meine Frau hat mir diese Kassette geschenkt. Ich…Ich hab sie einfach mal eingesteckt aber klassische Musik ist wirklich nichts für mich, viel zu weich gespült. Ich bin- ich meine, ehm… ach sie sind‘s nur… Mr. Davis“, sagte er dann, ließ die Finger von seinem Walkman, steckte sich die Kopfhörer am Gürtel fest und kam auf mich zu. Schließlich standen wir direkt vor einander, zwischen uns das Regal.
„Wen hatten sie denn erwartet?“, fragte ich.
„Ach… einerlei. Sie sind mit dem farbigen Jungen hier, richtig?“
„Allan, ja. Warum?“, fragte ich und zog die Brauen zusammen.
„Sagen sie diesem Nichtsnutz wenn er sich noch einmal eine Zigarette zwischen meinen kostbaren Büchern anzündet, verpasse ich ihm ein lebenslanges Hausverbot, das sich gewaschen hat. Dann kann er zusehen wie er sein Studium unter Kontrolle bringt. In meiner Bibliothek ganz sicher nicht.“ Energisch wischte er zwei Staubfussel von den vergilbten Seiten eines alten Buchs.
„Ein Student der Literatur, sollte mehr Respekt vor der Vergangenheit haben.“
„Tut mir leid. Ich werde es ihm ausrichten.“, sagte ich und kreuzte die Finger hinterm Rücken. Eine alte Angewohnheit.
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich weiß dass sie ein grund- anständiger Junge sind.“
Soso. Mir vielen schlagartig 10 Beispiele ein, die das Gegenteil bewiesen. Natürlich war ich nicht Grundanständig. Allan hingegen war es. Doch es ging hier nicht um Anstand. Ich war weiß. Allan nicht. Rassismus. So dumm, wie einfach. Dass Allan sich wirklich eine Zigarette zwischen Bullocks kostbaren Büchern angezündet hatte, wagte ich zu bezweifeln. Ich spürte Wut in mir aufsteigen, doch wusste dass es besser war, die Klappe zu halten. Ich wollte etwas von Bullock, nicht umgekehrt.
„Es freut mich dass ich in ihren Augen grundanständig bin.“
„Sind sie es denn nicht?“
„Nein, aber das ist nicht wichtig.“ sagte ich und lächelte schnippisch.
„Hm. Wie dem auch sei, Wie kann ich ihnen helfen?“
„Ich brauche spezifische Informationen über einen bestimmten Verbrecher. Etwas über seine Geschichte. Sein Leben. Ich will wissen, was er für ein Mensch war.“
„Verstehe. Schreiben sie eine literarische Arbeit über einen bestimmten Verbrecher?“
„Ja genau“ (Verdammt, das mit den Fingern musste ich mir abgewöhnen.)
„Um welchen Verbrecher geht es dabei?
„Edward-Theodore Gein.“
Bullock nickte. „Oh Ja. Schrecklich was dort geschehen ist. Man möchte es sich gar nicht vorstellen. Ein spannendes Thema dennoch und sehr aktuell.“
„Was sie nicht sagen“, murmelte ich. „Können sie bitte noch einmal nachsehen? Ich brauche diese Informationen unbedingt. Ein paar der neueren Bücher, die sie Allan gegeben haben, Umreißen das Thema zwar, doch geben sie keine Informationen Preis, die mir nicht längst bekannt sind.“
Mr. Bullock dachte für einen Moment nach.
„Also gut. Weil Sie es sind: wir haben letzte Woche eine Lieferung nagelneuer Bücher erhalten. Eine Ziemlich große Lieferung. Diese Bücher sind eigentlich noch nicht zur Herausgabe gedacht, aber ich könnte für sie im Lager nachsehen und… ein Auge zudrücken, falls ich etwas Hilfreiches finde. Dennoch steht die Leihoption für diese Bücher noch nicht zur Verfügung. Sie können sie also nur hier lesen.“
„Das würde völlig genügen. Vielen Dank“, sagte ich mit einem freundlichen Lächeln. Doch insgeheim glaubte ich nicht wirklich daran, dass Bullock dort unten etwas Hilfreiches auftreiben würde.
„Gut. Warten sie hier ich komme sofort wieder.“
Damit verschwand er nach rechts und ich trat von dem Regal zurück.
Ich stand nun vollkommen allein zwischen den, schier endlosen Regalen und Bücherreihen keine Menschenseele war zu sehen. Nicht einmal zu hören. Seltsam. Es war doch die ganze zeit nicht so ruhig. gemächlich trat ich von einem Fuß auf den anderen und besah mir die Bücher vor mir. Fünf Ausgaben von „Operation Leviathan.“ Nie gehört. Auch der Name des Autors war mir vollkommen unbekannt. Daneben einige Sachbücher und ein zerfleddertes Exemplar, des Tagebuchs der Anne Frank. Ich drehte mich um und lehnte mich rücklinks, gegen das Regalbrett. Es knarzte mit leichtem Nachhall, gespenstisch in der eisernen Stille. Ich ließ meinen Blick durch die Gänge wandern. Irgendwie sah es plötzlich aus, als würde sich das Labyrinth aus Regalen ins unendliche erstrecken und mir wurde ein wenig schwindelig. Nanu, Was war denn auf einmal los? Ein Blitz erhellte die Bibliothek und ein heftiger Donnerschlag, lauter als alles bisherige, ließ mich zusammenzucken. Plötzlich flackerte das Licht und ein Paar der Lampen, die die Bibliothek zuvor in ein warmes gemütliches Licht getaucht hatten, erloschen. Ich rieb mir die Augen und blinzelte. Muss die Leitung getroffen haben, dachte ich und spürte wie eine seltsame Beklemmung in mir aufstieg. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich begann zu laufen, schneller und immer schneller doch ich erreichte das Ende nicht. Es kam nicht näher. Die Regale zu meinen Seiten verschwammen, als würde ich mich mit atemberaubender Geschwindigkeit fortbewegen. Schließlich blieb ich stehen. Ich keuchte und mein Herz klopfte, als wäre ich soeben einen verdammten Marathon gelaufen. Mir war so schwindelig und ich begann zu taumeln. Ich merkte, wie ich es mit der Angst zu tun bekam und stützte mich mit der Hand an einem der Regalbretter ab. Und dann plötzlich wurde mir kalt. Sehr kalt. Leere und Düsternis legten sich plötzlich über diesem Ort nieder, der mir immer ein Gefühl der Ordnung und Sicherheit gegeben hatte. Er wirkte Plötzlich so monumental und furchteinflößend. Scheiße. Was zur Hölle war hier los. Oder… was war mit mir los. Dann hörte ich es. Ein Schlurfen, ein Schluchzen, wie das eines Kindes. Die Kälte fuhr durch meine Kleider, wie eisige Finger, verpasste mir eine Gänsehaut und die Panik ergriff Besitz von mir. Es verfolgt dich. Du kannst nicht fliehen. Mein Magen krampfte sich zusammen als ich die blutigen Fußspuren sah, die sich über das glatte Linoleum zogen und die Schlieren, die an den vielen Büchern klebten, als hätten blutverschmierte Finger über ihre Rücken gestrichen, die alle- wie ich mit schrecken Feststellte- denselben Titel trugen. Ich habe Antworten. Besuch mich.
Ein Klagen aus kalter Verzweiflung erfüllte die Luft. Ich nahm eines der Bücher aus den Regalen und öffnete es. Nur diese zwei Sätze. Immer und immer wieder.
Ich habe Antworten. Besuch mich. Ich habe Antworten. Besuch mich. Ich habe Antworten. Besuch mich.
Seite um Seite, Blatt um Blatt. Wie im Wahnsinn gefangen riss ich Bücher grob aus den Regalen und Blätterte sie durch. Ich habe Antworten. Besuche mich. Die Worte stiegen zu einem Mantra in meinem Kopf heran. Dröhnten in meinen Ohren. Eine Stimme, rau und krächzend, Verzerrt, wie ein Bruchstück der Realität. „Ich habe Antworten. Besuche mich.“ Ich presste mir die Hände auf die Ohren und begann zu schreien. „Nein! Raus! Raus aus meinem Kopf, Verschwinde!“
Bücher vielen aus den Regalen, wie ein Regen aus vergessener Geschichte. Schwarze Tinte floss wie Blut aus den vergilbten Seiten und Schmerzensschreie erfüllten die Luft. „Ich will das nicht hören. Ich will sie vergessen, einfach vergessen!“ Ich wusste nicht woher meine Worte kamen, und warum ich sie Aussprach. Doch sie taten gut. Als wäre die Wahrheit in ihnen verborgen. die Buchstaben verschwammen. Ich wurde in Tinte hineingezogen und versank in ihr, als wäre sie tief wie das Meer. Und dann wurde die Stimme sanft, sanft wie die eines Kindes:
„Das kannst du nicht Elija. Glaub mir. Ich will dir helfen.“
„Was? wer spricht da?“, fragte ich in die Dunkelheit.
„Ich kann dir die Wahrheit zeigen. Du musst mir nur folgen.“
„Und wenn ich sie nicht will? Ich kehre nicht mehr zurück.“
„Du brauchst sie. Der Fluch ist längst in dir. Und jetzt beginnt er dich zu zerfressen.“
„Was? Was für ein Fluch? Wovon sprichst du?“
„Ihr Fluch. Sie hat ihr Netz ausgeworfen. Du folgst ihrem Ruf, ohne es zu wissen. Sie wird immer mächtiger.“
„Wer wird mächtiger?“, fragte ich in die schwärze hinein. „Verdammt, warum… warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?“
„Weil du meine letzte Hoffnung bist Elija. Ich brauche dich. Ein Gefallen für einen Gefallen.“
„Deine letzte Hoffnung wofür? Was für ein Gefallen?“
Plötzlich wurde die Stimme unruhig.
„Ich muss gehen. Sie wird zu stark. Du weißt wo du mich findest… Ich werde dich rufen, wenn es so weit ist.“
„Warte! Hast du den Brief geschrieben? Woher weiß ich dass ich dir vertrauen kann?“
„Du hast keine Wahl. Wir brauchen einander. Wenn sie dich bekommt, tötet sie dich. Tut mir leid dass ich dir nicht mehr Antworten geben kann. warte auf mein Zeichen.“
Dann verstummte sie. Trieb einfach davon und ich versank in der Dunkelheit.
Mein Herz klopfte und ich zitterte wie Espenlaub. Schon wieder. Ich stand mit weichen Knien zwischen den Regalen. Der Regen trommelte auf das Dach und Mr. Bullock kam mit gemächlichen Schritten auf mich zu. Ich blickte an mir herab. Kein Buch lag am Boden. Alles war nur in meinem Kopf. Mein Kopf. Dem ich immer und immer weniger vertraute.
„Ich glaube ich habe gefunden wonach sie suchen“, sagte Bullok mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, das ich zu gerne erwidert hätte, wäre mir nur nicht so verdammt übel gewesen.
„Sagen sie, ist alles in Ordnung mit ihnen?“ Bullock warf mir einen Skeptischen Blick zu. „Sie sehen aus als hätten sie einen Geist gesehen.“
„Was sie nicht sagen“, keuchte ich „Haben sie schon mal einen Geist gesehen? Ich hab nämlich keine Ahnung ob das eben einer war.“ Mein Atem ging schnell und flach und meine Hand ruhte immer noch auf dem Regalbrett.
„Hmm… Ihnen scheint ihr Thema ganz schön zu Kopf zu steigen. Vielleicht gönnen sie sich lieber eine Pause und ruhen sich aus.“
Eine Pause wäre sicher das richtige. Eine Pause von allem. Eine Pause vom Denken. Eine Pause vom Leben. Mein Kopf drehte sich und ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Ich musste zu Allan. Ich musste ihm erzählen was passiert war oder… wollte ich das überhaupt? Ich hatte Allan versprochen meine Vergangenheit hinter mir zu lassen und vor allem hatte ich für mich beschlossen Allan nicht länger in diese Sache mit rein zu ziehen. Daran wollte ich mich halten. Aber warum war ich dann überhaupt hier? Was tat ich hier? Wie konnte ich die Vergangenheit vergessen, wenn ich hier stand und nur so in Informationen über meine Vergangenheit wühlte. Der Verstand ist machtlos. Wenn er gegen das Herz kämpft. Doch was hatte ich überhaupt mit dieser ganzen Sache zu tun. Mit Gein… nichts und ich wollte nichts damit zu tun haben. Oder?
Langsam und leicht schwankend, richtete ich mich auf. „Was haben sie für mich?“ fragte ich den Bibliothekar.
Zur Antwort hielt mir Mr. Bullock ein Buch unter die Nase.
Darauf zu sehen war. ein Mann, etwa Mitte 50. Er hatte die Augen niedergeschlagen, trug eine graue Buskennmütze und ein blaues, ausgeblichenes Flanellhemd. Die Überschrift lautete Ed Gein- a quiet Man. Verfasst von einem Autor namens Dr. Ujinga. Ich blickte für eine Weile auf das Cover des Buches. Nahm es in die Hände und drehte es auf den Rücken um den Klappentext zu Lesen.
Ein Mann, oder ein Monster? Seine abnormen Taten, werden bis in alle Ewigkeit, düstere Geschichte schreiben.
Dr. Sana Ujinga, erhielt seinen Doktor-Titel, 1977 in Simbabwe, Afrika, im Fachgebiet Psychologischer und Gesellschaftspsychologischer Wissenschaften. In diesem Buch untersucht er die Person die hinter der verschlagenden Maske des Serienkillers Edward Gein steckt, sowie die prekäre und gestörte Beziehung zu seiner Mutter, Augusta Wilhelmine Gein, die kurz nach Kriegsende 1948 nach zwei schweren Schlaganfällen in Madison Wisconsin verstarb.
Ich ließ das Buch sinken. Es kam mir seltsam vor, dass dieses Monster, diese Abscheulichkeit, die unten in den Kellern des alten Anwesens herumgeisterte, eine Mutter gehabt haben soll.
Es juckte mich in den Fingern, das Buch aufzuschlagen und den Geheimnissen, die es verbarg auf den Grund zu gehen. Doch ich hatte meine Entscheidung getroffen. Ich hielt dem Bibliothekar das Buch wieder entgegen. Dieser sah mich verdutzt an.
„Wollen sie es denn nicht lesen?“
„Nein. Wissen sie ich denke, sie haben Recht. Ich denke, dieses Thema ist mir tatsächlich längst zu Kopfe gestiegen. ich sollte nach Hause gehen und mich endlich ausruhen. Trotzdem, vielen Dank für ihre Hilfe.“
„Gern geschehen aber… was ist mit ihrer Arbeit?“
„Ich… suche mir ein anderes Thema“, log ich matt. „Nochmals vielen Dank.“
dann drehte ich mich um, schlurfte geschlagen davon und ließ Bullock allein zwischen den Regalreihen zurück.
„Alter wie siehst du denn aus?“, fragte Allan, als ich mit zitternden Beinen und etwas schwankend, in die offene Halle gestolpert kam. Er stand auf und kam langsam auf mich zu. „Hat dir Bullock zwischen den Regalen die Jungfräulichkeit geraubt oder was?“ Er lachte. Zur Antwort krümmte ich mich, viel auf die Knie und kotzte in den nächstbesten Papierkorb.
„Oh verdammt“, hörte ich Allan sagen. Seine Schritte wurden schneller und dann spürte ich seine Hand auf meinem Rücken. „Scheiße, was ist denn passiert?“
Ich wischte mir mit dem Handrücken den Mund ab, rappelte mich unbeholfen auf und packte Allan bei der Schulter. „Ich- ich muss hier raus.“
„Was? Aber was ist mit Edw-“
„Vergiss ihn. Du… du hattest recht. Wir hätten nie herkommen dürfen.“
„Was meinst du damit? Womit hatte ich recht?“ Ich drehte mich um und blickte Allan direkt an.
„Allan I- Ich glaube ich verliere meinen Verstand.“ Ich spürte wie meine Augen nass wurden angesichts der Machtlosigkeit, die dieser Satz mit sich brachte. Gleichzeitig spürte ich die neugierigen Blicke der anderen Studenten im Nacken.
„Eh- Okay.“ Allan sah sich nervös um. „Dann lass uns gehen.“
„Ehm… Sorry!“ Er warf dem unglücklich drein blickenden Jungen, in dessen Papierkorb ich mich übergeben hatte, einen entschuldigenden Blick zu und buxierte mich zwischen den Tischreihen hindurch nach draußen. Regen prasselte auf das Vordach der Bibliothek.
„Gib mir ne Sekunde“, murmelte ich und ließ mich auf der Bank nieder, die zur rechten der gläsernen Tür stand. Allan setzte sich neben mich.
Für eine Weile schwiegen wir beide. Die kühle, frische Luft tat gut und das gleichmäßige Rauschen des strömenden Regens hatte etwas Beruhigendes. „Kippe?“, durchbrach Al schließlich die Stille und hielt mir eine Zigarette hin.
„Nein danke.“
„Hm, wie du willst.“ Er zuckte die Achseln und steckte sich eine an. Dann nahm er einen tiefen Zug und lehnte sich entspannt zurück. „Also. Was war da gerade los?“
Ich schwieg. Ein Teil von mir wollte es ihm erzählen, der andere weigerte sich strikt. Allan wandte das Gesicht zu mir.
„Hey. Erde an Elija, bitte kommen, Ende.“
Und trotz meiner angeschlagenen Stimmung, dem tiefsitzenden Schock und der Angst, die meine Glieder umklammert hielt, musste ich lächeln und merkte, wie ich mich gleich besser fühlte.
„Erzähl mir was passiert ist.“
Ich Atmete einmal tief durch und beschloss schließlich Allan einzuweihen. „Ich hatte wieder so eine Halluzination. Aber keine wie bisher.“
„Was? Hier In der Bibliothek?“ Allan sah mich über die Gläser seiner runden Brille hinweg an.
„Hinten, zwischen den Regalen, Ja.“
„Aber ich dachte, du bekommst die Halluzinationen nur in dem Haus?“
„Das dachte ich auch. Aber scheinbar hat sich das geändert. Es war als würden sich die Regale plötzlich ins unendliche erstrecken und dann vielen die Bücher herunter und Tinte lief aus ihnen heraus, wie Blut… Ich… da war eine Stimme. Eine Stimme die zu mir gesprochen hat.“ Ich lehnte mich vor und stützte den Kopf in die Hände.
„Was für eine Stimme?“
„Kann ich nicht genau sagen. zuerst war sie krächzend und tief und dann wurde sie heller wie von einem Kind. Ich konnte es nicht ganz deuten.“
„Und was hat sie gesagt?“, fragte Al mit ernster Miene.
Zur Antwort, holte ich den Zettel hervor. Das Papier hatte einige Flecken von vertrocknendem Kaffee, doch die Schrift, war immer noch gut leserlich.
Allan nahm den Zettel entgegen und überflog ihn. Er runzelte die Stirn. „Wann hast du das bekommen?“
„Vor etwa vier Stunden etwa.“
„Seltsam. Was hat das zu bedeuten? Dort wo nichts ist und alles sein kann? Und vor allem, wer ist eine Freundin?“
„Ich weiß es nicht. Die Stimme hat mir gesagt, dass ich ihre letzte Hoffnung bin.“
„Ihre letzte Hoffnung? Für was?“
„Ich wünschte ich wüsste es. Aber… das ist nicht das was mir Sorgen bereitet.“, sagte ich und fuhr mir mit der Hand durchs Haar.
„Sondern?“ Al zog die brauen hoch.
„Scheiße Allan, sie hat gesagt, dass ich verflucht bin.“
Die Worte waberten für einen Moment in der kalten Luft. Bevor sie Allans gehör fanden.
Wir schwiegen. Bis Al schließlich schmunzelte.
„Was ist daran witzig?“
„Das klingt jetzt wohl ziemlich dämlich, aber wir sollten vielleicht doch auf diese Party.“
„Was soll denn der Scheiß jetzt?“
„Hör zu, Ich glaube wir haben die letzten beiden Tage viel zu viel durchgemacht. Vor allem du. Es wird Zeit, dass wir uns einfach mal richtig die Kante geben und danach schlafen wie Babys. Dann sieht die Welt morgen schon wieder ganz anders aus. Du weißt was ich dir am See gesagt habe? Wir müssen nach vorne blicken. Es… war vermutlich ein Fehler hier her zu kommen.“
Ich dachte für einen Moment nach. Der Gedanke in einen Rausch abzutauchen und diese Geschichte für eine Weile ganz und gar zu vergessen, hatte etwas Einladendes. Später wäre immer noch genug Zeit über alles nachzudenken.
„Weißt du Allan, irgendwie hast du ein Händchen dafür, die dämlichsten Ideen sinnvoll klingen zu lassen.“ Ich musste lachen. „Na gut gehen wir meinetwegen auf diese Party. Aber wir sollten einen Abstecher bei mir zu hause machen. Ich muss etwas essen. in den letzten Stunden habe ich kaum etwas bei mir behalten.“
Zur Antwort hob Allan den Zettel und hielt sein Feuerzeug darunter. Die Flammen fraßen das Papier und der Brief zerbröselte zu weißer Asche.
Hat Bullock dir sonst noch irgendetwas mitgegeben?
„Nein… nichts“, sagte ich bestimmt.
Wir standen auf und machten uns auf den Weg zum Verbindungshaus, das etwa einen halben Kilometer weit entfernt lag. Zeit zu vergessen.
Die darauf folgenden Tage verliefen überraschend ruhig. Die Prüfungen rückten näher und ich hatte nur wenig zeit, meine Gedanken an das Haus zu verlieren. Ich ging zur Uni, verabredete mich mit Freunden, die ich lange nicht mehr gesehen hatte, lernte, las und schrieb gelegentlich an eigenen Arbeiten. der Frühling hatte begonnen und ich spürte die Wärme der Sonne auf der Haut, wie ein Versprechen, dass alles endlich gut werden würde. Die Tage flossen dahin, und ich vergaß das Haus mehr und mehr. Nur um die Bibliothek, der Universität, machte ich einen großen Bogen und suchte stattdessen lieber die Madison Public Library auf, deren Auswahl ohnehin etwas größer und besser geführt war.
Es war der 7. März, genau eine Woche, nach dem Vorfall in der Bibliothek, als es schließlich passierte: Es war Abend. Die Lichter der Straßenlaternen spiegelten sich in farblosen Autodächern und die vielen Fenster stanzten kleine leuchtende Quadrate in die Dunkelheit. Ich hatte gerade eine Pause vom Lernen gemacht, stand am Fenster meiner Wohnung und blickte über die Dächer der Stadt, als ich plötzlich ein seltsames drücken an meiner linken Schläfe wahrnahm. Verdammt, dachte ich. Der Prüfungsstress. Es war nicht das erste Mal, dass ich von Kopfschmerzen geplagt wurde. Immer wieder, vor allem in den späteren Abendstunden spürte ich ein seltsames Pochen an meiner Schläfe. Ich hatte ihm bisher kaum Aufmerksamkeit Geschenkt, doch dieses Mal war es heftiger. Bohrender.
Ich fasste mir mit der Hand an die Stelle, wo der schmerz seinen Ursprung hatte. Doch anstatt dass das reiben eine Linderung verschaffte, zuckte der Schmerz mit gewaltiger Wucht einmal quer durch meinen Schädel. „Fuck.“ Ich stöhnte auf und kniff die Augen zusammen. Und dann begann der Schmerz zu dröhnen, als wolle mir jemand mit einem Vorschlaghammer die Gehirnmasse zu Brei verarbeiten. Meine Sicht verschwamm und ich taumelte Rückwärts. Scheiße. Was zur Hölle?
Ich stützte mich auf dem Beistelltisch ab. Dieser gab nach und ich viel mit einem Scheppern in die Finsternis.
Schreie. Gequälte Markerschütternde Schreie, vertraute Stimmen. Ich spürte wie warmes Blut über meine Hand lief. Die glitzernde Klinge des Skalpells schnitt tief ins Fleisch und die Schmerzen waren unerträglich.
„Geh, Verschwinde. Ich brauche nur sie!“
„Nein! Bitte… Warum tun sie ihnen das an?“ Meine Stimme klang wie die eines Jungen.
Wütend warf Gein das Messer beiseite. Heiseres Husten drang durch seine zerstörten Atemwege. Blut lief über sein Kinn als er auf mich zu kam, seine langen Finger packten mich mit gewaltiger Kraft am Kragen und zogen mich unsanft auf die Beine. Seine kalten Augen Starrten in die meinen als er schrie: „Du wirst verstehen. Eines Tages wirst du verstehen. Jetzt verschwinde.“ Er riss mich abermals von den Füßen, schliff mich durch den Raum, hinüber zur Tür und schleuderte mich mit gewaltiger Kraft nach draußen. Flackerndes Neonlicht umhüllte seine dunkle furchteinflößende Silhouette. Er war so Groß und Dürr. „Verschwinde. Solange du noch kannst“, rief er, bevor er die Tür zuschlug und mich allein in dem dunklen Keller zurück ließ. „NEEEIN!“ schrie ich und hämmerte mit aller Kraft gegen die massive Tür. Dann rutschte ich schließlich daran herunter und blieb keuchend und weinend am Boden, zusammengekauert liegen. „Warum. Warum sie?“
„Ich wollte nie dass er das für mich tut.“
Abermals umfing mich Dunkelheit. Geplatztes Glas. Scheinwerfer. Blaulicht. Regen. Tränen. Und meine Eltern waren nirgends zu sehen.
„Es ist Zeit.“
Die Uhr auf der kleinen Kommode tickte gleichmäßig. Die Vorhänge bewegten sich sanft im Wind, der durch das leicht geöffnete Fenster hereinwehte und das Klingeln meines Telefons drang an meine Ohren. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die dunkle Decke meines Appartements. Es klingelte erneut. Mein Kopf pochte immer noch leicht und Tränen liefen meine Wangen hinab. Es ist Zeit. Sie rief mich und ich musste- nein, tief im Innern wollte ich ihrem Ruf folgen, egal, wie sehr ich mich dagegen sträubte. Auch wenn ich glaubte, die Antworten auf meine Fragen bereits zu kennen.
Ein lautes Piepsen ertönte und eine Stimme meldete sich zu Wort:
„Ehm… Ja Eh… hallo Mr. Davis, Armstrong hier. Tja, was soll ich ihnen sagen. Da haben sie und ihr Freund uns allesamt ganz schön an der Nase herumgeführt. Ich stehe gerade mit einigen Einsatzkräften vor dem Anwesen. Aber da ist nicht mehr als eine baufällige Ruine übrig. Völlig verfallen und überwuchert. Kein Eingang ist zu erkennen. Ich kann mir nicht vorstellen dass dort drin noch jemand lebt. Die Scheiben sind alle zerschlagen und die Innenräume völlig zerstört und es regnet überall rein. Wir haben das Gebäude durchsucht, so gut es uns möglich war aber auch von einem Korridor und einem Keller fehlte jede Spur. Ich werde die Beamten jetzt abziehen. Bitte halten sie sich fern von diesem Haus… gerade sie sollten sich nicht damit befassen. Ich bin zurzeit etwas ratlos, rufen sie mich bitte zurück wenn sie Zeit haben. Schönen Abend noch.“
Der Anrufbeantworter, ließ ein erneutes Piepsen hören.
„Hey Elija, hier’s Allan. Alter hast du auch den Anruf von Armstrong bekommen? Scheiße, was geht denn hier nur ab? Was stimmt mit diesem Haus nicht? Ruf mich bitte zurück, bye.“
Doch ich rief weder Allan, noch den Office zurück. Das Haus wartete auf jemanden. Sie wartete auf Jemanden. Und dieser Jemand, war ich. Es war noch dieselbe Nacht, als ich allein über die vielen Kreuze, hinauf zum gewaltigen Anwesen, von Edward Gein blickte. Regen peitschte mir ins Gesicht und verdrängte Erinnerungen waberten in meinem Verstand umher, wie Puzzleteile, die endlich zusammengesetzt werden wollten.