Kosmischer HorrorLangeTod

Nordische Tiefen

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Fleisch. Die Quintessenz unseres Lebens. Wir bestehen daraus, nehmen es zu uns und drücken uns selbst dadurch aus. Mehr Fleisch, weniger Fleisch, selbst die kleinsten Ungleichheiten in der morphologischen Struktur des Fleischgebildes, das wir Körper nennen, sorgen für auffallende Unterschiede zwischen jedweder Person. Es sorgt für uns, und wir für es. Eine symbiotische Konvivenz zweier zueinandergehöriger Dinge.

Doch was würde passieren, wenn es sich gegen uns wenden würde?

Nicht nur ich, auch viele andere von Horrorliteratur beeinflusste Personen haben sich solcherlei Fragen gestellt und äußerst groteske Antworten dazu formuliert. Schmerzhafte Spielchen wie ruckartiges Ablösen, langsames Verätzen oder auch das manische Verspeisen eigener Körperteile sind durchaus geläufig, doch sind diese längst nicht so originell wie deren Schöpfer meistens denken. Denn ihre Phantasie ist einfach nicht dafür ausgelegt, sich solcherlei Katastrophen auszumalen und in jedweder künstlerischen Form zu verdeutlichen. Es würde ihnen beim Schaffen solchen Übels im Herzen und der Seele schmerzen.

Aber es bedarf auch keiner solcher Phantastereien: Denn die Taten und Schrecken, die noch vor einigen Jahren Realität hätten werden können, liegen ferner als jedwede plumpe Imagination und schrecken mehr ab als alle Monster des tiefen Ozeans. Und als einstiger Mitarbeiter und Zeuge der Geschehnisse fühle ich mich in der Verantwortung dazu, einige Jahre nach den erschütternden Geschehnissen die Leidgeschichte derer aufzuschreiben und eine Warnung an die Welt zu senden.

Alles begann am windigen Morgen des 23. Oktobers 1937. Ich war gerade in meinem Büro der Universität Storskøttes eingetroffen und erwartete mit gemischten Gefühlen den Besuch eines britischen Forschers, der mir in einem euphorischen Schreiben von einer Sensation berichtet hatte, an der ich definitiv Interesse hegen würde. Innerhalb des Textes verwendete er sehr alte und unübliche Vokabeln des Englischen, die mir das Übersetzen nur mithilfe meines alten Kommilitonen Eivind Nagell möglich machten. Ein gestandener Linguist mit einer besonderen Vorliebe für indogermanische Sprachen, der mehr Sprachen flüssig sprach, als ich Worte auf Norwegisch, Englisch und Latein kannte, und stets bereit zum Helfen war. Allein durch seine Fachkenntnis erkannte ich erst die Absichten des schrulligen Briten namens Solomon Crayvan und den Inhalt seines Briefes.

Hochverehrer Bård Vegard Ellefsen, Professor der Skandinavistik und Doktor der Anthropologie,

gestattet mir, mich Ihnen vorzustellen: Mein Name ist Dr. Solomon Crayvan von der Oxford University, Fachgebiete Kulturanthropologie, Archäologie und Oryktologie.

Ich weiß, daß Sie Sich durch das Vermögen ihrer Familie in einer wunderbaren finanziellen Situation befinden und sicherlich den ein oder anderen Satz modernen Goldes in meine Forschungen leiten könnten, die sicherlich auch in Ihrem Interesse wären. Als, wie ich hörte, beinahe schon fanatischer Skandinavist und angesehener Sammler historischer Gegenstände aus Ihrer Heimat sind Sie doch sicherlich an Ruinen interessiert, deren Erbauer bisher niemand identifizieren konnte. Und mit niemand meine ich in diesem Fall mich, außer mir kennt niemand den Standort der Ruinen.

Verzeiht meine Kurzatmigkeit, doch ich muß mich hüten. Ich kann niemandem außer Ihnen vertrauen und werde Ihnen daher alles in Ruhe erklären, wenn ich Ihnen innerhalb der nächsten Wochen einen Besuch in Ihrem Büro abstatte. Verhindern können werden Sie es nicht, also hören Sie mich bis dahin an!

-Solomon Crayvan-

Meine erste Reaktion auf diesen kurzen und seltsamen Brief war Verwirrung. Die Zeilen, die ich soeben gelesen hatte, wirkten wie von einem Kind geschrieben, das seiner Mutter seinen geheimen Zufluchtsort im Wald zu zeigen gedachte und tunlichst darauf achtete, keine Verfolger hinter sich zu behalten. Ich visualisierte Crayvan dabei nicht wie einen gebildeten Akademiker, sondern wie eine Art idealistischen Hobbyforscher, der einen gebildeten Ausländer und Geldgeber für seine närrischen Ausgrabungen benötigte. Viel hielt ich davon nicht.

Aber Crayvans Brief hatte, trotz aller Knappheit, meine Neugier angefacht. Meine Liebe zu meiner Heimat, deren Geschichte und somit auch den historischen Bauten derselben war so stark, wie der Brite sie in seinem Schreiben beschrieben hatte, und verlangte nach Befriedigung. Es hätte schließlich schon etwas Wunderbares an sich gehabt, eine bis dato noch unbekannte Kultur Skandinaviens zu entdecken und in die Geschichte einzugehen. Daher sah ich seinem selbstautorisierten Besuch mehr Positives als Negatives und blickte unserem Treffen hoffnungsvoll entgegen.

Bei mir ein traf er selbst gegen halb zwölf Uhr morgens, mich schon längst in meinem Büro erwartend. Schelmisch hatte er gegrinst, als ich von meinem Toilettenbesuch zurückkehrte und zusammenzuckte, als ich seine Gestalt so auf meinem Sessel sitzen sah. Mit klarstem und nobelsten Englisch sprach er mich daraufhin an, bot mir närrisch meinen eigenen Stuhl vor meinem Schreibtisch an und grinste breit.

Nie werde ich dieses Antlitz vergessen. Der dichte Bart und das schüttere Haupthaar umrahmten sein altes, neckisches Gesicht wie ein Portrait und lenkten den Fokus auf die trüben grauen Augen. Sie schimmerten wie ein Teich aus dunkler Milch und erinnerten mich an die wundervoll tiefen Winter des Nordens. Kühl und doch so voller Licht. Mit seinem augenscheinlich maßgeschneiderten Anzug und dem glänzenden Zylinder wirkte er voll und ganz wie ein klassischer Gentleman, noch mehr durch seinen schwarz-silbernen Gehstock mit bearbeitetem Knauf. Ein Stierkopf mit gewundenen Hörnern.

„Guten Morgen Dr. Crayvan, ich habe sie schon beinahe sehnsüchtig erwartet. Aber was genau ist es denn nun, über das sie so dringend und diskret mit mir sprechen wollen?“, begrüßte ich ihn mit dem besten mir möglichen Englisch und bot ihm mit einer schwungvollen Handbewegung den gepolsterten Stuhl vor meinem Schreibtisch an. Mit formvollendeter Eleganz und einer kleinen Pirouette nahm er darauf Platz, kicherte etwas in sich hinein und beugte sich vor.

„Mein werter Professor Ellefsen – oder kann ich Sie Vegard nennen? – ich habe etwas Wunderbares entdeckt. Es ist zwar in seinem jetzigen Zustand nicht so gut als das Phänomen zu erkennen, das es darstellt, aber gerade das ist unser Vorteil! Niemand außer mir – ich meine uns – wird seinen Aufenthaltsort kennen! Aber zu den Details: Ich habe vor einigen Monaten die Nachricht erhalten, dass etwa drei Meilen nördlich von Storskøtte, zwischen den Hügeln des Waldes, eine Höhle mit seltsamen Schriftzeichen an den Wänden entdeckt worden ist. Unter Zuhilfenahme einiger Mittel, die ich vorerst für mich behalten werde, bekam ich die Möglichkeiten dazu, zu diesen Höhlen zu reisen und sie genauer zu durchleuchten. Und raten Sie, was dort noch auf uns wartet! Es ist nicht nur eine Höhle mit einigen Schmierereien, sondern eine unterirdische Stadt! Ich habe, im Gegensatz zu den Entdeckern der Höhle, die immensen Hohlräume unterhalb des Bodens erkannt! Selbstredend habe ich niemand anderem davon erzählt. Ich habe sie mit der alten ‚Älteres Futhark ohne nähere Bedeutung, wahrscheinlich eine Art verlassener Grabhügel‘-Phrase abgewimmelt und von meiner – ich meine unserer – Entdeckung fortgescheucht. Einfältige Narren ohne Verstand… die Schrift hatte nicht einmal im entferntesten Ähnlichkeit mit dem älteren Futhark! Aber es ist egal, jetzt zählen nur wir beide. Kommen Sie, ich bringe sie zur Höhle! Sie haben doch ein Auto, oder?“

Etwas überrumpelt stotterte ich nur „… ja, natürlich…“ und fand mich im nächsten Moment im Klammergriff des breit grinsenden Oryktologen wieder, der mich hastig durch das Gebäude und über den Campus zerrte, dabei stetig „Schnell, keine Zeit! Wir dürfen keine Zeit verlieren!“ flüsterte und mich in mein kleines Automobil drängte. Ich war von all den Informationen und den ratternden Erklärungen Crayvans noch so verwirrt und in Gedanken, dass ich ihm die Schlüssel meines Wagens übergab und anwies, uns sicher zu der von ihm so angepriesenen Höhle zu fahren.

Wie sich zeigte, war Crayvan kein sonderlich guter oder aufmerksamer Autofahrer. Ich bangte bei jeder noch so kleinen Kurve um mein Leben, und ich bin mir sicher, dass uns allein die nicht so oft befahrene Waldstraße im Norden Storskøttes vor dem sicheren Tod bewahrt hat. Wäre zu dieser Zeit jemand anderes aus der gegenüberliegenden Richtung herangefahren, wären wir alle schneller in den Himmel aufgestiegen, als uns lieb gewesen wäre. Zu meinem seligen Glück jedoch erreichten wir, unter Verschmerzung einiger Beulen und Kratzer meines Wagens, den Waldrand des Natteskog.

Die dunklen Tannen des alten Waldes erhoben sich ehrfürchtig vor uns und hüllten sich selbst in einen wundervoll schimmernden Schatten der Natur. Gemächlich atmete der Wald wohlige Gerüche von Nadeln, Tau und Gräsern aus und umarmte mich mit zärtlichen Armen, wie eine Mutter ihr geliebtes Kind. Ich schloss die Augen und genoss die Magie des altehrwürdigen Waldes mit all meinen Sinnen. Leider störte Crayvans hektisches Gemurmel und abgehacktes Rennen diesen wunderbaren Augenblick. Ihm fehlte einfach der Geist, die ganz besondere Liebe zur Natur, die den Herzen aller Söhne des Nordens innewohnt. Seufzend folgte ich seinem hastigen Schritt.

Wir marschierten etwa eine halbe Stunde unter den hohen Kronen der Tannen durch den Wald der Nacht, bis Crayvan fröhlich aufschrie und wild mit der rechten Hand auf ein Loch im Boden wies, um das rundherum Schaufeln, Spitzhacken und glitzernde Werkzeuge verteilt waren. „Schnell, kommen Sie! Das müssen Sie sehen!“, rief er mir schon fast aus der Höhle selbst zu. „Es lohnt sich!“

Und so inspizierte ich zum ersten Mal die Höhlen, die der Anfang allen Leids werden sollten.

Nach einigen Wochen voller Vorbereitung schritten die Ausgrabungsarbeiten deutlich voran. Unter Zuhilfenahme meines finanziellen Rückgrats, des Erbes meines Vaters, hatten Crayvan und ich drei diskrete Arbeiter angeheuert, die nötigen Maschinen besorgt und Sorge dafür getragen, dass wir bei unserer Arbeit nicht von „Außenstehenden“, wie Crayvan sie immer nannte, behindert würden. Ich persönlich sah zwar in der Öffentlichkeit unserer Ausgrabung kein Problem, doch meine mittlerweile unendliche Neugier ließ mich alle Forderungen Crayvan kommentarlos abwinken, sofern es nur einer Sache diente: Der Enthüllung der Tiefen Stadt, derer ich mit allen Mitteln habhaft werden wollte.

Unsere Ausgrabungen begannen am 2. November, und die Kälte des Winters setzte uns sowie unseren Arbeitern deutlich zu. Sie waren zwar hart und arbeiteten immer weiter, doch ab einem gewissen Grad der Intensität des Schneefalles sah ich der Realität ins Auge und legte die Unternehmung am 19. November vorerst auf Eis. Es war einfach eine Zumutung, bei solchen Temperaturen und Umständen in einer engen Höhle die nötige Arbeit zu verrichten.

Wieso Crayvan und ich uns das nicht früher überlegt haben, fragen sie sich? Nun ja, während Crayvans Ankunft im Oktober zeigte sich der Winter noch ausgesprochen mild, und das Feuer, das der hagere Brite in mir entfacht hatte, hatte meine Zweifel ohnehin in einem beinahe schon ekstatischen Rausch davongespült, sodass ich zu Beginn unserer Unternehmung keinerlei Probleme sah. Der plötzliche Einzug von Kälte und mürrischen Schneegestöbern zu Beginn des Novembers scherte mich zu Anfang noch nicht, und ich appellierte an die sich beschwerenden Arbeiter, sich doch ihrer nordischen Wurzeln zu erinnern und die Kälte ihrer Heimat mit einem Wimpernzucken zu überstehen. Mehr oder weniger zufrieden setzten die drei Arbeiter daraufhin unter der stetig wechselnden Aufsicht von Crayvan und mir die Ausgrabung fort, bis Øystein Slæredal, ein kräftiger Bursche von neunzehn Jahren aus dem nahegelegenen Skjolden, über die Folgen einer Erfrierung zweiten Grades klagte und die zwei anderen Arbeiter, Kristian Dagsen und Ted Hølvosk, ähnliche Probleme aufwiesen. Das war am 19. November, und ich verwies alle an das Krankenhaus in Storskøtte mit der Bitte, etwaige ihre Genesung betreffende Kosten einfach an mich weiterzuleiten. Ich würde dafür Sorge tragen.

Als ich am nächsten Tag Crayvan davon berichtete, war er förmlich außer sich. Er war nicht mehr der schrullig humorvolle Brite, sondern führte sich auf wie ein jähzorniger Troll. Mit wüsten Beschimpfungen verfluchte er mein Handeln und bezeichnete die Arbeiter als „schwach“ und mich als „dümmlichen Idioten, dem körperliche Bedürfnisse anderer über den Wünschen seines Herzens standen“. Und mit noch tausend anderen unflätigen englischen Phrasen, welche ich zum Großteil nicht verstand, verdonnerte er mich und wies mich nach einer gefühlten Ewigkeit seiner Diffamation an, ihn zu der Ausgrabungsstätte zu begleiten. Und es brannte ein loderndes Feuer in seinen trüben Augen, welches ich in solcher Intensität noch nie erblickt hatte. Noch war es kein Wahnsinn, doch die Bestimmtheit brannte hell wie eine Kirche in den dunklen Pupillen Solomon Crayvans. Daher folgte ich ihm wortlos ins Auto, drehte den Schlüssel und setzte Kurs auf die Ruinen des Natteskog.

Gegen frühen Abend erreichten wir den Waldrand, und Crayvan rauschte mit exorbitanter Hektik aus meinem Fahrzeug in den Wald hinein, fast so, als würde er vor meiner Gesellschaft fliehen. Seine für sein Alter unnatürlich festen Schritte hinterließen tiefe Eindrücke im glänzenden Schnee, und mit allmählich wachsender Perplexität folgte ich langsam ihrer Spur, bis ich den geschundenen Oryktologen vor der verschneiten Höhle verschnaufen sah. Ich fragte ihn danach, was dieser Aufruhr denn zu bedeuten habe und was genau wir hier denn zu tun hatten, doch er drückte mir nur seine kalten Finger auf den Mund, gebot mir zu schweigen und wies mich an, ihm in die Höhle zu folgen.

Darinnen war es meiner Ansicht nach noch kälter als draußen, und der Frost schimmerte finster von den kargen Wänden. Mittlerweile war die anfangs vielleicht kindeshohe Decke der Höhle einem weit ausgebauten und gut gestützten Hohlraum gewichen, an dessen Pfeilern ausgebrannte Petroleumlampen angebracht waren. Meine Versuche, eine von ihnen zu entzünden, verwehrte mir Crayvan mit einer zischenden Handbewegung und einem sinistren Augenkontakt.

Langsam tasteten wir uns vor, tunlichst darauf achtend, nicht über kleinere Holzstücke, mittelgroße Steinbrocken oder die hier vergessenen Habseligkeiten unserer Arbeiter zu stolpern. Außer der fahlen Silhouette Crayvans vor mir erkannte ich nichts in dieser Dunkelheit und hing meinen ratternden Gedanken nach, bis ich urplötzlich gegen die hagere Gestalt Crayvans krachte.

Er stand mittlerweile ganz am Ende unseres Tunnels, den nur noch eine vielleicht einen Meter dicke Steinwand von dem Hohlraum der Tiefen Stadt trennte, und horchte daran. Crayvan scherte sich gar nicht um unseren harten Zusammenstoß, seine Konzentration schien allein der Wand vor ihm zu gehören. Ich weiß zwar bis heute nicht, was für Dinge er dort gehört hatte, doch nach gefühlten zehn Minuten drehte er sich ruckartig um und schubste mich in Richtung Ausgang.

„Leise jetzt, oder das alles hier war umsonst!“

Nun vollkommen perplex und verwirrt starrte ich auf den Teil der Finsternis, an dem ich Crayvans Augen vermutete, und begann meine ganze gestaute Verwirrung auf einmal in Form eines gewaltigen Ansturms von Fragen zu entladen. Ich geriet sogar in eine rasende Wut und brüllte ihn mit wüsten Beschimpfungen über seine Geheimniskrämerei und schon angsteinflößende Vorgehensweise an, bis mir irgendwann die ganze Luft auf einmal ausging. Mein Atem schien auszusetzen, und in langsam keimender Verzweiflung schabte ich nach Luft ringend an meinem rotem Hals.

„Es tut mir sehr leid, mein Freund. Sie scheinen es nicht anders zu wollen“, hauchte Crayvan in den luftleeren Raum hinein und sah langsam dabei zu, wie ich ich unter schwindender Kraft auf dem kalten Steinboden zusammenbrach und das Bewusstsein verlor.

Die dissonanten Klänge von krächzigem Gekeife und dumpfen Schritten ließen mich in einer spärlich beleuchteten Umgebung wieder zu mir kommen. Vor meinen halb geöffneten Augen huschte ein finsterer Schatten zwischen runden, schwarz glänzenden Gebilden hin und her, stets begleitet von einem gelblichen Schimmer, der von der Decke zu kommen schien. Alle meine Glieder schmerzten wie Feuer, doch das Aufstehen verweigerten mir einzig und allein die eiskalten Fesseln, die mir um Arme und Beine gelegt wurden. Sie fühlten sich nicht wie Metall oder Stoff, sondern eher wie vereiste Tentakel eines widerwärtigen Krakens an. Ihre Berührung war nass und klebrig, und ihnen haftete ein unbeschreiblich grausamer Geruch an, der mich nie wieder losgelassen hat.

Je mehr meine Energie langsam zurückkehrte, umso weiter öffneten sich meine brennenden Augen, und ich erspähte immer mehr Einzelheiten der Umgebung. Den Schatten, der die ganze Zeit vor mir herrannte, identifizierte ich eindeutig als Solomon Crayvan. Mittlerweile hatte er eine schmutzig dunkelblaue Robe angelegt und trug ein groteskes Diadem von goldener Farbe. Aus seiner Mitte schimmerte ein furchteinflößendes, grünes Licht, das wie ein drittes Auge von Crayvans Haupt herabschimmerte und sein Blickfeld in eine Säule aus smaragdenem Leuchten verwandelte.

Die schwarzen Gebilde im Hintergrund erkannte ich nun als hohe Obelisken, an deren Seiten Dutzende der Symbole prangten, derer wir schon einige in der oberen Höhle gefunden hatten. Sie alle standen in unregelmäßigen Abständen und Linien, doch es schien einer insgesamten, nie gesehenen Ordnung zu folgen. Doch ihre Funktion konnte ich mir nicht ersinnen.

Nach einiger Zeit meines Beobachtens bemerkte Crayvan mein Erwachen und schwebte mir inmitten einer bläulichen Wolke entgegen. In seinen normalen Augen brannte mittlerweile der reine Wahnsinn, während das obere dritte Auge vollkommene Finsternis ausstrahlte. Manisch grinsend starrte er mich an.

„Oh Vegard, wieso bist du denn nicht gelaufen, einfach fortgerannt? Hm? Hmm? Wie ich es dir geraten hatte? Es hätte doch so viel besser kommen können, oh ja mein Freund, doch du hast mir ja nicht einmal eine Wahl gelassen. Mich so zu bedrängen… und nein, ich dulde keinen Widerspruch!“, zischte er krächzig und drückte mir ein schleimiges Wesen in den Mund, das sich binnen Sekunden den Weg in das Innere meines Körpers bahnte und darinnen nicht mehr zu lokalisieren war. Ich spürte nur einen Anflug von Kälte, und innerer Traurigkeit.

„Was das ist, fragst du dich? Du wirst es noch zeitig erfahren. Was das alles hier ist, fragst du dich? Nun ja, mein Freund, die Erfüllung meines Lebens! SIE hat mich erlöst! Niemals werde ich den wohligen Tag vergessen, da SIE mir erschienen ist. So groß und lieblich, doch auch finster, böse und fürchterlich! Ihre Worte waren wie Feuer und ihr Blick wie Eis. Zu ihrem heiligen Auserwählten gemacht hat SIE mich, oh ja, und mit der Aufgabe eines Champions betraut. Ihre Kinder sollen erneut auf Erden wandeln, wie in den Tagen vor der Zeit, vor der Entstehung, vor dem Universum dieser Welt! Ihre alte Hauptstadt Magr’shagganakh, die Tiefe Feuerzunge, soll erneut zum Zentrum Erdens werden und eine neue Ära des Schreckens und der Glückseligkeit einläuten. Und ich, ein einfacher Mensch, werde an ihrer Seite regieren und vom goldenen Busen R’vadannas trinken! Das Leben zweier einfältiger Wanderer, die zufällig auf den heiligsten Ort der Erde gestoßen sind, und eines schwächlichen Professors, dessen Gefühle ihn verdammten, ist ein unheimlich geringer Preis dafür, ist es nicht?“

Mit Schrecken und instinktiver Angst stemmte ich mich gegen die Fesseln und verlor jegliche emotionale und körperliche Kontrolle. Crayvan belächelte mich nur spöttisch.

„Du solltest nicht zu sehr an den Savgnas reißen, ansonsten zerfressen sie dich noch viel schneller. Den Großteil deines Oberschenkels zum Beispiel haben sie schon genüsslich vernascht! Oh, und der rechte Arm ist auch bald am Ende! Sie lieben das Blut, das die Anstrengung durch deine Venen pumpt! Ach wird meine Herrin sich doch freuen! Sie liebt sich in Qualen windende Menschen. Und gerade nach dir hat sie doch auch verlangt… die Zeit ist gekommen!“, lachte er hysterisch und erhob seine Arme in Richtung der Monolithen. „ARGAVNARAK WMAR’DOM R’VADANNA WGUTANA XAFHTAGN!“

Augenblicklich stieg eine unnatürlich bösartige Kälte aus dem Boden auf und Tausende wendiger Tentakeln wandten sich schleimig um die Monolithen, bis sie sich alle im selben Moment anspannten und den restlichen Teil ihres Körper aus der Tiefe herauszogen.

Niemals wieder erblickte ich solch einen Schrecken, und niemals wieder werde ich ihn vergessen. Eine schwarz-grüne Kreatur mit hektisch zuckenden Tentakeln stand direkt über Crayvan. Alle Tentakel liefen in einer gewaltigen Kugel zusammen, aus der vollkommen willkürlich widerliche Brüste, zuckende vierlidrige Augen und rasselnde Schwänze mit klauenbesetzten Händen hervorsprossen. Aus den unmöglich zu zählenden Brüsten rann immerzu eine spermienartige Flüssigkeit, die stetig über den grotesken Körper R’vadannas floss und von den kleinen Tentakeln als Nahrung absorbiert wurde. Ihre Münder waren wie grässliche Vaginen, die mit zweifacher Zunge vom Saft ihrer Mutter tranken.

Tief dröhnende, gutturale Laute drangen aus ihrem Körper und schienen Crayvan etwas mitzuteilen. Es schien aber keine sonderlich frohe Botschaft zu sein, denn je mehr R’vadanna sprach, umso verzweifelter wirkte Crayvan. Er zerschabte sich sogar die Ohren und die Augen, als er die Worte seiner Herrin anscheinend nicht mehr ertragen konnte. Schlussendlich sackte er einfach unter gequälten Schreien und martervollem Schluchzen auf dem Boden zusammen, die sogar noch lauter und unmenschlicher wurden, nachdem ihn die Tentakel seiner Herrin vollends mit deren Saft beschmiert hatten. Seine Gestalt begann daraufhin zu dampfen, und sein Körper zerfloss langsam unter der anscheinend ätzenden Flüssigkeit des grotesken Monsters, bis allein eine ekelhaft stinkende Pfütze am Boden zurückblieb.

Nachdem der Brite sein Leben ausgehaucht hatte, fraßen sich einige der Tentakel sofort an dem zerflossenen Körper Crayvans satt. Mit unnatürlicher Gier sogen sie den zähen Schleim in sich auf und kehrten danach träge zu ihrer gigantischen Mutter und derer eigenen Milch zurück. Binnen Sekunden lösten sich die Tentakel um die Monolithen herum, R’vadanna glitt zurück in die Tiefe und verschwand so schnell, wie sie gekommen war.

Vollkommen geschockt und allein durch Adrenalin am Leben gehalten schaute ich mich um. Zu meiner Verwunderung hatten sich die Savgnas um meine Glieder herum gelöst – sie waren wahrscheinlich ihrer Mutter nachgefolgt – und instinktiv versuchte ich aufzustehen. Doch nichts funktionierte. Einige Male noch versuchte ich meine gesamte Muskelkraft einzusetzen, bis mir auffiel, dass ich gar keine mehr besaß. Meine beiden Arme und Beine waren nichts mehr als halb zernagte Knochen, die in einer dunklen Lache geronnenen Blutes ihr trostloses Dasein fristeten. Verzweifelt jedoch versuchte ich es weiter und weiter, bis auch das letzte Fünkchen Energie meinen verstümmelten Körper verlassen hatte und mir erneut die Erlösung der Ohnmacht schenkte.

„Bleib liegen, elende Made!“

Langsam und unter enormer Anstrengung öffnete ich die Augen und fand mich auf einem schwarzen, vernebelten Plateau wieder. Um mich herum wuchsen schwarzsteinerne Berge dem wolkenverhangenen Himmel entgegen, und aus der Ferne beleuchteten zwei violett scheinende Sonnen diesen seltsamen Ort. Vor mir stand eine gekrümmte Gestalt.

Meine Arme und Beine konnte ich nicht spüren, allein meinen Kopf konnte ich noch bewegen. Und als ich ihn unter Qualen nach oben stemmte, blickten mich in zwei milchtrübe, graue Augen an. Tränen und immense Enttäuschung schimmerten darin.

„Meine Herrin… SIE hat mich einfach verraten… ich war zu schwach… ich konnte ihrer Folter nicht widerstehen, ich bin eine Schande… ich muss mich erneut beweisen… R’vadanna wird erneut über ihre Halbinsel herrschen, von ihrem leuchtenden Thron in Magr’shagganakh aus…“, schluchzte Crayvan wütend und starrte nun direkt mich an. „Was ein Genie ich doch bin, dir Vakhsvdal, den Seelenfresser, in den Rachen zu jagen… deine Seele wird vergehen und meiner weichen, bis ich allein über deinen elenden Körper gebieten und SIE zurückholen werde… deswegen sollte ich dich in ihre Pläne miteinbeziehen und zu diesem Heiligtum bringen! Jetzt ist alles klar… du bist mein Gefäß! SIE ist mein Schicksal… und ebenso deines!“, lachte Crayvan hysterisch und augenblicklich löste sich die gesamte Szenerie vor meinen Augen auf.

Ich erwachte später und nach einer Unendlichkeit von weiteren, finsteren Träumen auf der Intensivstation des Krankenhauses von Storskøtte und lag mindestens für drei Stunden wie in einer Paralyse da. Mein Gehirn war nicht dazu in der Lage, all diese Eindrücke, den Schrecken, den Schmerz zu verarbeiten, und stellte einfach den Betrieb zum Großteil ein.

Ich erkannte nur meine fehlenden Arme und Beine, deren „Bruchstellen“ inzwischen fachkundig verbunden und behandelt worden waren, mehr nahm ich gar nicht mehr wahr. Später besuchte mich eine Krankenschwester und erzählte mir davon, dass mich mein ehemaliger Arbeiter Øystein Slæredal vor drei Tagen hier eingeliefert hätte, nachdem er und die anderen beiden Arbeiter meinen verstümmelten Körper in den Tiefen Magr’shagganakhs, deren Pforten Crayvan wahrscheinlich während meiner geistigen Abstinenz eigenmächtig eingerissen hatte, gefunden hätten. Im Schlaf hätte ich beinahe pausenlos gestöhnt, geschrien und geweint, und es wäre ein Segen für mich, bei solchen Blessuren wie den meinen überhaupt noch am Leben zu sein. Aber es fühlte sich nicht wie einer an.

Jede Nacht hatte ich grässliche Alpträume, die schlimmer und schlimmer wurden, je mehr Zeit verstrich. Meine Phantomschmerzen brachten mich bald jeden Tag aufs Neue um. Ohne Hilfe schaffte ich gar nichts mehr, und die kalte Umarmung der Depression erreichte mich früher, als ich erwartet hätte. Doch all das war nicht das Schlimmste an meinem Leiden: Mein eigenes Fleisch wandte sich gegen mich, ich konnte es spüren. Teile meines Gehirns begannen gegen mich zu arbeiten. Oftmals verschloss sich meine Lunge, sodass ich keine Luft mehr bekam, und meine Seele schien langsam von innen heraus zerfressen zu werden. Der wirre Traum von Crayvan und dem Seelenfresser, den ich nach meiner Ohnmacht vor dem Alptraumthron R’vadannas durchlebt hatte, war tatsächlich Realität gewesen. Crayvans Geist ersetzte tatsächlich langsam aber sicher meinen eigenen.

Zwei Jahre ging das nun so, doch heute, am 28. Dezember 1939, werde ich das ein für alle mal beenden. Weder wird Crayvan in meinem Körper diese Schreckensgöttin auf Skandinavien loslassen noch werde ich länger an den Folgen dieser Ausgrabung leiden. Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn das eigene Fleisch gegen die Seele arbeitet und sie selbst die Gewissheit haben, dass sie diesen Kampf niemals gewinnen können. Es ist schmerzhaft, täglich mehrmals fast in seiner Suppe zu ertrinken, weil der Körper urplötzlich vornüber fällt. Es ist grausam, der Wirt für einen so qualvollen Parasiten wie Crayvan zu sein. Doch das endet jetzt.

Nach Beendigung dieses durch meinen treuen Pfleger Gylve Lordåg niedergeschriebenen Berichtes werde ich mich umbringen, um Crayvan die Chance zu verwehren, R’vadanna zu beschwören. Und selbst wenn ich auf ewig in Sphären fern von menschlicher Wahrnehmung übernatürliche Qualen zu erleiden hätte, ist es mir dieses Opfer wert. Ich gebe ihnen nur einen Rat:

Hüten sie sich vor R’vadanna, der ältesten Göttin Skandinaviens, die bedächtig auf ihrem Thron in Magr’shagganakh ihre dunklen Kinder nährt und nur darauf wartet, erneut über die Welt zu herrschen.

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[https://www.youtube.com/watch?v=TbIrWg0qzPQ Natteskogen og R’vadanna] (Musik zur Geschichte)

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