Tanz der Götter – Verrat
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
“’Kapitel 11[[Datei:Ares_valeria_tanz.jpg|thumb|Tanz der Götter
-Ares und Valeria-]]“‘
„Maxime? Maxime soll das getan haben?“, stieß Michail ungläubig hervor. Er sah Ares an, der seinen Blick jedoch nur kurz erwiderte. Michail begriff. Ares konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Er hatte es einfach nicht übers Herz gebracht.
„Großvater erzählte immer von dieser Nacht. Immer und immer wieder. Es hatte sich so tief in seinen Verstand gegraben. Lew wählte an dem Abend seine Nummer… und Großvater musste mit anhören… wie er zugerichtet wurde. Sein Mörder ging, doch Lew war noch am Leben. ‘Im Brunnen hinter dem Haus‘, war alles, was Lew sagte. Dort hatte er einen Teil seiner Aufzeichnungen versteckt, vermutlich in weiser Voraussicht“, erzählte Michail hörbar niedergeschlagen und frustriert.
„Das muss sehr schwer für euch gewesen sein“, brachte Michail nach einer Pause schließlich hervor.
„Das, was darauf folgte, war viel schwerer“, gab Valeria betrübt zur Antwort. Ihre Stimme bebte.
„Was ist geschehen? Wohin seid ihr geflohen?“
Sie schluckte. Sie drehte ihren Kopf langsam zu Ares und sah ihn an. Dieser nickte zögernd.
„Wir sind eine lange Zeit umhergewandert. Ziellos. Lebten von der Großzügigkeit der Menschen, die wir trafen. Für mich war nichts zu essen zwar kein Problem, doch Ares war noch immer menschlich. Wir mussten uns also etwas einfallen lassen. Ares… er hatte eine Idee. Er hatte noch immer Familie in Zador’ye. Seine Mutter und seinen Vater. Sie hatten ihn zwar verkauft, doch er war sich sicher, dass sie uns aufnehmen würden. Zumindest sein Vater. Das Problem war, dorthin zu gelangen. Wir haben uns umgehört, nach einer Möglichkeit gesucht. Schließlich fanden wir jemanden, der bereit war, uns dorthin zu bringen. Ares versprach, ihn auszuzahlen, sobald wir die Siedlung erreicht hätten.“
Sie pausierte und trank einen Schluck Wasser. Sie verspürte zwar keinen Durst, doch die kühle Flüssigkeit erfrischte sie. Bedrückt atmete sie tief durch, bevor sie ihre Schilderung fortsetzte. Ares blieb stumm. Er starrte ausdruckslos an die Wand.
„Wir erreichten die Siedlung an einem Morgen. Der Fahrer wartete vor dem Tor auf seine Bezahlung. Ares öffnete das Tor und wir betraten das Grundstück. Das Haus lag ruhig. Nichts und niemand rührte sich, doch dann… dann lief ein Mann um das Haus und starrte uns an. Ungläubig schlug er beide Hände über dem Kopf zusammen und rannte auf Ares zu. Unter Tränen umarmte er ihn. Rief immer wieder seinen Namen. Er war glücklich, seinen Sohn wieder in den Arm nehmen zu können. Er stellte sich mir als Danilo Smirnow vor. Er war so freundlich, den Fahrer für seine Bemühungen zu entlohnen. Obwohl er mich nicht kannte, nahm er mich herzlich auf und bat uns beide ins Haus. Er besaß nicht viel, doch was er besaß, teilte er liebend gerne. Er schien so überaus glücklich zu sein, Ares wieder zuhause zu haben…“
„Was war mit seiner Mutter? War sie nicht da?“
„Nein…“, gab sie kopfschüttelnd zur Antwort.
„Sie war nicht mehr am Leben.“
„Verstehe. Mein aufrichtiges Beileid, Ares.“
Er ignorierte ihn. Es schien, als wäre er gedanklich sehr weit von ihnen entfernt.
„Ares erzählte seinem Vater nicht, dass wir auf der Flucht waren und eine sichere Behausung, eine Zuflucht brauchten. Er erzählte ihm nicht, was geschehen war.“
„Was hat er ihm dann erzählt?“ Michail sah Ares an.
„Was hast du deinem Vater als Grund genannt?“
Er räusperte sich. Seine Wangen erröteten.
„Ich… ich habe ihm erzählt, dass wir… dass wir heiraten wollen und ich ihr meine Familie vorstellen wollte. Dass wir ihn auf dem Feld und Hof unterstützen und ein Leben als Bauern führen wollten. Er hat es nie hinterfragt“, gestand er und mied jeden Blickkontakt. Valeria schmunzelte verlegen.
„Und das taten wir. Dass wir in getrennten Zimmern schliefen, begründeten wir damit, dass es mir so lieber wäre. Keusch bis zur Hochzeit“, kicherte sie.
„Wir halfen ihm auf dem Feld, auf dem Acker und im Stall. Wir hielten das Haus in Schuss und kümmerten uns um den Verkauf der Ernte. Wir taten alles und ein paar Jahre lief es auch wunderbar. Wir führten ein friedliches und glückliches Leben, gemeinsam. Wir fütterten die Tiere im Stall, gingen spazieren. Ich lernte die Nachbarn kennen. Wir lagen im Sommer im weichen Gras und starrten in den klaren Nachthimmel…“
Eine bedrückende Stille war dabei den Raum zu füllen. Valeria schluckte mehrmals schwer.
„Doch dann… fanden sie uns…“
„Was ist passiert?“
1961 in Zador’ye, Oblast Twer, Russland
Freudestrahlend stürmte Valeria in Ares‘ Zimmer. Dieser sah überrascht zu ihr auf, als sie in den Raum platzte. Es war der fünfzehnte Juli und draußen sowie im Raum herrschte eine unerträgliche Hitze. Grillen zirpten und Hunde bellten. Oberkörperfrei und in einer knielangen, hellen Hose saß er auf seinem Bett. Er klappte sein Buch zu und legte es beiseite. Sie sagte nichts. Sie grinste ihn lediglich glücklich an. Er grinste zurück, als er sich vom Bett erhob.
„Was ist los?“
„Was los ist?“, schnaubte sie entrüstet, grinste jedoch weiterhin. Er betrachtete sie flüchtig. Das kurze, figurbetonte blaue Kleid stand ihr ausgezeichnet. Er fand, dass sie ausgesprochen hübsch darin aussah. Sie stürmte auf ihn zu, umkreiste ihn langsam und blieb hinter ihm stehen.
„Was tust du da?“, kicherte er. Er spürte, wie sich ihre Hände auf seine Augen legten und ihm die Sicht nahmen.
„Folge mir!“
„Dir folgen? Wie willst du mich denn so führen?“ Er spürte, wie sich ihr Busen gegen seinen Rücken presste, während sie ihn langsam vorwärts stieß. Schritt für Schritt begann er zu gehen. Hin und wieder sah sie über seine Schulter, um den Weg auszumachen.
„Valeria, wäre es nicht besser, wenn du vorausgehst? Ich gucke auch nicht, versprochen.“
Sie seufzte kurz.
„In Ordnung. Wehe, du guckst doch!“, ermahnte sie hin. Er schüttelte lächelnd und mit geschlossenen Augen den Kopf. Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn hinaus in den Garten. Die Stufen der steinernen Treppe geleitete sie ihn fürsorglich hinunter. Dann blieben sie stehen. Valeria ließ seine Hand los.
„Okay, Augen auf!“
Langsam öffnete er seine Augen und erblickte einen prachtvoll gedeckten Tisch unter einer alten Eiche. In der Mitte war ein großer, bunter und schmackhaft aussehender Kuchen platziert. Zwei hübsch verpackte Päckchen lagen links und rechts davon. Überwältigt sah er abwechselnd auf den Tisch, dann zu seinem Vater und zu ihr. Er erkannte die Mühen hinter all dem. Der Kuchen sah aus, als hätte sie einen ganzen Tag dafür benötigt. So einen hatte er noch nie gesehen.
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“, lächelte sie liebevoll.
„Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn!“
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Lächelnd schüttelte er nur mit dem Kopf.
„Wann hast du den denn gebacken?“, wunderte er sich lachend.
„In der Nacht. Dein Vater half mir“, erklärte sie.
„Du hast diesen Kuchen in einer einzigen Nacht gebacken? Das ist… beinahe eine Hochzeitstorte“, lachte er.
„Du spinnst!“, prustete sie laut. Er sah sie eindringlich an. Dann schritt er auf sie zu und umarmte sie vorsichtig.
„Danke“, wisperte er glücklich. Dann umarmte er auch seinen Vater. Gemeinsam setzten sie sich an den Tisch.
Man hatte ihm noch nie einen solchen Kuchen gebacken. Die letzten Geburtstage hier zusammen mit Valeria fielen aufgrund der Geldnot mager aus und seine Geburtstage, bevor er nach Lorino kam, waren nicht der Rede wert. Einen Kuchen hatte ihm seine Mutter zuletzt mit sechs Jahren gebacken und dieser glich optisch eher einem Hundehaufen. Sein Vater war selten daheim. Nachdem er seine Mutter schwängerte und darauf zur Frau nahm, war er stets mit Arbeiten beschäftigt. Selten war er daheim, doch er verstand es. Sein Vater musste die Familie ernähren, während seine Mutter ihre Sorgen in Alkohol ertränkte, ihren Körper verkaufte, um sich davon noch mehr Alkohol zu kaufen. Er wusste nicht, was es bedeutete, eine richtige Familie zu haben. Wie eine richtige Familie ist. Bald darauf geriet sein Geburtstag immer mehr in Vergessenheit. Bis es zur Normalität wurde, diesen nicht länger zu zelebrieren. Als Lew ihn kaufte und zum Anwesen brachte, wurden seine und auch Anisas, Somas und Valerias Geburtstage gefeiert. Allerdings war dies ein anderes Gefühl als jetzt. Jetzt war es inniger, persönlicher und glücklicher. Es war unbeschwert und sorgenfrei. Sein Vater schnitt den Kuchen an und reichte jedem einen Teller. Begeistert probierte Ares eilig davon.
„Der schmeckt fantastisch“, teilte er mit vollem Mund mit.
„Jetzt bist du schon zweiundzwanzig und zu einem stattlichen Mann herangewachsen. Ich weiß, ich habe das schon einmal gesagt, aber ich bin froh, dass es dir bei Valerias Familie gut ergangen ist“, merkte sein Vater stolz an.
„Ja. Tut mir Leid, dass ich dich nicht eher besucht habe“, murmelte er kauend.
„Muss es nicht. Ich bin sicher, du hattest deine Gründe. Ich bin einfach froh, dass wir jetzt eine richtige Familie sein können.“
Er betrachtete seinen alten Herren. Eingefallene Wangen, schlanke, magere Gestalt. Sein schwarzes, kurzes Haar fiel an einigen Stellen aus und seine grünen Augen starrten stets müde ins Nichts. Sie hatten darüber gesprochen. Nachdem Ares und Valeria ankamen, hatten sie über das Geschehene gesprochen. Danilo wusste und ahnte nichts davon, dass seine Frau sein eigen Fleisch und Blut verkauft hatte. Er kam heim und fand sie völlig berauscht im Sessel sitzend vor. Das Haus war komplett vernachlässigt und geleerte Wodkaflaschen stapelten sich in der Küche. Kein Sohn. Nicht die kleinste Spur. Seine Frau, nicht in der Lage, ihm zu erklären, wohin dieser verschwunden ist. Ares klärte ihn auf. Vergab ihm. Er hätte ihr wohl auch vergeben, würde sie noch leben. Für seinen Vater war es ein Schock, die Wahrheit zu erfahren. Aus dem Munde seines Sohnes zu hören, dass die eigene Mutter ihn an einen fremden Mann verkauft hatte. All die Jahre hatte er angenommen, dass er einfach weggelaufen wäre.
„Pack endlich deine Geschenke aus!“, drängelte Valeria lachend. Sein Vater kicherte ebenfalls. Er nahm das kleine Paket in die Hand und riss das Papier auf. Zum Vorschein kam eine schwarze Packung, die er langsam öffnete. Erstaunt sah er auf das Schmuckstück, das sich darin befand. Ein silbernes Medaillon. Vorsichtig zog er es heraus und hielt es gegen die warmen Sonnenstrahlen. Es schimmerte hübsch. Er betrachtete den ovalen, polierten Anhänger. Das musste eine Menge Geld gekostet haben.
„Öffne es!“, schlug sein Vater lächelnd vor. Er sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Vorsichtig öffnete er den Anhänger zwischen seinen Fingern. Er sah auf das Bild auf der rechten Seite. Es war ein altes Foto von ihm und seinem Vater. Daneben war Platz für ein weiteres Bild seiner Wahl.
„Bist du verrückt?“
„Gefällt es dir nicht?“, fragte sein Vater irritiert.
„Nein, das ist es nicht. Das muss teuer gewesen sein. Woher hast du das Geld dafür?“
„Ich habe gespart. Ein Jahr lang.“
„Ich weiß nicht was ich sagen soll. Vielen Dank, Papa.“
Sein Vater lächelte herzlich. Er band sich das Medaillon um den Hals und griff nach dem breiten Päckchen. Auch dieses hatte er schnell aus seinem Papier befreit und starrte gebannt auf das Buch. Seine Mundwinkel zogen sich in die Höhe.
„Ein Gedichtband von Jurij Fedkowytsch? Ich glaube das nicht“, lachte er freudestrahlend.
„Gefällt es dir?“, erkundigte sich Valeria lächelnd. Er sah sie an. Seine Augen füllten sich mit Wasser.
„Machst du Witze? Das ist einfach großartig. Vielen Dank.“
„Also, was machen wir heute noch?“, erkundigte sich Valeria voller Motivation. Danilo lachte.
„Was willst du denn machen?“
„Ich sage, wir machen die Dorfdiskotheken und Kneipen unsicher“, kicherte sie.
„Du willst was? Das endet nur darin, dass ich dich aus den Klauen gieriger, lüsterner Männer befreien muss.“
„Okay, keine Kneipen. Lass uns tanzen gehen!“, schlug sie grinsend vor. Tanzen. Das könnten sie durchaus tun. Das letzte Mal, dass sie gemeinsam getanzt haben, schien eine Ewigkeit her zu sein.
„In Ordnung. Wir gehen tanzen“, stimmte Ares glücklich zu.
Er stand vor seinem Kleiderschrank. Der Fernsehapparat aus dem Wohnraum dröhnte bis in sein Zimmer. Wie sollte er sich kleiden? Er nahm einige Hemden und Krawatten in die Hand, betrachtete diese und hing sie zurück. Was sie wohl tragen wird? Er entschied sich für ein schlichtes, weißes Hemd, eine dunkelblaue Weste mit Nadelstreifenmuster und eine ebenso dunkelblaue, sich nach unten verengende Hose. Rasch zog er sich um und trat in den Wohnbereich. Sein Vater saß in seinem Sessel und starrte auf den Bildschirm. Als er ihn bemerkte, musterte er ihn aufmerksam.
„Gut siehst du aus, Junge.“
„Danke. Ist Valeria schon fertig?“
„Nein, sie hat ihr Zimmer noch nicht verlassen.“
Als er die Worte sprach, öffnete sich die Tür hinter ihm und Valeria trat aus ihrem Raum. Beide betrachteten sie. Sie trug einen schwarzen, kurzen Tellerrock. Er saß eng an der Taille. Dazu eine schlichte, doch hübsche weiße Bluse mit langen Ärmeln. Selbst wenn sie Lumpen getragen hätte, wäre sie für ihn noch immer die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte. Sie trat zu ihm und lächelte.
„Bereit?“, fragte sie. Ihre Augen funkelten.
„Bereit.“
Er führte Valeria zur Tür.
„Du brauchst nicht warten, könnte spät werden“, rief er seinem Vater nach, als sie das Haus verließen. Dieser nickte stumm und widmete sich dann wieder dem Fernseher.
Die Diskothek war nicht weit entfernt. Sie mussten lediglich der Straße folgen, vorbei an den Feldern, der Grundschule und schon waren sie da. Laute Musik empfing sie. Auf der Tanzfläche waren nur wenige. Die meisten standen herum, entweder innerhalb oder außerhalb des Gebäudes, und unterhielten sich. Ares wollte ihnen Getränke holen, doch Valeria griff seine Hand und zog ihn sofort auf die Tanzfläche. Verdutzt taumelte er hinterher. Sie hielt an und zog ihn mit einem Ruck an sich heran. Beinahe wäre er gestolpert und hätte sie vermutlich umgestoßen, doch es war ihm gelungen, Halt zu finden und seine Bewegung zu verlangsamen. Überrumpelt sah er sie an. Sie lächelte, sie strahlte.
„Na schön. Du willst tanzen? Tanzen wir“, grinste er.
Es wurde still und dann begann das nächste Lied. Es wurde It’s Now Or Never von Elvis Presley gespielt. Beide lächelten, als sie sich rhythmisch zur Musik bewegten. Er nahm ihre Hand, eng umschlungen drehten sie sich elegant im Kreis. Grazil stieß er sie ab und zog sie wieder zu sich heran. Ihr Rock wirbelte umher. Ihre Tanzeinlage musste ein wahrer Blickfang gewesen sein, denn sie zog die Aufmerksamkeit sämtlicher Anwesenden auf sich. Sie hatten sichtlich Spaß. Sie genossen es. Jede einzelne Sekunde. Sie tanzten zu Save the last dance for me, zu The Marvelettes Please Mr. Postman und zu vielen anderen Songs. Außer Atem und lachend zogen sie sich schließlich von der Tanzfläche zurück.
„Möchtest du jetzt etwas trinken?“, erkundigte sich Ares lachend.
„Ja, sehr gerne.“
Sie setzte sich auf einen Stuhl am Rand. Sie fühlte sich so befreit, so glücklich. Wie kam das? Beinahe hatte sie Soma vergessen. Vergessen, was geschehen war. War das richtig? Durfte sie das? Glücklich sein, während Soma vielleicht unglücklich war oder gar Schlimmeres? Sie zweifelte. Ihr Lächeln verschwand.
„Was ist los?“, drang Ares‘ Stimme zu ihr durch. Erschrocken sah sie auf. Er hielt ihr einen Becher entgegen, den sie dankend annahm.
„Ich habe nur nachgedacht.“
„Worüber?“, wollte er wissen und nahm auf einem Stuhl neben ihr Platz. Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Über Soma, hab ich Recht?“
Sie zögerte, doch nickte schließlich wortlos. Er seufzte.
„Nein, ich… ich wollte die Stimmung nicht ruinieren. Entschuldige!“, meinte Valeria und klang dabei niedergeschlagen.
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“
Als Stand by me von Ben E. King abgespielt wurde, bat Ares sie um einen letzten Tanz. Lächelnd ließ sie sich von ihm auf die Tanzfläche geleiten. Er positionierte seine Hände an ihrer Taille und sah ihr tief in die Augen. Valeria griff nach seinem Nacken und legte ihre Arme um diesen. Sie schmiegte sich näher an ihn. Langsam bewegten sie sich zum Lied. Diese innige Nähe tat gut. Für ihn war es der krönende Abschluss dieses ganzen Tages. Sie umarmte ihn, schmiegte ihre Wange an seine. Seine Hände begannen zu zittern. Vorsichtig zog er sie fester an sich.
„Ares?“, wisperte sie ihm ins Ohr. Er konnte ihren warmen Atem spüren.
„Ja?“
„Kannst du mir etwas versprechen?“
„Natürlich.“
Valeria sprach kurz nicht weiter. Es schien, als müsste sie sich überwinden.
„Kannst du… würdest du immer an meiner Seite bleiben? Ich meine…“
Erneut sprach sie nicht weiter. Ihr Griff um seinen Nacken festigte sich.
„Bitte verlass mich nicht!“
Ihre Stimme klang dünn und ängstlich. Er streichelte ihr über den Kopf, dann umarmte er sie schützend.
„Das werde ich nicht. Ich schwöre es dir.“
Spät in der Nacht
Nachdem sie Ares‘ Elternhaus betraten, brachte er Valeria auf ihr Zimmer. Sein Vater war vor dem Fernseher eingeschlafen. Sie standen an der Türschwelle. Er wünschte ihr eine gute Nacht und sie tat das Nämliche. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, bedankte Ares sich für den wundervollen Tag. Sie lächelte sanft. Valeria verschwand und er lief zum Wohnbereich zurück. Ein kurzer Schnarcher seines Vaters ließ ihn schmunzeln. Er trat an den Fernsehapparat heran, um ihn auszuschalten. Dann hielt er inne, als er eine Sendungswiederholung sah. Es wurde ein Bild von Valeria gezeigt, darüber der Titel: Wer hat diese Frau gesehen? Einige Informationen zu ihr standen in einer Textbox am unteren Rand, sowie eine Telefonnummer und eine beachtliche Geldsumme für nützliche Informationen zu ihrem Verbleib. Er traute seinen Augen kaum. Unter Schock stand er einfach da.
„Ist das nicht deine Freundin?“, durchbrach die kratzige Stimme seines Vaters Ares‘ Schockstarre. Erschrocken drehte er sich zu ihm um. Seine Augen waren geweitet.
„Ist schon okay“, begann sein Vater, als er sich vom Sessel erhob. Er watschelte zum Fernseher und schaltete diesen wortlos aus. Ares nickte, als er ihm kameradschaftlich auf die Schulter klopfte.
„Wir sind schließlich eine Familie“, brummte er liebevoll.
„…Ja, das sind wir. Gute Nacht“, brachte sein Sohn als Antwort und verschwand auf sein Zimmer. Ausdruckslos sah Danilo ihm nach. Als er aus seinem Blickfeld verschwand und er die Tür zu seinem Zimmer zuschlagen hörte, schaltete er den Apparat erneut an. Neugierig las er sich den Text durch.
Unruhig wälzte Ares sich in seinem Bett hin und her. Er vertraute seinem Vater, doch er wurde dieses ungute Bauchgefühl einfach nicht los. Diese Sendung war eine Wiederholung. Wer konnte schon sagen, wie viele Menschen diese gesehen und Valeria erkannt haben? Vielleicht wurde diese Sendung nicht nur in diesem Gebiet ausgestrahlt, sondern noch in vielen anderen. Er konnte dieses schlechte Gefühl einfach nicht abschütteln. Dieses furchtbare Gefühl, diese Vorahnung, dass ein Sturm aufzog.
Es verstrichen drei Tage, ohne dass etwas Ungewöhnliches geschah. Ares saß in seinem Zimmer und hatte soeben sein Buch beendet, da vernahm er den Laut einer zuschlagenden Tür. Er sprang auf und sah aus seinem Fenster auf den Schotterweg vor dem Haus. Ein schwarzer Wagen hatte vor dem alten, schmiedeeisernen Tor geparkt. Dann erstarrte Ares. Ein junger Mann lief um die Motorhaube des Wagens herum. Durch das Fenster spähend betrachtete er ihn abermals. Es war Emil. Maximes Sohn. Er hörte und sah, wie sein Vater auf das Tor zulief, ein paar Worte mit ihm wechselte und dann auf das Haus deutete. Dann ließ er Emil eintreten. Stumm stand er für Sekunden, die ihm wie Stunden vorkamen, da. Ausdruckslos, fassungslos in einer Schockstarre. Und dann kam der Moment, in dem Ares nur noch funktionierte. Als würde sein eigenes Leben davon abhängen, stürmte er in Valerias Zimmer. Erschrocken starrte sie ihn wortlos an. Er packte sie, sah ihr tief in die Augen.
„Vertraust du mir?!“, brachte er entsetzt hervor. Sie nickte lediglich. Tief in ihrem Inneren wusste sie es. Sie wusste, dass die glücklichen Zeiten vorbei waren.
Ares nahm ihre Hand und sie rannten aus dem Haus. Am Fuße der Treppe angelangt, erblickten sie bereits den blonden Jungen. Beide hielten inne. Emil grinste breit.
„Also doch. Also war es doch kein falscher Hinweis. Hallo Ares. Hallo Valeria“, grüßte Emil die beiden ungeheuerlich freundlich. Beinahe übertrieben. Sie starrten ihn ungläubig an. Auch Danilo, der neben Emil stand, schwieg.
„Was willst du hier?“, verlangte Ares zu wissen. Emil zuckte mit den Schultern.
„Ist das denn nicht offensichtlich? Ich bin wegen Valeria hier. Also keine Mätzchen, schön brav mitkommen“, grinste er weiterhin überlegen.
„Mo-Moment…“, begann Danilo, der den Jungen an der Schulter packte.
„Sie sagten, es ginge nur um Hinweise zu ihrem Verbleib? Es war nie die Rede davon, dass Sie sie mitnehmen würden.“
Emil lehnte sich ein kleines Stück zu dem älteren Herren hinunter. Missbilligend sah er diesen an.
„Fass mich nicht an!“, zischte er bedrohlich.
„Lauf weg!“ Weder Emil noch seinen Vater beachtend, wandte sich Ares plötzlich Valeria zu und schubste sie von sich weg. Sie lehnte diese Aufforderung kopfschüttelnd ab.
„Nein, ich…“, murmelte sie.
„Lauf!“, schrie er impulsiv.
Emil schritt ungemein schnell auf Valeria zu und packte sie am Handgelenk. Er lockerte seinen Griff nicht.
„Nein! Ich will nicht mit dir gehen!“, kreischte sie wild.
„Fass sie nicht an, verdammt nochmal!“, mischte sich Ares ein und sprang dazwischen. Er schlug ihn. Er trat ihn. Er zerrte, riss an ihm und er biss ihn sogar, doch all dies ließ ihn nicht einmal zucken. Er war nicht stark genug. Ares hatte nicht die Kraft, sie aus seinen Fängen zu befreien, und es zermürbte ihn. Unbeirrt schlug er unaufhörlich auf Emil ein, doch immer erfolglos.
„Du nervst“, kommentierte Emil seine Bemühungen.
Mit seiner freien Hand stoppte Emil seine Angriffe. Er packte ihn am linken Unterarm, dann stieß er ihn wuchtvoll ab, ohne von ihm abzulassen, und zog ihn erneut mit immenser Kraft heran. Ein scheußliches Geräusch dröhnte in den Ohren aller Anwesenden. Ares schrie. Es war ein qualvoller Aufschrei, der Valeria massiv zusammenfahren ließ. Emil ließ seinen Arm los und Ares fiel auf die Knie. Sein Arm hing schlaff hinab. Er zitterte. Danilo eilte zu seinem Sohn, doch Emil signalisierte ihm, sich nicht weiter zu nähern. Eingeschüchtert blieb er also stehen und griff sich fassungslos an den Kopf.
„Du kannst ihn aufhalten“, hörte Valeria aus dem Nichts eine Stimme sagen. Doch diese Stimme klang eigenartig. Nicht richtig. Sie klang, als wäre sie überall um sie herum, sogar in ihr selbst. Sie klang blechern, flüsternd und schreiend zugleich. Doch sie wusste, dass sie sie nicht zum ersten Mal hörte.
„Tu es…“
Emil sah Valeria an, musterte sie für einen kurzen Moment und zog an ihrem Handgelenk.
„Wir gehen“, ließ er sie wissen und zog sie erneut einen Schritt weiter.
„Vernichte ihn! Nur du kannst ihn retten, tu es!“
Ares‘ unverständliches Gemurmel drang in Emils Gehör, doch er schenkte diesem keine Beachtung, stattdessen zog er Valeria erneut zu sich heran. Er stieß auf eine unerwartete Gegenwehr, denn ungleich seiner Erwartung war es, als würde er an etwas Schwerem, Massivem ziehen, das sich einfach nicht von der Stelle rührte. Verwirrt sah er zu ihr. Sie stand da, den Blick gesenkt, ohne jede Reaktion oder Lebenszeichen. Als wäre sie eine Statue.
„Was-“, begann der sichtlich verwirrte blonde Mann, doch jedes weitere Wort wurde ihm durch einen wuchtvollen Stoß abgeschnitten.
Valeria stieß ihn mit ihrer Handfläche von sich. Es war kaum zu beschreiben. Sie streckte ruckartig ihren Arm aus und stieß ihn mit einer beängstigenden Ruhe von sich weg. Sein Körper prallte wie ein Ball von ihrer Handfläche ab. Diese scheinbar so harmlose Berührung schleuderte ihn sogleich in ein benachbartes Haus, welches zum Glück unbewohnt war. Danilos Augen waren nicht in der Lage, das Geschehene zu verfolgen. Für ihn war er in dem einen Moment noch da und dann gab es diesen lauten Knall und das Gebäude nebenan fiel wie ein Kartenhäuschen in sich zusammen. Was war da passiert? Das war zu viel für seinen Verstand.
„Wie… habe ich…?“, begann sie entsetzt und starrte auf ihre Hand. Ares kämpfte sich auf seine Beine zurück und eilte zu ihr. Ohne ein weiteres Wort nahm er ihre Hand in seine und dann rannten sie. Sie liefen, so schnell es ging, vorbei an der Scheune, hinaus auf den Acker und weiter. Plötzlich hielt er an und führte sie an der Hand vor sich. Betrübten Blickes ließ er diese letztlich los.
„Lauf weg! Bitte.“
„Das werde ich nicht! Ich habe es satt, ich kämpfe!“, entgegnete sie entschlossen.
„Tu, was ich dir sage! Bitte…“, flehte Ares und trat einige Schritte zurück.
„Er tötet dich!“, entgegnete sie.
„Das ist mir egal! Was mir aber nicht egal ist, bist du! Ich will nicht, dass er dich in die Finger bekommt, also renn, verdammt!“, platzte es aus ihm heraus.
Sie sah in sein Gesicht. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gesammelt. Er war blass. Er wollte sie nur beschützen, so wie damals. Sie sah die Angst in seinen Augen. Doch es war keine Angst um das eigene Leben, was sie sah, war die ehrlichste und offenkundigste Besorgnis um das Leben einer anderen Person. Ihrer Person. Ich muss das akzeptieren, oder…?, dachte sie. Das ist, was er will. Akzeptiere das. Und dann kehrte sie ihm den Rücken. Er sah ihr nach, während er langsam zurücklief.
„Lebewohl…“, murmelte er unter Tränen.
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