
Opas Geschichten: Nachtschicht
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Bernard Shaw wurde bereits vor fünfzehn Jahren von
seinem Arzt gebeten, das Rauchen sein zu lassen.
Hat er nicht. Schon Albert Einstein hat gesagt, man solle immer erst seine Pfeife anzünden,
bevor man eine Frage beantwortet. Und genau so hat Bernard Shaw es seit jeher
gehandhabt, wenn sein Enkel ihn nach einer seiner Geschichten gefragt hat.
„Die Geschichte, die ich heute für dich habe, hat
sich 1962 zugetragen. Ich bin gerade Achtzehn Jahre alt geworden. Mit deiner Großmutter hatte ich
damals noch nichts zu tun, stattdessen hatte ich Ronette an meiner Seite. Glaub
mir, das war eine Traumfrau. Ihr strahlendes Lächeln, ihre blonden Haare …
Na ja, jedenfalls habe ich in diesem Sommer so viel gearbeitet wie nur irgend
möglich. Wir hatten es damals nicht so gut wie ihr. Wer nicht gearbeitet hat,
hatte kein Geld. Die Jugend von heute hat nicht einmal mehr einen Fliegenschiss
Anstand im Leib.“
„Bernard!“ ruft seine Frau aus der Küche. Sein
Enkel schüttelt grinsend den Kopf, Bernard hingegen rollt die Augen und erzählt
weiter.
„Jedenfalls wollte ich Ronnie damals einen Antrag
machen und brauchte Geld für den Ring. Jeden Nachmittag habe ich in der alten
Tankstelle an der Route 88 gearbeitet. Am Wochenende übernahm ich immer die
Nachtschicht, das gab am meisten Geld. Außerdem war das damals die erste
Tankstelle im ganzen Umkreis, die bis zwei Uhr geöffnet hatte.
So stand ich auch in einer warmen Juninacht vor sechsundfünfzig Jahren am
Schalter der Tankstelle. Es gab nur drei Zapfsäulen, alle im selben Blau wie
auch die Blechfassade der Waschhalle und des engen Kassenhauses.
Es muss gegen ein Uhr gewesen sein. Schon seit
Stunden hörte ich denselben Radiosender, der nur Hits aus den späten Fünfzigern
spielte. Und ich werde niemals vergessen, wie dieser Irre in seinem rot-weißen
1955 Buick Roadmaster angefahren kam.
Er stieg aus, schaute sich um und atmete tief ein. Mit schlürfenden Schritten
kam er langsam auf das Kassenhaus zu. Währenddessen kramte er bereits seine
Brieftasche hervor, sein Blick war dabei die ganze Zeit auf mich gerichtet. Unter
der Kasse gab es damals ein Fach, in dem eine Waffe versteckt war – nur für den
Fall, meinte mein Chef. Eine Walther P1.
Nur für den Fall.
Mein Blick haftete am neuen Kunden. Ein ungepflegter Kerl mit fettigen Haaren,
unrasiert. Seinen Falten nach zu urteilen wird er um die vierzig Jahre alt
gewesen sein.
‚N‘ Abend. Eine Pall Mall.‘
Ich sah in seine Augen.
Leere.
Die kältesten blauen Augen, die ich jemals gesehen habe. Außer … nein, das ist
eine andere Geschichte.
Jedenfalls starrte ich ihn an und das gefiel ihm nicht. Das gefiel ihm ganz und
gar nicht.
‚Was hast’n, Bursche?‘
Ich löste meinen Blick von seinen unheimlichen Augen und schüttelte den Kopf.
‚Das macht fünfzig Cent.‘
Mürrisch legte er Cent um Cent auf die Ablage, während ich mich überwinden musste,
ihm seine Pall Mall zu holen.
Nachts muss man einfach achtsam sein. Es war unangenehm, ihm den Rücken zuzuwenden.
Zu oft hörte man Geschichten von Raubüberfällen in der Gegend, verübt von
Kerlen wie ihm. Und irgendwas hatte dieser Kerl an sich. Irgendwas, was mir
einfach Angst gemacht hat.
Ich holte ihm seine dreckigen Pall Mall und legte sie neben seinen Turm aus
Talern.
Erst als ich sein Geld aufsammelte, hörte ich sein schweres Schnaufen. Ich
schaute hoch, sah direkt in diese kalten blauen Augen und er starrte zurück. Meine
Hand umfasste langsam die Walther. Nur für den Fall.
‚Kann ich noch etwas für Sie tun, Mister?‘
Das Zittern meiner Stimme muss unüberhörbar gewesen sein.
Er fing ganz langsam an zu grinsen und zeigte mir seine gelben,
blutverschmierten Zähne. Mein Herz machte einen Satz und ich hielt inne.
Vorsichtig tastete ich nach der Walther im Fach unter der Kasse und umklammerte
sie mit meiner rechten Hand.
Vielleicht hatte er eine Prügelei gehabt. Vielleicht hat er aber auch nur gut gegessen.
Eine Hand legte er auf seine Schachtel Pall Mall, drehte sich um und humpelte
zu seinem Wagen.
Ich ließ meine Hand an der Pistole bis die Lichter angingen. Bis der Motor
anging. Ich ließ erst los, als der Buick hinter der nächsten Kurve verschwandt.
Ich atmete ein paar Mal tief durch und versuchte mich zu beruhigen. In den
sieben Monaten, in denen ich die Nachtschicht in dieser Tankstelle übernommen
habe, geschah einiges. Betrunkene, die sich über die Spritpreise beschwerten.
Obdachlose, die sich den Toilettenschlüssel holten und dort in ihrer eigenen
Pisse einschliefen. Einmal hat jemand direkt auf die Scheibe des Nachtschalters
gekotzt.
Wie schlimm konnte dieser Kerl also sein? Gruselig, ja, aber nicht gefährlich.
Meine Schicht dauerte ja nur noch eine Stunde.
Aber eine Stunde kann lang sein.
Sehr lang.
Es war 1:40 Uhr. Ein dumpfes Geräusch vom Dach des
Kassenhauses riss mich aus meinen Gedanken. Ich zählte bereits das Geld und da
seit dem Irren niemand mehr getankt hatte, ging ich davon aus, dass das auch in
den nächsten zwanzig Minuten nicht der Fall sein würde. In manchen Nächten
blieb die Kundschaft eben aus.
Dieses Geräusch war verdammt leise und ich nahm es kaum wahr. Erst als ich es
wenige Sekunden später wieder hörte, drehte ich das Radio aus und starrte zur
Decke.
Nichts.
Gerade als ich mich wieder der Kasse widmen wollte, Klack.
Irgendetwas war auf dem Dach. Ich sah aus dem Fenster auf das Gelände der
Tankstelle. Das blaue Neonlicht verriet niemanden.
Allem Anschein nach war ich alleine.
Klack.
Ich blickte auf die Uhr. In 16 Minuten sollte meine Schicht enden und ich hatte
keine Lust auch nur eine Minute länger in dieser Tankstelle zu sitzen. Es
könnte auch Regen sein, dachte ich mir. Eher Hagel. Aber ein Blick aus dem
Fenster verriet mir, dass es eine staubtrockene Nacht war.
Klack.
Konzentriert atmete ich tief durch und widmete mich wieder der Kasse. Das war
nicht das letzte Geräusch, das vom Dach kommen sollte aber ich versuchte mich
so gut es ging auf das Geld zu fokussieren. Was auch immer es gewesen ist, ich
würde den Rest des Geldes zählen und mich in mein Auto setzen, durch die Nacht
nach Hause fahren und diese Schicht hinter mir lassen, genau wie die letzte und
die davor.
Ich drehte das Radio auf und merkte gar nicht, dass das Klacken auf dem Dach ein
Ende gefunden hatte.
Um 1:56 Uhr knallte ich die Tür des Kassenhauses
zu und schloss ab. Schichtende. Ein klarer Sternenhimmel begrüßte mich und
kühlte meine Aufregung ab, während ich die drückende Luft einsog. Es war
totenstill. Nur ein paar Grillen zirpten leise im Feld auf der anderen Seite
der Tankstelle.
Die Sorgen fielen von mir ab und ich rechnete durch, wie oft ich noch arbeiten
musste, um Ronnie den Ring zu besorgen. Just in diesem Moment riss mich eine
Hupe aus meinen Gedanken. Ihr Hall schoss durch die Nacht wie das Heulen eines angeschossenen
Kojoten.
Zwei Scheinwerfer zeigten sich auf der anderen Seite der Straße, strahlten
genau in meine Richtung. ‚Renn!‘, war das einzige, woran ich denken konnte.
Aber meine verfluchten Beine gehorchten mir nicht. Sie waren wie einbetoniert,
als wollten sie wissen, wie die Geschichte ausgeht.
Es waren die Scheinwerfer des 1955 Buick Roadmaster. Sein Motor zerfetzte die
Stille der Nacht, während er aufs Gas drückte und der Buick auf mich zu raste.
Hinter dem Wagen türmte sich eine dichte Staubwolke auf.
Erst jetzt merkten meine Beine, dass es angebracht wäre, wegzurennen. Zu meinem
Auto würde ich es nicht mehr schaffen, vorher würde er mich überfahren. Ich drehte
um, hastete zur Rückwand meiner blechernen Burg und stieg auf die Leiter des
Kassenhauses.
Meine schweißnassen Hände kämpften sich Sprosse für Sprosse vor. Mit jeder wurde
meine Anspannung größer und der Motor seines Wagens lauter.
Auf der letzten Sprosse angekommen sprang ich auf
die Dachkante, taumelte und konnte dann noch einen Schritt zur Mitte des Daches
gehen um an Stabilität zu gewinnen. Der Roadmaster raste gerade in die Auffahrt
der Tankstelle.
‚Die Walther!‘, dachte ich. Zu spät. Er würde am Haus angekommen sein, bevor
ich sie in der Hand halte. Plötzlich bemerkte ich, wie ich auf einen Stock trat.
Mein Blick senkte sich und noch während ich meinen Fuß hob, fing ich an zu
schreien. Es war kein Stock. Es war ein Finger.
Nein, zehn Finger. Auf dem ganzen Dach verteilt. Er hatte sie abgeschnitten,
eher noch abgebissen. Der rote Nagellack leuchtete, als hätte ihn die Frau
heute erst aufgetragen, das geronnene Blut am fleischigen Stummel hingegen …
Mit größter Mühe unterdrückte ich meinen Würgereiz in dem Moment, in dem der
Irre eine Vollbremsung vor dem Kassenhaus machte. Lachend stieg er aus und knallte
die Tür so laut zu, dass ich zusammenzuckte.
Das war es also. Meine letzten Momente verbrachte ich auf dem Dach eines
Nachtschalters, ermordet von einem unrasierten Irren.
‚He, Kleiner! Ich hab was für dich!‘, rief er, wobei das ‚dich‘ in einem Kichern
unterging. Wie angewurzelt blickte ich auf ihn herab.
‚Was wollen Sie?‘, rief ich.
Er starrte mich nur an.
‚Was willst Du, is‘ die Frage! Kopf oder Zahl?‘
Mein rechter Fuß tastete sich langsam nach hinten, solange bis ich einen Finger
unter meiner Hacke spürte und damit kämpfen musste, dem Kerl nicht auf den Kopf
zu kotzen.
‚Junge! Kopf oder Zahl?‘
Widerwillig rief ich ihm ‚Kopf!‘ zu und schaute zur Straße. Kein Wagen weit und
breit. Nur das Kichern des Irren, der wie wild nickte und um seinen Wagen
rumging. Das Öffnen seines Kofferraums war ein einziges, rostiges Quietschen,
dann schaute er hoch zu mir.
‚Kannst du fangen!?‘ rief er mit einer sich überschlagenden Stimme. Bevor ich
reagieren konnte, flog ein abgetrennter Kopf durch das blaue Neonlicht auf mich
zu, prallte gegen mein linkes Knie und knallte auf das Blechdach. Der Irre
brach in einen Lachanfall aus, ich hingegen sagte nichts, starrte nur die
blutverschmierten blonden Haare an und blickte in grüne Augen, die anscheinend
eben noch den Tod höchstpersönlich gesehen haben.
Mir lief die Pisse das Hosenbein hinab. Was sollte ich tun? Was konnte ich tun? Jemand, der mit
abgetrennten Köpfen um sich schmeißt, will dich nicht berauben. Er will dich
töten.
Plötzlich setzte der Wahnsinnige sich in Bewegung und hastete mit seiner
schlürfenden Gangart zur Leiter des Kassenhauses. Zitternd tastete ich meine
Hose nach Gegenständen ab, die mir helfen konnten. Nichts, nicht einmal mein
Taschenmesser hatte ich dabei. Schnaufend erklomm er die Leiter.
Mit voller Wucht trat ich ihm in seine Visage als er gerade über die Dachkante
sehen konnte. Trat noch ein zweites Mal. Es stieß ihn soweit nach hinten, dass
ich verwundert war, dass er sich überhaupt noch halten konnte. Jedenfalls
kämpfte er sich weiter die Leiter hoch und hielt sich an der Dachkante fest.
Ein drittes Mal trat ich zu, diesmal bekam er mich jedoch zu fassen und riss
mich von den Beinen. Mein Kopf knallte auf das Blech während sich zwei
abgetrennte Finger von unten in meine Schulter und meinen Oberschenkel bohrten.
Dann stand er schon über mir, schnaufend und hässlich starrte er mir in die
Augen. Diese unerträgliche Leere in seinem Blick jagte mir eine unfassbare
Angst ein.
‚Tja, du kleiner Scheißer. Das war’s wohl, hm?‘
Tränen rollten über meine Wangen. Was würde Ronnie denken? Und meine Mutter?
Sie würde den Schock nicht überleben.
Das Adrenalin schoss mir durch den Körper. Wie unter Strom riss ich mein
rechtes Bein hoch und trat ihm mit solcher Wut vor das linke Knie, dass er
schreiend zusammensackte. Mehrmals trat ich gegen seinen Kopf bis mir das Blut
aus einer Platzwunde entgegen spritzte. Erneut griff er nach mir, bekam mein
Hosenbein zu fassen und zerriss es mit seinen langen Fingernägeln. Mit voller
Wucht und beiden Beinen kickte ich ihn über die Dachkante, woraufhin er mit einem
dumpfen Geräusch auf den Boden knallte. Als ich zur Dachkante kroch und
hinunter sah, stieg eine Staubwolke um seinen scheinbar leblosen Körper herum
auf. Zu gerne hätte ich geglaubt, dass er wirklich tot sei, doch sein schweres
Atmen war noch immer hörbar.
Langsam drehte ich meinen Kopf zur Waschhalle.
Hinter ihr stand mein Thunderbird. Es dürften nicht mehr als dreißig Meter
sein, dann säße ich in meinem Wagen, würde die Schlüssel umdrehen und könnte
nach Hause fahren. Könnte zur Polizeistation fahren. Könnte dem Horror
entkommen.
Mehrere Sekunden lang beobachtete ich den Kerl, der nach wie vor im Staub lag
und schnaufte. Erst dann traf ich den Entschluss die Leiter hinab zu steigen
und den Irren hinter mir zu lassen.
Bevor ich mich versehen konnte, umklammerten meine schwitzigen Hände die kalten
Stahlsprossen der Leiter und ich fand mich auf halber Höhe des Kassenhauses
wieder, unmittelbar unter mir lag der Wahnsinnige. Ich sprang soweit von der
Leiter ab, dass ich hinter seinem Körper landete, hielt kurz inne und rannte wie
von einer Ratte gebissen zur Waschhalle.
Sein Kreischen hallte durch die Nacht als ich zu
meinem Wagen sprintete. Ob er mich verfolgte oder nicht, das wusste ich nicht.
Ich wusste nur, dass ich hier weg wollte. Raus aus diesem Albtraum.
Mein Herz machte einen Sprung, als ich meinen Ford Thunderbird sah. Ich kramte
meinen Schlüssel hervor, stolperte hinters Lenkrad und verriegelte die Tür von
innen.
Gerade als ich den Motor gestartet hatte, kam der Irre um die Waschhalle herum
und humpelte mit seinem leeren Grinsen auf mich zu.
Ich schrie, gab Gas und fuhr den Wichser über den Haufen.
Es knallte als ich ihn überrollte und irgendwas rumpelte von der Rückbank, mir
war aber in jenem Moment nicht bewusst, was es war.
Ich fuhr noch ein paar Meter und machte eine Vollbremsung.
Im Rückspiegel sah ich, wie der Kerl im roten Licht meiner Rückscheinwerfer den
rechten Arm anhob.
Dann den linken.
Und dann hob er seinen Kopf.
Das war der Moment, in dem ich ihn rückwärts überrollte.
Das Geräusch seiner brechenden Knochen hallte noch
lange durch die Nacht, es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis die Nacht zu ihrer
Totenstille zurückkehrte. Manchmal denke ich, dass ich es noch immer hören
kann.
Er regte sich nicht mehr. Seine kalten Augen würden niemanden mehr ansehen.
Ich ließ mich erschöpft in den Sitz fallen und schloss die Augen. Was für eine
Nacht. Erstaunt musterte ich meine Hände, die beide nicht aufhören konnten, zu
zittern. Wenige Meter vor meinem Wagen lag der leblose Körper des Irren,
angestrahlt von meinen Scheinwerfern. Ich konnte und wollte nicht glauben, was
hier gerade passiert ist.
‚Nachtschicht …‘, flüsterte ich und lachte kurz auf. Erst jetzt fiel mir ein,
dass etwas auf der Rückbank gepoltert hatte. Langsam drehte ich mich um. Auf
meinen blutverschmierten Sitzen lag die kopflose Besitzerin der zehn
Fingerstümmel …“