Nicht abgeholt, Teil 1.
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Nicht abgeholt.
Ich war gerade zwölf Jahre alt geworden und dank meiner Eltern funktionierte die Welt wie ein gut geölter Mechanismus um mich herum, in welchen ich mich nahtlos einfügen konnte.
Die beiden liebten mich nicht nur, sie erzogen sich mich zudem gewissenhaft. Sie verdienten gutes Geld, welches in ein wunderschönes, stadtnahes Haus im Grünen floss sowie in eine sagenhafte Privatschule, die zwar ein alternatives Schulkonzept vertrat, jedoch stets Schüler hervorbrachte welche landesweit überdurchschnittlich gute Abschlüsse erreichten. Meinen Reichtum an Liebe und Materiellem musste ich mit keinem Geschwisterkind teilen und wenn mir im Leben überhaupt etwas fehlte, dann ein Pony oder ein Hund- etwas, dass den meisten jungen Kindern im Leben fehlt und ein mit Sicherheit leicht zu ertragendes Defizit in einer sonst im Nachhinein betrachtet beinahe perfekten Welt.
An jenem Tag war ich jedoch davon überzeugt, eine der bisher größten Enttäuschungen meines Lebens zu erfahren- denn nach einem dreiwöchigen Aufenthalt in einem Ferienlager war ich beinahe das einzige Kind, welches noch nicht von seinen Eltern abgeholt worden war.
Wütend bis schmollend saß ich auf den Stufen der Holzhütte, in der sich die Betreuer aufhielten, während Schützling um Schützling freudig kreischend einem beliebigem Familienmitglied entgegen rannte. Die Betreuer warfen mir aufmunternde bis mitleidige Blicke zu, während ich mit meinen glänzenden Sandalen zornig Schlieren in den trockenen Staub malte. „Sie kommen bestimmt bald“, versuchte es ein junges Mädchen in grüner Campuniform und legte mir die Hand auf die Schulter, „vermutlich sind sie falsch abgebogen.“ Ich schob trotzig die Unterlippe vor und verkniff es mir dem Mädchen zu erklären, dass meine Eltern schließlich auch hergefunden hatten. In unserer Schule gab es einen Jungen, dessen Schuluniform immer ein wenig so roch, als hätte sie nach dem Waschen noch einen Tag in der Waschmaschine gelegen. Wenn man ihn genauer musterte, erkannte man auf seiner Haut immer irgendwo einen fettig schimmernden Fleck oder einen losen Faden an einem Ärmel. Kinder wie er wurden zu spät abgeholt oder weinten bei Schulaufführungen hinter der Bühne, weil niemand im Publikum saß um besonders ihm zu applaudieren.
Das letzte Kind, ein kleiner dicker Junge in einem orange-blau gestreiftem T-Shirt, verschwand letztendlich hinter einer Staubwolke, als seine Mutter mit quietschenden Reifen das Gelände verließ. Immerhin eine Person, die es eilig hatte. Ich konnte mich daran erinnern, dass der Junge während einer Schnitzeljagd böse gestürzt war. Beinahe hätte er heimfahren müssen, aber ein Arzt aus dem nächsten Ort, zu dem man beinahe eine halbe Stunde fahren musste, hatte ihn notdürftig zusammengeflickt. Überhaupt hatte es einige unschöne Unfälle im Camp gegeben, aber Kristin und Sarah hatten sich, ähnlich wie die anderen Betreuer, nicht aus der Ruhe bringen lassen. „Wo Kinder spielen, fallen Späne“, hatte Kristin nur gemeint und mir beruhigend über den Kopf gestrichen, als hätte ich das nötig gehabt.
Die Chefin des Sommercamps, eine Frau mit schlammbraunen Augen und extrem auffälligen Schlupflidern, trat neben mir auf die Treppe. „Na, Kleines? Bei euch Zuhause geht niemand ans Telefon, deine Eltern sind bestimmt unterwegs. Mach dir keinen Kopf, wir sind alle noch ein bisschen länger hier, das Camp muss schließlich aufgeräumt werden.“ Sie lachte leise, als wäre Aufräumen eine belustigende Tätigkeit. „Du bleibst jetzt schön hier sitzen, wenn du magst bringe ich dir eine Zeitschrift und dann dauert es bestimmt nicht mehr lange, bis Mama und Papa auftauchen.“ Ich bedankte mich, obwohl ich keinerlei Interesse daran hatte etwas zu lesen. Die Hitze war wie ein feuchtes, heißes Tuch in welches man mich eingewickelt hatte. Hinter meiner Stirn verspürte ich ein leichtes Stechen. Ich dachte gerade darüber nach, wenn ich zum letzten Mal etwas getrunken hatte, als mir ein glänzendes Heft in den Schoß gelegt wurde, auf dessen Cover ein Specht zu sehen war. „Möchtest du noch ein Glas Wasser, Liebes?“ Ich nickte, während mein Zorn in der flirrenden Hitze schmolz wie ein Eiswürfel und sich langsam, aber stetig eine dumpfe Enttäuschung in mir ausbreitete, die schon bald in Gleichgültigkeit umschlug. Es war heiß, ich war müde und die Zeitschrift in meinem Schoß fühlte sich seltsam klebrig an. Meine kurzen Shorts bedeckten kaum meine aufgeschürften Knie, welche in der Sonne brannten. Das Glas Wasser, welches mir jemand in die Hand drückte, war lauwarm und schmeckte leicht nach Metall.
In der Hütte hörte ich die Betreuer lachen und mit gespitzten Ohren versuchte ich zunächst sie zu belauschen, bald verging mir jedoch die Lust daran, als mir klar wurde dass lediglich eine Art Putzplan für die nächsten zwei Tage besprochen wurde. Man würde das Chaos, welches die Kinder hinterlassen hatten, beseitigen und, ging es nach einer weiblichen, glockenhaften Stimme, schon einmal Bier kalt stellen. Ich schloss die Augen und legte den Kopf in die Hände.
Als sich die Türe hinter mir knarzend öffnete, wehte ein kühler Luftzug in meinen Nacken und ich eine wohltuende Gänsehaut kroch über meinen Rücken. Die Chefin des Camps beugte sich zu mir herunter, ihr Atem roch leicht nach Zitronenbonbons. „Setz dich am Besten in die Hütte, da ist es schön kühl. Wir werden jetzt die Hütten ausfegen und die Betten neu beziehen und danach rufe ich noch einmal deine Eltern an, ja? Wäre es dir lieber, wenn ich dich einschließe? Wir sind aber ganz in der Nähe, du siehst uns ja.“ Die Hütten waren in drei Reihen hintereinander stehend kreisförmig angeordnet, in der Mitte befand sich der Platz an dem wir die letzten drei Wochen jeden Abend ein großes Lagerfeuer angezündet hatten. Vermutlich befanden sich die noch anwesenden Betreuer sogar noch in Hörweite und ich erinnere mich daran, wie albern der Gedanke mir vorkam man müsste sich zu meiner eigenen Sicherheit einschließen. Ich war schließlich zwölf Jahre alt und kein Baby mehr. Seltsamerweise fiel mir unter den anwesenden Erwachsenen niemand auf, mit dem ich die letzten drei Wochen Zeit verbracht hatte. Aber das konnte natürlich auch daran liegen, dass Kristin und Sarah sich bereits längst auf den Heimweg gemacht hatten. Die beiden Betreuerinnen waren für meine Hütte, B04, zuständig gewesen.
Als ich mich erhob, überkam mich dabei ein leichter Schwindel. Plötzlich fiel mir wieder ein, wie die Chefin des Camps hieß, Dorothea, sie hatte sich am ersten Abend allen Teilnehmern vorgestellt, Dorothea hieß sie, stimmte ja. Ein komischer Name, den ich zwischen brennend heißen Tagen, Schnitzeljagden im Wald und Wanderungen zum nahe gelegenem See bald vergessen hatte.
Vor ein paar Jahren bewarb ich mich während meiner Studienzeit auf einen Nebenjob, die für mich theoretisch zuständige Abteilungsleiterin hieß ebenfalls Dorothea und obwohl die Arbeit gut bezahlt war und die Firma mir gegenüber einen großartigen Eindruck machte, lehnte ich ab.
Als Dorothea mich mit sanftem Nachdruck in die Hütte führte, erlebte ich die zweite, wenn auch etwas mildere, Enttäuschung des Tages. Dorotheas Hütte war für die anwesenden Kinder im Camp absolut tabu, denn sie wohnte tatsächlich beinahe das ganze Jahr über dort, sobald es das Wetter ihr erlaubte. Die Hütte war einfach geschnitten und bestand aus einer Art Rezeption, auf der ein gelbes Telefon mit einer rostigen Wählscheibe stand. Davor hatte jemand einen Tisch platziert, um den vier Stühle standen. Der vermutlich interessantere Teil der Hütte war durch Holzvertäfelungen abgeschottet, in die zwei rote Türen eingelassen waren. Wie auch immer Dorothea lebte, ich würde es heute nicht mehr erfahren, soviel war sicher. Hinter der Rezeption befanden sich abblätternde, einst grüne, aber jetzt wohl graue metallene Aktenschränke, ein Mahnmal der Langeweile. Ein graues, verwittertes Bild hing an der Wand, anscheinend ein uraltes Familienfoto. Wenigstens war es aber tatsächlich kühl, denn durch die schmutzigen Fenster drang kaum Sonnenlicht. Dennoch erschien es mir beinahe unnatürlich kalt. Unsere Hütten hatten sich in der sengenden Hitze tagsüber beinahe brutal aufgeheizt. „Vielen Dank, Dorothea“, sagte ich und wartete darauf, dass man mich dazu aufforderte zu setzen. Mama und Papa hatten mir gute Manieren beigebracht, das hatten auch Kristin und Sarah bemerkt und mich für mein gutes Benehmen sehr gelobt. Aber Dorothea nickte nur, drehte sich kommentarlos um und ging. Als die Tür in’s Schloss fiel, vernahm ich ein leises Knacken. Sie hatte abgeschlossen.
Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob ich ihre Frage vorhin bejaht hatte, aber es wollte mir einfach nicht einfallen. Etwas unschlüssig stand ich mit einem leeren Glas in der einen und dem Magazin in der anderen Hand herum. Es war seltsam, so plötzlich in ein über drei Wochen hinweg so verbotenes Reich vorgelassen worden zu sein. Ein alberner Stolz erfüllte mich- die anderen Mädchen aus B04 wären bestimmt neidisch gewesen, besonders Anna, die es nicht leiden konnte wenn jemand sie in irgendetwas übertrumpfen konnte. Anna gehörte zu den Kindern, die sich ernsthafter verletzt hatten. Sie war von einer Reifenschaukel gerutscht, als sie gerade dabei war zu beweisen wie hoch sie sich schwingen konnte. Ein kleiner, gemeiner Teil in mir empfand ein wenig Schadenfreude, als sie Abends mit fünf gut sichtbaren Stichen an der Stirn in die Hütte zurück kehrte. Danach bekam sie allerdings auch jede Menge Aufmerksamkeit, als wäre es eine Leistung gewesen, sich von einer Schaukel fallen zu lassen. Bei der Erinnerung daran atmete ich verächtlich aus.
Ich wollte mich gerade an den Tisch setzen, als das Telefon klingelte. Das Geräusch riss mich aus meinen Gedanken und vor lauter Schreck machte ich einen kleinen Satz, wobei ich mir die Hüfte an der Tischkante stieß. Ich wimmerte leise, mein Hüftknochen pochte äußerst schmerzhaft, als das Telefon wieder verstummte. Ich hatte das Glas fallen lassen, welches zwar auf den Boden gefallen, aber zum Glück ganz geblieben war.
In der Regel sollte man selbstverständlich nicht an fremde Telefone gehen, aber plötzlich fiel mir ein, dass vielleicht meine Eltern anriefen. Vor meinem inneren Auge sah ich die Beiden, meine Mutter in eine ihrer Cordhosen, neben ihnen unser Auto, welches einen platten Reifen hatte. Die Telefonzelle würde zwar dreckig sein, aber ihren Zweck erfüllen- und nun nahm niemand ihren Anruf entgegen. Vielleicht waren sie auch an einer Tankstelle gelandet und der Tankwart lies sie telefonieren.
Als das Telefon erneut klingelte, ging ich zaghaft darauf zu, während ich mir immer noch die schmerzende Hüfte hielt. Als ich den Hörer abnahm, schien er fast zu glühen, beinahe hätte ich ihn fallen gelassen.
„Hallo?“ Meine Stimme klang so, wie eine Person wohl aussieht, wenn sie versehentlich in die falsche Toilette gelaufen ist und sich dieser Peinlichkeit nun bewusst wird. In meinen Ohren schwang sie seltsam dünn nach.
„Hast du dir die Hüfte gestoßen? Was bist du doch für ein ungeschicktes Ding.“
Einmal hatte ich bei einer Theateraufführung in der Schule meinen Text vergessen. Ich hatte noch wochenlang an diesem Gefühl zu knabbern- ein Gefühl das aus Scham und Panik zu bestehen schien, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass ich von Panik bisher keine Ahnung gehabt hatte.
Ich wirbelte herum und suchte die Hütte mit den Augen ab.
Mein Herz überschlug sich, bevor es damit anfing hämmernd in meiner Brust zu klopfen. Ich konnte das Blut in meinen Ohren rauschen hören und mein Mund wurde so trocken, dass ich meinte spüren zu können wie die Oberfläche meiner Zunge kleine, feine Risse bekam als ich versuchte zu schlucken. Zwei Türen verschlossene präsentierten sich mir in der Hütte und ich versuchte zu erkennen, ob hinter einem der Schlösser vielleicht ein nackter Augapfel klebte, aber ich erkannte nur Dunkelheit. Verängstigt drückte ich mich gegen die Rezeption und bemerkte dabei, dass meine Hand leicht zitterte. Gab es im Camp überhaupt ein zweites Telefon? Wer rief hier an?
„Achtung, Achtung.“, flötete die Person am Telefon. Plötzlich hätte ich schwören können, es war dieselbe Stimme, die sich bei der Besprechung vorhin so sehr auf das Bier gefreut hatte.
„Mama und Papa lassen sich Zeit, du kleine Schlampe, das macht aber keinen guten Eindruck!“ Es klickte in der Leitung. Tränen schossen mir in die Augen. Ich kannte das Wort Schlampe, aber ich benutzte es niemals. Entsetzt lies ich den Telefonhörer fallen und hastete die wenigen Schritte zur Türe. Ich rüttelte an der Klinke, aber die Türe bewegte sich keinen Millimeter. Von den kleinen, verschmutzten Fenstern aus konnte ich die Hütte rechts, sowie die Hütte links von mir erkennen, aber niemand war in Sichtweite. Wie viele Betreuer waren noch im Camp gewesen, als Dorothea mich in die Hütte gebracht hatte? Ich überlegte, zu schreien, aber etwas hielt mich davon ab.
Plötzlich regte sich etwas in meinem Augenwinkel und ich konnte erkennen, dass jemand in einer grünen Uniform die Hütte links von mir in diesem Augenblick verließ. Ich hastete zum Fenster und wollte gerade an die Scheibe klopfen, als etwas am Anblick dieses Betreuers mich in letzter Sekunde davon abhielt. Beinahe presste ich die Nase an das Fenster, um ihn durch den Schmutz hindurch genauer zu erkennen. Er hielt etwas in der Hand, dass ich sofort als T-Shirt identifizieren konnte. Ein Kind musste es vergessen haben, grüne Grasflecken prangten auf dem weißen Stoff. Das Gesicht des Mannes wirkte im gleißendem Sonnenlicht seltsam entrückt, während er mit den Fingern über den Stoff fuhr. Er schloss die Augen und öffnete den Mund, um langsam über den Kragen des T-Shirts zu lecken. Mir wurde schlagartig speiübel. Instinktiv wich ich von den Scheiben langsam zurück. Dennoch wurde mein Blick plötzlich schärfer und die Szenerie vor mir klarer. Ich sah den Speichel auf der dicken, rosa Zunge des Mannes glänzen. Schließlich öffnete er den Mund noch weiter und begann damit, sich das T-Shirt in den Mund zu stopfen. Er kaute und schluckte, während er immer wieder Fetzen aus dem Stoff riss. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm lösen, bis der letzte Rest des T-Shirts schließlich hinter seinen Zähnen verschwunden war. Er drehte sich um, nahm einen Besen von der Hüttenwand und schlenderte gemächlich aus einem Sichtfeld.
Als ich ihn nicht mehr sehen konnte, drehte sich mir endgültig der Magen um und ich fühlte, wie sich mein Mund mit Wasser und Galle füllte. Angeekelt spuckte ich die Flüssigkeiten auf den Boden.