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Plastic Hell

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Endlich Wochenende! Gut gelaunt stieg Valeria die Stufen in die vierte Etage hinauf.
Der Aufzug war seit über einer Woche kaputt, aber den Hausmeister juckte das
herzlich wenig. Heute war ihr erster Jahrestag mit Bastian und sie hoffte
inständig, vor ihm in der gemeinsamen Wohnung anzukommen. Seit einem knappen
Monat wohnten die beiden zusammen. Die Fahrt aus dem kleinen Vorort – in dem
ihre Eltern wohnten – zu ihrer Uni dauerte recht lange und nachdem Bastians
Mitbewohner ausgezogen war, hatte es sich angeboten, bei ihm einzuziehen. Das
nun unbenutzte Zimmer wurde zum „Büro“, wie er es gerne nannte. Dort hatten sie
sämtliche Bücher und ihre PC’s untergebracht.

Obwohl es
erst 17 Uhr war, brannten draußen schon die Straßenlaternen. Kein Wunder, es war
ja auch erst Januar. Valeria schloss die Tür auf und schaltete das Licht in der
Diele an.

Sehr gut,
Bastian war noch nicht da. Sie fragte sich, ob er wohl an ihr Jubiläum gedacht
hatte und stellte eine Tüte mit Sushi von seinem Lieblings-Japaner auf den
Küchentresen. Ein lautes Summen tönte aus ihrer Tasche, eine SMS: „Hey Kleines,
ich brauche heute ein bisschen länger, bin so in einer halben Stunde zu Hause.“
Perfekt, also noch etwas Zeit. Sie deckte den kleinen Tisch und verteilte
großzügig Kerzen im Wohnzimmer. Valeria sah auf die Uhr, nur noch ein paar
Minuten, vorausgesetzt es gab keine weiteren Verspätungen. Nur noch schnell
umziehen. Sie eilte ins Schlafzimmer, tastete nach dem Lichtschalter und zuckte
heftig zusammen. „Dieses gruselige Scheißteil!“ Vor ihr stand eine alte
Schaufensterpuppe.

Vor fast
zwei Wochen hatte Bastian die Puppe mit nach Hause gebracht. „Für die Arbeit,
die ist bald wieder weg“, hatte er versprochen. Er arbeitete neben dem Studium
in einer Boutique und kümmerte sich dort vor allem um die Innengestaltung und
Dekoration. Valeria fragte sich, was er überhaupt damit wollte. Die Puppe war
zwar alt – das ehemals weiße Plastik war längst zu einem schmutzigen
Elfenbeinton vergilbt – aber nicht so alt, dass sie einen nostalgischen Charme
oder was auch immer besessen hätte. Für Valeria ein klarer Fall für die
Mülltonne. Außerdem hasste sie Puppen aller Art. Die Dinger waren einfach
unheimlich und so ein Teil auch noch in ihrem Schlafzimmer zu haben, war schier
unerträglich. Sie wusste auch, dass es eigentlich lächerlich war, aber das war
die Angst vor Mäusen und Spinnen im Prinzip auch. Bastian zog sie gerne damit
auf: „Was soll sie denn schon machen? Sie hat doch nicht mal ein richtiges
Gesicht. Und vor allem, es ist nur eine Puppe.“ Richtig, es war nur eine Puppe,
aber eine ausgesprochen widerliche. Das Gesicht war nur angedeutet, als hätte
sich ein Mensch einen Strumpf über den Kopf gezogen. Trotzdem hatte Valeria
ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. „Ich bin schon total paranoid. Wird
Zeit, dass Basti das Ding endlich wegschafft.“ Sie zwang sich wegzuschauen und
widmete sich lieber dem Kleiderschrank. Der große Spiegel auf der Vordertür
zeigte ihr ein blasses herzförmiges Gesicht, auf dem noch ein Hauch des
Schreckens lag. Zielsicher nahm sie den Bügel mit ihrem Lieblingskleid heraus.
Schwarzer Grobstrick, oben locker fallend und unten eng. Mit der Bürste
glättete sie noch einmal ihr blondes Haar, das bis knapp auf die Schultern
fiel. Jetzt noch das Richtige für darunter. Valeria lächelte, öffnete eine
Schublade und fuhr zusammen. Hatte sich da in der „Puppenecke“ nicht etwas
bewegt?! Fast eine Minute fixierte sie die unheimliche Schaufensterpuppe und
kam dann zu dem Schluss, dass es nur die Lichtreflexion eines vorbeifahrenden
Autos gewesen war. Schnell zog sie sich um und verließ das Schlafzimmer wieder.
Valeria war froh, als sie hörte, dass die Wohnungstür aufgeschlossen wurde. Sie
war nicht gerne allein zu Hause. Schon gar nicht mit dieser unerwünschten
Mitbewohnerin.

„Schön,
dass du wieder da bist!“ Ein bisschen zu erleichtert fiel ihm Valeria um den
Hals. „Hast du etwa immer noch Schiss vor der Schaufensterpuppe?“ Bastian
lachte sie schon wieder aus. „Blöder Penner“, schmollte sie. „Du wolltest das
Ding längst wegschaffen! Warum musst du den Krempel für die Arbeit eigentlich
hier aufheben? Das ist doch total bescheuert!“ „Du hast ja Recht. Aber
irgendwie mag ich das Teil…“ Er sah nachdenklich aus. „Ich dachte sogar, wir
behalten sie einfach.“ „Das ist doch nicht dein Ernst?! Welcher normale Mensch
hat denn eine Schaufensterpuppe im Haus!“ „War doch nur Spaß, Engel. Du hast
dich ja heute so rausgeputzt, ist was Besonderes?“, versuchte er abzulenken.

„Hm,
vielleicht. Rate doch einfach“, grinste Valeria geheimnistuerisch. „Dein
Geburtstag?“ „Nein, aber bald.“ „Mist… unser Jahrestag…?“ Valeria nickte. Sie
hatte damit gerechnet, dass Bastian ihren Jahrestag vergessen würde. Aber er
war einfach zu niedlich, wenn er in Verlegenheit geriet. Sie konnte ihm einfach
nicht böse sein. Lächelnd nahm sie seine Hand und zog ihn ins Wohnzimmer.

„Wow, du
hast dir ja echt Mühe gemacht. Jetzt fühl ich mich erst recht scheiße.“ „Ist
doch egal, ich wollte dir nur eine Freude machen“, kicherte Valeria. „Du bist
extra zum ‚Yamato‘ gefahren? Das ist am anderen Ende der Stadt!“, zerknirscht
wedelte Bastian mit einer Serviette, fand aber bald zu seiner üblichen lockeren
Art zurück. Sie schubste ihn bestimmend auf einen Stuhl: „Jetzt setz dich schon
hin! Heute wird ein bisschen gefeiert.“

Eine
Stunde und eine Flasche Sekt später, saßen die beiden aneinander gekuschelt auf
der Couch. Ein bisschen durchtrieben grinsend fragte Bastian: „Und bekomme ich
gar kein Geschenk von dir?“ „Steht direkt vor dir, du musst es nur auspacken.“ Verführerisch
lächelnd ließ Valeria das Kleid ein Stückchen von ihrer Schulter rutschen und
fügte hinzu: „Ich war nicht nur Sushi kaufen.“

Am
nächsten Morgen wachte sie allein im Bett auf. Es war zwar Wochenende, aber Bastian
musste trotzdem arbeiten. Einzelhandel eben. Ein paar Minuten blieb sie noch
unter der warmen Decke liegen, mit den Gedanken noch ganz beim gestrigen Abend.
Dann wanderte ihr Blick in Richtung der Schaufensterpuppe und ihre gute Laune
war schlagartig dahin. „Steht dieses Mistding immer noch hier rum.“ Wie schon
dutzende Male zuvor, starrte sie die Puppe an und die Puppe starrte mit
ausdruckslosem Gesicht zurück. Es hätte sie nicht gewundert, würde sie sich
bewegen. „Blödsinn“, schimpfte sie mit sich selbst. „Und falls doch, würde ich
wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen.“ Kopfschüttelnd stand sie auf und
machte sich auf den Weg in die Küche. Bloß raus aus dem Puppenkerker. Ihr Blick
fiel auf einen kleinen Zettel an der Kaffeemaschine „Ich liebe dich ♥“ Bastian mochte
zwar vergesslich sein, aber mit solch kleinen Gesten machte er vieles wieder
wett. Eigentlich war er in ihrer Beziehung der Romantiker, während Valeria sich
vor allem zu größeren Anlässen besondere Mühe gab. Obwohl sie den Morgen gerne
mit einer Tasse Kaffee begann, bekam an diesem Tag, die Dusche den Vorzug. Sie
wanderte ins Badezimmer und zog sich das Nachthemd über den Kopf. Schnell stieg
sie in die Kabine und drehte das Wasser auf. Kurz darauf war das kleine Bad von
dicken Dampfwolken erfüllt. Sie liebte es heiß zu duschen, egal ob das schlecht
für die Haut sein sollte. Ihre Routine wurde von einem Geräusch unterbrochen. Durch
das Rauschen des Wassers hindurch, klang es wie eine Tür. „Basti? Bist du das?“
Trotz der Hitze überkam sie sofort kaltes Schaudern. Valeria stellte das Wasser
ab und streckte den Kopf aus der Dusche. Diesmal hörte sie ein leises Rumpeln
in der Diele. „Lass den Scheiß. Das ist echt nicht lustig!“ Sie griff nach dem
Badetuch, als sie etwas Kühles auf ihrer Schulter spürte. Von Grauen gepackt,
drehte sie den Kopf und blickte auf eine weiß-gelbliche Plastikhand.

„Scheiße!“ Schweißgebadet schreckte Valeria hoch. „Was zur…!“ Zitternd saß
sie auf der Couch, wo sie gestern Abend mit Bastian eingeschlafen war und strich
sich mit fahrigen Bewegungen die klatschnassen Haare aus dem Gesicht. Ein
Rumpeln kam aus der Diele. Panisch blickte sie zur Tür und wartete auf die
Fortsetzung ihres Alptraumes. „Alles ok bei dir? Ich wollte gerade gehen und
hab dich gehört.“ Bastian stand besorgt im Türrahmen. „Schon gut. Ich hab nur
schlecht geträumt.“ Nach einem Blick auf die Uhr fügte sie hinzu: „Geh ruhig,
du kommst noch zu spät.“ Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, nach diesem
Alptraum nicht allein in der Wohnung zu bleiben. Nur zögernd wandte sich
Bastian zum Gehen. „Sicher? Du siehst gerade echt mies aus, Schatz.“ „Mach dir
keinen Kopf, mir geht’s gut. Jetzt hau schon ab.“ Mit einem letzten
misstrauischen Blick ließ er sie allein.

Noch ein wenig zittrig stand sie auf. Die schweißnasse Decke klebte an
ihrem Körper und so trat sie als erstes den Gang ins Badezimmer an. Ihr war
etwas unwohl, als sie sich unter die Dusche stellte. Doch als das angenehm heiße
Wasser über ihren Körper strömte, spülte es alle Beklemmungen fort. In ein
Badetuch gewickelt ging Valeria in die Küche und schaltete beschwingt die
Kaffeemaschine an. Wesentlich entspannter schritt sie in Richtung Schlafzimmer,
um sich anzuziehen. Kurz vor der Tür hielt sie inne. „Na komm schon, das war
nur ein Traum. Es ist doch kompletter Schwachsinn Angst zu haben“, sprach sie
sich selbst Mut zu. Sie fühlte sich unbeschreiblich lächerlich dabei, konnte
sich aber nicht gegen die Furcht wehren, die langsam aber sicher Besitz von ihr
ergriff. Für einen Moment ruhte ihre Hand auf der kalten Klinke, dann trat sie
zögernd ein. Angewidert schaute sie auf die Schaufensterpuppe. Das fast glatte,
nichtssagende Gesicht. Die vergilbten, schmalen Gliedmaßen. Hände, von denen
die Finger in allzu gekünstelter Haltung abstanden. Geradezu alles an ihr war
einfach abstoßend. Ein kalter Schauer packte Valeria. Wie lange hatte sie hier
gestanden und die Puppe angestarrt? Eine Minute? Zwei? Vielleicht fünf oder
doch eine Stunde? Ohne sie aus den Augen zu lassen, ging sie zum Kleiderschrank
und nahm sich die erstbesten Stücke heraus. Nur schnell wieder raus aus diesem
verfluchten Raum. Erst im Wohnzimmer zog sie sich tatsächlich an.

Um sich ein bisschen abzulenken, stellte sie den
Fernseher an und kurz darauf wieder aus. Kam denn wirklich nur noch Müll in der
Glotze? Gab es tatsächlich Menschen, die sich diese Doku-Soap-Kacke ansahen
oder – noch schlimmer – diesen Schwachsinn auch noch glaubten?

Unruhig ging sie in die Küche und wollte sich eine
Tasse Tee kochen, als ihr einfiel, dass sie zuvor Kaffee gemacht hatte und
wanderte zurück zum Sofa. Eine Weile blätterte sie in einem Modemagazin und
schlug es wieder zu, als sie feststellte, dass sie gar nicht wirklich hinschaute
oder tatsächlich darin las. Ein Blick zur Uhr. Erst kurz nach 14 Uhr. Bastian
hatte erst in etwa zwei Stunden Feierabend, plus die Zeit für den Heimweg. Wenn
er nicht noch etwas einkaufen wollte, würde er allerfrühestens um 17 Uhr zurück
sein. Viel zu lange, um alleine zu Hause zu sein. Valeria überlegte, ein
bisschen spazieren zu gehen, aber dann müsste sie sich umziehen. Was wiederum
bedeutete, dass sie wieder zum Kleiderschrank gehen musste. Ins Schlafzimmer.
Zu ihr. Sie schüttelte sich.

„Mach dich nicht lächerlich. Würde Basti dich jetzt so
sehen, würde er dich auslachen!“ Entschlossen stand sie vom Sofa auf. Vor der
Tür hielt sie erneut inne. „Komm schon! Es ist doch ganz leicht, mach einfach
auf, verdammt!“ Schnell stieß sie Tür auf und trat ein. Wie zuvor ließ sie den
Blick durch das Zimmer schweifen und stellte sicher, dass die Schaufensterpuppe
auch weiterhin in der Ecke neben Bastians Seite des Bettes stand. Der Versuch
sich selbst Unbefangenheit vorzugaukeln, scheiterte kläglich. Je mehr sie
versuchte, die Puppe zu ignorieren, desto hartnäckiger bohrte sie sich in ihr
Bewusstsein. Langsam ging sie zur Kommode und zog eine Jeans heraus, den Blick
starr auf die Schaufensterdekoration gerichtet. Rückwärts verließ sie den Raum
und schlug die Tür zu. Sie zog sich um, hängte ihre Jogginghose über einen
Stuhl im Wohnzimmer und verließ schnell die Wohnung.

Noch nie hatte Valeria sich so erleichtert gefühlt,
wenn sie ging. Mit jeder Stufe, die sie das Treppenhaus hinunter lief, fühlte
sie sich unbeschwerter. Ein bestimmtes Ziel schwebte ihr nicht vor. Zuerst
überlegte sie, in die Innenstadt zu fahren. Aber bei dem Gedanken an Geschäfte,
in deren Schaufenstern nur weitere Puppen lauerten, drehte sich ihr der Magen
um. Nein, nirgendwo hin, wo es Läden oder Kaufhäuser gab. Schließlich lenkte
sie ihre Schritte in Richtung des kleinen Parks in der Nähe. Eigentlich war es
nur einen bessere Grünfläche, auf der eine Handvoll Bäume wuchsen. Doch nichts
hätte sie jetzt zurück in die Wohnung gebracht, wo ihre Ängste angenehm weit zurückgeblieben
waren. Ziellos wanderte sie zwischen den leeren Beeten und kahlen Büschen
umher. Fast schon unbeschwert setzte sie sich auf eine der Bänke und genoss den
eisigen Wind auf den Wangen. Normalerweise hasste sie den Winter und die Kälte,
die mit ihm einherging. Aber das war ihr jetzt egal. Den Kopf in den Nacken
legend, schaute sie zum Himmel. Stahlgraue Wolken würden bald neuen Schnee
bringen. Valeria stand auf und schlenderte noch ein bisschen umher. Viel gab es
hier nicht zu sehen. Wie spät mochte es wohl sein? Der Stand der Sonne war
nicht wirklich eine Hilfe, der ganze Tag war schon düster und trüb gewesen. Ihr
Handy hatte sie in der Eile in der Wohnung vergessen und in dem schlecht
besuchten Park war auch sonst niemand unterwegs, den sie hätte fragen können.
Also ging sie zurück zu den etwas belebteren Straßen.

„Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie spät es
ist?“, fragte Valeria den erstbesten Passanten. Der ältere Mann zog missmutig
den Ärmel seines Mantels zurück und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
„15:21 Uhr“, fiel die knappe Antwort aus. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie
war nur etwas über eine Stunde unterwegs. Sie bedankte sich noch bei dem Herrn
und ging weiter. Wohin jetzt? Einfach in ein Café gehen, konnte sie nicht. Ihr
Portemonnaie war in ihrer Handtasche, die sie bei ihrer „Flucht“ ebenfalls zu
Hause vergessen hatte. „Verdammt!“, fluchend ging Valeria weiter. Der Wind, den
sie vor Kurzem noch als so angenehm empfunden hatte, schnitt kalt in ihre Haut
und die ersten Schneeflocken begannen in der Luft zu tanzen. Die Hände tiefer
in die Jackentaschen vergrabend, wanderte sie die Straße entlang. Als das
Schneetreiben jedoch dichter und der Himmel immer dunkler wurde, entschied sich
Valeria dafür, doch zur Wohnung zurückzukehren. Vielleicht würde Bastian wieder
da sein, wenn sie dort eintraf? Nur nicht zu schnell gehen, das steigerte die
Chancen.

Als sie wieder vor der Haustür stand, war es schon
fast dunkel. Aber das musste bei dem Wetter nichts heißen. War sie erst gestern
so leichtfüßig die Treppe hinaufgestiegen? Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an.
Mit jeder Stufe, die sie erklomm, wuchs der Drang sich einfach umzudrehen und
wegzulaufen. Auf dem Treppenabsatz der dritten Etage war sie stehen geblieben.
„Los jetzt, weiter!“, feuerte sie sich leise an. Ihre Hand krampfte sich um das
Geländer, bis die Knöchel weiß hervortraten. „Geh! Das kann doch nicht so
schwer sein.“ Langsam setzte sie ihren Weg fort. Schließlich hatte sie es
geschafft. Die Wohnungstür ragte vor ihr auf, unheilverheißend wie das Tor zur
Unterwelt. Umständlich – als wollte sie ihr Eintreten um jede mögliche Sekunde
verzögern – kramte Valeria nach dem Schlüssel. „Wenigstens den hab ich nicht
vergessen…“ Hörte sie da nicht Schritte? Bastian! Schnell schloss sie auf und
eilte hinein.

Der Flur war dunkel. „Bastian? Bist du da?“ Keine
Antwort. Hatte sie sich die Schritte nur eingebildet? Sie stellte das Licht an
und schälte sich aus ihrer Jacke. Trotz der behaglichen Wärme, konnte sie die
Kälte nicht zur Gänze abschütteln. Unnötig langsam ging sie zu ihrem neuen
Lieblingsraum: dem Wohnzimmer. Valeria schaltete auch dort schnell das Licht
an, schnappte sich ihr Handy und setzte sich in die Ecke der Couch. Zwei
verpasste Anrufe und eine SMS, meldete es vorwurfsvoll. Einmal von ihren Eltern
und einmal von Bastian. Die SMS mahnte sie lediglich ihre Mailbox abzuhören.
Eine Nachricht von Basti: „Hey Schatz, soll ich von unterwegs was zu essen
mitbringen? Liebe dich.“ Ganz sicher nicht, dann würde er nur umso später
wieder da sein! Sie warf einen Blick auf die Uhr, 16:43 Uhr. Jetzt würde es
sicher nicht mehr allzu lange dauern. Für einen Moment überlegte Valeria ihre
Eltern anzurufen, um sich noch ein bisschen abzulenken, verwarf den Gedanken
aber bei einem Blick auf den Akkustand. Stattdessen wickelte sie sich in eine
Decke und zuckte bei jedem Geräusch zusammen.

„Scheiße, was ist denn nur los mit mir?“, flüsterte
sie, als sie schon wieder zusammengefahren war, nur weil der Hund der Nachbarn
gebellt hatte. Klar, sie hatte die Puppe von Anfang an nicht leiden können und
sich auch schon immer unwohl in ihrer Gegenwart gefühlt, aber seit dem Traum
von letzter Nacht war es wirklich schlimm geworden. „Nicht nur, dass ich schon
die ganze Zeit Selbstgespräche führe, ich habe allen Ernstes Angst, dass mich
eine Schaufensterpuppe angreift…“

Endlich hörte sie das Schloss der Wohnungstür knacken.
Kurz entschlossen legte sie sich hin und stellte sich schlafend. Bastian sollte
nicht merken, dass sie die ganze Zeit, wie auf Kohlen sitzend, auf ihn gewartet
hatte. „Hey Schatz, ich bin wieder da!“, schallte seine Stimme durch den kurzen
Flur. Valeria blieb stumm liegen und hielt die Augen geschlossen. Lauschte dem
Rascheln des Mantels, der in die Garderobe gehängt wurde und den Schritten, die
sich näherten. Dann spürte sie Bastians Hand auf ihrer Schulter. „Na, du
Schlafmütze?“ Blinzelnd blickte sie in sein zärtlich lächelndes Gesicht. Noch
nie in ihrem ganzen Leben, hatte sie sich so erleichtert gefühlt. Die Freude,
die sie in diesem Moment verspürte, war alles andere als gespielt. „Schön, dass
du da bist“, sagte sie glücklich, während sie ihre Arme um seinen Nacken schlang.

Der Rest des Nachmittages und der Abend verliefen wie
immer. Valeria fühlte sich zunehmend lächerlicher. Wie konnte man nur so
irrationale Ängste haben? Statt zu kochen, bestellten sie eine große Pizza mit
Käse-Rand und legten eine DVD ein. Bastian erzählte von seinem Arbeitstag und
zog sie damit auf, dass sie ihr Handy UND ihr Portemonnaie vergessen hatte. Es
störte sie nicht. Hauptsache nicht mehr allein. Ob es nun an dem Stress, dem
Winterspaziergang oder einfach der Erleichterung lag, irgendwann fiel ihr das
Blinzeln immer schwerer und ihre Augen weigerten sich hartnäckig offen zu
bleiben. Nachdem Bastian sie zum fünften Mal geweckt hatte, meinte er nur:
„Willst du nicht lieber ins Bett gehen? Du bekommst doch schon gar nichts mehr
mit. Ich komme auch gleich nach, ich will nur noch das Ende sehen.“ „Nein,
nein. Ich bleib‘ auch noch hier“, wehrte sie schnell ab. Obwohl sie sich viel
besser fühlte, seit Bastian zurück war, wollte sie nicht allein ins
Schlafzimmer gehen. Mit bleischweren Lidern hockte Valeria auf der Couch und
wehrte sich mit aller Kraft gegen den Schlaf, bis die letzten endlosen Minuten
von ‚Constantine‘ endlich vorüber waren. Todmüde schleppte sie sich ins Bett,
damit rechnend sofort in einen komatösen Schlaf zu fallen. Doch als sie dort
lag und den blassen Schemen hinter Bastian sah, war sie wieder hellwach.
Schnell drehte sie sich auf die andere Seite, nur um heftig zusammenzuzucken,
als er einen Arm um sie legte.

Angespannt lag sie unter der Decke und versuchte zu
schlafen. „Sie schaut mich an, ich weiß es“, ging es ihr durch den Kopf. Sie
wollte sich umdrehen und hatte gleichzeitig panische Angst davor, was sie sehen
könnte, wenn sie es tatsächlich täte. Krampfhaft hielt sie die Augen
geschlossen, aus Furcht, jeden Moment könnte die helle Gestalt in ihr Sichtfeld
rücken. Bastians gleichmäßiges, tiefes Atmen verriet, dass er schon längst
schlief. Was sie noch viel mehr beunruhigte. Mit diesem schrecklichen Gefühl so
komplett allein zu sein, verstärkte ihre Panik noch weiter.

Valeria wachte früh auf. Die Nacht war alles andere
als erholsam gewesen, sie fühlte sich wie gerädert. Aber immerhin hatte sie
nicht wieder von der Puppe geträumt, allein die Erinnerung an den letzten Traum
ließ sie schaudern. Sie schaute aus dem Fenster, draußen war es noch dunkel.
Ihr Blick streifte die Schaufensterpuppe. Hatte sie gestern nicht noch näher an
der Wand gestanden? „Schwachsinn“, dachte sie. „Es war stockdunkel, als wir ins
Bett gegangen sind.“ Aber ein leiser Rest von Zweifel blieb. Sie drehte sich
wieder um und kuschelte sich an ihren Freund, der noch immer friedlich schlief.
Obwohl sie sich vollkommen ausgelaugt fühlte, konnte sie weder erneut
einschlafen, noch sich entspannen. Normalerweise genoss sie die behagliche
Wärme und die ruhige Zweisamkeit an solchen Morgen. Doch heute konnte sie nur
daran denken, das Schlafzimmer so schnell wie möglich zu verlassen. Leise
kletterte sie aus dem Bett, schnappte sich noch ein Sweatshirt von Bastian und
ging hinaus. Als sie in den Badezimmerspiegel schaute, erschrak sie ein
bisschen. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, strähniges, fettiges Haar
umrahmte ihr fahles Gesicht. Erschöpft schleppte sie sich ins Wohnzimmer und
rollte sich auf der Couch zusammen. Obwohl sie nicht damit gerechnet hatte,
schlief sie fast augenblicklich ein.

Als sie wieder erwachte, war es schon viel heller. Aus
der Küche drang das vielversprechende Brummen der Kaffeemaschine. Mit
knackenden Gelenken stand sie auf, die alte Couch war nicht gerade die
bequemste Bettstatt. Leise öffnete sie die Tür und ließ ihre zärtlichen Blicke
über Bastians Rücken gleiten, während er den Toaster bestückte. In diesem
Moment wurde Valeria wieder einmal klar, dass sie ihn aus ganzer Seele liebte.
Erfüllt von diesem plötzlichen Gefühl der Wärme, schritt sie durch den kleinen
Raum, umarmte ihren Liebsten, legte ihren Kopf von hinten an seine Schulter und
atmete seinen Duft ein. Es war einer jener Augenblicke, in denen man das Gefühl
hatte, das Herz könnte vor Glück zerspringen.

„Guten Morgen, Engel.“ Er drehte sich um und sah sie
an. Entsetzt stieß Valeria ihn von sich. Sie
war es. Das vergilbte „Gesicht“ schaute sie an. Sie trug seine Kleidung,
streckte ihre widerliche Plastikhand aus, als sie näher kam. Valeria wich
zurück und stieß gegen die Wand. „Schatz! Valle!“ Mit aufgerissenen Augen
starrte sie geradeaus. „Hey, ich bin’s!“, dumpf drang eine vage bekannte Stimme
zu ihr durch. Spürte Hände, die sich um ihre zitternden Schultern legten. „Lass
mich los!“ Sie wollte schreien, aber die Worte kamen nur erschreckend leise
über ihre bebenden Lippen. „Lass… mich…“, stieß sie unter Auferbietung aller
Kräfte hervor. Ihr Körper krampfte sich zusammen und sackte vollkommen hilflos
auf den Küchenboden. „Pscht… hey, ganz ruhig… es ist alles ok…“ Beruhigende
Worte bahnten sich langsam ihren Weg in Valerias Bewusstsein. Heiße Tränen rannen
über ihre Wangen und ihre Glieder zitterten unkontrollierbar. Sie zwang sich
die Puppe anzusehen. Unsagbar langsam realisierte sie Bastians Gesicht. Spürte
die Wärme seiner Hände, die auf ihren Schultern lagen. Es war seine Haut, nicht das scheußliche
Plastik. Sah, wie seine Lippen undeutliche Worte formten, die kaum zu ihr durchdrangen.
Aber es war Bastian! Hemmungslos schluchzend warf sie sich in seine Arme, immer
wieder von den abebbenden Wellen des Grauens geschüttelt.

„Du hältst mich sicher für total übergeschnappt“,
flüsterte Valeria leise, während sich ihre Hände um eine Tasse heißen Tee
krallten. „Überhaupt nicht.“ Bastian hielt sie noch immer im Arm und
streichelte sanft über ihr Haar. „Du hattest einfach nur einen schlimmen
Alptraum.“ Sie lächelte nervös. Tatsächlich hatte sie ihm „nur“ von ihrem Traum
erzählt. Aus Angst, er würde sie dann tatsächlich für verrückt und hysterisch
halten, hatte sie ihm den Rest verschwiegen. Schweigend nippte sie an ihrem
Pfefferminztee. „Ich glaube, eine schöne heiße Dusche ist jetzt genau das
Richtige“, brach Bastian das Schweigen, als sie sich sichtlich beruhigt und
ihre Tasse geleert hatte. „Und ich glaube, du hast Recht“, sie schenkte ihm ein
mattes Lächeln und trabte ins Bad. Ihr Anblick war nicht minder erbärmlich, als
vor noch ein paar Stunden. Normalerweise ließ sie sich gerne Zeit zum Duschen
und widmete sich ausgiebig der Körperpflege, aber heute mussten Shampoo und
Duschgel reichen. Nervös trocknete sie sich ab und stellte erleichtert fest,
dass Bastian gerade im Schlafzimmer war. Wenigstens konnte sie sich diesmal in
Frieden anziehen. Valeria mied krampfhaft den Blick zur Schaufensterpuppe und
versuchte sich möglichst unbefangen zu verhalten. Sie hörte noch, wie er
irgendetwas erzählte, aber kaum ein Wort drang zu ihr durch. „Hey! Hörst du mir
überhaupt zu?“, Bastian klang ein bisschen beleidigt. „Ich- Entschuldige, was
hast du gesagt?“ „Ich dachte, wir gehen heute Abend noch ins Kino. Lust?“ Ihre
Miene hellte sich schlagartig auf: „Klar, gerne.“ Dann würde sie ein paar
Stunden nicht zusammen mit der Puppe in einer Wohnung verbringen müssen.

Am späten Nachmittag brachen die beiden auf. Valeria
fühlte sich unheimlich erleichtert, als sich hinter ihnen die Tür schloss. Sie
hatte vorgeschlagen zu Fuß zu gehen, damit sie noch früher los konnten. Bastian
legte einen Arm um ihre Schulter und erzählte belanglose Geschichten vom
Studium und von der Arbeit. Den Vorfall vom Morgen hatte er längst vergessen. Aber
es störte sie nicht – im Gegenteil, so würde er ihren Panikattacken keine
unnötige Aufmerksamkeit schenken. Je näher sie dem Kino kamen, desto mehr
häuften sich die Geschäfte am Rand der Straßen. Mit Unbehagen schaute sie in
die Schaufenster der kleinen Boutiquen. Obwohl die meisten dieser Puppen ganz
anders aussahen, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Ihr war, als würden sie
ihr nachschauen, die Köpfe zur Seite neigen und miteinander tuscheln. Stur
schaute sie geradeaus. „Jetzt ist es soweit… ich werde endgültig verrückt“,
ging es ihr durch den Kopf. Bastian drückte sie fester an sich, offenbar
schrieb er ihr Zittern der Kälte zu. Im Kino sahen sie sich eine Liebeskomödie
an. Normalerweise mochte sie solche Filme und sie wusste, dass es Bastians
Entschuldigung für den vergessenen Jahrestag war – er selbst konnte mit diesem
Genre nichts anfangen – aber heute fiel es ihr schwer, ihre Aufmerksamkeit dem
Film zu widmen. Gedankenverloren wühlte sie im Popcorn-Eimer. Was sollte sie
nur tun, wenn sie wieder zurück wären? Morgen würden die Vorlesungen wieder
anfangen und sie konnte sich nicht immer davor drücken, die Wohnung zu
betreten, solange ihr Freund nicht zu Hause war.

„Was hast du, Schatz? Du bist schon den ganzen Abend
so komisch.“ Bastian schloss die Haustür auf. „Nichts, alles ok“, wehrte
Valeria ab. Ihr schnürte sich die Kehle zu, als sie die Treppen hinauf schaute.
Jede Stufe trug sie näher zu ihr
zurück. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Obwohl sie diesmal nicht allein
war, kostete sie es eine unheimliche Anstrengung ihrem Freund hinauf zu folgen.
Zurück in der Wohnung zog sich Bastian in das gemeinsame Büro zurück und setzte
eine Hausarbeit fort, während Valeria noch einmal den Fernseher anstellte und
vor sich hin dämmerte. Sie spielte schon ernsthaft mit dem Gedanken, einfach
auf der Couch zu schlafen, als sie hörte, wie Bastian im Nebenzimmer langsam
die Zelte abbrach. Wie am Abend zuvor machten sie sich gemeinsam fertig.
Valeria zog sich gerade um, als Bastian noch einmal aus dem Zimmer ging, um
sein Handy an das Netzteil anzuschließen. Fast augenblicklich verfiel sie in
eine Starre. „Fuck! Basti ist doch nur nebenan und trotzdem hab‘ ich so einen
Schiss“, schoss es ihr durch den Kopf. Langsam, Schritt für Schritt, ging sie
auf ihre Seite des Bettes zu. Erst als sie die Decke zurückschlug, merkte sie,
wie ihre eiskalten Hände bebten. Reglos stand die Puppe in ihrer Ecke. Den Kopf
zur Seite geneigt, den recht Arm leicht nach oben hin angewinkelt, als würde
sie sich über irgendetwas amüsieren. Valeria fixierte sie hasserfüllt: „Als
würde sie mich verspotten. Für meine erbärmliche Angst!“ Ja, sie fühlte sich
erbärmlich, armselig, minderwertig. Für einen Moment wandelten sich all ihre
Ängste und all ihre Scham in Zorn. Trotzig warf sie sich auf ihr Kissen. „Wenn
dieses Drecksteil morgen nicht aus der Wohnung verschwindet, schaffe ich es
selbst auf den Müll!“

Zitternd wachte Valeria auf. Im Zimmer war es eiskalt.
Missmutig schaute sie auf den Wecker, es war erst zwei Uhr nachts. Der Grund
für die frostigen Verhältnisse war schnell gefunden: Bastian, der
Frischluft-Fanatiker, hatte das Fenster offen gelassen. „Und das mitten im
Winter“, ärgerte sie sich. Schlaftrunken stand sie auf und schlurfte auf die
andere Seite des Bettes, um es wieder zu schließen. Sie hob gerade die Hand,
als sie mit dem Ellenbogen gegen etwas stieß. Mit starrem Blick, drehte sie den
Kopf und schaute geradewegs in das bleiche Gesicht der Puppe. Erschrocken
schlug sie beide Hände auf den Mund, um nicht panisch loszuschreien. Das konnte
nicht sein! Die Puppe stand sonst immer weiter in der Ecke und das hatte das
Gesicht dem Bett zugewendet! Vollkommen gelähmt, flüsterte sie: „Was willst du
von mir?“ Unendlich langsam hob die Schaufensterpuppe ihren scheußlichen,
kahlen Kopf, öffnete ihren widerwärtigen, angedeuteten Mund und sprach: „Dich.“

„Neeeiiin!“ Sie hatte die Kontrolle über ihre Glieder
zurück und schlug wild um sich. „Hey, Schatz. Ganz ruhig…“ Langsam wurde ihr
klar, dass sie noch immer im Bett lag. „Pscht, schon ok… du hattest nur wieder
einen Alptraum“, Bastian redete sanft auf Valeria ein. Tränen strömten über ihr
Gesicht, ohne dass sie es wirklich merkte, bis er sie behutsam beiseite wischte.
„Das Ding wieder?“, er zeigte auf die Puppe. Mit vor Scham gesenkten Kopf
nickte sie. „Du hältst mich für total durchgeknallt, oder?“ „Nein, Schatz“, wehrte
er ab. „Viele Menschen haben Angst vor irgendwas und wenn es dich so fertig
macht, hättest du mir es sagen sollen. Ich werde sie gleich morgen Früh
wegwerfen.“ Zärtlich schloss er sie in die Arme und küsste sie auf die Stirn.
Zum ersten Mal konnte sie sich, trotz der Gegenwart der Schaufensterpuppe, wieder
vollkommen entspannen. „Ich liebe dich, Basti.“ „Ich dich auch“, erwiderte er
liebevoll. Tröstliche Wärme durchströmte sie. Erst jetzt spürte sie, wie sehr
ihr die Sicherheit, die seine Nähe ihr jetzt spendete, gefehlt hatte. Friedvoll
schlief sie in seinen Armen ein. Morgen würde der Alptraum ein Ende haben.

„Schon wieder ein Traum?“ Es war einer jener seltsamen
Träume, die man aus der Sicht eines anderen sieht und in denen einem von Anfang
an klar ist, dass man träumt. Draußen war es noch dunkel, aber die Scheinwerfer
der vorbeifahrenden Autos ließen die Tropfen geschmolzenen Schnees auf der
Fensterscheibe wie kleine Diamanten aufblitzen. Valeria schwebte im Schlafzimmer,
die Betten waren leer. Dann sah sie ihr Traumabbild herein kommen. Gut gelaunt
ging sie zum Schrank. Kein Wunder, schließlich würde heute diese furchtbare
Schaufensterpuppe auf der Müllhalde landen. Traum-Bastian kam jetzt ebenfalls
herein und nahm sie in die Arme. „Ich bring sie schon mal nach vorne“, sagte
er. Valeria wunderte sich: „Hier ist doch gar nichts mehr?“ Er kam auf Stelle
zu, von der sie still die Szenerie beobachtete. Offenbar war sie für die
Traum-Gestalten doch nicht so unsichtbar, wie sie erst gedacht hatte. Bastian
legte einen Arm um ihre Taille und hob sie mühelos hoch. Als er am Spiegel
vorbei ging, blieb ihr fast das Herz stehen: Er hielt die Schaufensterpuppe im
Arm! Schlagartig überkam sie die Gewissheit, dass sie diesmal nicht träumte.

„Bastian, ich bin es! Ich bin hier!“ Natürlich blieb
sie stumm. Ihr ganzer Körper fühlte sich grauenvoll taub an. Jeder Versuch sich
zu bewegen oder auch nur den kleinsten Laut hervorzubringen, blieb erfolglos.
Bastian stellte sie neben der Wohnungstür ab. „Aber wenn ich die Puppe bin, heißt
das-? Das ist doch unmöglich! Wie?!“. Panisch wirbelten ihre Gedanken immer
schneller im Kreis. Valeria schaute hilflos auf die Tür. Wenn sie es nicht
schaffte, ihm irgendein Zeichen zu geben, würde Bastian sie gleich auf den Müll
werfen! Aus der anderen Richtung hörte sie eine Stimme, die früher ihre gewesen
war: „Ich bin froh, dass dieses gruselige Teil heute verschwindet.“ Dann trat
ihr Körper in ihr Sichtfeld. Ein hässliches, hinterhältiges Lächeln auf den
Lippen, legte sie die Arme um ihren Hals und sagte: „Ciao, du scheußliches
Ding.“ Dann beugte sie sich vor und flüsterte leise: „Ich sagte doch, ich will
nur dich.“

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