DämonenLangeMord

Herbstleid

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Ein leichter, sanfter Regen fiel vom stahlgrauen Himmel. Der Wind wehte ihn mir ins Gesicht und ich beeilte mich, zur Bushaltestelle zu gelangen. Ich hatte mich bereiterklärt, für einen kranken Kollegen einzuspringen, daher musste ich vorerst in die Zweigstelle in den Nachbarort fahren. Die Regentropfen schlugen gegen die Fenster, während ich versuchte, auf den sparsam gepolsterten Plastikschalen bequem zu sitzen. Außer mir waren einige Schulkinder im Bus, zwei ältere Damen und ein etwas ungepflegter Mann um die 30. Es herrschte eine ungewohnte Stille, keiner sprach, nur das Radio des Fahrers dudelte leise. Als ich ausstieg, rannte ich fast zum Bestattungsinstitut, der Regen war stärker geworden und ich wollte nicht durchnässt ankommen.

Ein etwas übertrieben freundlicher Kollege nahm mich in Empfang, er war mittleren Alters und sein Bürstenschnitt betonte unglücklich seine kantige Kopfform. „Es freut mich, dass Sie hier sind, Frau Carnis. Sie glauben ja nicht, wie viel wir zu tun haben, alle Schubladen sind belegt. Alle! Das hab ich in 20 Jahren noch nicht erlebt.“ Da hatte er nicht unrecht, so viele Tote auf einmal gab es nur sehr selten. So zog ich mich um und ging ins Kühlhaus. Dort waren gleich zwei andere Kollegen damit beschäftigt, eine alte Frau einzusargen. Sie war wirklich schön hergerichtet, dachte ich mit einem Blick auf das friedliche, gelöste Gesicht. Man führte mich dann zu „meinem“ Toten und ließ mich allein. Ich blickte auf die Schublade. Hinter diesem Stück Edelstahl verbarg sich ein Mensch, der sein Leben ausgehaucht hatte. Meine Aufgabe war es nun, einen Hauch von Leben zurückzuzaubern.

Ich holte einen Kollegen, damit wir den Toten auf dem Tisch platzieren konnten. Es war ein junger Mann, 26 Jahre alt, und er hatte wohl einen tödlichen Unfall. Neben der Y-förmigen Obduktionsnarbe gab es viele grob vernähte, tiefe Wunden. Das würde eine Herausforderung… abgesehen davon war er ziemlich hübsch; klare, gleichmäßige Gesichtszüge mit tiefblauen Augen, welche von einem Nebelschleier verhüllt waren. Es war wirklich nicht leicht, die Narben abzudecken, es sollte ja auch nicht zu maskiert wirken, aber die Hinterbliebenen wünschten eine Aufbahrung im offenen Sarg, und da muss er perfekt aussehen. Erneut rief ich nach einem Mitarbeiter, ich musste wissen, wie ich die Haare legen sollte, er hatte langes, schwarzes Haar, sehr dicht und etwas strohig. Sollte ich es offen lassen? Das würde beeindruckend aussehen in dem mit weißer Seide ausgeschlagenen Sarg. Aber vielleicht wollte die Familie lieber einen ordentlichen Zopf? Ich traf auf einen drahtigen, kleinen Mann, der offenbar gerade Pause machen wollte. Ich fragte ihn und er ging deutlich genervt zu den Akten, offensichtlich erleichtert sagte er mir, dass es diesbezüglich keine Wünsche gab. Gleich darauf ließ er folgen, dass er nun Pause machte und ob ich auch wollte. Fragend sah er mich an und hielt mir eine Zigarette hin. Aber ich lehnte ab, ich wollte fertig werden. Also kehrte ich zurück in meine 4℃ kalte Kammer.

Ich beschloss, das Radio etwas laufen zu lassen, eigentlich mag ich lieber die Stille, aber bei einem so aufwändigen Verstorbenen war es besser mit Musik. Ich nahm die kleine Haarbürste und begann die langen Strähnen zu entwirren. Gar nicht so leicht, aus Gewohnheit ging ich auch recht vorsichtig zu Werke, ich hatte selbst langes Haar und wusste, wie schmerzhaft das Kämmen sein konnte. Aber er war tot, ihm tat nichts mehr weh. Lächelte er?! Irritiert starrte ich in sein Gesicht, es sah so aus, als würde er minimal lächeln. Ein Mundwinkel ein winziges Stück nach oben gezogen….aber das war nicht möglich. Im Tode erschaffen sämtliche Muskeln. Lächeln, so dezent es auch sein mag, war unmöglich. Ich kniff die Augen zusammen und rieb sie mir, ich sollte zeitiger schlafen gehen. Und tatsächlich, als ich wieder hinsah, war sein Gesicht wie vorher. Ich brauchte wirklich mehr Schlaf oder Urlaub. Endlich, endlich fertig. Nun musste ich ihn nur noch fertig einkleiden. Eigentlich muss dabei jemand helfen, aber ich fand niemanden, waren alle in der Pause? Etwas genervt nahm ich seine Kleidung und machte es eben allein. Man muss es sich so vorstellen, als ob man eine große, schwere Gelenkpuppe umziehen muss. Scheiße! Dunkle Flüssigkeit rann aus seinen Mundwinkeln. Postmortale Blutungen sind nicht so selten, aber bei einem, der so viele Wunden hatte und daher wohl einen großen Blutverlust erlitten haben musste, hatte ich das nicht erwartet. Hektisch knüllte ich Mull zusammen und stopfte im diesen in den Mund. Zum Glück verklebe ich Mund und Augen immer zuletzt, das hätte sonst eine Sauerei gegeben. Eine Mullbinde nach der anderen saugte sich mit dem rostig riechenden Blut voll. Im Radio lief eine Ballade, die ich nicht kannte, eine Frau sang mit hoher, etwas verzerrter Stimme. Das wäre ein guter Anfang für einen Horrorfilm, dachte ich und begann, mich auch langsam unwohl zu fühlen. Schließlich hörte er auf zu bluten und ich machte das Radio aus. Das war besser. Letztlich war er fertig, ich musste ihn sogar allein in den Sarg hieven. Das verlief natürlich nicht sehr würdevoll, aber irgendwie schien hier keiner außer mir zu arbeiten. Etwas genervt, aber zufrieden betrachtete ich mein Werk. Gut, er ist mir gut gelungen, man sah die Narben nicht, aber er sah auch nicht überschminkt aus.

Naja, Zeit für eine Pause. Ich schnappte mir mein Essen, mein Wasser und setzte mich nach draußen auf eine Bank hinter dem Institut. Der Ausblick auf den kleinen Park dahinter war recht angenehm, inzwischen hatte es sogar aufgehört zu regnen, nur grau war der Himmel noch. Es war angenehm ruhig hier, man hörte nur das Rauschen vorbeifahrender Autos und ab und an eine Krähe rufen. Ich aß und trank, aber so langsam… wurde ich müde. Unheimlich müde. Ich dachte noch, dass es merkwürdig war, diese wirklich extreme Müdigkeit. Aber dann nickte ich ein.

Ich erwachte, aber es war kein normales Aufwachen, erst das langsam zurückkehrende Bewusstsein; die Augen zu öffnen, kostete viel Kraft. Ich schaffte es nicht mal, eine Hand zu bewegen, mein ganzer Körper fühlte sich wie aus Blei an. Und mir war schlecht, mein Gott, war mir schlecht. Ich versuchte im Zwielicht etwas zu erkennen. Offenbar befand ich mich in einer Hütte oder einem Holzhaus. Es gab nur zwei Glühbirnen an der Decke, die mit einer Dreckschicht gedimmt waren. Fenster sah ich keine, aber die waren sicher verschlossen. Überall waren Schmutz auf dem Boden und Spinnweben an den Wänden. Aber ich war nicht allein. Es waren noch einige Leute hier, ich hoffte mich von der Übelkeit abzulenken, indem ich mir die Personen ansah. Da war ein Junge, vielleicht 14 oder 15, sehr dünn und mit so einer merkwürdigen Emo-Frisur. Der Ansatz war herausgewachsen und offenbarte Blond als eigentliche Haarfarbe, fettig hingen die Strähnen ins Gesicht. Dieses war schmal und nichtssagend. Auf dem Kinn und der rechten Wange blühte die Akne. Er trug eine schwarze Jeans, eine dünne schwarze Jacke und ein schmutzig-weißes Shirt. Er hockte an der Wand und schien zu weinen, so genau konnte ich es aber nicht erkennen. Dann sah ich zwei Frauen, die eine wohl um die 50, mit der typischen Kurzhaarfrisur, welche durch eine einzige rote Strähne aufgepeppt wurde. Sie trug eine feine, goldgerahmte Brille und überraschend viele Falten hatten sich schon in ihr Gesicht gegraben. Der Hosenanzug, den sie trug, war sicher einmal teuer und chic, aber nun stand er vor Dreck und war zerschlissen. Die Dame neben ihr war sicher 20 Jahre jünger. Ihre Haare waren zu einem kurzen Bob geschnitten, der aber an der einen Seite merkwürdig abstand. Sie trug ein weißes Sommerkleid, das mit gelben Blumen gemustert war, dafür aber keine Schuhe. Sie unterhielt sich mit der älteren Frau.

Dann noch ein Mann, so zwischen 50 und 60 Jahren alt. Unwahrscheinlich dick, aber in Anzug und Krawatte, nur die weißen Turnschuhe passten nicht dazu. Er lag in einer Ecke des Raumes und kratze sich ab und zu am Bauch. Plötzlich huschte etwas an mir vorbei, ich schreckte innerlich zurück. Bewegen konnte ich mich immer noch nicht. Aber es war zum Glück nur ein kleines Mädchen. Vielleicht 9 oder 10 Jahre alt, dichte blonde Locken, klein und etwas zu dünn. Sie trug ein rosa Shirt und eine weiße Hose. Offenbar spielte sie etwas. Weiter vorn saß ein junger, athletischer Mann in Sportklamotten. Er hatte eine furchtbar große Wunde an der rechten Schulter und blickte stumm zur Tür. Zuletzt war da noch eine Frau, sie war wirklich wunderschön. Sicher ein Model. Sie hatte ihre Arme um die Knie geschlungen und weinte. Ihr weißblondes Haar schimmerte im gedämpften Licht, und obwohl sie verheult aussah, war ihr Gesicht bemerkenswert.

Ablenkung half anscheinend gegen die Übelkeit, und ich überlegte, wo ich hier war – und warum. Plötzlich öffnete sich die Tür, ein Schwall frischer, kalter Luft kam herein und mit ihm zwei Männer. Beide waren groß und muskulös, einer mit langem, rotblondem Haar, und der andere hatte eine Hälfte des Schädels kahlrasiert, die andere Seite war mit langem, leicht gewelltem Haar bedeckt. Zudem hatte Letzterer viele Tattoos und einige Piercings im Gesicht. Der Rothaarige hatte dafür die auffälligsten Augen, die ich je gesehen habe. Eisblau und stechend. Ihre Kleidung war gepflegt und sauber. „So, Neuzugänge?“, fragte der Rothaarige; seine Stimme war tief und hatte einen bedrohlichen Unterton. Der andere Mann zeigte auf das Kind, das Model und den sportlichen Typen und zuletzt auf mich. „Die ist offenbar noch nicht ganz bei uns“, fügte er hinzu und lachte dreckig. Da hatte er nicht unrecht, aber wer waren die Beiden, und was wollten sie von mir und den anderen Leuten? Als sie gingen, ließen sie aber die Türe auf und alle strömten nach draußen, alle außer mir, versteht sich.

Ich schlief wieder ein, und erst als die Nacht hereinbrach, wurde ich wach. Langsam erhob ich mich, unsicher, aber es ging. Mir tat alles weh. Vorsichtig ging ich hinaus, im letzten Sonnenlicht erkannte ich noch mehr Hütten. Es war wohl ein verlassenes Ferienlager. Es gab ja auch eine Feuerstelle in der Mitte, und ringsherum war Wald. Verzweiflung überkam mich wie eine Woge. Ich kannte diesen Ort nicht, und selbst wenn ich fliehen konnte, wusste ich nicht wohin. Und was hatten diese Typen mit mir und den Anderen vor? Sicher nichts Nettes. Ich setze mich auf einen der Baumstümpfe um die Feuerstelle und überlegte, was ich nun tun sollte. Am besten wäre es, jemanden zu fragen, was hier los ist. Sicher wussten einige genauso wenig wie ich, aber andere hatten vielleicht Ahnung. Oder ich rennte einfach raus in den Wald… nein, das war dumm, das hätten sicher schon andere versucht, allen voran der Sportler, aber es gab bestimmt Fallen oder ähnliches. Ich wusste nicht weiter und begann entlang der Hütten zu gehen. Eine stand sogar offen, darin war allerdings nicht viel. Ein verstaubtes, aber sonst recht unbenutzt aussehendes Bett, ein kleiner, kaputter Schrank und ein Tisch, auf dem einige Wasserflaschen und Toastbrot standen. Ich schloss die Tür hinter mir und schaltete das Licht an. Die Birne tauchte den Raum in ein klägliches Licht, aber besser als nichts. Obwohl ich vorher schon lange geschlafen hatte, schlief ich auch im Bett schnell ein. Meine Erschöpfung war wohl größer als gedacht, was haben die mir nur für Zeug gegeben? Ich wusste noch, das ich beim Essen in der Pause müde wurde, somit muss mir ja jemand etwas da hineingetan haben.

Leicht schwankend trat ich hinaus, die Sonne stand am Himmel, aber wie spät es war… keine Ahnung. Ob man mich schon suchte? Ich hoffte es. Nun wollte ich aber suchen, jemanden, der mir erklären könnte, was hier los war. Ich sah die Frau mit Brille und ihre Begleiterin, wie sie am Rand des Waldes auf dem Boden saßen und redeten, sicher wussten sie, was Sache war. Vorsichtig ging ich heran und sprach sie an. Beide zuckten zusammen, aber schienen erleichtert, als sie mich sahen. Wahrscheinlich erwarteten sie jemand anderen. Ich fragte einfach frei heraus, was hier los war. Ein kurzes Zögern, dann begann die ältere Frau zu sprechen: „Naja, wie du siehst, ist das ein verlassenes Ferienlager, und ich meine wirklich verlassen. Es gibt zwar Wege, die hierher führen, aber die sind alle durch umgestürzte Bäume blockiert. Der Wald hier ist riesig; selbst wenn wir flüchten könnten, wäre das wohl nicht von Erfolg gekrönt.“ Ihre Stimme hatte etwas Beruhigendes, aber klang hoffnungslos. Die jüngere Frau fuhr fort: „Und warum wir hier sind, ist eigentlich ganz einfach. Wir sind Futter. Diese Typen, das sind Dämonen. Sie halten uns hier gefangen und essen einen nach dem anderen. Fast jeder hat schon versucht zu fliehen, aber sie erwischen einen immer.“ Danach sah sie mich an, ihre hellbraunen Augen wirkten erschreckend tot. Nun sah ich aber, warum ihr Haar so abstand, an der Stelle war eine große Blutkruste. Ich musste das erstmal sacken lassen.

Das diese Männer nicht normal waren, war klar, aber Kannibalen? Ich ging davon aus, dass Dämonen nur eine Bezeichnung war, die ausdrücken sollte, wie schlimm sie waren. Ob die Verletzung ihres Kopfes von denen stammte? Ich kam nicht wirklich weiter. Ein Knacken war zu hören. Die Tür des größten Hauses öffnete sich und die Männer kamen heraus. Allen voran der Rothaarige, dann der Andere, den ich schon sah. Dann folgte einer mit strohigen Locken, in denen sich schon graue Strähnen fanden, obwohl er nicht älter aussah als die anderen. Er hatte auffällig hellgrüne Augen und eine lange Narbe, die am Hals herablief. Der Nächste sah ein wenig aus wie eine Mischung aus Goth und Punk. Die schwarz untermalten Augen ließen seinen Blick noch finsterer wirken. Und dann… dann kam er. Der Tote. Nur eben nicht mehr tot und in anderen Klamotten als damals. Nur zart rosa Male an den Stellen, wo die Wunden waren. Als er mich erkannte, grinste er bösartig. Ich war völlig perplex, das war unmöglich. Hatte er vielleicht einen Zwilling? Ich zweifelte ernsthaft an meinem Verstand. Sämtliche Leute versammelten sich, anscheinend widerwillig, im Halbkreis um die Feuerstelle. Auch ich ging hin, irgendwas Wichtiges schien nun zu geschehen. Die Typen stellen sich uns gegenüber und der Rothaarige sprach: „Da wir ein paar Neuzugänge haben, hier nochmal die Regeln. Ich bin Fenriz, und ich hab hier das Sagen. Ihr dürft euch bis zum Grenzbereich im Wald bewegen; wer die Grenze übertritt, wird zurückgeholt. Immer. Denkt nicht, wir würden es nicht bemerken. Beim ersten Übertreten passiert noch nicht viel, aber beim zweiten Mal gibt es einen Denkzettel; und sollte es zu einem dritten Fluchtversuch kommen… naja, einen vierten wird es dann nicht geben. Wer hier stirbt, bestimme ich. Ihr könnt gerne versuchen, uns anzugreifen, wenn ihr auf Schmerzen steht. Es gibt kein Entkommen, aber das ist nicht so schlimm, lange müsst ihr damit eh nicht leben. Geht uns besser nicht auf die Nerven. Das wäre alles.“

Die Leute zerstreuten sich und ich war baff. Meinten die das wirklich ernst? Gut, es wirkte nicht wie ein Scherz, aber… das kann doch nicht wirklich passieren. „Sympathischer Haufen, oder?“ Der Athlet tauchte neben mir auf und lächelte halbherzig. „Ich bin übrigens Mike. Und hab Fluchtversuch Nummer 2 hinter mir.“, sagte er und zeigte auf seine verwundete Schulter. „Ähm ja, ich bin Luzi. Was zur Hölle ist das hier? Das meinen die doch nicht ernst, oder?“ entgegnete ich. Mike stieß mit dem Schuh ein wenig in die Asche des Feuerplatzes. „Ich fürchte schon. Ich bin ja noch nicht so lange hier, aber habe eben schon zwei mal versucht zu entkommen. Unmöglich. Nach ein paar Minuten ist einer von denen da und packt dich. Und… sie töten auch.“ Unsicher blickte ich auf den Boden, ob das wahr war? OK, anscheinend waren diese Typen brutal, aber auch Mörder? Was war das? Waren das… Zähne?! In der Asche sah ich neben Holzresten und Steinchen menschliche Zähne. Backenzähne, manche mit Füllung, manche waren gar noch Milchzähne. Und Knochensplitter. Gut, die konnten von Tieren stammen, aber die Zähne waren eindeutig menschlich. Es fühlte sich an, als würden sich alle meine Eingeweide zu einem eisigen Klumpen zusammenziehen. „Aber gibt es denn keine Möglichkeit, von hier wegzukommen… lebend?“, fragte ich und Mike seufzte. „Ich wüsste nicht welchen.“

Ich saß auf dem Waldboden und blickte auf die „Grenze“. Es war nichts weiter als ein schmaler Trampelpfad, der um das Camp herumführte. Man konnte quasi so weit in den Wald hinein, dass der Platz noch in Sichtweite war. Die Bäume rauschten und einzelne Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach. Normalerweise wäre das ein wunderschöner Tag zum Wandern. So war es eher einer zum Sterben. Irgendwie schien es mir noch immer unwirklich, dass dies passieren sollte. Dass dieser Wald und das Ferienlager das Letzte sein sollten, was ich sah. Aber… vielleicht kamen daher die vermissten Menschen, die nie wieder gefunden wurden. Weder lebend noch tot. Und immer noch suchte ein Teil meines Verstandes einen Ausweg. Irgendwie konnte ich mein Schicksal nicht akzeptieren, aber konnte man das je? Besonders, wenn es eines von der absurden Sorte ist? Ein markerschütternder Schrei durchbrach meine Gedanken, und wie automatisch rappelte ich mich auf und stolperte in Richtung Camp. Die junge Frau mit den weißblonden Haaren war es, welche von dem ehemaligen Toten, ich glaube, auf der Akte stand Julius, am Handgelenk gehalten wurde. Anscheinend versuchte sie sich seinem Griff zu entwinden. Aber er hielt eisern fest, und ein geradezu wahnsinniges Grinsen war auf seinem Gesicht. Er war vielleicht der Schlimmste von allen. Oder dachte ich das nur, weil ich auf ihn hereingefallen war?

Dann gab es auf einmal eine schnelle, zackige Bewegung und ein ekelhaftes Reißen. Sie hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes losgerissen. Ihr Arm war ab. Eine Blutfontäne schoss aus der Schulter und ihr Gesicht zeigte absoluten Terror. Er hingegen lachte halb hysterisch, warf den Arm hoch und fing ihn wieder. Dann biss er an der blutigen Stelle ab. Er biss ab. Oh Gott, wie widerlich. Nicht wenige der Anderen, die zusahen, würgten oder übergaben sich gleich. Der Mann mit den schwarz untermalten Augen trat auf, und Julius rief: „Hey Tonda, auch ein Stück?“„Bah. Nicht, wenn du schon mit deinem Seuchenmaul dran warst!“, erwiderte er. Und das so beiläufig, als wäre das nichts Besonderes. Vielleicht war es das auch nicht für die. Ich wand meinen Blick von der grotesken Szene ab und schaute auf die Verwundete. Sie lag am Boden, eine große Blutlache hatte sich um sie gesammelt und sickerte langsam in den Boden. Ihr Blick war voll Qual, bis er schließlich brach. Ganz so, als ob man mir ein unsichtbares Signal gegeben hätte, rannte ich los. Ich wusste nicht warum, es war wohl eine Art Instinkt. Ich konnte nicht darüber nachdenken, ich dachte nur, dass ich rennen musste. Schnell hatte ich die Grenze überwunden. Meine Lunge krampfte schon schmerzhaft; ich hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Aber ich zwang mich weiter. Je mehr Meter ich zwischen diesem grauenvollen Ort und mir zurücklegte, desto mehr Hoffnung schöpfte ich. Vielleicht konnte man ja doch entkommen? Vielleicht würde ich es schaffen, nur nicht stehen bleiben. Noch immer keiner hinter mir. Ja, ich hatte wohl gute Chancen.

Ich werde… „Du wirst gar nichts!“, flüsterte eine Stimme neben mir, und schon packte mich eine Hand am Arm und riss mich mit aller Kraft zurück. Schmerzhaft landete ich auf meinem Hintern, und ebenso schoss ein stechender Schmerz durch meinen Arm. Zum Glück war der aber noch dran. Keuchend rang ich nach Luft. Bunte Sterne begannen vor meinen Augen zu tanzen, ich hatte mich definitiv verausgabt. Dann aber erschien ein Gesicht in meinem Blickfeld. Es war der Mann mit den grünen Augen. Ich war froh, dass es nicht Julius war, aber… hatte ich überhaupt einen Grund, froh zu sein? „Du bist ganz schön weit gekommen, nicht schlecht für einen Mensch“, sagte er ohne echte Bewunderung in der Stimme und steckte sich eine Zigarette an. 

Ich atmete immer noch wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wahrscheinlich erstickte ich gleich, aber die Sterne verschwanden langsam. „Ich bin Hunter, und wie der Boss schon sagte, hier entkommt keiner.“, fuhr er fort. Der Name passt auf jeden Fall, dachte ich. Langsam bekam ich besser Luft, aber mein Arm schmerzte immer noch. „Also, wirst du noch mal einen Fluchtversuch starten?“, fragte er und sah mich herausfordernd an. „N-nein“, brachte ich mit dünner Stimme hervor. Er schien fast enttäuscht, aber brachte mich dann zurück. Mike sah mich mitleidig an. Sollte er nicht eher Mitleid mit der Frau von vorhin haben? Obwohl, die hat es sicher hinter sich. Tatsächlich glimmte noch etwas Glut an der Feuerstelle. Der Geruch von verbrannten Fleisch hing in der Luft. Schnell verkroch ich mich in meine Hütte. Trotz Schmerzen schlief ich recht gut, das lag wohl an der Erschöpfung. Noch nie in meinem Leben bwarin ich so gerannt. Aber gebracht hat es nichts. Die nächsten zwei Tage vergingen, ohne das etwas Besonderes passierte.

 In der Nacht des zweiten Tages wurde ich von einem merkwürdigen Licht geweckt. Es war flackernd und mal mehr, mal weniger hell. Verschlafen erhob ich mich, um zu sehen, was da los war. Kaum trat ich aus der Tür, traf mich die Hitze wie ein Faustschlag. Eine der Hütten stand lichterloh in Flammen, der dicke Mann stand am Fenster, schreiend und lachend. Wollte er sich lebendig verbrennen? Ungläubig ging ich näher, die anderen Leute hielten lieber Abstand. Plötzlich kam Fenriz mit Tonda und Hunter, und mit einem Wink von ihm verlosch das Feuer augenblicklich. Wow! Das war unglaublich! Wie machte er das? „Wer hier stirbt, bestimme ich!“, donnerte seine Stimme durch die Stille des Waldes. Der dicke Mann sah einfach nur tief enttäuscht aus. Er dachte sicher, so seinem Schicksal entgehen zu können. In der nächsten Zeit war er dann öfter draußen; er lief herum wie ein Zombie. Völlig ausdruckslos, nicht mal die Schmerzen, die er durch die massiven Brandwunden sicher hatte, sah man ihm an. Er hätte mir leidgetan, würde mich nicht dasselbe Schicksal erwarten haben.

  Am nächsten Tag klopfte es an meiner Tür. Es war das kleine Mädchen, welches mir mitteilte, dass wir uns alle in einer Hütte versammeln müssten. Ich schauderte, das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich fragte mich, wie lange die Kleine hier war. Sie sah krank und mager aus. Ich folgte ihr und bald waren alle, alle, die noch lebten, in der leeren Hütte versammelt. Schweigend warteten wir in der Düsternis. Wie Schafe im Schlachthaus, dachte ich. Die Tür öffnete sich und der Tätowierte trat ein. Von draußen drang noch eine Stimme: „Aber beeil dich diesmal, Rossow, wir haben nicht ewig Zeit.“ – „Tja, ihr habt’s gehört, möchte jemand freiwillig?“, fragte er und blickte amüsiert in die Runde. Alle sahen ihn mit Panik in den Augen an, alle wollten leben. Langsam ging er durch die Runde, ich versuchte mich langsam zur Tür zu schleichen. Ich wollte ja nicht aus dem Camp flüchten, nur aus der Hütte und das war ja nicht verboten. Doch kaum war ich in Griffweite der Klinke, schnellte er herum und drückte mich an die Wand. Ich roch eine Art Parfüm und Blut. Warum roch man hier so viel Blut, mir wurde etwas übel. „Na aber… wer wird denn die Veranstaltung eher verlassen?“, fragte er amüsiert, sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Der Instinkt zu fliehen war übermächtig, aber ich konnte mich nicht befreien. Er nahm wieder Abstand und schubste mich zu den anderen. Ich traf den Teenager, der dadurch fast zu Boden ging. Dann wählte Rossow die ältere Frau mit Brille aus. Die Jüngere schrie: „Mama!!! NEIN!“ – „Schnauze!“, war seine Antwort, und er verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Er brachte dann das Opfer nach draußen. 

  Alle gingen in ihre Hütten zurück, nur ich nicht. Ich wollte, nein, ich musste sehen, ob es wirklich passierte, und wenn ja, was genau. Ich setzte mich in ein Gebüsch nahe des Feuerplatzes. Ich wollte nicht von den anderen Leuten gesehen werden. Rossow ließ die Frau auf einem Baumstamm Platz nehmen. Dann holte er die Anderen. Tonda baute eine Art Scheiterhaufen. Er lehnte einige Äste aneinander, füllte die Lücken mit Zweigen und dann wieder großen Äste. Wie die Frau sich wohl fühlte, als sie zusah, wie ihr Ende bereitet wurde? Wie ICH mich wohl fühlen würde, wenn ich dran war? Das konnte ich mir nicht wirklich vorstellen. Dann kamen Hunter und Julius hinzu, zum Schluss Fenriz. Dieser war es auch, der das Feuer entzündete. Die Frau zuckte ein wenig weg, aber wagte es nicht, aufzustehen. Schließlich blickte sie über die Schulter in Richtung Hütten. Anscheinend war ihre Tochter am Fenster, denn sie zuckte wieder zusammen und winkte zaghaft. So wie Eltern wohl ein letztes Mal ihren Kindern zuwinken, wenn diese auswandern. Wenn sie dann Tausende von Kilometern trennen und es ungewiss ist, ob sie sie jemals wiedersehen. Nur das dies hier ein Abschied für immer war. Als Bestatterin kannte ich solche Abschiede ja, aber es hatte mich nie berührt. Hier hingegen schon. Weil es ein grausamer Abschied war. Nicht würdevoll, nicht friedlich.

 Dann ging alles recht schnell. Julius kam auf sie zu, hielt sie an der Schulter und riss ihren Kopf herum, dass es ein Knacken gab. Ein sehr eindeutiges Knacken. Der leblose Körper wurde dann einfach auf dem Feuer platziert. Haare glimmten und Kleidung verbrannte oder schmolz. Die Haut platzte auf und wurde schwarz. Dann begannen die Männer ins Feuer zu greifen. Es schien ihnen nichts auszumachen. Jeder riss sich einen Brocken Fleisch heraus und begann zu essen. Ich saß in meinem Versteck wie angefroren, das Ganze war einfach zu bizarr. Nur das Knistern des Feuers war zu hören, Funken stoben in den dunklen Nachthimmel. Ich wollte mir das nicht mehr antun und stand vorsichtig auf. „Hey du! Komm mal ran hier!“, hallte Julius‘ Stimme vom Feuer herüber. Ich fühlte mich ertappt und wollte alles, nur nicht mit dort sitzen, aber ich wollte auch nicht herausfinden, was passieren würde, wenn ich nicht gehorchte. Zögernd ging ich näher, er und Rossow rutschten auseinander, um mir Platz zu machen. Ich hatte gehofft, mich irgendwo an den Rand setzen zu können… nun, falsch gedacht. Fenriz und Hunter schauten nur kurz auf, sie schien nicht zu interessieren, was die anderen vorhatten. Sofort machte sich Angst breit, ich hab mich selten so unsicher und angreifbar gefühlt. Nun saß ich da, starrte ins Feuer; bloß keinen ansehen, dachte ich.

  „Weißt du, ich glaube, es muss ziemlich mies sein, immer den selben Dreck fressen zu müssen. Da wollte ich dir in meiner nicht enden wollenden Großzügigkeit etwas anbieten.“, sprach Julius und sah mich gespannt an. Er hielt mir ein Stück Fleisch hin. Einen großen Batzen Muskelfleisch mit schwarz verkohlter Haut. Ansonsten sah es so aus wie Schweinefleisch, auch roch es so… naja, fast. Sofort tobte in mir eine Schlacht zwischen Vernunft und animalischen Trieben. Letztere meinten, ich müsse das essen, schon allein, um keine Mängel zu bekommen, wer wusste denn auch, wie lange ich hierbleiben würde? Und ohnehin, würden sie wohl kaum akzeptieren, wenn ich ablehnen und gehen würde. Und tot ist tot… es machte nun auch keinen Unterschied mehr. Mir lief das Wasser im Mund zusammen… der Protest meines Gewissens wurde immer leiser. Ich riss ein winziges Stück ab. Es sah wirklich aus wie Schwein. Aber das war Menschenfleisch… die Frau, mit der ich vor kurzem noch geredet hatte. Die offenbar mit ihrer Tochter hier war und nun… aber… ich hatte Hunger.

  Und biss ab. Gejohle von den dreien, die meinen innerlichen Kampf wohl mitverfolgt hatten. Hunter hob nur eine Augenbraue, Fenriz aß unbeeindruckt weiter. Es schmeckte tatsächlich wie Schweinefleisch, aber mit einem dumpfen Nachgeschmack. Es war zäh und ungewürzt, aber im Vergleich zu dem Toastbrot war es ein Traum. Ich aß das ganze Stück und machte mir währenddessen keine Gedanken darüber, dass sie mich problemlos als nächstes aufs Feuer werfen konnten. Aber das taten sie nicht. Wir saßen, friedlich essend, Seite an Seite. Am nächstens Morgen fühlte ich mich unwohl. Ich hatte Angst, dass die Anderen es bemerkt hatten… dass sie es gesehen hatten oder irgendwie fühlten, was ich getan hatte. Ich wollte keinen Ärger. Aber niemand behandelte mich anders, ich war also in Sicherheit. Vorerst. Denn noch immer war ich nicht besser dran als die Anderen, nur wegen gestern Abend durfte ich mir nichts einbilden. Ich ging in den Wald, um ein paar Bucheckern zu sammeln; das war mal etwas anderes und… harmlos. Ich hatte durchaus ein schlechtes Gewissen, das Fleisch gestern angenommen zu haben. Aber es war nicht so groß, wie es hätte sein sollen, irgendein primitiver Teil von mir war der Meinung, dass es gut war, das zu essen.

  „Heyho!“, erklang es hinter mir. Erschrocken machte ich einen Satz zur Seite, aber es war nur Mike. Er setzte sich neben mich und begann ebenfalls Bucheckern zu pulen. „Kann ich mit dir über etwas reden?“, setzte er nach. Sofort beschleunigte sich mein Puls. Er musste es beobachtet haben. Ich legte mir schon Erklärungen bereit, doch er fuhr fort: „Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie wir entkommen könnten. Aber… Aber es wird sehr schwer und risikoreich. Die Chance, dass wir dabei umkommen, ist größer, als dass wir es schaffen.“ – „Kommen wir hier nicht so oder so um?“, entgegnete ich, gespannt, was er nun erzählen würde. Der Herbstwind rauschte durch die Bäume und Mike senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Also, wir werden von ihnen gefressen, weil wir Menschen sind. Aber was wäre, wenn wir keine mehr wären, dann wären wir safe.“ Irritiert sah ich ihn an, was meinte er bloß? „Eigentlich ist es simpel. Wir müssten nur etwas Dämonenblut trinken, dann haben wir die Chance, dass wir zu Halbdämonen werden. Allerdings haben wir auch eine genauso große Chance zu sterben.“ Erwartungsvoll sah er mich an. Ich empfand das Ganze als unglaubwürdig, allerdings hatte ich auch gesehen, wie Fenriz mit einer Handbewegung ein Feuer löschte. Ich sollte vielleicht dem Ganzen eine Chance geben.

  „Wir, wir müssten quasi einen von ihnen niederringen und verletzen. Naja, und dann trinken, was herausläuft. Töten können wir die eh nicht, auch wenn wir es wollten.“, sagte Mike mit einer deutlichen Bitterkeit in der Stimme. „Aber sind die nicht alle wesentlich stärker als wir? Selbst wenn wir uns alle zusammentäten, hätten wir doch keine Chance.“, entgegnete ich. Er grinste verschwörerisch: „Nun, nicht ganz. Tonda ist der Schwächste von allen, und zufällig wird er übermorgen für ein paar Stunden ganz allein hier sein. Er hat seine Kräfte noch nicht lange und kann damit nicht umgehen. Das ist, so denke ich, unsere einzige Chance.“ Diese Nacht lag ich wach. Ich war unsicher; es klang zu schön, um wahr zu sein, gleichzeitig auch fast unmöglich zu bewältigen. Es gab so viel, was schiefgehen konnte. Aber… was, wenn es tatsächlich gelang? Mike hatte mir natürlich die Wahl gelassen, aber ich spürte, dass ich es zumindest versuchen würde. Lieber sterben als so weiterleben. Aber warum waren die Anderen… ach, sie sind dann wieder auf der Jagd. Neue Opfer. Nun hieß es, sich nichts anmerken zu lassen.

  Am Morgen des besagten Tages versuchte ich meinen Toast runterzuwürgen, aber wie schon die letzen drei Tage musste ich mich gleich wieder übergeben. Keine Chance. Sollte unser Plan tatsächlich gelingen, würde ich nie wieder im Leben Toast essen. Ich fühlte mich hungrig und schwach. Aber etwas schwelte in mir. Wohl der Mut der Verzweifelten. Am späten Nachmittag war es soweit. Mike hatte den ganzen Tag auf der Lauer gelegen. Nebel hüllte das Camp in seine zarten Schleier, und es war schon empfindlich kalt. Das kleine Mädchen war wohl gestorben, sie lag seit gestern Abend hinter einer Hütte und hatte sich nicht mehr bewegt. Keinen scherte es. Mich auch nicht, ich war nur auf unser Ziel fokussiert. Wir schlichen fast lautlos um die Hütte, kommunizierten nur mit Blicken, nichts durfte schiefgehen. Nun kam der große Moment, wir öffneten die Tür und Mike sprintete hinein, um Tonda anzuspringen und zu Boden zu reißen. Ich war etwas verwundert, dass das Innere ihrer Hütte ebenso dreckig und trostlos war wie unsere. Ich hatte mir irgendwie etwas anderes vorgestellt. Aber dafür war keine Zeit, schnell rannte ich los, um mich mit meinem ganzen Gewicht auf Tonda zu werfen. Ich hatte zwar durch die unfreiwillige Toastbrotdiät einige Kilo verloren, aber war noch schwer genug, um den verdutzt am Boden Liegenden die Luft aus den Lungen zu pressen. Tatsächlich war es so, wie Mike vorausgesagt hatte, er nutzte nicht seine dämonischen Kräfte, um uns loszuwerden, sondern versuchte es auf eher menschliche Art und Weise. Davon ließen wir uns nicht beeindrucken, schnell stachen wir mit den angespitzten Ästen in seinen Hals, damit es eine schöne Blutfontäne gab. Kaum begann das dunkle, dickflüssige Blut herauszusprudeln, tranken wir davon, als ob wir am Verdursten wären. Tonda zeigte nunmehr ein ganz menschliches Gefühl: Panik. Offenbar war er noch nicht lange ein Dämon und hatte somit noch ein wenig Menschlichkeit an sich. Als sich mein Magen deutlich voll anfühlte, hörte ich auf. „Du darfst dich jetzt auf keinen Fall übergeben“, mahnte Mike. Noch fühlte ich mich auch nicht übel, ja, der Adrenalinrausch machte mich sogar ganz euphorisch. „Nun entscheiden nur noch die nächsten drei Tage über Leben und Tod.“, fügte er hinzu, und kaum war dies ausgesprochen, bekam die Tür einen Tritt und Fenriz samt Gefolge trat ein. 

  „Was geht denn hier ab?“, fragte Julius und lachte irr, als er Tonda am Boden sah. Inzwischen hatte sich dessen Wunde schon verschlossen, nur ein dicker Grind war noch zu sehen. „Du… ich hätte es wissen müssen, aber das kommt eben davon, wenn man jemanden unterschätzt, selbst wenn es nur ein Mensch ist“, sprach Fenriz und sah Mike durchaus anerkennend an. „Tja, da ich nun kein gutes Frühstück mehr abgebe, kann ich ja wohl gehen.“, entgegnete Mike selbstbewusst, aber Hunter baute sich vor ihm auf. „Dir ist klar, dass wir dich immer noch töten können, oder?“, sagte er und Mike schien abzuwarten. „Ja, wir könnten ihn töten, aber… ich finde, wir sollten beiden eine Chance geben. Sperrt sie drei Tage in eine Hütte, und wenn sie es überleben, nun, dann dürfen sie gehen. Vielleicht.“, sagte Fenriz gönnerhaft. Ich fragte mich, ob sie mich einfach nicht ernstnahmen oder warum sie nur Mike töten wollten. Aber das war nicht wichtig, wichtig war nun zu überleben. 

Die ersten paar Stunden verliefen überraschend unspektakulär. Wir saßen auf dem staubigen Bett, redeten, Mike aß Toast und ich trank Wasser. Langsam fragte ich mich, ob überhaupt etwas passieren würde. Aber dann begann es. Mike rollte die Augen nach hinten und begann wie bei einem epileptischen Anfall zu zucken und krampfte. Ich ging lieber auf Abstand, aber merkte, dass es mir langsam schlechter ging; Schwindel setzte ein. Der Raum drehte sich und ich musste würgen. Aber es kam nichts. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, und langsam, aber sicher senkte sich der schwarze Schleier der Ohnmacht über mich. Ich warf noch einen letzen Blick auf Mike, der gequälte Laute von sich gab, inzwischen auf dem Boden krampfend. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber ich wurde wach. Langsam und zäh war das Erwachen, als ob man das Bewusstsein erst aus einer klebrigen Masse ziehen muss. Ich fühlte mich unwahrscheinlich schwach, aber kämpfte darum, wach zu bleiben. Nach einer gefühlten Ewigkeit ging es mir halbwegs besser. Langsam setze ich mich auf und sah mich um. Es war anscheinend Tag, da schwaches Licht durch die dreckverkrusteten Scheiben dran. „Mike, alles ok?“, fragte ich vorsichtig, aber meine Frage verhallte ungehört. Er lag immer noch verkrampft in der Ecke, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen, aber schon eingesunken und mit dem typisch gebrochenen Blick eines Toten. Das war schon ein wenig unfair. Schließlich kam er auf die Idee, und er war es auch, der alles plante, und nun… aber ich war froh, es überlebt zu haben.    

Zögernd öffnete ich die Tür, die Sonne blendete mich, aber es war angenehm kühl. Ein paar neue Gesichter. Eine junge Frau mit ausgewaschener Haarfarbe brachte schnell ihr kleines Kind in eine der Hütten. Der dürre Teenager sah mich erst gleichgültig an, aber langsam entstand Erkenntnis in seinem Gesicht und diese wich Angst. Naja, das war irgendwo verständlich, dachte ich und betrachtete mein Spiegelbild in dem Fenster der Hütte; eigentlich hat sich nicht viel verändert, oder… oder doch? Eigentlich waren meine Augen einfach nur braun, aber jetzt fanden sich goldene Sprenkel in der Iris. Ich muss zugeben, das hatte was. Hübsch. Allerdings war ich nun etwas ratlos. Konnte ich jetzt einfach gehen? „Hey hey, seht mal, wer da überlebt hat! Rossow, du bist mir was schuldig, ich hab die Wette gewonnen!“, ertönte eine nur allzu bekannte Stimme. Julius und Rossow traten aus dem Wald, dicht gefolgt von Fenriz und Hunter. Nur Tonda fehlte. Ob sie ihn rausgeworfen hatten? Julius sah mich fasziniert an. In etwa so, wie man ein unbekanntes Tier betrachtet. Rossow sah beeindruckt aus. Die anderen Beiden zeigten die gewohnte Gleichgültigkeit. „Ich muss zugeben, das hätte ich nicht erwartet. Du bist härter, als du aussiehst. Ich schätze, du kannst nun gehen.“, sagte Fenriz feierlich. Und so ging ich, einen letzen Blick zurück auf sie und ihre Opfer. Endlich frei. Ein wahrhaft neues Leben begann und ich hätte mich nicht lebendiger fühlen können als in diesem Moment. 

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