ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
<-- Part 4
22. 12.
17: 53 Uhr
Das Fleisch des alten Mannes schmeckte weitaus zäher, als es bei Kenneth der Fall gewesen war.
Tasha war definitiv nicht in einer Lage, in der sie es sich leisten konnte, wählerisch zu sein – verdammt, sie hatte das Gefühl, zu verhungern – aber dennoch wünschte sie sich, dass ihr eine jüngere Person über den Weg gelaufen wäre.
Natürlich war es schon mehr als verwunderlich, dass sich überhaupt jemand derart weit in den Wald hinein gewagt hatte. Zunächst hatte Tasha ihren Augen überhaupt nicht trauen wollen, als sie den Wanderer entdeckt hatte, von dem schneebedeckten Felsplateu aus, welches sie zu ihrem vorübergehenden Lager auserkoren hatte und das weiter hinten ein Stück weit nach unten abfiel, was ihr Schutz bot vor den gnadenlosen Wetterbedingungen.
Sie hatte geglaubt, dass der Hunger, der sie quälte seit sie die letzten Teile von Kenneth verspeist hatte, sie dazu brachte, zu halluzinieren. Verwundert hätte es sie nicht. Es war schließlich nicht so als befände sich ihre Psyche in einem sonderlich guten Zustand.
Der Wendigo jedoch, der sie noch immer zeitweise begleitete, obgleich er zwischenzeitlich immer wieder verschwand – häufiger und länger, wie Tasha vermutete – hatte ihr widersprochen.
„Das bildest du dir nicht ein, Tasha! Er ist wirklich da! Du musst hier draußen nicht verhungern!“
Und weiter hatte sie überhaupt nicht darüber nachgedacht. Es klang so logisch, und so verlockend, und so hatte sie das Messer, das sie von zuhause mitgenommen hatte, gepackt und war dem Mann gefolgt. Er schien sie nicht bemerkt zu haben, war vollkommen überrascht, als sie ihm schließlich von hinten auf die Schulter getippt hatte, und so war es für sie ein Leichtes gewesen, ihm die Klinge in die weiche Stelle unterhalb seines Adamsapfels zu stechen.
So einfach. So frei von jeglichem Gefühl.
Hätte das Fleisch nicht ganz so zäh geschmeckt, wäre Tasha vollends zufrieden gewesen – sofern sie zu einer solch menschlichen Empfindung überhaupt noch in der Lage war – doch so war es zumindest in Ordnung. Es stillte ihren Hunger.
Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, die kahlen Bäume hoben sich in schwarzen Silhouetten gegen den rötlichen Himmel ab, wirkten gradezu gespenstig. Bald wäre es Zeit, sich zurückzuziehen, in die kleine Höhle in der Tasha die letzten drei Nächte verbracht hatte, aus einem Bett aus Moos und unter einer zerfetzten, vor Dreck starrenden Wolldecke, die sie im Wald gefunden hatte, und die ihr zumindest ein wenig Wärme schenkte.
So viel Wärme, wie sie eben ertragen konnte.
Sie beschloss, ihre Mahlzeit für heute zu beenden, und erhob sich. Wandte sich in Richtung ihres Schlafplatzes und setzte sich in Bewegung, machte zwei, drei Schritte… und erstarrte.
Im ersten Augenblick begriff sie nicht, war los war. Da war etwas, das ihren gesamten Körper erfasste, sie durchströmte und sie zusammenzucken ließ, so heftigen, dass sie sich krümmte und auf die Knie sinken ließ. Ein heiseres Krächzen entwich ihrer Kehle; ein Geräusch, dass ihr einen Schauer über den Rücken laufen ließ, und dann spürte sie etwas heißes, das ihre Wange hinunterlief.
Tasha McAllister weinte.
Sie brauchte einige Sekunden, bis sie begriff, was mit ihr passierte. Ein weiteres Zucken durchlief ihren Körper, ausgelöst durch eine Empfindung, die schmerzhafter war als jede Verletzung, die sie sich in den letzten Tagen auf ihrem Weg durch Geröll und Gestrüpp zugezogen hatte.
Dies war einer der wenigen, klaren Augenblicke, die Tasha in ihrem Leben noch vergönnt sein sollten, und all die Schuldgefühle, die sie in normalem Zustand über ihre grauenhaften Taten empfunden hätten, schlugen nun geballt auf sie herab. Es schmerzte, gottverdammt, sie konnte sich nicht erinnern, jemals solche Schmerzen gespürt zu haben! Nicht, als der Tumor so sehr wehgetan hatte dass sie geglaubt hatte, auf der Stelle sterben zu müssen, und auch nicht als Kind, wenn ihr Vater wieder einmal die Beherrschung verloren und nach „dem Stock“ gegriffen hatte. Das alles waren körperliche Schmerzen gewesen, und ganz sicher nicht angenehm. Doch das hier kam aus den Tiefen ihrer Seele, und es durchströmte sie in grausigen Wellen und raubte ihr den Atem. Sie spürte, dass sie die Augen weit aufgerissen hatte, und dennoch sah sie nichts als Schwärze, als sei da keinerlei Verbindung mehr zwischen ihren Augen und ihrem Hirn.
Die Welt um sie herum schien für einen Augenblick nicht mehr zu existieren.
Da war bloß noch Tasha, und die Verzweiflung über das, was sie getan hatte.
Zu was sie geworden war.
Ihre Fingernägel kratzten über den Stein und brachen, die Haut schabte sich ab und rosiges Fleisch unter der Hornhaut wurde sichtbar. Winzige Blutstropfen landeten auf dem Stein, vermischten sich dort mit den Tränen, die Tasha weiterhin unkontrollierbar übers Gesicht liefen.
Nichts davon registrierte sie. Nichts davon spielte irgendeine Rolle.
Einige Minuten lang dauerte dieser Zustand der absoluten Agonie und Katatonie an, und diese Minuten fühlten sich an wie Jahre. Nur ganz allmählich wich die Schwärze vor Tashas Augen zurück. Verwaschene Silhouetten wurden erkennbar, undefinierbar und abstrakt wie ein surreales Gemälde, doch es war besser als nichts, besser als die Schwärze.
Auch die Tränen versiegten langsam.
Das Gefühl der Schuld jedoch war noch immer da.
Es schmerzte etwas weniger, wurde dumpfer, und die Kälte kehrte langsam in ihren Körper zurück. Ein Teil von Tashas Verstand begrüßte diesen Vorgang zutiefst. Es sollte vorbeigehen, diese ganzen schmerzhaften Emotionen sollten verschwinden; sie hatte keinen Platz für Schuldgefühle und Verzweiflung, dass passte nicht zudem was sie nun war!
Ein anderer Teil jedoch, der menschliche, der, der das letzte Bisschen ihres Selbst in sich bewahrte, es konservierte wie in einer Zeitkapsel, wollte an diesen Empfindungen festhalten. Er spürte die Menschlichkeit darin, erkannte, dass es das war, war Tasha im Grunde ausmachte, was sie eigentlich fühlen sollte, wäre sie nicht derart überwältigt von Wahnsinn und innerer Kälte.
„Ich wollte das nicht“, flüsterte dieser Teil, und die Stimme, mit der er sprach, klang so, wie Tasha es getan hatte, bevor der Wendigo in ihrem Leben aufgetaucht war.
Ein weiterer Schauer lief ihr den Rücken hinab. Ihre Gedanken rasten, ergaben keinerlei Sinn mehr, da war einfach nur noch Chaos in ihrem Hirn, und das einzige, was sie wusste, war… dass es stimmte.
Sie hatte das alles nicht gewollt. Sie hatte niemanden töten wollen, und das hätte sie auch niemals getan, wenn da nicht… sie wandte den Kopf, und der Wendigo, der sie die ganze Zeit über vollkommen unbeeindruckt beobachtet hatte, erwiderte ihren Blick.
Tashas Kehle fühlte sich trocken an, sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut, und dann endlich, gelang es ihr, die Worte herauszubringen, die sich aus ihren wirren Gedanken in aller Deutlichkeit herauskristallisiert hatten: „Das ist alles deine Schuld.“
„Das ist nicht wahr.“ Der Wendigo klang vollkommen ruhig, kein bisschen aufgebracht, und ein wenig so, als spräche er mit einem begriffsstutzigen Kind. Er erhob sich, und das vertraute knacken seiner morschen Knochen war zu hören, ein Geräusch, das Tasha nun, in ihrem noch immer halbwegs klaren Zustand, einen Schauer über den Rücken laufen lief. „Ich bin nur hier, weil du meine Hilfe brauchtest.“, fuhr der Wendigo nun im selben ruhigen Tonfall fort, und seine schwarzen Augenhöhlen wirkten nahezu interessiert und aufmerksam. „Du warst gefangen, Tasha. Du hattest dich verirrt, warst unfähig, dort herauszukommen. Ich habe dir geholfen. Aber ich habe nicht dafür gesorgt, dass du dort gelandet bist. Das waren Andere.“
Andere. Das stimmte, das konnte Tasha nicht abstreiten. Irgendwo in ihrem Hinterkopf schwirrten ihre Namen herum – Anderson war da gewesen, und Gayson oder Grayson oder irgend so etwas, und Cormins und noch einige andere… ja, der Wendigo hatte durchaus recht. Wenn jemand dafür verantwortlich war, dass sie offenbar drei Jahre ihres Lebens eingesperrt gewesen war, dann waren es – abgesehen vom Krebs – diese Leute gewesen. Aber…
„Aber sie wollten mir doch helfen“, flüsterte Tasha. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch, wurde vom eisigen Wind übertönt, doch der Wendigo verstand sie natürlich trotzdem. Er legte seinen Kopf schief wie ein neugieriger Hund, musterte Tasha von oben bis unten, als helfe dies ihm dabei, seine Antwort abzuwägen. „Wie naiv.“, begann er schließlich, und nun klang seine Stimme gleichzeitig abfällig und mitleidig, eine Kombination, die vollkommen surreal wirkte. „Sie haben dir nicht geholfen, Tasha, zumindest nicht mehr! Am Anfang vielleicht. Aber zuletzt warst du einfach nur noch ihr Versuchskaninchen!“
„Das… das ist…“ Tasha schüttelte den Kopf, doch keinerlei Überzeugung lag in dieser Handlung. Sie konnte es abstreiten, doch aus welchem Grund? Was für einen Unterschied machte es? Was für einen Unterschied machte überhaupt noch irgendetwas?
Der menschliche Teil in ihr wurde immer weiter zurückgezerrt. Wich der Kälte, die sich erneut in ihr ausbreitete, und alles betäubte, was zuvor solchen Aufruhr in ihr ausgelöst hatte.
Und doch fixierte Tasha noch immer den Wendigo. Ihr Blick wurde stumpf, und jegliche Emotion war aus ihrer Stimme gewichen, als sie wiederholte: „Ich wollte das alles nicht tun.“
Der kalte Teil in ihr stieß ein lautes Lachen aus. Ihm erschien diese Aussage vollkommen lächerlich, sinnlos, albern. Zu töten war etwas vollkommen natürliches für diesen Teil, der etwas ursprüngliches, animalisches an sich hatte. Er verstand diese Menschlichkeit nicht, ebenso wenig wie er die Tränen verstand, die mittlerweile auf Tashas Gesicht getrocknet waren, oder die Tatsache, dass sie sich in einem Anflug von verzweifelten Emotionen die Finger blutig geschürft hatte.
Nein, dieser kalte monströse Teil begriff nichts von alle dem. Doch was die Worte, die der Wendigo als nächstes sagte, zu bedeuten hatten, verstand er ausgesprochen gut.
„Du hast es getan, Tasha. Aber wenn du unbedingt einen Schuldigen möchtest, jemanden, oder viel mehr mehrere, die bezahlen sollen für das, was du nicht tun wolltest… dann weißt du sicher, wohin du gehen solltest.“
Und diese Aussage gefiel Tasha, die sich nun wieder vollkommen im Griff der eisigen Kälte befand, wirklich wirklich sehr.