Verlorenesmagenta – Part 2 (Finale)
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
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Wiederaufleben
„Mir damals selbst das Leben zu nehmen, schien mir als die
einzige und logischste Möglichkeit. Ich weiß, jeder Außenstehende würde diesem
dummen Gedanken entgegensprechen, aber wer eine Person so derart geliebt hat,
wie ich es tat, würde mein plötzliches Handeln verstehen“, erklärte Paul den
dreien und schwieg kurz darauf. Voller Konzentration schaute er sich selbst
dabei zu, wie sein sterbliches Ich sich mit verquollenem Gesicht, roten Augen
und bitteren, stätig herabfließenden Tränen den kalten Lauf gegen die Schläfe
drückte und mit einem zittrigen Seufzer hinaus in die schwarze, dunkle Welt
schaute. „Mama?“, ertönte die süßliche Stimme Carolines, welche ihre Arme fest
um den Torso ihrer Mutter geschlungen hatte. „Er wird sich umbringen, oder?“,
fragte Caroline, doch ihre Frage klang vielmehr nach einer eindeutigen
Feststellung. Schockiert von dieser zweifelsohne eindeutigen Erkenntnis, die
ihre Tochter hatte, schaute May mit einem mitfühlenden Blick auf ihre Tochter
herab, welche in ihren Augen ihr nun doch weiser vorkam, als es ihr bloßes
Alter verraten ließ. Womöglich wollte die junge Seelenwächterin es selbst nicht
wahrhaben, doch ihre Seele wusste aufgrund der heutigen Jagd, was es bedeutet,
das Leid anderer mit eignen Augen mitanzusehen und vor allem zu spüren. „Liebling…“, begann May
vorsichtig, während sie bemüht unauffällig das Antlitz ihrer Kleinen fester auf
ihre Brust drückte, um ihr diesen gleichbeginnenden Anblick zu ersparen. Zusätzlich
sprach sie durch die altbekannte Telepathie ihrer Tochter zu, dass – ganz egal,
was gleichbald geschehen mag – sie an zu Hause denken sollte. An Familie, an
Freunde, eben an alles, was sie glücklich machte und ihre Sinne um keinen Preis
auf das grausame Geschehen lenkte. May selbst wollte diesem Grauen entfliehen,
selbst wenn sie – anders als ihre Tochter – bereits mehrere Male die armen
sterblichen Wesen, vor ihrem Tod bewahren konnte und somit mehr Erfahrung
gesammelt hatte, was das Leid eben jener anging. Doch noch nie musste und
konnte sie mitansehen wie ein solch verzweifelter Mensch, wie Paul es gewesen
war, sich entgegen jeden gesunden Menschenverstandes und entgegen jedweder
Hilfe das Leben nahm. So schaute auch sie betroffen vom Ort des Geschehens weg
und wünschte sich zum ersten Mal in ihrem Dasein als Seelenwächterin und
Bewohnerin Animarums nichts sehnlicher, als diesem Raum zu entfliehen.
Nur Calum und der ehemalige König bewiesen genug Mut, dem
Geschehen bis zum Ende beizuwohnen, da beide wussten, dass es nicht so enden
konnte, wie wohl die anderen beiden und jeder Dritte annehmen würde. Im
Gegensatz zu dem ehemaligen König war es Calum jedoch ungewiss, wann der
entscheidende Wendepunkt eintreten würde. So blieb ihm nichts weiter übrig, als
sich weiterhin auf diesen einen Moment zu konzentrieren, doch noch ehe ein
ohrenbetäubender Knall die plötzlich dünne, kaltgewordene Luft entzwei riss und
warmes, rotes Blut die kahlen Wände in eine Farbe der Unvergesslichkeit verwandeln
würde, bemerkte Calum im schwachen Schein, der stätig flimmernden Kerze, wie
sich ein dunkler Schatten in Form eines Lebenswesens nahezu gierig gegen das
dünne Fensterglas drückte. Unausgesprochene Wörter verließen seinen Mund,
derweil sich das Kondenswasser seines eigenen Atmens zu einem leichten Beschlag
auf dem Glas bildete und die schwarzen und immateriellen Hände sich fester
gegen eben jenes pressten. Beinahe war es so, als ob jenes Wesen darum flehen würde in das Schlafzimmer von
Paul hineinzukommen. Es ist ein
Seelenwächter, überkam dem Jungen der Gedanke. Gespannt beobachtete er
weiterhin, das Szenario und den verzweifelten Versuch des Wächters vor ihm zu
ihnen zu gelangen. May, Caroline seht
doch! Rief Calum die beiden Mädchen dazu auf aus dem Fenster zu schauen. Dort drüben! Es ist ein Seelenwächter. Er
muss das unaufhörliche Leid Pauls bemerkt haben, jedoch findet er keinen Weg zu
ihm hinein! Rief er getrieben von einer seltsamen Mischung aus sich
steigernde Euphorie und angehender Trauer zugleich. Euphorie, da in ihm die
Hoffnung stieg, dass der Wächter es noch rechtzeitig schaffen würde, ehe die
Kugel den Schädel des Sterblichen durchbohren und somit sein Schicksal
offenbaren würde. Trauer, weil er es nicht fassen konnte wie blind Sterbliche doch sein mochten.
Wieso sahen sie nicht, dass wir, die Seelenwächter, ihnen Hilfe geboten?
„Jeder Mensch, welcher
schon einmal auf emotionaler Ebene in ein tiefes Loch gefallen ist, weiß wie schwer es ist aus eben diesem
herauszukommen. Mehr noch: Es ist nahezu unmöglich den Weg zurück zu erklimmen
den man gefallen ist, wenn man erst
einmal unten angekommen ist. Aus diesem Grund sah ich ihn nicht. Ich war
geblendet von meiner Trauer und meiner Verzweiflung über meinen Verlust.“,
antwortete Paul auf die unausgesprochene Frage Calums, noch ehe der zu
erwartende (ja, nahezu sehnsüchtig herbeigesehnte) Knall zeitgleich mit dem
Klirren des Fensters fiel. So glänzend wie einzelne Diamanten regneten die
Glassplitter auf den hölzernen Parkettboden nieder und hinterließen in den
Ohren ein dumpfes, kaum hörbares Geräusch. Ungeachtet dessen, wie sehr es mit
dem einzigen und letzten Knall, den der Sterbliche je abgefeuert hatte
verschmolz und alles andere für diesen einen Moment in den Hintergrund rückte.
Auch Wind und Regen fanden Einlass in den Raum des Sterblichen. Und mit einem
kräftigen Windstoß erlosch das kleine, dämmrige Licht und die Kerze fiel mit
einem dumpfen Knall zu Boden. Alle konnten sehen, wie sich das warme Wachs, wie
Blut auf dem Boden verteilte. May wurde plötzlich panisch und spürte die ebenso
sorgenvollen und verängstigten Blicke der anderen auf ihr ruhen. Was sollte sie
nur tun? Gleichkommend mit der Idee zu dem
früheren Ich Pauls hinzulaufen und den Wächter zu bitten etwas gegen den Tod von
ihm zu unternehmen, würde eine vollkommende Veränderung der Erinnerung bedeuten
und so, wie sie es mit eigenen Augen bei ihrer Tochter gesehen hatte (ebenso,
wie Vincent es ihr erklärt hatte) durfte sie sich um keinen Preis der Welt in
die Memoria des Sterblichen einmischen, andernfalls hätte es sicher schwere
Konsequenzen zur Folge. Konsequenzen die sie nicht eingehen konnte und auch
nicht wollte. Calum, der ihre verworrenen, panischen Gedankengänge gelesen
hatte und ihre Verwirrtheit sowie der stetig wachsenden Panik ein Ende bereiten
wollte, hielt sie schützend mit einem ausgestrecktem Arm davor zurück eben
jenen Fehler zu begehen. Beruhigt euch! Mahnte
er sie und die kleine Caroline in Gedanken, indem er einen strengen Blick auf
beide richtete. Ganz egal wie groß eure
Angst und eure Trauer ist – selbst, wenn ihr noch nie den erfolgreichen Tod
eines leidenden Menschen erdulden musstet – müsst ihr stark bleiben und dem
Geschehen seinen Lauf lassen, wie es auch passiert war. Ich bin mir sicher, dass Paul geholfen wird,
andernfalls hätte er uns einen Befehl gegeben, was wir tun sollen! Die
beiden Mädchen schwiegen. So gern sie es nicht einsehen und dem sterbendem
Menschen dort helfen wollten: Calum hatte recht. Sie konnten für diesen einen
Moment nichts weiter tun, als zu zuschauen.
Doch gerade als May alle Hoffnung verließ und sie ein
erneutes Mal mit ihren aufkommenden Gedanken und dem Bedürfnis helfen zu müssen
zu kämpfen hatte, legte der Wächter seine Hände auf die Wangen des toten
Menschen. So, als wollte er ihn mit unausgesprochenen Worten und einer Geste
der gezeichneten Trauer signalisieren, wie sehr er sich doch wünschte und wie
sehr er doch dafür betete, dass Paul wieder zurück ins Leben finden würde. Bei
genauerer Beobachtung konnten alle erkennen, wie einzelne, schwarze Tränen in
den leichtgeöffneten Mund des toten Mannes flossen und ebenso seine Augen,
seine Nase und seine komplette Gesichtshaut zierten. „Jeder Seelenwächter, welcher es nicht rechtzeitig schaffte seine Seele
für sich zu gewinnen, musste allein für sich einen Weg finden eben jene
zurückzuholen. Anders als ihr womöglich nun denkt, war es für meinen Wächter
nicht möglich meinen Geist aus den Fängen des Teufels oder aus den Händen
Gottes zu befreien. Für mich gab es keinen Himmel und auch keine Hölle. Alles,
woran ich mich bis zum Zeitpunkt, indem meine Seele meinen Körper verlassen
hatte, erinnern kann, ist die kalte, leere Schwärze, welche mich (selbst bei
meinem Tod, durch welchen ich selbstverständlich nichts hätte empfinden können
und es dennoch tat) in ein noch größeres Unwohlsein gestürzt hatte, als ich es
ohnehin schon empfand. Doch inmitten dieses… Nichts erkannte ich ein Licht. Es war nicht weiß und schimmerte auch nicht so
stark und voller Wärme, wie man es wohl von jedwedem anderen, die eine
Nahtoterfahrung durchlaufen hatten, erzählt bekam – nein. Es war einfach grell
und kalt. So, als sei es künstliches Licht, erzeugt von einer einfachen
Glühbirne, wie sie nackt von einer Decke im Keller eines Hauses hängen würde und
inmitten dieses Lichts sah ich sie: Eine Frau, schöner als jeder Stern eines
klaren, dunkelblauen Himmels. Ihre Haare so voller Pracht in dem dunkelsten
schokoladenbraun, dass man sich nur vorstellen konnte. Im plötzlich
aufkommenden Wind umspielten jene ihr sanftes Lächeln und ihre blasse, doch
wunderbar gepflegte Haut, welche zur jeder Berührung nur verführte. Obgleich
ich versucht war mich ihr zu näheren, sie kennenzulernen und ihre vollen,
dunkelroten Lippen zu liebkosen (welche in meinen Erinnerungen einen dunklen,
fast kirschroten Ton annahmen), schien jeglicher Versuch buchstäblich ins
Nichts zu greifen. Je schneller ich rannte, desto mehr bekam ich das Gefühl,
dass unsere Distanz sich weiter vergrößerte – wenn auch gegen meinen Willen. Je
lauter ich ihr zurief, sie möge doch bitte sich zu mir wenden, desto mehr
ignorierte sie meine Stimme und ging ihren eigenen Weg. Alles, worum ich auch
bemüht war schien endgültig aussichtslos zu sein. Verzweifelt und bitter
weinend sank ich auf die Knie und flehte um Gottes Willen, dass sich endlich
etwas für mich ändern würde. Nichts sehnlicher denn je wünschte ich mir
plötzlich mein Leben zurück. Aber nicht für mich, sondern für sie! Ich wollte sie sehen, sie kennenlernen, mit
ihr mein zweites Leben verbringen – jedoch musste ich mich mit dieser Leere,
dieser Kälte und diesem Licht (in welchem sie vollständig verschwunden war)
allem Übel nach abfinden.
Auch wenn ich die
Tränen nicht mehr spüren konnte, hörte ich,
wie ich weinte. Doch diese mir bekannte bittere und durchsichtige Flüssigkeit
(welche aus meinen Augen kam), brannte urplötzlich heiß auf meinen Handgelenken
und hatte die undurchdringbare Farbe von Schwarz. Schwarz präsentierte für mich
nicht vielmehr als die Leere und Kälte in welcher ich auch gefangen war. Dennoch
wunderte es mich, warum in aller Welt mein Körper im Stande war heiße, schwarze
Tränen zu emittieren. Ehe ich dieser Sonderheit weitere Beachtung schenken
konnte, durchzuckte mich, wie aus dem Nichts ein kurzer, doch stechender Schmerz,
ausgehend von meinem Herzen, weiter bis in meinen gesamten Körper hindurch und
ließ mich begleitet von eben jener bittereren Pein aufschreien. Das künstliche
Licht pulsierte in schnellen, bedrohlichen Bewegungen, als ob es mein pochendes
Herz symbolisierte, welches spürbar wild und schmerzhaft gegen meine Brust
hämmerte. Je schlimmer die Pein in meinem toten Corpus anwuchs, desto mehr und mehr bekam ich das Gefühl, mein faustgroßer
Muskel könnte jeden Moment implodieren, so unerträglich war die Pein mit dem
auf einmal aufkommenden Druck in meiner Brust. Jedoch, verschwamm für meine
Augen die Welt, zeitgleich mit dem nun breiten, großem Licht, welches die
gesamte Schwärze in sich aufzunehmen und ein aller letztes Mal eiskalt über
meine Haut zu streichen schien, als würden mich die kleinen, doch eiskalten
Hände mehrerer Kinder zeitgleich berühren. Und dann… wachte ich auf. Kein
Schmerz war mehr zu spüren, kein Druck kämpfte gegen meine Brust. Ich lebte –
so wie ich es mir gewünscht hatte, doch als ich an mir herab sah…“ plötzlich
hielt der König mit seiner Erzählung inne. „Was habt ihr gesehen, eure
Majestät?“, wandte sich May ihm behutsam zu, während sie einen letzten Blick
auf den Wächter warf, welcher immer noch wie eine Geliebte des Toten oder wie eine
Mutter, die um ihr totes Kind trauerte, seine Hände um sein Gesicht hielt und
die schwarzen Tränen der Trauer und der Leere weinte. May wusste (ohne die
Gedanken des ehemaligen Königs zu lesen), dass nun eine letzte Szenerie folgen
würde. Jene letzte Szenerie, die das vorzeitige Ableben offenbaren würde, sowie
die Herrschaft, welche er mir Regina geführt hatte…
~
Sie gingen Hand in Hand (auch wenn alles in Vincent sich
dagegen sträubte) einen großen Hügel hinauf. Die Abendsonne schenkte den beiden
ihre letzten, wärmenden Sonnenstrahlen, welche sich nurnoch mit Mühe am Himmel
hielten. So, als ob sie mit aller Macht gegen die aufkommende Dunkelheit
kämpfen wollten. Als ob sie spürten,
dass ihr Ende nahte. So, wie es auch Vincent im Inneren verspürte, wenngleich
seine Fassade von außen ihm nichts anmerken ließ. „Schau nur!“, rief May aus,
während sie mit einem Finger auf einen freien, gänzlich saftig-grün flächigen
Platz deutete, ganz oben auf der Spitze des Hügels. Beiläufig schaute der
erfahrene Seelenwächter zu eben jenem gedeuteten Platz hin, doch seine Gedanken
kreisten immer noch um das Buch. Diesmal jedoch, ließ er die Gefahr außer Acht,
dass Regina (oder May oder wer auch immer sich hinter dieser Täuschung verstecken
mag), seine Gedanken wohl hören konnte. Denn nichts wünschte er sich sehnlischer,
als diesem Albtraum zu entfliehen. „Bitte, mein Liebster“, bat ihn plötzlich
seine Geliebte, während sie sich auf das Fleckchen niederließen. „Zieh doch
nicht so ein Gesicht, ich möchte, dass du dich heute hier mit mir wohlfühlst.
Ich bin es doch – deine May“, erklärte sie ihm. Zur jeglicher Zeit, die ihm
geboten wäre, hätte er ihr glauben über ihre Worte geschenkt und sich mit ihr
hier alleine in der Natur eine schöne Zeit gemacht, doch etwas in ihm hielt ihn
ganz und gar davon ab, diese Zeit (ferner diesen Moment) zu genießen. Er konnte es selbst nicht genau beschreiben,
doch da war etwas – nebst der Stimme, die er sonst hörte – dass ihn förmlich
dazu zwang weiterhin alles skeptisch zu betrachten und all diese Fragen nach
dem „Warum?“, „Wieso?“, „Weshalb?“ zu beantworten. Kaum hatte er sich neben ihr
hingesetzt, zog sie ihn unerwartet zu sich, legte ihren Kopf auf seine Schulter
und schloss die Augen. Für eine gefühlte Unendlichkeit herrschte nichts als Schweigen.
Eiskaltes Schweigen, ähnlich, wie man es von Wintertagen kennt und Vincent
innerlich erschaudern ließ. Ihre Nähe ließ ihn zittern und unwohl fühlen, als dass
es ihm die Wärme gab, welche er bei der echten May oder zum Zeitpunkt der
Blendung durch Regina erfahren hatte. Besonders in jenem Augenblick, als sich
beide dem Akt der Liebe hingaben. Auf einmal traf es den Seelenwächter wie ein
Blitz: Diese Kälte sie war der
Ausschlaggebende Grund, dass etwas mit seiner May nicht stimmte. Ruckartig
(auch, wenn diese Bewegung ihm hastiger und schneller vorkam, als er es
tatsächlich beabsichtigt hatte), entfernte er seinen Körper von dem seiner
Königin, welche wenige Augenblicke zuvor, die Nähe ihres vermeintlichen
Geliebten genossen hatte.
Einerseits fragend, doch anderseits von Verwirrung
gezeichnet blickte sie ihn an. Ihren Kopf leicht zur Seite geneigt. „Was hast
du nur heute, Vincent? Warum bist du plötzlich so hochgeschreckt, als hätte ich
dir einen Stromschlag verpasst?“ Ohne auf die Fragen Reginas einzugehen,
schaute er weg von ihr und verharrte einige Zeit in dieser Position, ohne auch
nur einen einzigen Gedanken zu verlieren, aus Angst, sie möge – getrieben von
bloßem, ungesättigtem Hass – nun doch einen Einblick in seinen Schädel wagen.
Dann stand er auf, doch entfernte er sich nicht von ihr, ehe er einen letzten
Blick zu ihr wandte und mit milder, doch fest entschlossener Stimme sprach:
„Meine Liebe galt niemals dir und wird dir auch niemals angehören. Selbst, wenn
du mit deinen mir noch unerklärlichen Täuschungen immerzu versucht bist mein
Herz und mein Verstand zu blenden, so lass dir eines gesagt sein, Regina“,
seine Zunge sprach jenen Namen so voll Abscheu und Schärfe aus, dass die Herrin
– wenn auch nur ungewollt – für einen kurzen Moment zusammenzuckte. „Keines deiner Worte und keines deiner Gesten, könnten auch nur
im Ansatz das ersetzen, was ich bei
der echten May verspürt hatte:
Wärme.“ „A-aber w-was redest du denn da, mein Geliebter?“, stammelte die
Herrin. Bemüht jeden Anflug von Panik mit Selbstsicherheit und Überzeugung zu
trotzen. „Ich bin es doch! Ich BIN
May! Deine Freundin und deine zukünftige Gemahlin!“ Der Wächter war bereits einige
Schritte von seiner Herrin entfernt, bis er plötzlich stehen blieb und ihre
Worte mit einem wissenden Lächeln abtat. „Meine zukünftige Gemahlin?“,
rekapitulierte er jene Worte ihrerseits und lachte leise, ehe er ihr
vermeidliches Wissen über seine und Mays Zukunft mit einer Entgegnung
vernichtete: „Dein Wunsch mag nicht schlecht sein, doch hatte ich es – und ich
bin mir ziemlich sicher May genauso wenig – nicht in Betracht gezogen sie zu
heiraten. Darum kreisten meine Gedanken nicht eine Nacht und nicht einen Tag.
Dennoch, dein Denkinhalt lässt den nötigen Platz für Wunschfantasien offen.
Vielen Dank, liebe Herrin.“ Wieder einmal lag das Wort Herrin scharf und bitter
in der Luft, wie es auch zuvor ihr Name tat. Alles, wozu die geschlagene Regina
nun im Stande war, war es ihm dabei zu zuschauen, wie er sie verließ. Genau,
wie es vor unzähligen untergehenden und aufgehenden Sonnen bei ihrem
Menschensfreund der Fall gewesen war. „Das
wirst du noch bereuen, du kleiner Wicht! Diesmal entkommst du mir nicht!“,
sprach sie ihm in Gedanken zu und obwohl sie keine Antwort von ihm bekam,
wusste sie, dass sie ihn hören konnte, denn sie empfand auf einmal diese
erneute Kälte. Jene Kälte, die auch Vincent überkommen war und welche allein
durch ihrem eigenen, nicht beachteten Fehler zuzuschulden war.
Der Himmel erstreckte
sich immer noch in der weiten, klaren Nacht, als Vincent sich auf den Weg in
die Bibliothek machte. Doch dieses Mal verschloss er die Tür mithilfe eines
Stuhls, den er unterhalb der Türklinge platzierte, da sich die Tür zur
Bibliothek dank eines dummen Fehlers seitens der Handwerker, die vergessen
hatten ein Schloss samt dazugehörigem Schlüssel in die Tür einzubauen sich
anders nicht „verriegeln“ ließ. Der Vollmond schien hell durch das große
Bibliotheksfenster hinein, während er sich gezielt auf die Suche nach dem Buch
machte, welches er heute Abend erblickt hatte. Schlussendlich hielt er es auch
in seinen Händen. Sorgfältig strich er die dünne Staubschicht vom grünen
Einband weg und versuchte angestrengt jene Sprache zu lesen, die ihm bis jetzt
immer noch Fragen aufwies. Noch zu der Zeit in dem er durch die verschiedenen
Länder gereist war und nach der perfekten Seele gesucht hatte, fiel es ihm
nicht sonderlich leicht, die Sprache in dem jeweiligen Land auf Anhieb zu
können. Doch die Zeit die er nutzte, ermöglichte es ihm sie schnell zu lernen.
Sodass er innerhalb weniger Wochen eine Sprache nach der nächsten kennen und
auch beherrschen lernte. Doch dieses Buch schien seine einzige Ausnahme zu
sein. Grübelnd setzte er sich auf die Couch, überflog eine Seite nach der
anderen, suchte frustriert nach erkennbaren Zusammenhängen zwischen der
lateinischen und der hier im Buch niedergeschriebene Sprache.
Beinahe wollte er es aufgeben, als ihm eine Idee kam, wer
ihm jene Sprache beibringen könnte. Selbst, wenn diese Idee einerseits vom
Risiko umgeben und andererseits mit einer Chance der Niederlage versehen war:
Er musste Regina dazu überzeugen ihm es beizubringen. So legte Vincent das Buch
zunächst unter ein Kopfkissen, ehe er per Telepathie seine Geliebte um Hilfe bat: „May,
meine Liebe, ich bitte dich – hilf mir!“ Doch kaum war jener Satz in seinem
Verstand ausgesprochen, überkam ihn eine erneute unerträgliche Pein. Gebetet in
lodernder Wut und eiskalter Ignoranz. Vincent schrie auf vor Schmerz, doch
kämpfte zeitgleich mit dem in ihm pochenden Willen an, diesem Biest dem
Erdboden gleich zu machen. „Oh, was ist
denn mein lieber Vincent?“, entgegnete seine vermeintliche May, derweil der
Seelenwächter sich vor aufkommender Pein auf den Boden windete. „Ich flehe dich an,“, sprach er per
Telepathie weiter. „Verzeih mir meine Wut
und meine Dummheit! Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen! Bitte! Bedenk-“ Die
erneute, weitaus schlimmere Verschmelzung von Wut und Ignoranz drohte seinen
Verstand zu lähmen und seine Gefühle in eben jene, wie Regina sie auch empfand
zu verwandeln – lodernde Wut und eiskalte Ignoranz. Schweres Keuchen
resultierte, als Vincent einen wiederholten Versuch der Telepathie unternahm: „Bedenke… dass mich deine Macht an Gefühlen
lähmen werden. Sag… mir… w…willst du das…?“, brachte er unter größter
Anstrengung hervor. Getrieben von dem schier unaufhaltsamen Willen nicht
aufzuschreien und sich Reginas Folter zu
ergeben. Einen Moment lang stoppte die Pein so plötzlich, wie sie gekommen war.
Seine Herrin schien zu überlegen. „Nun
gut“, kündigte sie nach einer gefühlten Ewigkeit an. „Ich gewähre dir noch dieses eine Mal. Und sei dein Wille mich zu
lieben gut entschieden, denn sonst veranlasse ich unter dem größten Publikum,
dass es je gab eine Hinrichtung, speziell gewählt, um dich langsam und qualvoll
hinrichten zu lassen“, erklärte sie und wenige Augenblicke später herrschte
endlich Stille in dem Kopf des Wächters. Erschöpft, aber glücklich den Inneren
Kampf gegen sie mit Überzeugungskraft gewonnen zu haben, ließ er sich auf das
Sofa niedersinken.
Kurze Zeit später (als die Sonne dabei war aufzugehen),
schaute Vincent voller Hoffnung noch ein letztes Mal auf den Einband des grünen
Buches, dann schlief er – das Buch fest umschlungen, als sei es sein eigenes
Kind, welches er mit starkem Willen und Liebe verteidigen würde – ein. Und zum
ersten Mal seit langem träumte er wieder. Er träumte von seiner Familie,
bestehend aus: May, Caroline und dem Jungen (welchen er in seinem Traum Liam
nannte, da er nie seinen Namen erfragt hatte). Selbst, wenn der Traum so realistisch und so unfassbar erschien, so erhoffte er sich eines Tages, jene in seinem Kopf geborene Fantasie für die Ewigkeit in Wirklichkeit um zu wandeln und seiner Herrin, jene die ihn und seine Seele manipuliert und verdorben hatte zu entfliehen…
Ende
() 20:41, 1. Nov. 2017 (UTC)
Danksagung
Auch wenn das Ende jetzt nunmehr offen ausfällt und es auch für mich neu war so etwas zu versuchen, möchte ich es mir doch nicht nehmen, mich bei allen zu bedanken, die mich während dieser Reihe unterstützt haben.
Ein ganz herzliches Dankeschön an: Vanum, für die Suche nach einem passenden und guten Titel meiner Reihe! ^^
Rookie, für all das fleißige Korrekturlesen, auch wenn sich die Kapitel von Mal zu Mal immer länger zogen… 😉
Und nicht zuletzt ein ganz großes Dankeschön an all meine Leser und Leserinnen, die meine Reihe bis hierhin verfolgt haben und (hoffentlich) auch das offene Ende genossen haben!
Ihr seid die größten!!!
Ganz liebe Grüße!!!
Rose