MicroMordSehr Lang

Ashes to Ashes Kapitel 7

Was hier passiert: Schritte rückwärts sind immer noch Schritte

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Teil 7.1

Hinter mir steht das Fenster weit offen. Kühler Wind bringt die Vorhänge zum Flattern, trägt frische Luft und den Geruch von Weichspüler mit sich. Ich streiche über die Decke auf dem Bett unter mir und höre dem Vogelgezwitscher draußen zu.

Vor mir sitzen Elias und Red, im Schneidersitz vor einem kleinen Haufen Karten. Mit ihnen fühlt sich das kleine Zimmer im Jugendheim wie ein Zuhause an.

„Es tut mir Leid, Nona“, sagt Red heiser, „Ich war zu langsam.“

Ich sehe von meinen Karten hoch, rutsche vom Bett auf den Boden und setze mich im Schneidersitz neben ihn. „Was laberst du?“

„Ich hab überall nach dir gesucht“, sagt er, nimmt meine Hand und drückt sie sanft, „Ich hab nie geglaubt, dass du gestorben bist, Nona.“

Ich will meine Hand zurückziehen, doch mein Arm versagt mir den Dienst. „Das ist nicht lustig.“

Seine Augen sind groß und traurig und schuldig. „Ich war im Obdachlosenheim, in dem du eine Weile gelebt hast“, sagt er langsam, „Aber du hast dich nicht dokumentieren lassen. Niemand hat was von dir gesagt.“

Meine Zunge ist trocken. Langsam verstehe ich, wovon er redet, doch ich will nicht, dass es Sinn macht. Ich will mich nicht erinnern.

„Das reicht“, sage ich mit zitternder Stimme und zerre an meinem Arm, der sich nicht bewegen will.

Red drückt meine Hand fester. „Wir haben gedacht, du bist in dem Waldbrand umgekommen“, flüstert er, „Und dann haben wir diese Zeitung gefunden, und du warst in dem Bild so… verletzt.“

„Mir geht’s gut, Red“, sage ich laut, doch meine Stimme verlässt meine Kehle nie.

„Elias hat gedacht, dass dich diese Explosion umgebracht hat. Und dann… sechs Jahre…“ Tränen sammeln sich in seinen Augen. „Ich habe nie ganz aufgegeben“, flüstert er, „Nie. Ich hatte immer Hoffnung, dass du dort draußen warst. Aber jedes Mal, wenn ich dich gefunden habe… Ich war zu spät. Es tut mir Leid.“

Meine Kehle wird eng. „Mir tut es auch Leid, Red.“

Meine Finger schließen sich um nichts. Red ist aufgestanden und geht zur Tür.

„Warte“, sage ich hastig. Er dreht sich nicht um. Ich kann mich nicht bewegen. Wieso kann ich mich nicht bewegen?

Ich spanne alle meine Muskeln an. Langsam, als würde der Raum um mich selbst mich zurückhalten wollen, komme ich auf die Beine.

„Red!“, schreie ich, doch der Laut wird von der Luft verschluckt. Ich strecke meine Hand nach ihm aus, will nach ihm greifen, ihn festhalten.

Die Tür fällt ins Schloss.

Meine Augen reißen auf, meine Hand hängt leer im Nichts. Kalte Luft strömt durch meine Kehle in meine Lunge, mein Brustkorb hebt und senkt sich hastig. Erst als meine Hand wieder zurück auf das Bett fällt, ich rauen, widerspenstigen Stoff spüre und Desinfektionsmittel rieche, verstehe ich, dass ich alleine bin, und dass das Jugendheim vor Jahren verbrannt ist.

Das Zimmer vor mir ist schrecklich leer. Außer einem Infusionsständer und dem Bett, auf dem ich sitze, hängt nur ein Schränkchen an der gegenüberliegenden Wand. Der abgenutzte Fliesenboden reflektiert unangenehm das Licht, das durch ein Fenster zu meiner Rechten fällt. Es ist bleich und kühl— die Art von Licht, die es nur an einem Tag gibt, der gleichzeitig kalt und wolkenfrei ist. Die Stille ist vollkommen und hat ihre Hände auf meine Ohren gelegt. Alles ist gedämpft, als wäre mein Kopf in Watte gepackt.

Ich sehe an mir herunter; ein Krankenhaushemd hat meine Kleidung ersetzt. Langsam streiche ich darüber, dann über die Decke, die über meinen Knien liegt. Es fühlt sich unwirklich an.

Wo sind die Schmerzen?

Meine Glieder werden schwer und kalt. Bleiartige Panik läuft meine Kehle hinunter in meinen Magen. Ich hebe eine gewalttätig zitternde Hand an meine Wange und berühre leicht meine Haut— sie ist rau, mit Kratern und Hügeln versäht, Schorf von meiner Augenbraue bis zur Wange und vom Ohr zur Nase. Keine Schmerzen, auch als ich dagegen drücke und etwas unter meinen Fingern brechen spüre.

Ich sollte Schmerzen haben. Mein ganzes Gesicht sollte in Flammen stehen, meine Kehle sollte brennen, doch alles ist taub und weit entfernt. Selbst der Hunger und der Durst, die sich in meinem Magen und an meine Zunge gelegt haben, sind bloß ein Echo von dem, was sie sein sollten.

Sind meine Nerven verbrannt? Ich versuche, die Mundwinkel zu heben, doch ich kann nicht spüren, ob es funktioniert.

Ein Bild drängt sich vor mein inneres Auge; mein eigenes Gesicht, mit einem zu großen Grinsen, Haut, die sich verzerrt und schmilzt wie Wachs. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter und ich kneife die Augen zu, um es zu verdrängen, doch an der Rückseite meiner Augenlider wartet nur dieselbe Fratze von Nicht-Ich, die genüsslich beobachtet, wie ich in Einzelteile zerfalle.

Ein müdes Auge, blutunterlaufen, tief gerahmt von einem Augenring. Auf der anderen Seite aufgequollene, gelbliche Haut, teils aufgerissen, begleitend der Geruch meines eigenen, verbrannten Fleischs und der saure Gestank von Eiter.

Jemand packt meine Hände. Ich bemerke das Blut an meinen Fingerspitzen zuerst, dann den Schmerz in meinem Zahnfleisch, dann den in meiner Brust. Erst dann erkenne ich, wer vor mir sitzt.

„Entspann dein Kiefer“, sagt Joyce ruhig.

Meine Zähne sind so fest zusammengedrückt, dass ich Knirschen höre und Eisen schmecke. Ich reiße den Mund auf, kann aber nicht einatmen. Mein Brustkorb weigert sich, meinen Lungen Platz zu machen, und so hocke ich da und schnappe verzweifelt nach Luft.

Joyce legt ihre Hand auf meine Brust und drückt mich zurück, bis ich gegen den Kopfteil des Bettes gelehnt bin. Zwei ihrer Fingerspitzen drücken sich kurz gegen meine Halsschlagader.

„Es ist gleich vorbei“, sagt sie.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, ich habe gerade einen Herzinfarkt. Ich will nicht einmal damit anfangen, meinen Puls auszuzählen.

Joyce‘ Hand bleibt flach auf meiner Brust, ihre Fingerspitzen zwischen meinen Schlüsselbeinen. Sie nimmt meine Hand und legt sie auf ihre eigene Brust. Dann atmet sie tief ein, und langsam wieder aus.

Ich zwinge mich dazu, ihr zu folgen. Zwar habe ich das Gefühl, dabei zu ersticken, aber mit einigen Mühen wird aus dem Keuchen ein schnelles, aber stetiges Atmen. So schnell ich kann reiße ich mich zusammen.

Sobald ich wieder klar denken kann und der Schmerz in meiner Brust sich nicht mehr so anfühlt, als würde ich sterben, überschwemmt mich eine Welle Verlegenheit. Ich will mich entschuldigen, doch als ich Sprechen möchte, gibt etwas in meiner Kehle nach und statt Worten ertönt nur ein hohles Krächzen. Es kratzt schrecklich und ich bekomme einen Hustenanfall.

„Langsam“, sagt Joyce, greift nach etwas, das neben dem Bett auf dem Boden steht und legt mir eine Wasserflasche in die Hand. Erst jetzt wird mir klar, wie trocken mein Mund wirklich ist, und ich leere gierig die gesamte Flasche. Meine Kehle fühlt sich immer noch eng und heiß an.

Joyce kramt wieder in einer Tüte, von der ich nur annehmen kann, dass sie sie mitgebracht hat, und reicht mir einen Schreibblock mit Stift. „Du solltest deine Stimmbänder eine Weile nicht benutzen.“

Als hätte ich eine andere Wahl. Selbst wenn ich es versuchen würde, habe ich keine Stimme dafür.

Tut mir Leid. Ich weiß nicht, was das gerade war, schreibe ich auf den ersten Zettel und halte ihn Joyce hin. Sie wirft mir nur einen tief mitleidigen Blick zu und schüttelt den Kopf. Ich mache mir eine geistige Notiz, mich so nie wieder erwischen zu lassen.

Joyce wendet sich höflich ab, um mich mit meiner Verlegenheit kurz allein zu lassen, und beginnt, den Rest der Tüte auszuräumen. Mein Blick wandert zurück hinunter auf die Bettdecke, auf das Krankenhaushemd, dann fällt mir ein Fleck Farbe ins Auge.

Ein Plüschtier liegt halb zugedeckt neben meiner Hüfte, als hätte ich es liegend im Arm gehalten. Ich hebe die rote Eidechse auf und schnuppere daran— Weichspüler und irgendetwas holziges, erdiges.

Reds Stimme hallt in meinem Kopf. Es tut mir Leid, Nona.

Wieder ziehe ich in Erwägung, Valentin und Joyce zu fragen, ob sie wissen, wo Red ist— jetzt stehe ich ohnehin in ihrer Schuld, da macht eine weitere Personensuche nichts weiteres aus.

Ich verwerfe die Idee genauso schnell wie ich sie hatte. Wie kann ich nur an so etwas denken? Ich sollte mich schämen. Endlich bin ich einen Schritt weiter, endlich näher daran, Anton Leidinger zu töten, und jetzt lasse ich mich von solchem Mist ablenken. Rache wartet nicht.

Aber ich vermisse meine Freunde.

Es fühlt sich falsch an, das zu ignorieren. Wieso will ich mir verbieten, sie wiederzufinden? Und was habe ich mir all die Jahre noch verboten, weil ich mir eingeredet habe, keine Zeit dafür zu haben?

Jetzt wo ich ohnehin hier feststecke, bis mein Gesicht verheilt ist, kann ich zum ersten Mal klar darüber nachdenken. Ich will Red und Elias finden und mich bei ihnen entschuldigen, egal ob sie mir vergeben oder nicht. Ich will Quinn und Thana wieder sehen. Erna und Martha finden, mich bei ihnen bedanken und entschuldigen. Ich will mein Zuhause und die Gräber meiner Familie besuchen.

Wie lange ist es her, seitdem ich es mir erlaubt habe, so viel zu wollen?

Anton Leidinger kann warten, bis ich mein Familie wiederhabe. Er kann nachher immer noch sterben.

„Wir haben unser Bestes getan, aber wir waren uns nicht ganz sicher, wie wir dich behandeln sollten“, fangt Joyce plötzlich an. Ich lege die Eidechse, die ich kurzerhand Red Junior getauft habe, auf die Matratze und wende mich ihr zu.

„Du warst für eine Weile eiskalt und bewusstlos. Dann ist deine Temperatur wieder gestiegen, was eigentlich gut war, aber dann hattest du zweiundvierzig Fieber und nichts hat deine Temperatur wieder gesenkt“, erklärt sie weiter.

Ist das viel?, schreibe ich und halte ihr den Block hin.

Sie lächelt, doch es sieht unruhig aus. „Leute sterben bei der Temperatur normalerweise.“

Meine Augen weiten sich.

„Wir nehmen an, dass es mit deinen Kräften zu tun hat“, sagt sie, und unterbricht sich selbst, „Val und ich. Also haben wir gemessen. Du hast eine durchschnittliche Körpertemperatur von vierzig bis einundvierzig Grad, so als hättest du die ganze Zeit Fieber.“

Ich schreibe, War ich deshalb bis jetzt nie krank?

Joyce zieht interessiert die Augenbrauen hoch. „Kann sein. Durch den Schock ist deine Körpertemperatur gesunken. Dann hat sich die Infektion eingenistet, was deine Energie aufgebraucht hat, weshalb dir kalt war…“ Sie verliert sich im Gedanken.

Neugierig hebe ich die Hand wieder zur Wunde. Das reißt Joyce aus ihrer Trance und sie schnappt mein Handgelenk, bevor ich dazu komme. „Nicht anfassen.“

Ich lächle entschuldigend.

Sie betrachtet mein Gesicht und sieht dabei miserabel aus. „…wir mussten dein Auge entfernen.“

Einen Moment ist es zwischen uns still, dann schreibe ich, War es das blinde?

Sie liest es und lacht. Ein kleiner Teil der Spannung, die in ihren Schultern liegt, fällt ab.

Es hätte schlimmer kommen können, nehme ich an. Es hätte das andere sein können. Dieses Auge war vorher schon blind, also muss ich mich nicht frisch daran gewöhnen, keine Tiefenwahrnehmung zu haben. Ich erschaudere bei dem Gedanken, wie lange ich gebraucht habe, bis ich wieder normal Papierbälle in Mülleimer werfen konnte. Bis heute bin ich nicht sonderlich gut in Sachen Genauigkeit.

Joyce besieht die verletzte Seite meines Gesichts genau und lächelt zufrieden. „Meine Ärzte haben gute Arbeit geleistet. Ist nicht jeden Tag, dass man ein Auge entfernen muss, wenn man normalerweise nur Kugeln aus Gangstern zieht.“

Deine Ärzte? Das alles hier gehört dir?, schreibe ich.

Sie nickt. „Eigentlich Val und mir, aber er weiß, dass er hier nichts zu sagen hat“, sagt sie mit einem fiesen Grinsen. Ich kichere, soweit es meine Stimmbänder zulassen.

„Größtes Untergrundkrankenhaus in der ganzen Stadt“, sagt sie stolz, und fragt mich dann vorsichtig, „Brauchst du irgendwas?“

Ich überlege einen Moment lang, dann schreibe ich, Drogen.

Sie verdreht ihre Augen und wirft mir zwei Dosen Pillen entgegen, die ich beide zu fangen versuche, und beide verfehle. Ich hebe sie aus meinem Schoß auf. Vicodin, steht auf der einen Dose, Amoxicillin auf der anderen.

„Das eine ist ein Antibiotikum, das andere Schmerzmittel“, erklärt Joyce, „Ich kann dich jetzt abzapfen, und du kannst stattdessen Tabletten nehmen, oder du—“

Ohne zu Zögern halte ich ihr meinen Arm hin. Seitdem ich vor sieben Jahren aufgewacht bin, hasse ich Krankenhäuser und hätte lieber Schmerzen, als noch einen Tag hier drin zu verbringen.

Joyce grinst. „Braves Mädchen“, sagt sie, nimmt einen Tupfer, hält ihn gegen meinen Arm und zieht die Infusion heraus. „Du nimmst morgen eine Pille Amoxicillin, und dann jeden Tag zur selben Uhrzeit noch eine, bis die leer sind. Von den Vicodin nimmst du welche, sobald du Schmerzen hast. Wenn ich herausfinde, dass du sie schnupfst, trete ich deinen Arsch zurück auf die Straße raus.“

Ihr Ton ist witzelnd, verrät aber, dass es bestimmt schon einmal passiert ist.

Ich sehe sie skeptisch an, nehme den Block und schreibe, Leute schnupfen den Scheiß?

„Leute schnupfen Backpulver, wenn du ihnen sagst, es macht sie high“, sagt sie.

Vorsichtig winkle ich die Beine an, schiebe sie vom Bett und lasse sie hängen, bis das Kribbeln in meinen Füßen vergeht. Ich presse beide fest auf den Boden, dann stehe ich langsam auf und strecke mich durch. Meine Schultern, Knie und Knöchel knacken hörbar.

Ich nehme mir Zeit, jeden einzelnen Muskel zu spüren, von meinen Zehenspitzen bis zum Gesicht. Verspannt bin ich, doch die Schmerzen bleiben weiterhin aus. Insgeheim frage ich mich, wie viel Muskelmasse ich insgesamt im Koma verloren habe.

Joyce hält mir einen Stapel Kleidung entgegen. Es ist andere als die, die ich anhatte, als ich bei den Zwillingen hereingeplatzt bin, neu und frisch gewaschen; zusätzlich zu einer Hose, einem Shirt, einer flauschigen Weste, Unterwäsche und ordentlichen Stiefeln, finde ich noch ein Telefon in dem Haufen. Als ich es einschalte, finde ich die Nummern von Valentin, Joyce, Glitzer, Nicky und Soren gespeichert. Ich lächle unwillkürlich, lege es beiseite und ziehe mich um.

Alles sitzt verdächtig gut. Ich gehe auf die Zehenspitzen, um die Sohlen der Stiefel zu dehnen, sehe an mir herunter, streiche langsam über den Stoff. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal neue Kleidung anhatte. Es fühlt sich beinahe verschwenderisch an— hätte Joyce mir meine alten Sachen mit Nadel und Faden gebracht, hätte ich sie bestimmt nähen können. Trotzdem ist es angenehm.

Sobald ich fertig angezogen bin und das Telefon eingesteckt habe, hält mir Joyce schon wieder etwas hin, dieses Mal ein Paar fingerlose Handschuhe und eine hautfarbene Skimaske. Beide sehen aus, als wären sie mir zu klein. Ich hebe sie hoch und sehe Joyce fragend an.

„Die Maske ist gegen Keloide“, sagt sie, und stoppt sich selbst, als ich nur noch verwirrter dreinsehe. „Narbenbildung“, erklärt sie und deutet auf mein Gesicht, dann auf die Handschuhe. „Die sind gegen die Schmerzen.“

Ich nicke dankbar, ziehe die Handschuhe an, lasse aber die Maske. Kurz ziehe ich in Erwägung, Joyce zu fragen, woher sie weiß, dass ich Schmerzen in den Händen habe, lasse es dann aber sein.

Joyce beobachtet mich, während ich ein paar Mal im Kreis gehe, mich strecke, meine Wirbelsäule durchdrücke. Schlussendlich gehe ich zum Fenster und ziehe die Vorhänge beiseite.

Kaltes Licht flutet das Zimmer. Der Teil der Stadt, in der ich bin, kommt mir bekannt vor, aber ich bin definitiv transportiert worden, während ich bewusstlos war. Die roten Ziegel der Dächer sind mit Frost bedeckt. Die Bäume im Grünstreifen am Rand der Straße haben ihre Blätter abgeworfen, ihre Äste ragen wie knöcherne, dunkle Finger in den Himmel hoch. Nebel hat sich in den Straßen und Gassen verheddert und legt einen grauen, farblosen Schleier über alle Gebäude.

Angestrengt versuche ich mich zu erinnern, wie lange ich nach dem Zwischenfall mit Nicht-Ich herumgewandert bin. Zwei Wochen? Drei? Habe ich währenddessen bemerkt, dass es kalt geworden ist?

Ein Schauer läuft meinen Rücken hinunter. Ich kann Kälte und Nässe nicht ausstehen.

Als mich Nicht-Ich auf die Straßen geworfen hat, hat es geregnet, oder? Wie lange hat es angehalten? Bin ich wirklich bei so einem Wetter mit kurzen Ärmeln, nasser Kleidung und einer offenen Brandwunde durch die Straßen gestolpert?

Nervös schließe ich die Hände zu Fäusten und bemerke erst dann, dass meine Finger wieder taub geworden sind. Energisch kneife ich die Augen zu und wende mich von dem Gedanken ab.

Als ich meinen Blick wieder zu Joyce wende, scheint es ihr selbst auch nicht sonderlich rosig zu gehen. Während sie die Infusion auseinandernimmt und wegwirft, sind ihre Bewegungen hastig und ungewohnt ruckartig im Vergleich zu ihrer üblichen aufwandslosen Eleganz.

Ich nehme den Block vom Bett und schreibe, Ist was?

Sie liest die zwei Worte. Ihr Gesicht bleibt großteils neutral, doch ihre Augen verraten sie, voll mit Schmerz und Schuld.

„Es tut mir Leid“, sagt sie schließlich.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also bleibe ich leise.

„Ich hätte dich nie hinschicken sollen“, sagt sie langsam, wählt ihre Worte weise. „Ich dachte, dass du dort unbeschadet rauskommst. Selbst als Val mir gesagt hat, es wäre keine gute Idee. Ich hab dich weitaus… geduldiger eingeschätzt.“

Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. Ich und geduldig?

„Es war mein Fehler. Es tut mir Leid“, wiederholt Joyce.

Ich blinzle sie an. Das war so ziemlich das Letzte, was ich erwartet hätte.

Ich bin diejenige, die mein Gesicht gebraten hat, schreibe ich.

Joyce schüttelt bloß den Kopf.

Kurzerhand schreibe ich, Vergeben und vergessen. Ich hab Hunger.

Sie liest, dann lacht sie. „Mit dir kann man auch nicht diskutieren, oder?“

Ich grinse frech. Sie schaltet den Monitor ab und deutet mir, mitzukommen. „Ich hab Lust auf Chinesisch. Es gibt einen guten Laden die Straße runter.“

Mit der Maske, dem Block und der Plüscheidechse eingesteckt folge ich ihr auf den Flur hinaus. Sobald sich die Tür öffnet begrüßt uns eine Welle von Geräuschen; sich überlappende Gespräche, hastige Schritte, das Klappern von Werkzeug, das Stöhnen und schwere Atmen von Verletzten. Vor uns liegt die Quelle des Lärms, ein langes Zimmer, das provisorisch mit Vorhängen in kleinere Kammern geteilt wurde. In jeder Kammer steht ein Krankenbett, ein Infusionsständer, ein Rollkasten mit Nadeln, Skalpellen und anderem Werkzeug, und in manchen Fällen ein Monitor. Mindestens ein Dutzend Leute laufen dazwischen umher und kümmern sich um ihre Patienten. Ich finde nur ein einziges Bett, das nicht belegt ist, und zähle insgesamt etwa dreißig.

„Du bist nicht so scharf auf Autofahren, oder?“, fragt Joyce mich.

Ich schüttle den Kopf.

„Dachte ich mir. Wir gehen wir zu Fuß.“

Am anderen Ende des Saals ist eine weitere Tür, hinter der ein Treppenhaus liegt. Insgesamt laufen wir drei Stockwerke nach unten, bis wir an einer Eingangshalle mit Garderobe ankommen. Joyce nimmt einen Mantel, der nicht mir gehört, und wirft ihn mir zu.

Ich sehe sie skeptisch an und schreibe, Klauen wir gerade?

Sie grinst, schüttelt aber den Kopf. „Nein, der kommt auch von mir. Wäre Verschwendung, dich wieder aufpäppeln und dich dann erfrieren zu lassen.“

Ich strecke die Zunge heraus. Joyce spiegelt es.

Der Laden, bei dem Joyce uns Essen kauft, hat glücklicherweise eine große Karte als Poster hängen, auf das ich deuten kann, um ihr zu sagen, was ich will. Wir bestellen beide zum Mitnehmen und essen im Gehen. Als ich den ersten Hauch von dem Geruch in die Nase bekomme, verkrampft sich mein Magen um komplette Leere. Ich haue sofort rein und muss mich dazu zwingen, langsam zu essen, damit alles nicht einfach wieder hochkommt.

„Du hast Nick eine Heidenangst eingejagt“, sagt Joyce zwischen zwei Bissen, „Und sein Shirt ruiniert.“

Ich kichere kehlig und verschlucke mich beinahe.

„Wir haben uns schon gewundert, wo du warst. Ich war der Meinung, Nicht-Ich hat dich in die richtige Richtung geschickt und du bist abgehauen.“

Ich verziehe das Gesicht und schüttle den Kopf.

„Also hast du nichts herausgefunden?“

Ich wiege die Hand hin und her. Ja, ich weiß um einiges mehr, aber nichts davon hilft mir.

„Das regeln wir noch mit ihr“, seufzt Joyce.

Ich schüttle hastig den Kopf. Um ehrlich zu sein kann ich darauf verzichten, mich jemals wieder mit Nicht-Ich abzugeben.

Bis das große Portrait von Malik, das Soren auf das Garagentor gesprüht hat, hinter einer Häuserecke zum Vorschein kommt, habe ich die Schnauze voll von der Kälte. Joyce schließt auf, dann hält sie ihre Hand aus. Verwirrt stelle ich die Pappschachtel mit dem Essen hinein und gehe in das Hauptlager. Es ist überraschend leer, und außer dem Trio sitzen nur zwei weitere Leute herum.

Soren ist der erste, der mich sieht. Er muss zweimal aufsehen, bis er geistig nachkommt, dann schießen seine Augenbrauen zu seinem Haaransatz hoch, er springt auf, rennt auf mich zu und fällt mir ohne zu bremsen in die Arme. Ich stolpere rückwärts.

„Du angebrannte Bitch, wir haben gedacht, du bist verreckt!“

Glitzer wirft sein gesamtes Körpergewicht gegen uns beide und schickt uns auf den Boden. Meine Rippen knirschen unter ihren kombinierten Gewichten. Deshalb hat Joyce mir also das Essen abgenommen.

Ich lache, was in meinem Zustand eher ein atemloses Keuchen ist, und lächle so breit, dass ich echte Schmerzen in meiner Wange spüre. Es sind die besten Schmerzen, die ich jemals hatte.

„Du siehst aus wie Two-Face!“, sagt Glitzer, der sich kaum hochrappeln kann, bevor er von Soren dafür eine auf den Hinterkopf bekommt.

„Schön, dich wiederzusehen“, höre ich Nick sagen, bevor er mich unter den Achseln nimmt, mühelos hochhebt und in eine knochenknirschende Umarmung schließt. Ich patsche ihm mit der flachen Hand auf den Rücken.

Über seine Schulter hinweg kann ich die Waffen des Trios sehen, die auf den Tischen verstreut liegen. Messer für Glitzer, Pistolen für Soren, ein Baseballschläger, in den eine beeindruckende Anzahl von Nägel gehauen wurde, für Nick. Alle davon sind in irgendeiner weise dreckig oder benutzt.

Ich löse mich aus Nicky’s Umarmung und kritzle hastig auf einen Zettel, Sorry wegen deinem Shirt.

Nick liest es, dann ein zweites Mal. „Du hast eine Sauklaue, Nona.“

Joyce verdreht die Augen. „Da steht, Sorry wegen deinem Shirt.“

Nick lacht auf. „Keine Sorge, das zieh’ ich dir einfach von deiner Bezahlung ab.“

Ich sehe ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er zieht ein Bündel Geld aus der Hosentasche, streicht über die Scheine und reicht es mir.

„Die Krankenpflege, Versorgung und Kleidung sind davon schon bezahlt worden“, sagt Joyce beschwichtigend, „Du schuldest uns nichts.“

Ich sehe die beiden nur weiter verwirrt an und nehme das Geld zögernd.

„Kocher’s Kopf war einiges wert“, sagt Nick schulterzuckend. „Nachdem wir mal bewiesen haben, dass du ihn umgelegt hast…“

…Richtig. Wenn Andreas ein Boss war, dann war Geld auf seinen Kopf ausgesetzt. Sein Blut klebt an meinen Händen. Das bedeutet, dass ich sein Kopfgeld bekomme. Und, dass Valentin gelogen hat. Wusste ich doch, dass Siebenhundert für ihn zu niedrig ist.

„Wieso hast du Nick das Geld holen lassen?“, fragt Glitzer Joyce beleidigt.

„Weil ihr beide blöden Scheiß kaufen würdet. Oder es verwetten würdet. Wahrscheinlich an mich“, sagt Nick.

Glitzer atmet auf und legt die Hand an die Brust, aber bevor er zu Wort kommt, unterbricht ihn Nick. „Wie ist die letzte Wette gelaufen?“

„Wette? Welche Wette?“, unterbricht Soren sie.

„Wann du endlich die Eier hast und Malik nach einem Date fragst.“

„Wir sind nicht— Ich bin nicht— Ach, halt’s Maul.“

Ich bekomme ihre Unterhaltung nur am Rand mit, meine Gedanken sind woanders. Was wäre passiert, wenn ich Kocher nicht getötet hätte? Ich stünde in ihrer Schuld, und sie hätten ihre Waffe bekommen.

Wenn ich Kocher nicht getötet hätte, hätte ich Valentin und Joyce ohnehin nie kennengelernt, erinnere ich mich selbst, doch der zynische Teil in mir will nicht lockerlassen. Sie haben mich weggeschickt, in eine Situation, von der sie wussten, dass sie wahrscheinlich schiefläuft, und haben mich dann davon gerettet. So einfach steht Valentin nicht mehr in meiner Schuld. Ich habe wirklich gedacht, die Zwillinge sind besser als das.

Oder gehofft, denke ich, und schüttle den Gedanken sofort ab.

Nat hatte recht.

Ich lasse meinen Daumen über den Rand der Geldscheine gleiten. Vielleicht reicht das Geld zumindest, um Joyce und Valentin dafür zu bezahlen, Red zu finden? Wenn er wirklich so mysteriös und geheimnistuerisch ist, wie Nat es behauptet hat, wahrscheinlich nicht. Wäre es einfacher, nach Elias zu suchen?

„Nona?“

Ich zucke beinahe zusammen. Nick sieht mich mit besorgtem Blick an und ich realisiere erst jetzt, dass ich die einzige bin, die nicht lacht.

Schnell winke ich ab. Ich hole den Schreibblock aus der Tasche und schreibe, Bin nur müde.

Joyce klopft mir auf den Rücken. „Geh dich hinlegen. Selbes Zimmer wie letztes Mal, deine Sachen sind schon drin.“

Ich bringe gerade noch so ein Lächeln zustande, dann drehe ich mich weg und gehe, bevor mein Gesichtsausdruck nachgibt.

Tagsüber sind weniger Leute in der Basis. Der kleine Flur, an dem die ganzen Schlafzimmer liegen, ist menschenleer und leise. Ich erinnere mich nicht mehr daran, in welchem Zimmer ich vor meiner Reise zu Nicht-Ich geschlafen habe, also gehe ich eines nach dem anderen durch, wobei die meisten verschlossen sind, bis ich meinen Rucksack in der Ecke stehen sehe. Der kleine Rahmen mit dem Foto und das Taschenmesser, das Quinn mir geschenkt hat, liegen davor auf dem Boden.

Ich lasse mich auf die Knie fallen, hebe das Foto auf und lasse zum gefühlt tausendsten Mal meinen Blick über die lächelnden Gesichter meiner Familie schweifen. Tief seufzend senke ich meine Stirn gegen das kalte Glas.

Fast wäre ich bei ihnen gewesen…

Hinter mir ertönt ein Räuspern. Dieses Mal zucke ich wirklich zusammen, rapple mich hastig auf und stecke das Foto ein. Es ist mir beinahe peinlich, bis ich sehe, wer vor der Tür steht. Er schon wieder…

Valentin’s Lächeln wird kurz breiter. „Schön, dich wieder auf den Beinen zu sehen.“

Missvertrauen, Genervtheit und Frustration verdrängen die Verlegenheit. Prompt gehe ich an ihm vorbei, den Flur entlang, weg von Joyce und dem Trio und hoffentlich auch ihm.

Valentin scheint es als Aufforderung zu nehmen, mir zu folgen. Ich kann ihn nicht wirklich davon abhalten, immerhin gehört die Basis ihm.

„Wir haben während du weg warst mit der Suche nach Leidinger aufgehört, in dem Fall, dass dich Nicht-Ich in die richtige Richtung geschickt hat“, sagt er, als wäre es Smalltalk.

Ich nicke kurz angebunden. Am Ende des Flurs liegt eine Hintertür, und ich beschließe kurzerhand, dass ich frische Luft brauche. Sie führt in eine dreckige kleine Seitengasse. Die Kälte schlägt mir in einer Wand aus eiskaltem Wind entgegen, doch ich gehe trotzdem raus, in der Hoffnung, dass Valentin drin bleibt. Vergeblich.

„Wir können wieder damit anfangen, wenn du möchtest“, sagt er.

Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht, nehme den Block wieder aus der Tasche und schreibe hastig, Und was würde mich das Ganze kosten? Erst dann bemerke ich, dass mein Kiefer angespannt ist.

Valentin bedenkt mich mit einem Blick, der für meinen Geschmack zu neutral ist. „Gar nichts.“

Bullshit.

Irgendetwas muss er planen. Es macht keinen Sinn, dass er mir hilft, ohne Rückzahlung zu verlangen. Ich weiß von seinen eigenen Worten, dass er mich als Waffe haben will— und das sehr, sonst hätte er mir nicht das Leben gerettet— und trotzdem nimmt er keine der Möglichkeiten, die sich ihm bis jetzt geboten haben.

Wie oft hätte er mich in seine Schuld stellen können? Zwar habe ich ihm das Leben gerettet, doch die Suche nach Leidinger war der Ausgleich dafür. Dann bietet er mir einen Schlafplatz an, dann bringt er mich zu Nicht-Ich, und als ich daran fast verreckt bin, rettet mir Joyce das Leben. Noch dazu bringen sie mir Kocher’s Kopfgeld, das ich selbst vergessen hätte. Soll es Instinkt sein, aber ich weiß einfach, dass er etwas damit zu tun hatte. Nicht nur musste er den Auftraggeber überzeugen, dass ich Kocher‘s Blut an den Händen habe, sondern auch, dass er das Geld verlässlich zu mir bringen würde.

Ich will etwas stark formuliertes auf den kleinen Schreibblock kritzeln, und ärgere mich währenddessen darüber, dass meine Stimme nicht funktioniert, doch als ich die ersten Worte geschrieben habe, Glaubst du wirklich, dass ich so blöd bin und, sehe ich zu Valentin auf, nur um zu überprüfen, ob er mir dabei über die Schulter linst.

Sein Lächeln ist sanft.

Ich zögere und bin deswegen genervt von mir selbst. Sein höfliches Getue und das ständige Grinsen sollten bei mir nicht funktionieren.

Dann wiederum, hat Joyce nicht gesagt, dass Valentin mich nie zu Nicht-Ich gehen lassen wollte? Soweit ich es mitbekommen habe, war er wirklich nie von der Idee begeistert. Außerdem hat mir seine Schwester gerade das Leben gerettet. Und es wäre rotzfrech, mich nach allem, was die beiden für mich getan haben, zu beschweren.

Seufzend reiße ich die Seite weg und schreibe stattdessen Danke.

Valentin liest es, ohne sichtbar darauf zu reagieren, und dreht sich weg. „Selbst in Schrift bist du eine schreckliche Lügnerin.“

Trotz des kalten Winds spüre ich, wie meine Wangen heiß werden.

„Alles, was du denkst, spiegelt sich direkt auf deinem Gesicht wieder.“ Er lacht leicht. „Ich mag’s.“

Ich verdrehe die Augen, muss aber unwillkürlich lächeln.

„Du hast alle Zeit der Welt, um dich zu entscheiden. Im Moment ist es am Besten, wenn du dich ausruhst.“ Er steht auf und hält mir die Tür auf. „Und bitte tu nicht so, als würdest du gerne in der Kälte sitzen.“

Eines muss ich ihm lassen, er ist gut. Ich gebe klein bei, stehe auf und gehe wieder hinein. Erst als ich an meinem Zimmer ankomme, bemerke ich, dass mir Valentin nicht gefolgt ist.

Ich gehe daran vorbei, den Flur hinunter zu dem kleinen Badezimmer, das sich scheinbar alle, die hier wohnen und schlafen, teilen. Sobald die Tür aufgeht erinnere ich mich scharf, wieso ich vor dem Besuch bei Nicht-Ich lieber ein Zimmer gemietet habe, als das hier zu benutzen; es stinkt höllisch, auf den Fliesen kleben überall Haare, das Waschbecken war vielleicht einmal weiß und hat jetzt eine gelbliche Farbe angenommen. Ich rümpfe die Nase, öffne das kleine Fenster neben der Dusche und lasse das Wasser heiß laufen, bis es dampft, dann stelle ich mich darunter.

Erst kümmere ich mich um das klebrige Zeug, das noch von den Pflastern der Infusionen übrig ist. In meinen Armbeugen sind mittlerweile so viele kleine Narben von Schläuchen und Nadeln, dass es aussieht, als hätte ich dort Sommersprossen. Zufrieden bemerke ich, dass meine Muskeln nicht wirklich gelitten haben. Trotzdem sollte ich mich mal wieder ums Krafttraining kümmern.

An den Knien hängt noch ein wenig Schorf von meinem Fall auf die Straße als mich Nicht-Ich rausgeworfen hat. Ich hocke mich hin und kratze, bis alles davon weg ist, auch wenn ich dadurch wieder blute. Dabei finde ich auch die kleine Narbe an meiner Hüfte, wo sich die zerbrochenen Teile des Telefons in meine Haut gegraben haben.

Meine Hände wandern von meiner Hüfte zu meinem Gesicht, und ich wasche vorsichtig dort, wo ich noch Haut habe. Schließlich strecke ich meine Arme aus, beobachte meine Hände, strecke und kräusle meine Finger. Mit dem Daumen der Rechten ziehe ich die Ränder der Brandnarben an der Linken nach.

Mama hatte dieselben.

Bis ich aus der Dusche steige, ist das Warmwasser aufgebraucht. Ich wickle mich in ein Handtuch, versuche die dreckigsten Teile des Bodens zu vermeiden, stelle mich vor das Waschbecken und wische den vernebelten Spiegel ab.

Die Brandwunde hat begonnen, zu verheilen. Sie ist immer noch wund und rosa, doch sie eitert nicht mehr. Der Ausschlag, der sie umrundet hat, ist zurückgegangen.

Dort, wo früher mein rechtes Auge war, ist nun eine leere Höhle. Interessiert ziehe ich meine Wange etwas hinunter, um einen besseren Blick hinein zu bekommen. Das Innere ist fleischig rosa und von Blutgefäßen durchzogen.

Mein Spiegelbild grinst mich an, zu breit für mein Gesicht. Ich zucke zurück und blinzle, doch nur ein Auge starrt zurück, genauso verängstigt, wie ich es bin.

Ich verziehe verärgert das Gesicht und werfe das Handtuch über den Spiegel.

Teil 7.2

„Du schon wieder.“

Ich halte die Hand aus. Der Funke windet sich durch die Schwärze, setzt sich auf meine Handfläche und wächst. Aus der Flamme ein Feuer, aus dem Feuer Finger, aus den Fingern eine Hand. Sie wickelt sich um mein Handgelenk, und dahinter wächst ein Arm, ein Körper, ein Kopf.

Zwei Münder reißen inmitten der Flammen auf. Sie sprechen; die Stimmen scheinen von der Innenseite meines Kopfes zu kommen.

„Ich freue mich, in Ruhe mit dir zu sprechen.“

Das Wesen ist dasselbe, das ich während dem Kampf mit den Kopfgeldjägern gesehen habe, dasselbe, das ich damals in den Flammen gesehen habe, die mein Zuhause verschlungen haben, und dasselbe, das mich seit Jahren in meinen Träumen verfolgt.

„Was bist du?“, frage ich.

„Ihr nennt mich viele Namen“, sagt es langsam, „Nanntet mich Gott, Teufel und Dämon, Satan, Okikurumi, Pele, Flereous, Ra, Ebo, Nay-Angki, Agni…“ Es legt den Kopf schief. Beide Münder verziehen sich. Wenn ich raten müsste, dann würde ich glauben, es lächelt, doch es ist durch die flackernden Schemen schwer festzustellen. „Doch ich habe keinen Namen“, säuselt es, „Ich bin das Feuer, das durch dein Blut fließt, die Flamme, die auf deiner Zunge lebt, das Glühen in deiner Kehle. Ich war da, als du aus der Asche stiegst, und werde da sein, wenn du zu ihr zurückkehrst.“

Ich blinzle. „Tim.“

„…was?“

„Hey, du hast gesagt, dass dir Menschen so viele Spitznamen gegeben haben, da schadet noch einer nicht. Und ich nenn meinen Narrenkasten-Freund sicher nicht Satan oder Agni, was bin ich, ein vierzehnjähriges Goth-Kind?“

Das Bild von Valentins Goth-Phase drängt sich vor mein inneres Auge und ich muss lachen.

Tim schließt beide Münder, seine Flammen werden dünner und es löst sich ins Nichts auf.

„Ach, komm schon!“, rufe ich, doch der Traum entwirrt sich bereits. Als ich aufwache, grinse ich noch immer.

Ein spitzer Blitz Schmerz raubt mir die Freude. Ich drücke meine Hand auf die linke Seite meines Gesichts und beiße fest die Zähne zusammen. Die Druckmaske schmerzt höllisch; trotzdem habe ich mich selbst gezwungen, sie den ganzen Tag zu tragen, und habe sie anbehalten, als ich zu Bett gegangen bin. Anscheinend bin ich über Nacht an meine Grenzen gekommen. Ich ziehe sie ab und kneife die Augen zusammen, bis ich bunte Formen an der Rückseite meiner Lider sehe.

Obwohl der Druck auf der verschorften Wunde nun weg ist, bleiben die Schmerzen. Dieselben, die mich nun seit etwa drei Wochen verfolgen, dieselben, die mich beinahe jede Nacht aus dem Schlaf reißen.

Es fühlt sich verdammt komisch an, nach so langer Zeit einen festen Schlafplatz zu haben. Manchmal erwische ich mich selbst, wie ich mir ausrechne, wie viele Nächte in einer Gaststätte ich mir leisten könnte. Seltsamerweise ist es auch einengend, immer wider zum selben Haus zurückkommen zu müssen. Ich bin es gewohnt, einfach aus Lust und Laune weiterzuziehen. So einfach ist es jetzt nicht mehr, auch wenn ich immer noch alle meine Habseligkeiten mit mir herumtragen könnte.

Vorsichtig betaste ich meine Wange unter meinem linken Auge. Mein Gesicht ist immer noch etwas geschwollen, doch mit jedem Tag verheilt die Brandwunde etwas mehr, die Schwellungen gehen zurück, ich kann meinen Mund normal bewegen— nur die Schmerzen bleiben.

Ich greife zur Pillendose. Vic steht noch darauf, der Rest des Etiketts ist abgekratzt. Eine Weile rolle ich sie zwischen den Händen, höre dem Rattern der Pillen zu, kratze das C auch noch ab, dann stecke ich sie ein. Bis heute habe ich keine einzige davon genommen. Ich weiß nicht genau, was mich davon abhält, aber etwas aus meiner Vergangenheit, etwas, an das ich mich noch nicht wirklich erinnern kann, warnt mich davor.

Stattdessen greife ich nach den Druckhandschuhen und ziehe sie über. Sie wirken Wunder, und nach nur wenigen Sekunden sind die Spannungsschmerzen in meinen Händen kaum noch spürbar.

Kurz sitze ich im Dunkeln, erwäge, ob ich so überhaupt schlafen kann, beschließe dann, dass ich in der kleinen Kammer nicht bleiben kann, und ziehe mich um.

Die typische nächtliche Stille, die in anderen Gebäuden bei Dunkelheit herrscht, fehlt hier im Stützpunkt. Jede Stunde des Tages ist jemand wach, meist mehrere Leute, quatschen, spielen Kartenspiele oder kämpfen sich mit Filmen und Spielen durch eine Nachtschicht. In den Hinterzimmern sind all die Geräusche jedoch gedämpft, wofür ich dankbar bin.

Ich gehe zum provisorischen Wohnzimmer und erwische eine Stimme, die zu laut ist, um aus dem Hauptlager zu kommen.

„Natürlich.“ Kurz Stille. „Wirklich? Faszinierend.“ Wieder einige Sekunden. „Ja.“

Während der nächsten Pause verstehe ich, dass es Valentin ist, und dass er telefoniert. Ich spähe in das Wohnzimmer hinein und beobachte ihn dabei, wie er am Ende des Zimmers hin- und hergeht und schließlich mit dem Rücken zu mir stehenbleibt, sein Blick aus dem Fenster gerichtet.

„Oh, natürlich. Aber es ist keine große Sache, wirklich… Nein, nennen wir es einen Gefallen.“

Seine Stimme ist seltsam. Die letzten Wochen habe ich ihn oft so gesehen und gehört, am Telefon mit jemandem, der bestimmt schrecklich wichtig ist. Jetzt, wo er jedoch nicht von dem Gequassel seines inneren Kreises umgeben ist, ist es schrecklich offensichtlich: Er klingt wie Plastik, künstlich und hohl. Es erinnert mich etwas an die Rede eines Politikers. Fehlerlos, höflich, elegant und zu perfekt, um echt zu sein.

„Das freut mich!“, sagt er laut, und ich kann das Lächeln aus seiner Stimme heraushören. „Ich verstehe. Ja, ich kann mir denken, dass man um diese Uhrzeit nicht wach sein möchte.“ Er lacht. Es klingt falsch. Wieder vergehen einige leise Sekunden.

„Viel Glück. Wir hören uns“, sagt er, legt auf, und steckt sein Telefon wieder ein. „Guten Morgen.“

Kurz stehe ich verloren da, dann realisiere ich, dass er mit mir spricht, und mir läuft es kalt auf. Ich gehe ins Wohnzimmer, winke ihm und frage mich insgeheim, wie und wann er mich bemerkt hat.

Valentin setzt sich an den Tisch, stützt seine Ellbogen auf, verschränkt seine Finger und lehnt sein Kinn auf seine Handrücken. Ich setze mich ihm gegenüber. Auf dem Tisch liegt eine Ansammlung von verschiedenen Karten; U-Bahn- und Zugkarten, Straßenkarten, einige von spezifischen Straßen. Keine Markierungen, keine Schrift, keine Notizen.

Was ist das?, kritzle ich auf den Block, der mittlerweile ziemlich voll wird, und deute mit dem Stift auf den Tisch.

Valentin sieht nicht einmal auf. „Karten.“

Ich verdrehe die Augen. Solch knappe Antworten bedeuten, dass ich aus ihm keine Info herauskriege, also frage ich, Wer war das am Telefon?

„Nur ein alter Freund von mir“, sagt er wieder ausweichend.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Einige Sekunden vergehen, in denen wir uns still in die Augen starren.

„Ich habe mir die Freiheit genommen, einige Leute zu kontaktieren, die uns bei der Suche nach Anton Leidinger helfen könnten.“

Ein bitterer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus. Zwar haben die Zwillinge mir angeboten, weiter nach Leidinger zu suchen, doch ich stecke in ständigem Zögern fest. Einerseits muss ich immer hinterfragen, ob ich in Gefahr bin, ob ich vorsichtig sein muss. Zwar scheint es so, als wollten sie mich wirklich nicht in ihrer Schuld haben, doch das macht einfach keinen Sinn.

Andererseits habe ich andere Prioritäten. Die Plüscheidechse trage ich immer noch mit mir herum. Ein Mal in meinem Leben will ich mich, das, was ich will, an erste Stelle setzen.

Selbst wenn ich wollte— Valentin wird einen Preis haben. Und wenn mich dieser Preis meine Rache oder meine Freiheit kostet…

Heiß glühende Wut setzt sich hinter meiner Zunge fest. Es ist frustrierend, dass ich ihn nicht durchschauen kann. Ständig redet er komplett verblümt, sein theatralisches Getue geht mir langsam auf die Nerven, und es stört, dass er nie einfach eine gerade Antwort gibt.

„Was genau springt für dich bei dem Ganzen heraus?“ frage ich. Meine Kehle kratzt und schmerzt und meine Stimme ist rau, doch ich habe das ständige Gekritzle satt.

Valentin zögert für einen Moment, der beinahe unmerklich ist. „Das sind Kocher’s Gebiete“, erklärt er und zieht den Finger über eine der kleineren Karten. „Ich mache generell keine Notizen. Alles Schriftliche ist ein Beweis, kann gestohlen oder kopiert werden. Es reicht, wenn ich—“

Ich schlage meine Hand hart über die Karte und stehe auf, lehne mich zu ihm hinunter, verlange wortlos seine Aufmerksamkeit.

Wenn ich eines von Nicht-Ich gelernt habe— mit Ausnahme davon, wie es sich anfühlt, die Hälfte meines Gesichts zu verlieren— dann, dass man sich nicht vom Thema abbringen lassen darf.

Valentin sieht mir ruhig und schrecklich geduldig in die Augen. Sein Blick ist durchdringend, als würde er an meiner Haut, meinem Fleisch und meinen Knochen vorbeisehen. Er legt leicht seinen Kopf schief, und diese eine Geste ist so verunsichernd, dass ich leicht zurückweiche. So einfach lasse ich mich aber nicht abwimmeln.

„Ich lasse mich nicht gerne an der Nase herumführen“, sage ich, und finde mit meiner Stimme meine Wut wieder. „Wir wissen beide, dass—“

„Du einen unglaublichen taktischen Vorteil bieten würdest“, unterbricht mich Valentin. Er blinzelt nicht. „Ja. Würdest du. Und ich hätte nichts lieber, dich Angestellte und Teil meiner Gang zu nennen. Du hast mich im Kampf gegen Kocher und seine Leute beeindruckt— auch wenn deine Taktik etwas zu wünschen übrig lässt— und ich hätte dich liebend gerne als Kämpferin.“

Endlich ist er ehrlich, und endlich blinzelt er, doch es klingt alles wie hohle, bedeutungslose Schmeichelei. Wenn er mich wirklich als Waffe haben will, würde er mir nicht ständig aushelfen, ohne etwas dafür zu verlangen. „Du benimmst dich nicht so.“

Er zieht leicht die Augenbrauen hoch. „Nicht?“

„Ja.“ Ich lache auf. „Du hattest etwa hundert Möglichkeiten, mich in deine Schuld zu stellen—“

„Könnte ich dich zwingen, für mich zu arbeiten?“, fragt er, und unterbricht mich abermals, bevor ich zur Antwort komme, „Ich rede nicht von Schuld, Nona. Könnte ich dich zwingen?“

Wieder will das Wort Ja von meinen Lippen rutschen, doch ich zögere.

Valentin scheint bemerkt zu haben, dass ich ihn langsam zu folgen beginne. „Lass es mich anders formulieren. Würdest du dich zwingen lassen?“

„Nein“, antworte ich sofort und lache laut auf. Würde er wirklich versuchen, mich hier zu halten und mich zur Waffe zu machen…

Ich grinse unwillkürlich bei dem Gedanken. „Alles würde in die Luft fliegen, und der Rest würde brennen. Und für dich? Für dich würde der Schaden die Kosten im Vergleich zum Nutzen übertreffen,“ sage ich schließlich. Auch, wenn ich dabei sterben würde, dann schreiend und brennend.

Seine Augenbrauen zucken hoch und er lehnt sich nonchalant zurück. „Ich hätte gesagt, du würdest uns den Arsch aufreißen, aber so kann man es auch formulieren.“

Ich lache. Es fühlt sich gut an, nach so langer Zeit wieder wirklich und ausgiebig zu lachen, noch dazu ohne zu husten. „Du hast mir die ganze Zeit nur geschleimt?“

„Als kleiner Anreiz“, sagt er verschmitzt und zwinkert mir zu.

Ich bedenke ihn mit einem großspurigen Grinsen. „Fast hätte ich gedacht, dass die ganze Schmeichelei nur wegen meiner umwerfenden Persönlichkeit ist.“

Etwas neues blitzt in seinen Augen auf, etwas Verspieltes. „War es das nicht?“

„Deine Art zu flirten ist seltsam.“

Fast hätte ich erwartet, dass er defensiv wird, doch er spielt mit. „Nennen wir es vorsichtig.“

Ich kichere, doch ein letzter Rest Skepsis bleibt. „Und du wirst mich nicht zwingen? Mich erpressen, oder bestechen?“

„Erwartest du, dass ich eine Flamme mit bloßen Händen fange? Selbst wenn ich es schaffe, würde ich dich nur ersticken, und ich würde mich verbrennen.“

„Dichterisch.“

„Ich meine es ernst.“ Er wendet sich wieder den Karten zu. „Du kannst gehen, wann immer du willst.“

Will ich überhaupt?

Darf ich es mir gönnen, mir einen semi-festen Wohnsitz zu suchen und mich eine Weile auszuruhen, anstatt mir jeden Tag darüber Sorgen zu machen, ob ich auf dem Asphalt schlafen muss? Die Unterwelt ist viele Dinge, aber verlässlich ist sie nicht.

Vielleicht muss ich nicht weiterziehen. Valentin und Joyce könnten reichen, um Leidinger zu finden.

Ich greife in meine Tasche und ziehe die kleine Plüscheidechse heraus. Vielleicht muss ich meine Prioritäten richten. Es gibt einige Dinge, die ich tun möchte, bevor ich riskiere, dass Leidinger mich umbringt.

Schuld quetscht mir die Kehle zu, aber ich entschließe, Leidingers Suche zu pausieren und mich zum ersten Mal seit Jahren auf das zu konzentrieren, das für mich wichtig ist. Solange es mir nicht meine Freiheit und meine Rache kostet.

Valentin wendet den Blick zu dem kleinen Plüschtier, das ich immer noch halte.

„War er hier?“, frage ich.

„Ja.“

„Wieso ist er gegangen?“

„Das solltest du ihn persönlich fragen.“

Ich kann plötzlich meinen Puls in meinen Fingerspitzen spüren. „Also kannst du mich zu ihm bringen?“

Er nickt.

Erleichterung durchflutet mich, Hand in Hand mit Angst. Was heißt es, dass er mich besucht hat, aber nicht geblieben ist? Will er mich überhaupt sehen?

Ich stecke die Eidechse wieder ein und fühle mich verdammt schuldig, so lange damit gewartet zu haben, aber mir bleibt ohnehin nichts anderes übrig. Valentin und Joyce werden nach ihm suchen, und mich zu ihm bringen, sobald sie können. Erst dann werde ich wissen, was alles bedeutet.

Zwar kann ich mir das wieder und wieder einreden, aber mein Herz pocht immer noch gegen meine Rippen.

Valentin greift über den Tisch und nimmt meine Hand in seine. Der Teufel auf seinem rechten Handrücken sieht mir entgegen und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe auf.

„Deine Hände zittern“, sagt Val.

Ich ziehe meine Hände zurück und drücke sie fest gegen die Tischplatte. „Mir geht’s gut.“

Val hinterfragt es nicht, wofür ich dankbar bin, und wendet seine Aufmerksamkeit höflich zurück auf seine Arbeit.

Mein Blick gleitet von den Karten weg, herauf zu Val, an ihm vorbei zum Fenster. Kurz verliere ich mich in der scheinbar undurchdringlichen Schwärze, die sich von außen an das Glas drückt, dann flackert etwas darin auf. Aufgeregt springe ich auf, hechte zur Fensterbank und setze mich darauf, beide Hände an die Scheibe gedrückt.

Ich höre Val hinter mir kichern, dann Schritte. Er setzt sich gegenüber von mir auf die Fensterbank, die wirklich nicht groß genug für zwei Leute ist, und so stehen unsere Füße kreuz und quer zwischen einander und unsere Knie sind zusammengedrückt.

Mir ist bewusst, dass Val mich wieder beobachtet, aber es ist mir überraschend gleich. Irgendwann scheint er das Interesse zu verlieren und folgt meinem Beispiel, und richtet seinen Blick aus dem Fenster, wo die ersten Schneeflocken gegen das Glas fallen.

Teil 7.3

Ich halte eine Schachtel in der Hand, ähnlich einer für Kontaktlinsen, und bekomme beinahe keine Luft mehr.

„Was?“, frage ich zum dritten Mal, und Val wiederholt zum dritten Mal denselben Satz: „Ich bring dich zu Red.“

Ich habe erwartet, dass Val mindestens einen Monat braucht, bis er ein Treffen mit Red vereinbaren kann. Natalie hat behauptet, dass Red unmöglich zu finden ist, dass niemand weiß, wo oder wer er ist— selbst bei den Zwillingen habe ich erwartet, dass sie Probleme haben werden.

Stattdessen sagt mir Val am nächsten Abend, dass er mich hinbringt.

Es war zu schnell. Ich hatte geplant, dass ich mehrere Tage, wenn nicht Wochen oder Monate Zeit habe, um mich auf das hier vorzubereiten, und in Wahrheit sind es wenige Minuten.

Ich sehe auf die Schachtel hinunter, und frage zum vierten Mal, „Was?“

Val schmunzelt und öffnet sie in meiner Hand. Darin befindet sich eine Augenprothese, die dem Grau meines Auges gleicht. „Ich bringe dich zu Red“, sagt Val langsam, „Und das ist eine Prothese, falls du sie dafür einsetzen willst.“

„Aha.“

Ich betrachte das Glasauge einen Moment lang, doch alles, was ich sehe, ist Nicht-Ich’s Imitation von Leidinger, seine Augen, dasselbe Grau, das er an mich weitergegeben hat.

„Ist alles in Ordnung?“, fragt Val.

„Ja. Ich meine… Danke.“ Ich stelle mich vor den Spiegel, ziehe meine Augenbraue hoch, und drücke die kleine Glaskuppel nach einem Moment des Sträubens in die leere Augenhöhle. Erst drückt es höllisch im Augenwinkel, dann richtet sich die Prothese beim Blinzeln und sitzt einigermaßen stabil, auch wenn etwas Druck bleibt. Ich betrachte meine eigenen Augen mit kaum unterdrücktem Ekel. Val hatte recht, man sieht mir alles an.

„Ist sie zu groß?“, fragt Val besorgt und beobachtet mich durch das Spiegelbild.

„Nein. Nein, das ist es nicht.“ Ich zögere, dann taste ich nach dem Bild meiner Familie, reiche es Val und deute auf meine Eltern. „Bekommst du so ein Braun und Blau hin?“

Er nimmt den Bilderrahmen und betrachtet das Foto eine ganze Weile stumm. Seine Mundwinkel zucken. Irgendwas geht wieder in seinem Kopf vor, und es scheint ihn zu beschäftigen.

„Ja“, sagt er schließlich kurz angebunden und gibt es mir zurück.

Ich werfe einen letzten Blick in den Spiegel und bewege das Auge hin und her. Es folgt nicht ganz meinen Bewegungen, ist aber überzeugend, solang niemand zu genau hinsieht. Ich bin Val dankbar dafür. Zwar war Red noch nie sehr empfindlich solchen Sachen gegenüber, aber er muss nicht sofort mein Gesicht voll Hackfleisch sehen. Außerdem würde Elias in Ohnmacht fallen, wenn er mich ohne Auge sehen würde.

„Okay“, seufze ich, „Gehen wir.“

Kurz darauf sind meine Finger sind um den Haltegriff des Autos gekrallt, mein Fuß ist gegen das Armaturenbrett gestemmt und meine Lippen sind kalt. Die Panik macht mich so taub, dass selbst der pochende Schmerz in meinem Gesicht gelindert scheint. Es hilft nicht, dass es früher dunkel wird, und die Straße jetzt bereits kaum noch sichtbar ist. Trotzdem wäre ich lieber noch vier Mal um den Block gefahren, als anzukommen und auszusteigen.

Val sitzt am Steuer und tut höflich so, als würde er meine blanke Panik nicht bemerken. Es würde mich nicht wundern, wenn er von hier aus meinen Puls hören könnte.

Schließlich halten wir vor einem Gebäude, das aussieht wie jedes andere. Leicht vergraute Fassade, schmutzige Fenster, Frost auf dem Dach, Schneeschlamm auf dem Gehsteig.

Wir stehen, und ich weigere mich auszusteigen.

„Ich habe das Gefühl, dass du nicht nur wegen der Fahrt nervös bist“, sagt Val vorsichtig.

Ich schlucke die Angst hinunter. „Woher kennt ihr ihn eigentlich?“

„Wir sind Kollegen“, sagt Val. Wenn er nicht nur weiß, wer Red ist, sondern auch wo er wohnt, und mich einfach hinbringen kann, ist das eine Untertreibung.

„Wieso hast du mich dann zu Nicht-Ich geschickt?“

Val zögert merklich.

„Ich weiß, wozu Red fähig ist“, sage ich, „Wieso hast du nicht ihn gefragt?“

„Ich hatte keine Ahnung, dass ihr beiden euch kennt.“ Val kämpft mit den Worten. „Red hat bisher jeden abgelehnt, der ihn Anstellen wollte. Ich hab’s nicht einmal versucht.“ Pause. „Es tut mir Leid.“

Wieder vergehen einige Sekunden, in denen ich dem rapiden Klopfen meines Herzens gegen meine Rippen zuhöre. Wirklich habe ich Val nur gefragt, weil mir so kotzübel ist, dass ich gewürgt hätte, wenn ich gesprochen hätte. Red war damals schon sehr isoliert, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es durch seine Persona als Krimineller Hacker besser geworden ist.

„Ich hab sein Leben ruiniert, Val“, gestehe ich.

„Hast du nicht.“

Ich schnaube. „Woher willst du das wissen?“

„Er hat mir alles erzählt“, sagt er vorsichtig, „Vom Jugendheim bis heute.“

Langsam nicke ich. Sie müssen definitiv mehr als Kollegen sein, wenn Red ihm das verraten hat.

„Er hätte sterben können“, sage ich, „Ich habe ihn wahrscheinlich verletzt, ich habe ihm sein Zuhause genommen, seine ganzen Sachen sind verbrannt—“ Ich raufe durch meine Haare. „—wer weiß, was er sich von mir denkt! Was, wenn er mich hasst? Was, wenn er mich nicht wiedersehen will?“

Val greift meine Hände und drückt sie. Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass ich sie so viel bewegt habe und dass sie unkontrolliert zittern.

„Er wird froh sein, dich wiederzusehen“, sagt er ruhig. Ich spüre etwas Weiches in meiner Handfläche.

„Was, wenn er es sich anders überlegt hat?“

Val löst seine Hände von meinen. Die rote Plüscheidechse sitzt darin. „Er hat dich schon einmal verloren, Nona. Tu ihm das nicht noch einmal an.“

Meine Kehle ist immer noch eng, aber die Panik wird nicht verschwinden, wenn ich länger sitzenbleibe. Und wenn die Angst nicht vergeht, muss ich es verängstigt tun.

Ein letztes Mal atme ich durch, dann öffne ich die Autotür und steige aus. Eine Welle kalter Luft begrüßt mich, der letzte Hauch von Schnee darin. Ich bin dankbar für die Stiefel, denn der Schneematsch reicht mir bis zum Knöchel.

Die Tür zum Wohnungsgebäude ist bloß angelehnt. Ein Keil steckt zwischen Rahmen und Tür, und ein Schild hängt im Fenster: Schloss kaputt, Tür bitte offen halten. Schlosser erst nach Weihnachtsferien wieder da. Ich putze meine Schuhe ab und gehe durch das Foyer zum Aufzug.

Die Liftfahrt ist nervenaufreibend leise. Nur das leise Rattern des Aufzugs begleitet mich, während ich versuche, mich nicht von dem stickigen Geruch in der kleinen Kammer stören zu lassen.

Die Türen gehen auf und ich finde mich vor einem langen, schrecklich beigen Flur wieder. Als ich aus dem Aufzug steige, gehen die bewegungsaktivierten Lichter flackernd an und spiegeln unangenehm auf den verschmutzten Fliesen unter meinen Füßen.

Reds Tür ist am Ende des Flurs. Ich hebe die Hand und klopfe. Nichts. Für eine Ewigkeit, nichts. Ich klopfe ein zweites Mal. Schritte sind innerhalb der Wohnung hörbar, dann knackt das Schloss und die Tür schwingt auf.

Er ist gewachsen. Als wir Kinder waren, war er bereits größer als ich, aber dieser Unterschied ist jetzt noch offensichtlicher. Mein Blick wandert leicht nach oben, damit ich in seine Augen sehen kann, die geweitet und glasig sind. Sie sind so braun wie eh und je, dunkel und so verdammt traurig. Sein Mund ist leicht offen.

Ich schlucke schwer und tue mein Bestes, ein Lächeln zustande zu bringen. „Hey.“

Er sagt nichts. Das Schweigen zwischen uns wird schwerer und schwerer, bis es unerträglich ist, doch ich weiß nicht, was ich sagen soll, also halte ich ihm einfach die Plüscheidechse hin. Die Stille zwischen uns erreicht ihr Crescendo.

„Er heißt Red Junior“, sage ich.

Red fällt mir in die Arme.

Ich halte ihn und drücke ihn so fest ich kann, verkralle meine Finger in seinem Shirt, als müsste ich aufpassen, dass er nicht einfach verschwindet. Red klammert sich so fest an mich, dass ich kaum Luft bekomme, und weint, unhörbar, aber spürbar.

„Ich hab gedacht, du bist tot“, wimmert er. Er zittert wie Espenlaub.

„Ich lebe“, flüstere ich zurück, und noch einmal, um mich selbst zu überzeugen, „Ich lebe.“

„Du lebst“, flüstert er. „Es tut mir so Leid, Nona.“

Ich schüttle den Kopf.

„Nein“, sagt er, seine Stimme zitternd und mit einem Schleier Tränen bedeckt. „Ich hab überall nach dir gesucht. Ich war immer zu spät, ich— Gott, als ich dich so gesehen hab, in diesem verdammten Krankenbett, ich… ich hab versagt. Es tut mir Leid. Ich wollte nicht—“

Ich drücke ihn fester. „Ich bin froh, dich wieder zu haben, Red.“

Er atmet tief durch und versteckt sein Gesicht in meiner Halsbeuge. Langsam streichle ich seinen Rücken und wiege ihn leicht.

Red schnieft und löst die Umarmung schließlich. „Ich hab schon gedacht, ich sieh dich nie wieder wach.“

Ich lache. „Ich hab dich vermisst, Red. So verdammt sehr.“

„Ich dich auch.“ Er hebt die Hände, will sie an meine Wangen legen, zögert aber an der verletzten Seite. Ich drücke mein Gesicht in seine Handfläche und grinse, und ignoriere den Schmerz, der von beidem kommt. „Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich einfach abhauen lassen?“

Red wird rot. „Ich hab mein Bestes getan!“

„Ich hätte nie aufgehört, nach dir zu suchen!“

Er verdreht die Augen. „Woher hätte ich das wissen sollen? Ich habe gedacht, du hasst mich.“

Ich werfe ihm einen verwirrten Blick zu. „Wie könnte ich dich jemals hassen?“

Red sucht kurz nach den richtigen Worten, dann gibt er auf und umarmt mich einfach noch einmal. „Halt die Klappe.“

„Du mich auch.“

Langsam lassen wir wieder voneinander ab. Ich nehme mir endlich Zeit, mich in seiner Wohnung umzusehen. Es ist penibel, fast peinlich sauber, als würde hier niemand leben— es liegt nicht einmal irgendwo Staub. Das Dekor ist genauso minimalistisch. Es gibt nichts interessantes, als wäre ich in ein Beispielzimmer in Ikea hineingewandert. Das Zimmer am Ende des Flurs, das praktisch leuchtet, ist somit noch ein größerer Blickfang; ein riesiges Setup mit mehreren Monitoren und einer gewaltigen Ansammlung von Kabeln, Geräten und Kästen, dessen Funktion ich nur erraten kann. Hier finde ich den einzigen Dreck in der ganzen Wohnung, nämlich eine ungesunde Menge von Energy-Drink-Dosen in einem Mülleimer.

„Du hast es wirklich geschafft.“

Red folgt meinem Blick. „Was geschafft?“

„Dein Computer-Zeug!“ Ich grinse. „Als ich von R-E-D und seiner Hacker-Magie gehört habe, war ich mir schon ziemlich sicher, dass du es bist. Du warst im Heim schon so versessen auf dein Coding.“

„Es ist nicht Magie“, murmelt Red.

„Wofür steht R-E-D eigentlich? Ich hab immer gedacht, es ist nur dein Spitzname.“

Red grinst breit und verschmitzt. „Das ist es auch. Aber es ist so lustig, Leuten zuzusehen, wie sie sich darüber streiten, was es bedeutet.“

Ich breche in Gelächter aus. „Du bist zu einem noch größeren Arschloch geworden!“

„Ein professionelles Arschloch“, korrigiert er mich, und geht wieder zurück zu seinen Monitoren. Ich folge ihm, lasse meinen Blick über die Screens wandern, und finde Live-Bilder von Überwachungskameras, im Flur, direkt vor der Wohnung und draußen auf der Straße. Vals Auto steht immer noch da.

„Du hast mich auf der Straße schon gesehen?“, frage ich.

Red zieht leicht die Augenbrauen hoch und öffnet ein weiteres Fenster. Das Bild zeigt den Hinterraum des Stützpunkts der Zwillinge, etwa von der Höhe eines Tisches.

„…was schaue ich mir gerade an?“, frage ich.

„Die Webcam von Nicolas’ Laptop“, sagt Red grinsend und drückt eine Taste.

„—dass er nicht trinkt“, ertönt Nicks Stimme.

„Würde ihm vielleicht helfen. Ich kann mir das ganze nicht mehr lange geben“, sagt Glitzer.

„Gib ihm Zeit.“

„Er hat noch nicht mal eingesehen, dass er—“

Red drückt noch einmal auf die Tastatur und grinst mich an. „Ich habe überall Augen. Aber versuch Val zu überzeugen, mehr Technologie zu verwenden. Ich hab nur zwei stationäre Kameras bei ihm.“

Ich kichere. Ein kleiner Moment Stille entsteht zwischen uns, der nur von dem entfernten, gedämpften Quietschen von Rädern auf der Straße begleitet wird. Red trinkt einen Schluck aus einer unglaublich schrecklichen Tasse, die mit Eidechsen bedruckt ist und verzieht das Gesicht. „Kalt…“

Mein Blick haftet an der Tasse. So etwas Schreckliches kriegt Red normalerweise nur von…

„Elias“, sage ich hastig. Mein Herz stolpert. „Wo ist er?“

Red wirft mir einen amüsierten Blick zu. „Ich hab ihm eine Nachricht geschickt, als du vom Auto ausgestiegen bist.“

Ich höre hastige Schritte, und habe etwa eine halbe Sekunde Zeit, um mich umzudrehen, bevor Elias springt und mit seinem gesamten Gewicht gegen meine Brust prallt. Ich verliere den Boden unter den Füßen, falle rückwärts und knalle mit dem Kopf gegen den Schreibtisch, dann landen wir beide unsanft auf auf dem Boden.

„Nicht schon wieder“, keuche ich, trotzdem grinsend.

Bevor ich irgendetwas anderes herausbekomme, packt Elias mein Gesicht und knutscht meine Wange.

„Hey—“

„Ich hab dich so vermisst!“ Wieder knutscht er mein Gesicht, und wieder und wieder, und lässt mich nicht zu Wort kommen, „Du bist einfach verschwunden— und jetzt— Du lebst! Fuck, ich bin so froh, dass du lebst!“

Ich lache, obwohl mir der Atem dafür fehlt, stehe auf und hebe Elias vom Boden auf, als würde er nichts wiegen. Er trägt ein Gewand, das mir sehr bekannt vorkommt.

„Du arbeitest für Dahlia?“, platzt es überrascht aus mir heraus.

„Ja! Ich sieh heiß aus, gib’s zu“, sagt er und dreht sich im Kreis.

Kichernd verdrehe ich die Augen. „Ich hätte mir nicht gedacht, dass du mal Stripper wirst.“

„Genug von mir“, sagt Elias hastig und legt seine Hand auf meinen Mund, „Wo warst du die ganze Zeit? Red hat dich überall gesucht!“

Ich werfe Red einen Blick zu und widerstehe der Versuchung, die kleine Plüscheidechse aus der Tasche zu nehmen. Elias folgt meinem Blick und stört sich an meinem Schweigen.

„…was?“

„Red“, sage ich bloß.

Red tut so, als würde er sich auf etwas Wichtiges auf seinem Monitor konzentrieren.

„Du hast ihm nichts gesagt?“, frage ich ungläubig.

Red zögert. „Sie ist meinen Arbeitskollegen zugelaufen.“

„Du hast davon gewusst?“, fragt Elias, seine Stimme wird lauter. „Du hast sie gefunden, und hast mir nichts verraten!?“

Red presst die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und schweigt. Elias sieht so aus, als würde er ihn am liebsten anschreien, doch dann atmet er durch. „Darüber reden wir später.“

„Gehen wir was trinken. Ich zahle“, sage ich hastig. Ich will nicht, dass meine besten Freunde sich streiten, jetzt wo ich sie endlich wiederhabe.

Red sieht nicht begeistert aus, doch als Elias ihm einen strengen Blick zuwirft, wird sein Ausdruck etwas weicher. „Das schulde ich dir“, murmelt er.

Elias ist so aufgeregt, dass er am Weg nach unten am Aufzug vorbeiläuft und die Treppen nimmt, von denen wiederum nur jede zweite Stufe. „Wo warst du jetzt all die Zeit?“

„Erst war ich im Heim“, sage ich, und Elias unterbricht mich sofort.

„Das weiß ich schon, aber danach! Im Wald?“

Ich nicke. „Das ist eine lange Geschichte, aber—“

„Was war nachher?“

Schnaubend klatsche ich ihm die Hand in den Nacken. „Soll ich jetzt reden oder nicht?“

„Ja, ja, mach jetzt!“

„Ich war eine Weile lang obdachlos“, fange ich an zu erklären, „Dann hat mich die ZEHFA gefunden.“

„Die bitte was?“ Elias dreht sich mit einem verwirrten Gesichtsausdruck zu mir um und fällt beinahe rückwärts die Treppen hinunter.

„In den Datenbanken hab ich mich auch schon mal umgeschaut“, sagt Red, „Damals hab ich gedacht, es ist ein blöder Streich. Hat eine Weile gedauert, bis ich realisiert habe, dass das alles echt ist.“

„Das was echt ist?“ fragt Elias.

Erst jetzt realisiere ich, dass keiner von beiden weiß, dass ich Kräfte habe, und dass sie nicht wissen, wieso damals das Heim abgebrannt ist. Kurzerhand hole ich eine kleine Flamme ins Leben, die vor ihren Gesichtern in der Luft flackert.

Dieses Mal stolpert Elias wirklich über die Stufen. Er landet unsanft am Boden und starrt mit großen Augen die Flamme an— Red sieht weniger überrascht aus.

„Deshalb haben sie mich eingesperrt“, sage ich, „Und so bin ich ausgebrochen.“

„Ich dachte mir schon, dass das Feuer was damit zu tun hat“, sagt Red beiläufig. „Aber bis ich in ihre Datenbanken reingekommen bin, warst du schon wieder draußen.“ Er legt seine Hand unter meine und betrachtet die Flamme. „Ich hab ein Überwachungsvideo gesehen, als sie dich mitgenommen haben“, redet er langsam weiter, „Es hat keinen Sinn gemacht. Anfangs habe ich angenommen, du hast irgendwas Schreckliches angestellt, und die Polizei hat dich deswegen geschnappt.“

Elias nickt und geht fasziniert so nahe mit dem Gesicht an das Feuer heran, dass seine Haarspitzen sich durch die Hitze kräuseln. „Wir haben gedacht, du hast vielleicht auf einen der Benzintanks geschossen.“

„Ich hatte damals keine Waffe“, sage ich kopfschüttelnd. „Und außer einigen kleinen Diebstählen habe ich auch nichts angestellt.“

Außer Kindesmord, denke ich unwillkürlich, und muss das Bild von Olivia aus meinem Kopf schütteln. Heute will ich daran ausnahmsweise nicht denken.

„Du hast ihr Gefängnis in die Luft gejagt?“, fragt Red.

„Ja. Du weißt davon?“

Elias lacht auf. „Als er von der Explosion gehört hat, ist er hingefahren, und hat sich in eine Prügelei verwickelt, weil ihm niemand was gesagt hat und ihn keiner reingelassen hat.“

Ich atme aufgeregt auf. „Red!“

„Und sie haben ihn für ne Weile festgehalten, weil sie geglaubt haben, dass er auch abnormal ist.“

„Ich war jung und dumm“, sagt Red und verdreht die Augen.

„Du warst kaum jünger als jetzt.“

„Jung und dumm“, beharrt er.

Elias nutzt den Moment, in dem ich abgelenkt bin, und will seine Finger in die Flamme stecken, die ich ausgehen lasse, bevor er sich verbrennen kann. Er schmollt mich an.

„Ich kann für dich später auch noch was anzünden, du Pyromane“, sage ich und stoße ihm den Ellbogen in die Seite.

Die Eiseskälte draußen trifft mich unvorbereitet, und zu schneien hat es auch wieder begonnen. Gänsehaut läuft über meine Arme und meinen Rücken hinunter.

Als ich über die Straße haste, finde ich ein Auto, hinter dem schwarze Schlieren den Asphalt verzieren, das schräg am Bordstein geparkt ist. Ich nehme an, es gehört Elias, und will gar nicht wissen, wie schnell er gefahren ist.

Val ist gegen die Fahrertür seines eigenen Autos gelehnt und telefoniert.

„Wer ist das?“, fragt Elias leise.

„Mein Kollege“, sagt Red.

„Mein Chauffeur“, sage ich.

„Ist er cool?“, fragt Elias mit einem Seitenblick auf mich.

„Er ist nett“, sage ich ausweichend.

„Ich glaube, ich hab ihn am Hinweg fast überfahren.“

Ein Kichern kann ich mir nicht verkneifen. Ich winke Val zu, er winkt zurück und beendet seinen Anruf. „Zurück zum Stützpunkt?“

„In die Bar“, flöte ich, „Ich hab zwei Leute, die ich ausfragen will.“

„Ich nehme an, du meinst die Neutrale Zone?“

Ich nicke. Val öffnet die Fahrertür, hält aber inne, als er Red sieht. „Dass du mal deine Wohnung verlässt.“

„Gegen meinen Willen“, sagt Red mit einem Augenrollen und steigt ins Auto ein. Elias und ich folgen seinem Beispiel.

So eine Begrüßung habe ich nicht erwartet. Entweder Val ist wirklich beliebt, dass sogar ein Geist wie Red mit ihm befreundet ist, oder die beiden haben Geschichte.

„Wie habt ihr beide euch getroffen?“, frage ich und drehe mich im Beifahrersitz, damit ich Val und Red gleichzeitig sehen kann. Elias lehnt sich zwischen den Sitzen vor, versperrt mir die Sicht und hält Val die Hand hin. „Ich bin Elias, übrigens.“

„Wir kennen uns schon“, sagt Val ruhig.

„…oh.“

„Red hat es sich in unseren Geräten gemütlich gemacht.“

„Die zwei, die du und dein kleiner Kreis haben“, murrt Red amüsiert und tritt mit dem Knie hinten in den Sitz.

„Wir haben einfach keinen großen digitalen Speicher.“

„Ja, und das ist langweilig!“

Val schmunzelt. „Es ist nicht meine Verantwortung, dich mit digitalen Rätseln zu unterhalten, Red.“

Mein Blick schwenkt zwischen ihnen hin und her. Jetzt, wo ich sie nebeneinander sehe…

„Ihr beide seht euch echt ähnlich.“

Val wirft Red durch den Rückspiegel einen Blick zu. „Ich seh’s nicht.“

„Wirklich, Nona?“, sagt Red zu mir, „Ein bisschen rassistisch von dir.“

„Ihr sieht identisch aus“, beharre ich.

„Du siehst es auch!“, sagt Elias empört, „Ich hab’s doch gesagt!“

Red zuckt mit den Schultern. „Weiß nicht, wovon ihr redet.“

Ich bin die ganze Fahrt über so abgelenkt, dass ich vergesse, Angst zu haben, trotz des Schnees, trotz der Dunkelheit. Bis wir ankommen, sind Elias und Red in eine Diskussion über Müsli vertieft, und ob zuerst die Milch oder das Müsli selbst in die Schüssel gehört. Auf meinen Kommentar hin, dass erst die Milch, dann das Müsli, dann die Schüssel hingehört, wird mir im Chor gesagt, dass ich die Fresse halten soll.

Wie in den guten alten Zeiten.

Wir steigen aus, und ihr Streit scheint einigermaßen abzusterben, bis ich mich räuspere. „Habt ihr euch eigentlich jemals geeinigt, ob Müsli jetzt eine Suppe ist oder nicht?“

„Ja“, sagt Elias.

„Nein“, sagt Red.

„Halt deine blasphemische Fresse!“

„Welcher Vollidiot glaubt bitte jetzt noch, dass Müsli Suppe ist?“

Ich lache auf, während die beiden sich wieder an die Gurgel gehen.

„Du bist geübter Anstifter“, sagt Val und geht neben mir her in die Bar.

„Es ist angeboren und trainiert“, flöte ich stolz.

Val betrachtet mich mit einem Blick, der verrät, dass da etwas tieferes in seinem Kopf abgeht, aber nicht verrät, was das ist.

„Was?“, frage ich und schubse ihn mit der Schulter.

„Nichts.“ Er zuckt scheinheilig mit den Schultern.

Kaum betrete ich die Bar, verschiebt sich meine Ansicht der Welt noch einmal zwei Meter nach links: Joyce steht an einem der Tische der Bar und umarmt Red.

„Ah“, sage ich, als es endlich klickt, „Joyce und er sind zusammen, richtig?“

Val lacht auf. „Gott, nein. Joyce hat’s nicht so mit Männern. Und Red hat’s nicht mit… irgendwem.“

Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu, aber wenn Val sich einmal entschieden hat, dass aus ihm keine Info mehr kommt, ist es vorbei.

Wenigstens weiß ich sofort, wieso Joyce hier ist, denn der Rest des inneren Kreises ist es auch. Red, Elias und Joyce gesellen sich gerade alle zu Nick, Glitzer und Soren dazu. Val setzt sich ebenfalls, und auch ich will mich dazusetzen, doch kaum habe ich die Jacke ausgezogen, packen mich zwei Hände von hinten an der Taille.

„Nona! Heilige Scheiße, ist es gut dich wiederzusehen!“

Ich drehe mich um und grinse Natalie breit an. „Nat!“

Sie drückt mich auf einen Sessel am Nebentisch hinunter und setzt sich unaufgefordert dazu. „Was willst du trinken?“

„Überrasch mich“, sage ich, wie als wir uns kennengelernt haben.

Sie lehnt sich leicht vor. „Bring ich dir sofort. Wie war’s bei Nicht-Ich?“

Eine unangenehme Kälte, die nicht von dem Schnee kommt, der gerade an meiner Kleidung schmilzt, setzt sich in meine Brust und wächst bis in meine Finger.

„Nicht so wichtig“, sage ich ausweichend, „Wie war’s bei dir?“

„Natürlich ist es wichtig!“, sagt Nat und lehnt sich zu mir vor. „War er wirklich so schrecklich, wie’s alle sagen? Hast du was über Lied- Lei- über diesen Typen herausgefunden, den du suchst?“

„Ich will nicht drüber reden, Nat“, sage ich laut.

Sie senkt ihre Stimme und beäugt mein Gesicht. „Kommt daher die Verbrennung?“

Ich spüre einen Funken Wut, der sich hartnäckig in meiner Kehle festsetzt. Bevor ich zu einer stark formulierten Antwort ansetzen kann, steht Val hinter Natalie vom Tisch auf. „Entschuldigung“, sagt er, geht um sie herum und stellt sich neben mich. „Gibt es ein Problem?“

Natalie sieht zu ihm hoch. Ihre Augen weiten sich, ihr Mund öffnet sich leicht und sie wird kreidebleich. Sie starrt ungläubig Val an, dann mich, dann wieder Val, dann endlich findet sie ihre Zunge wieder. „Nein“, sagt sie hastig, „Nein, kein Problem, überhaupt kein Problem.“

Val hält mir die Hand hin. „Du wirst vermisst“, sagt er und nickt zum Rest der Gruppe rüber. Ich muss zugeben, ich genieße Natalie’s schockierten Blick, während ich seine Hand nehme, mir von ihm hochhelfen lasse und mich zum Rest der Gruppe dazusetze.

Red hat sich inmitten von lautem Chaos noch nie wohlgefühlt, weshalb es mich wundert, dass er seine geräuschisolierenden Kopfhörer um den Hals gehängt hat und gerade in ein Gespräch vertieft ist— und ausgerechnet mit Glitzer. Ich höre nur ein paar Worte; sie tauschen Tipps fürs Backen von Knoblauchbrot.

Ich setze mich zwischen Joyce und Elias, drehe mich zu ihm. „Also. Red ist über die Jahre zu einem gewaltigen Hacker-Genie geworden. Was ist mit dir passiert?“

Er grinst mich stolz an. „Ich bin zu einem Experten der spontanen Demolition geworden.“

„Er meint, dass er in seiner Freizeit Bomben legt“, ruft Red dazwischen.

„Niemand redet mit dir!“

„Bomben?“, frage ich interessiert.

Er lehnt sich näher zu mir und flüstert, „Ich hab die Bastarde gefunden, die damals den Kult geführt haben.“

Erst kommt die Erinnerung von Elias’ Vergangenheit mit seinen Eltern wieder hoch, dann von unserem Streit damals, und dass ich ihn vor dem Feuer einfach sitzen gelassen habe. Schnell schüttle ich das Gefühl ab.

„Und du jagst sie in die Luft?“, frage ich.

Er nickt aufgeregt. „Seit einer Weile schon. Und es ist jedes Mal so schön. Du solltest mal mitkommen, mit deinem Feuer-Zeugs!“

Die Vorstellung, mit Elias einige Arschlöcher in die Luft zu jagen, die ihm damals so viele Schmerzen verursacht haben, ist wirklich schmackhaft.

„Sag mal“, flüstert Elias und deutet auf Nick, „Ist dein Freund single?“

Ich verdrehe belustigt die Augen. „Ja, ist er, du Hure“, sage ich liebevoll. Ohne zu Zögern lehnt sich Elias über den Tisch, schurrt Nick, „Wie heißt du, Hübscher?“ zu und zwinkert.

Lachend wende ich mich Joyce zu, die meine beiden Kindheitsfreunde belustigt beobachtet.

„Sie sind Idioten, aber sie sind meine Idioten“, sage ich zu ihr.

„Gern geschehen“, sagt sie.

„Danke.“ Ich seufze und fahre mir durch die Haare. „Ich hätte weder Red noch Elias alleine gefunden.“

„Dafür kannst du mir einen ausgeben“, sagt sie.

„Und Val?“

„Er trinkt nicht. Und hat’s nicht verdient.“

Ich lache auf und sehe mich nach Natalie um, aber sie ist nirgends zu sehen.

„Was willst du trinken? Ich hol was von der Bar.“

„Mojito!“, sagt sie freudig. Ich stehe auf und schlängle mich durch die Menge. An der Theke steht Natalies Kollege.

„Ein Mojito und irgendwas Gutes“, ordere ich, und kurz darauf bekomme ich zwei Gläser von ihm. Als ich mich umdrehe, um zum Tisch zurückzugehen, rempelt mich jemand mit voller Wucht an und verschüttet beide Drinks über mich.

„Pass auf, wo du hinrennst, Arschloch!“, fauche ich.

„Du kannst mich mal, Feuermädchen“, zischt der Mann, „Sei froh, dass das hier neutral ist, sonst würde ich dir die Kehle rausschneiden.“

Mein Blick wandert über den großmäuligen Wichser. Blonde verstrubbelte Haare, bleiche Haut, ein unsauberer Dreitagebart. Unter seinen Augen liegen Ringe. Ich habe keine Ahnung, wer er ist.

„Und was ist dein Problem?“, knurre ich, baue mich vor ihm auf und verwende jeden einzelnen der hundertfünfundachtzig Zentimeter, die ich dafür habe.

„Du verdammte Schlampe hast Kochers Blut auf den Händen.“

Ein unfreiwilliges, zynisches Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. „Du bist also einer von seinen Schoßhunden?“

„Wie weit glaubst du, kommst du damit, hä?“ Er geht einen Schritt näher, und ich rieche Kotze, Nikotin und Alkohol in seinem Atem. „Du hast vielleicht deine Feuerchen, aber du stehst gegen dutzende von uns.“ Er fletscht die Zähne. „Du musst jedes Mal Glück haben. Wir nur ein Mal.“

Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Ich spüre Hitze an meinen Handflächen und rieche Rauch. Unwillkürlich fahre ich mit meiner Zunge über meine Vorderzähne.

Der Blonde lacht. „Komm schon. Wir regeln das wie Erwachsene“, säuselt er und zieht ein Springmesser aus seiner Tasche.

Funken sprühen zwischen meinen Fingern hervor, bereit, in ein Feuer umzuschlagen.

„Nona!“

Ich verbeiße mir nur widerwillig eine Antwort und einen Angriff. Val taucht aus der Menge auf— wie kann er sich in einer Menschenmasse so geschmeidig bewegen?— und stellt sich zwischen mich und den Schoßhund.

„Das ist schade“, sagt er mit einem schnellen Blick auf mein durchgeweichtes Shirt, „Ich hol dir was Neues.“

Der Blonde, scheinbar unzufrieden damit, ignoriert zu werden, packt Val an der Schulter. „Was soll die Scheiße?“

Vals begrenzt interessierter Blick, der dem Blonden scheinbar direkt ins Ego geht, würde mich zum Schmunzeln bringen, wäre ich nicht kurz davor, dem Wichser sein Gesicht abzubrennen. „Hm?“

„Wir haben uns gerade unterhalten“, sagt der Blonde mit angespannter, gespielter Freundlichkeit.

„Nein“, sagt Val stumpf. Dass er auf die Charade nicht eingeht, bringt Kocher’s Schoßhund merklich aus dem Konzept. „Du“, sagt Val langsam, „Hast meiner Kollegin gedroht.“

Kollegin. Ich bin nicht seine Angestellte, sondern seine Kollegin, denke ich und schüttle den Gedanken genauso schnell wieder ab. Meine Wangen werden heiß. Woher ist das bitte gekommen?

„…Kollegin.“ Scheinbar kann es der Blonde genauso wenig glauben.

„Ja, Kollegin“, bestätigt Val ruhig und legt seine Hand höflich auf meinen unteren Rücken.

Kocher’s Schoßhund starrt ihn mit großen Augen an, dann mich, dann verzieht sich sein Gesicht mit Abscheu. „Du und deine verdammte Sippe habt euch wirklich die Feuerschlampe geschnappt?“

Val reagiert nicht.

„Ich dachte, du hättest ein bisschen Niveau“, knurrt der Blonde.

Val lässt seinen Blick über sein Gesicht wandern, langsam und bedächtig. Das Schweigen zwischen ihnen wird mit jeder Sekunde schwerer und schwerer, doch Val weigert sich, es zu brechen. Selbst ich werde nervös, obwohl ich nicht am empfangenden Ende seines Blicks bin.

„Was ist?“, fragt der Blonde, um die Stille erträglicher zu machen, doch Val reagiert nicht. Mir läuft es kalt auf.

„Kristof“, sagt Val langsam, „Ich hab dich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen.“

Der Satz bringt den Blonden so aus dem Konzept, dass er wie ein Fisch den Mund aufklappt.

„Damals beim Grenzdisput. Du hast im Zimmer geraucht, was sehr unhöflich war“, sagt Val. Seine Mundwinkel zucken. „Wie geht’s Miranda?“

Kristof entgleisen die Gesichtszüge.

„Ein echt süßes Kind, was ihr bekommen habt“, sagt Val beiläufig, „Charlie ist ein schöner Name. Passt zu ihm. Ich bin mir sicher, dass ihr beiden gute Eltern werdet.“

Kristof verliert jegliche Gesichtsfarbe. Er klappt seinen Mund zu und zögert einen Moment, hin- und hergerissen zwischen seinem Stolz und seiner Sicherheit, dann murmelt er, „Wir sind nicht fertig miteinander, Quintieri.“

Valentin dreht ihm den Rücken zu, noch während er das letzte Wort ausspricht, faltet die Hände und spricht stattdessen mich an. „Also. Drinks?“

Kristof wird hochrot und scheint kurz in Erwägung zu ziehen, Val eine reinzuhauen, doch dann dreht er sich weg, murrt, „Fotze“, und verzieht sich in Richtung Ausgang.

Ich sehe ihm hinterher. „Hast du gerade seiner Frau und seinem Kind gedroht?“

Val setzt einen verwirrten Gesichtsausdruck auf. „Wie kommst du auf sowas?“

Ich werfe ihm einen skeptischen Blick zu. Er kichert bloß, dann wendet er sich zurück zur Bar. „Ein Mojito und ein Erdbeer-Daiquiri. Tut mir Leid wegen der Sauerei“, sagt er, nickt zu der Mischung aus Gin und Rum am Boden, die mit klebrigen Scherben vermischt ist, und legt zwei Zwanziger auf den Tresen.

Der Barmann wirft einen Blick auf das Geld und schenkt ihm ein breites Lächeln. „Ist überhaupt kein Problem.“

„Ich sollte mich öfter anpöbeln lassen. Vielleicht kaufst du mir dann öfter einen Drink“, sage ich und zwinkere Val zu.

Er wartet, bis der Barmann sich umgedreht hat, dann geht er einen Schritt näher an mich heran und senkt seinen Kopf und seine Stimme. „Du hast gerade fast Selbstmord begangen.“

Ich verziehe das Gesicht. „Das ist doch ein bisschen übertrieben, oder?“

„Nein.“

Augen verdrehend verschränke ich die Arme und werfe ihm bloß einen skeptischen Blick zu.

„Dort draußen kannst du dich in so viele Kämpfe verwickeln, wie du möchtest“, sagt er leise, „Aber hier drin wärst du der Aggressor gewesen. Jeder hätte sich gegen dich gewendet.“

Ich setze zur Antwort an, doch Val kommt mir zuvor. „Es interessiert mich nicht, ob du glaubst, dass du gegen alle hier gewinnen könntest. Es ist ein blödes Risiko, das du nicht eingehen solltest.“

Mein Kiefer spannt sich an. Mir liegt ein Fahr zur Hölle auf der Zunge, doch ich verkneife es mir. Valentin scheint einen gut gepflegten Ruf zu haben. Was würde damit passieren, wenn ich, jetzt seine Kollegin, in einer neutralen Zone Kämpfe anfange?

„Er hat dich absichtlich gereizt“, sagt Val mit weitaus sanfterer Stimme. „Jeder hier kennt dein Temperament, und er wollte es gegen dich verwenden.“

„Es wird nicht nochmal vorkommen“, sage ich leise.

Er zieht die Augenbrauen hoch, Belustigung in seiner Stimme. „Sowas willst du mir versprechen?“

Ich lehne meinen Kopf zur Seite und grinse ihn frech an. „Dann musst du halt immer dabei sein.“

„Und dich an einer Leine halten?“, fragt er amüsiert.

Ich lasse bedeutungsschwer meinen Blick über ihn wandern. „Im Prinzip hätte ich nichts dagegen…“

Val beißt sich auf die Lippe in dem vergeblichen Versuch, sich ein Grinsen zu verkneifen. „Sehr lustig.“

„Ja, ich glaube wir wissen beide, wer wen an der Leine haben würde“, sage ich leicht.

Er wirft mir einen Seitenblick zu, und ich erwarte wieder ein Augenrollen oder gar keine Reaktion, doch er schmunzelt und sagt, „Willst du’s rausfinden?“

Ich öffne meinen Mund, halb geschockt, halb um zu antworten, aber mir fällt nichts ein. Der Barmann stellt zwei Gläser auf den Tresen, die Val nimmt und mir reicht. „Bitte“, sagt er, wieder ganz der höfliche Gentleman.

Ich nehme die Drinks und gehe in immer noch geschocktem Schweigen mit ihm zurück zum Tisch, wo Joyce dankbar ihren Mojito nimmt.

„Und übrigens“, sagt Val leise im Vorbeigehen, „Wenn du willst, dass ich dir einen Drink kaufe, musst du dich dafür nicht anpöbeln lassen.“

Grinsend setze ich mich wieder hin und proste ihm zu, er prostet zurück.

Was auch immer er für mich bestellt hat, es schmeckt fantastisch. Mein klebriges Shirt ist mir plötzlich egal, und auch der Streit mit Kocher’s Schoßhündchen ist nicht mehr ärgerlich, sondern einfach nur lustig.

Ich lasse meinen Blick in der Runde schweifen; Elias und Nick sind in ein Gespräch verwickelt, bei dem Elias ihn immer wieder zum rot anlaufen bringt. Red und Glitzer sind immer noch bei ihrem wichtigen Austausch von Rezepten, nur hat sich mittlerweile Soren dazugesellt. Val sagt etwas zu Joyce, die ihm als Antwort die Zunge herausstreckt.

Es fühlt sich gut an, wieder unter Freunden zu sein.

Teil 7.4

„Das ist wirklich nicht nötig.“

„Nonsense!“, sagt Elias und drückt mir die Tasse fester in die Hände. Sie ist absolut grässlich, mit einem kitschigen Flammen-Muster auf Schwarzem Hintergrund, das so aussieht, als gehört es auf ein Spielzeugauto. Ich liebe sie.

„Ich hab nicht all die Jahre nach dem perfekten Becher für dich gesucht, dass du jetzt pingelig wirst!“

„Er hat noch ein Dutzend daheim“, sagt Red, und sieht kaum von seinem Monitor auf.

„Elias, bitte gib kein Geld mehr für mich aus.“

„Nimm die Tasse!“

Ich seufze, muss aber grinsen, und nehme sie ihm ab.

„Geht doch!“, sagt Elias, „Und jetzt gib sie wieder her, ich mach dir Kaffee.“

Lachend gebe ich ihm die Tasse wieder zurück.

„Milch? Zucker?“, fragt Elias und geht in die Küche von Reds Wohnung.

„Viel Milch und sieben Zucker, bitte.“

„Sieben?“ Red sieht ausnahmsweise von seinem Computer auf. „Wie zur Hölle hast du noch Zähne?“

„Klappe. Konzentrier dich auf deine Firewall oder was auch immer.“

Red wirft mir einen wirklich giftigen Blick zu. Er hasst es, wenn Elias und ich die falschen Wörter für seine Hacking-Sachen verwenden, und das macht es umso lustiger.

„Hast du schon was?“, frage ich, lege meine Arme auf seinen Kopf, drücke ihm dabei die Haare ins Gesicht und sehe auf seinen Monitor hinunter.

„Du suchst nach einer Erna?“

„Ja?“

Red zögert.

„Was?“, frage ich.

„Es kann auch jemand anders sein“, sagt er.

„Red, was?“

Er räuspert sich. „Ich hab einen Polizeireport gefunden. Sie haben eine Obdachlose namens Erna Liszt gefunden.“

„Wo?“, frage ich aufgeregt.

„Unter einer Überdachung, die Straße runter von dem Obdachlosenheim, in dem du damals warst“, sagt Red, und dann, nach einem kurzen Zögern, „Erfroren.“

Mir wird schlecht.

„Es tut mir Leid, Nona.“

„Nein. Nein, ich hab gewusst, dass… ich hätte es erwarten müssen.“ Ich atme durch, richte mich auf und verschränke die Arme, damit das Zittern in meinen Händen nicht so auffällt.

Eigentlich habe ich gewusst, dass etwas passiert sein muss. Als ich jünger war konnte ich nie wirklich verstehen, in welcher Gefahr ich in meiner Zeit auf der Straße eigentlich war. Erna’s Warnung mit den „größeren Fischen“ macht jetzt weitaus mehr Sinn. Ich weiß nicht, ob sie enttäuscht oder beeindruckt wäre, dass ich es geschafft habe, die Kollegin von einem zu werden.

„Es könnte jemand anders sein“, wiederholt Red.

„Red.“

Er drückt die Lippen zusammen, steht auf und zieht mich in eine Umarmung, was mir umso mehr bedeutet, weil Red absolut kein Kuschelmensch ist. Ich drücke ihn ebenfalls.

„Sie hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Und wie habe ich ihr gedankt? Indem ich sie wortlos im Stich gelassen habe.“

„Sie war bestimmt froh, dass du in Sicherheit warst“, sagt Red leise.

Ich schließe die Augen.

Darauf herumzuhacken bringt mich nicht weiter. Es war schrecklich, und ich hätte es nie durchmachen sollen, aber es ist passiert, und es ist vorbei.

Ich atme tief durch, danke Erna still für ihre Hilfe und wünsche ihr alles Gute.

Langsam löse ich mich aus der Umarmung. „Trauern bringt sie nicht zurück“, sage ich entschieden, „Hast du wegen Quinn und Thana—“

„Ihre Adressen, Telefonnummern und beide Arbeitsplätze.“

„Du bist so verdammt gruselig“, sagt Elias hinter uns und drückt mir meine schreckliche Tasse in die Hände, die jetzt mit Kaffee gefüllt ist.

„Danke“, sage ich und nippe daran. So süß, dass ich den Karies in meinen Backenzähnen jubeln hören kann. Red schiebt mir kommentarlos einen Untersetzer hin.

Elias drückt mir etwas in die Hände. „Also, wann fragst du?“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, packe den Müsliriegel aus, den er mir gegeben hat, und beiße schulterzuckend ab. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Gib ihr noch fünf Minuten. Sie hat Angst“, sagt Red.

„Ich hab keine Angst!“

„Dann frag!“

Ich schmolle und kaue weiter langsam am Müsliriegel. Es sind dieselben, die Elias, Red und ich damals immer im Heim geklaut haben. Naja, Elias und ich haben geklaut, Red hat einfach danach gefragt.

Nach einer schier endlosen Stille, nur unterbrochen vom Rascheln der Plastikverpackung, gebe ich endlich nach. „Okay, okay! Kann ich zu Martha?“

„Geht doch“, sagt Elias freudig und nimmt seine Autoschlüssel aus der Tasche.

Red schnappt sie aus seinen Händen. „Wenn du fährst, traumatisiert du sie noch mal.“

„So schlecht fahr ich nicht!“

Red sieht ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Elias zögert, dann gibt er klein bei. „Okay, okay, dann fahr du.“

Er schmollt selbst dann noch, als wir bereits im Auto sitzen.

„Kannst du dich ein mal nicht aufführen wie ein Kind?“, fragt Red ihn durch den Rückspiegel. Elias streckt ihm zur Antwort die Zunge hinaus.

Mein Kopf kann sich nicht entscheiden, ob ich wegen der Fahrt oder wegen meinem kommenden Zusammentreffen mehr Angst haben sollte. Ich klammere mich an den Haltegriff und starre entschieden aus dem Fenster.

„Alles okay?“, fragt Elias und packt mich an der Schulter. Ich muss ich bemühen, nicht zusammenzuzucken und ihm den Ellbogen ins Gesicht zu knallen.

„Mir geht’s gut“, sage ich durch die Zähne.

„Bist du dir sicher?“ Er lehnt sich vor und sucht meine Augen. „Du siehst ein bisschen so aus, als müsstest du dringend—“

„Mir geht’s gut, verdammt!“, fauche ich ihn an.

Er zuckt zurück.

Ich seufze und lehne meine Stirn an die kalte Fensterscheibe. Dickflüssige, unangenehme Stille liegt zwischen uns allen und füllt den Wagen bis unter die Decke.

Mein Herz pocht laut in meinen Ohren und klopft gegen die Innenseite meiner Rippen. Ich will nicht daran denken, und kann trotzdem nicht aufhören, zu überlegen, was Martha jetzt von mir hält. Wegen mir ist das Heim abgebrannt, ihre Kinder waren verletzt.

Wegen mir ist Olivia tot.

„Tut mir Leid“, sage ich leise, atme tief durch und vergrabe das Gesicht in meinen Händen. „Ich wollte nicht… Ich bin nur nervös.“

„Ich hab dir gesagt, sie hat Angst“, sagt Red.

„Halt doch die Klappe“, sage ich, aber es liegt kein wirkliches Gift dahinter.

„Sie hat dich vermisst“, sagt Elias, „Ich verspreche dir, sie wird froh sein, dich zu sehen.“

„Ich hab das Heim abgebrannt!“ Meine Hände finden automatisch meine Haare, ich raufe meine Finger durch. „Wegen mir hattet ihr alle kein Zuhause, wegen mir ist—“

Elias drückt fest meine Schulter, und es ist alles, was ich brauche. Noch einmal zwinge ich mich zum Durchatmen.

„Es tut mir Leid“, sage ich, und hasse, dass meine Stimme dabei zittert.

„So weit waren wir schon“, sagt Red.

„Nein. Ich meine, es tut mir Leid, was damals passiert ist.“

Drei Herzschläge Stille vergehen.

„Erinnert ihr euch, dass ich damals immer Verbrennungen hatte, aber nie ein Feuerzeug?“, fange ich langsam an, „Ich hab in meinem Schlaf Feuer gelegt. An dem Tag… Es war ein Unfall. Ich bin wach geworden, und das ganze Heim hat gebrannt. Ich werde mir das nie verzeihen. Ich hätte schon damals das alles unter Kontrolle bekommen sollen.“

„Nona“, sagt Red, „Du warst ein Kind.“

Ich sacke in mich zusammen und starre passiv auf die Straße hinaus. Die Umgebung beginnt, mir bekannt vorzukommen, bis wir denselben Weg abfahren, den wir damals zu Fuß in die Stadt gegangen sind.

Es ist anders. Einige Geschäfte haben mittlerweile geschlossen, wurden von anderen ersetzt oder stehen zur Miete frei. Andere Läden wurden renoviert, wiederum andere haben ihre Auslagen komplett verändert. Es ist seltsam, das Bekannte inmitten von Unbekanntem zu sehen.

Dann hält Red dort, wo früher das Jugendheim war.

An seiner Stelle steht jetzt ein riesiges Gebäude, das sehr offensichtlich moderner ist als das zuvor, sich jedoch nicht den grauen Betonklötzen angleicht, die es umgeben. Stattdessen ist es ein gemütliches Häuschen, mit Ziegelfassaden und einem großen Garten mit Spielplatz, der nun komplett zugeschneit ist. Die vorderen Wände wurden bemalt; hunderte kleine Handflächen, mit Farbe beschmiert und gegen die Ziegel gedrückt. Fenster nehmen einen Großteil der Wandfläche ein.

Es sieht irgendwie fehl am Platz aus. Es ist schön, und wahrscheinlich fühlen sich die Kinder darin wohler als in dem alten Gebäude, aber es ist nicht das, was ich in Erinnerung habe.

Dorthin kann ich nie wieder zurück. Es ist weg, für immer.

Red öffnet das Handschuhfach und zieht einen Schal heraus, den er mir um den Hals wickelt und über die Nase zieht. „Lass deine Kapuze auf und den Kopf gesenkt, so sollte dich niemand erkennen.“

Ich nicke. Was, wenn Martha mich nicht mehr erkennt, auch ohne Schal und Kapuze? Es ist sieben Jahre her, seit sie mich das letzte Mal gesehen hat, und seitdem habe ich mich gewaltig verändert. Was, wenn sie mich vergessen hat, und in Wahrheit ein kleines Mädchen vermisst, das nicht mehr existiert?

Elias und Red steigen aus und ich folge ihnen langsam. Wir gehen durch den Garten, wo im aufgewühlten Schnee die Spuren einer Schneeballschlacht langsam vom Schnee ausgefüllt werden. Red stampft den Matsch von seinen Stiefeln und öffnet die Tür.

„Ich hab’s mir anders überlegt“, sage ich zu Elias, nur halb witzelnd. Er kichert zwar, stellt sich aber trotzdem hinter mich, falls ich die Idee bekomme, abzuhauen.

Der Geräuschpegel hat sich von damals nicht verändert. Dutzende von kleinen Stimmen quasseln und quatschen, Kinder rennen durch die Flure, spielen, lachen. Eine gewaltige Welle Nostalgie überschwemmt mich, und als ich den Schal für einen Moment von der Nase nehme, stelle ich zufrieden fest, dass es immer noch so riecht wie damals.

„Aslan!“

Eine freudige Stimme reißt mich aus den Gedanken. Eine der Nonnen— eine der wenigen, deren Namen ich nie erfahren habe— geht auf Red zu und drückt ihn fest.

„Schön, dich mal wiederzusehen. Ist Elias auch da?“

Red deutet auf uns. Elias winkt freudig, ich zögernd.

„Wer ist denn noch zu Besuch?“

„Eine Freundin von mir“, sagt Red, „Sie war im alten Heim. Können wir zu Martha?“

„Sie ist in ihrem Stübchen“, sagt die alte Dame und klopft Red liebevoll auf die Schulter.

Red winkt uns zu, wir folgen ihm die Treppen nach oben.

Aslan?“, frage ich.

„Mein gesetzlicher Name“, sagt Red beiläufig.

„Wieso hab ich nie was davon gewusst?“

„Hast du gefragt?“

„Fair.“

Martha’s Stübchen ist eine gemütliche kleine Kammer, dessen Tür weit offen steht. Ein Teppich dämpft unsere Schritte. Hinter dem Schreibtisch ist ein Fenster, durch das die bleiche Wintersonne fließt und den ganzen Raum ausleuchtet. Regale voll mit Fotos und Erinnerungsstücken stehen an den Wänden, einige gut gepflegte Zimmerpflanzen geben dem Raum etwas Grün.

Martha steht gerade am Fenster mit dem Rücken zu uns, doch als sie die Tür hört, dreht sie sich um und lächelt breit. Sie ist älter geworden, aber die extra Falten und die dünneren Haare schaden ihrer freundlichen Ausstrahlung nicht. Sie geht auf Elias und Red zu und drückt sie, als wären sie immer noch die kleinen Jungs, die sie damals betreut hat. „Schön, euch beide mal wieder zu sehen!“

Elias umarmt sie fest. „Sorry, dass wir so lange nicht mehr hier waren.“

„Ihr wart letzte Woche zum Abendessen da.“

Red umarmt sie ebenfalls. „Gibt es am Sonntag wieder Nuggets?“

„Ja, natürlich“, sagt sie gutmütig lächelnd. „Diesmal keine Blumen?“

„Nö! Dafür haben wir dir was anderes mitgebracht!“, sagt Elias und deutet auf mich.

Ich lasse die Tür hinter mir zufallen— nur zur Sicherheit— und ziehe langsam und mit zitternden Händen die Jacke und den Schal ab.

Martha hebt langsam die Hände vor den Mund. Tränen sammeln sich in ihren Augen, dann öffnet sie ihre Arme.

„Nona“, wispert sie, „Du bist wieder zuhause.“

Ich stolpere zu ihr und falle ihr in die Arme. „Es tut mir so Leid“, wimmere ich, „Ich wollte das nicht. Ich wollte niemandem wehtun. Es war ein Unfall, ich schwöre es. Ich— ich hätte nie—“

„Shh.“ Martha streicht mir über den Rücken. „Es ist alles in Ordnung. Wir haben es überstanden, wir haben alles wieder aufgebaut. Diesmal mit guter Heizung“, sagt sie weich.

„Dank einigen online-Spenden von… anonymen Bankkonten“, sagt Elias mit einem Seitenblick auf Red.

„Weiß nicht, wieso du mich anstarrst.“

„Du hast definitiv keinem reichen Schnösel das Bankkonto geknackt.“

„Genau.“

Martha streicht über meine Wange, mit einer Sänfte die ich seit Jahren nicht mehr gespürt habe. Der verletzte Teil in mir, der sich immer noch nach einer Mutter sehnt, schreit auf und wimmert wie ein getretener Hund.

„Ich habe jede Nacht eine Kerze ins Fenster gestellt“, sagt Martha, „Und habe jede Nacht gehofft, dass du zurückkommst. Und jetzt bist du endlich hier.“

Mein Blick streicht zu dem Fensterbrett hinter dem Tisch. Es ist mit Wachsflecken in allerhand Farben besprenkelt, in der Mitte steht eine Kerze mit schwarzem Docht, halb abgebrannt.

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist, bei der Geschichte, die das Heim mit Bränden hat?“

Einige lange Sekunden Stille vergehen.

„Nona, du bist so ein Idiot“, sagt Red stumpf.

Ich lache schrill auf, dann falle ich auf die Knie und klammere mich an Martha’s Roben wie ein kleines Kind, vergrabe mein Gesicht in ihrem Rock und zittere bloß noch. Ich fühle mich wieder so, als wäre ich sechzehn Jahre alt, winzig und verängstigt und verletzt.

„Ist schon gut, Liebes“, sagt Martha und streicht mir über den Kopf.

„Ich versteh’s nicht“, bringe ich schließlich heraus, von Schuld gewürgt, „Wieso bist du nicht sauer? Ich hab das Heim abgebrannt, ich hab Olivia getötet!“

Martha stockt. Sie legt ihre Hand an meine Wange.

„Liebes“, sagt sie vorsichtig, „Olivia ist nicht tot.“

Die vier Worte machen erst keinen Sinn, dann weigere ich mich, sie zu akzeptieren, und dann überschwemmt mich so eine gewaltige Welle Erleichterung, dass ich in hysterisches Gelächter ausbreche.

„Nona? Alles gut?“, sagt Elias vorsichtig und legt seine Hand auf meinen Rücken.

„Ja!“ Ich habe kaum noch Luft in der Lunge und lache immer noch. So sehr ich es auch will, ich kann nicht aufhören. „Mir geht’s fantastisch! Hab’ mich noch nie besser gefühlt! Heilige verfickte Scheiße…“

Ich krümme mich am Boden zusammen, presse die Hände auf mein Gesicht, und lache irgendwie immer noch, obwohl mir Tränen in Bächen das Gesicht herunterlaufen.

„Muss ich sagen, dass du auf deine Wortwahl aufpassen solltest?“, sagt Martha sanft. Als ich nicht antworte, wendet sie sich Red und Elias zu. „Könnt ihr beiden so lieb sein und Teewasser aufsetzen?“

Ich höre Schritte und eine zufallende Tür. Dann ist es leise, außer meinem wahnsinnigen Gekicher. Martha lehnt sich herunter und wischt mir die Tränen aus den Augen.

„Hast du all die Jahre geglaubt, dass Olivia gestorben ist?“, fragt sie.

„Ja.“ Ich schniefe und schnappe nach Luft. „Ich hab sie gefunden, damals. Sie war so verdammt verbrannt, und— Wie hat sie überlebt? Wie geht es ihr?“

„Sie war verletzt, aber es geht ihr gut“, sagt Martha. „Das letzte Mal, als wir geredet haben, hat sie gesagt, dass ihre Narben kaum noch wehtun. Sie hat eine sehr gute Physiotherapeutin gefunden.“

„Sie hat ausgesehen wie eine Leiche, als ich sie gefunden habe!“, beharre ich.

Martha schüttelt bloß den Kopf und zieht mich in eine Umarmung.

Zum ersten Mal seit sieben Jahren erlaube ich mir, mich wirklich zu erinnern, was damals passiert ist. Jedes andere Mal war die Erinnerung so schmerzhaft, dass ich sie nur verdrängen wollte. Und jetzt, nach all der Zeit, sind die Details unscharf. War sie wirklich in so einem schlechten Zustand?

Ich bin mir nicht sicher. Was ich schon weiß, ist dass ich sechzehn war, Todesangst und wahrscheinlich eine Rauchvergiftung hatte, und verängstigt durch ein brennendes Heim gelaufen bin.

„Ich hab sie liegen gelassen“, flüstere ich mit wunder Stimme.

„Du warst ein Kind“, sagt Martha.

„Das hat Red auch schon gesagt.“

Sie lächelt sanft. „Ich hab ihn gut erzogen.“

Während ich mich aufrapple und mir die Tränen vom Gesicht wische, kommen Red und Elias zurück ins Zimmer. „Der Kessel steht“, sagt Red.

Martha summt. „Welchen Tee möchtet ihr denn?“

„Früchtetee“, sagt Elias.

„Schwarztee“, sagt Red.

„Chai“, sage ich.

Martha drückt mich noch ein mal fest, dann macht sie sich langsam auf den Weg nach unten, ich nehme an in die Küche der Cafeteria.

„Hast du dich wieder eingekriegt?“, fragt Red mich.

„Einigermaßen, ja“, sage ich und wische mir noch einmal über das Gesicht.

„Du hast wirklich die ganze Zeit geglaubt, dass du Olivia umgebracht hast?“, fragt Elias mitfühlend.

Ich nicke langsam. „Es ist kein Tag vergangen, an dem ich mich dafür nicht schuldig gefühlt habe.“

Red schüttelt den Kopf. „Ihr geht’s gut. Ihre Haare haben eine Weile gebraucht, bis sie wieder gewachsen sind, aber sonst…“

Ich lache auf. Das Gefühl ist unbeschreiblich; es ist, als hätte mein ganzes Leben lang ein Gewicht auf meiner Brust gelastet, das mir die Lunge zerquetscht, das Herz eingeengt und die Kehle zugeschnürt hat, das sich endlich gelüftet hat.

Die Tür hinter uns geht auf und Martha kommt mit einem Tablett hinein, auf dem vier dampfende Tassen Tee stehen.

„Setzt euch, bitte. Ich sehe euch doch so selten.“

„Wir waren letzte Woche zum Abendessen—“

Setzen.“

Red und Elias holen zwei Hocker und überlassen mir den extra Sessel im Zimmer. Martha gibt uns Tassen, die Zweifellos von Elias gekauft wurden.

Elias schnüffelt an seiner Tasse, dann an meiner. „Lecker. Ich mag Chai Tee.“

Chai“, korrigieren Martha und ich ihn wie aus einem Munde. Ich denke zum ersten Mal seit einer Ewigkeit wieder etwas auf Hindi, und während nicht alles davon auf Anhieb Sinn ergibt, bin ich mir ziemlich sicher, dass alles Schimpfwörter sind.

„Du sagst Tee-Tee“, murre ich und nehme einen Schluck.

„Ich dachte mir wirklich, ich hab dich besser erzogen als das“, sagt Martha mit einer Enttäuschung in der Stimme, die nur eine Mutter beherrscht.

Elias sieht hilfesuchend zu Red, der in Ruhe seinen eigenen Tee trinkt.

Ich werfe ihm einen letzten missbilligenden Blick zu, bevor ich mich wieder Martha zuwende. „Es ist gut, wieder zuhause zu sein.“

Sie lächelt und tätschelt meine Hand.

„Wie geht es dir eigentlich? Wir haben uns ja seit einer Weile nicht mehr gesehen“, frage ich.

„Oh, du weißt. Meine Gelenke knacken und knirschen lauter, aber das hält mich von nichts ab.“ Sie lacht sanft. „Solang ich meine Kinder noch hochheben kann, ist alles in Ordnung.“

Ich muss grinsen. „Vielleicht sollte ich mich mal freiwillig melden und hier aushelfen?“

„Du?“, fragt Red mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ich.“

„Du bist diejenige, die Aufsicht braucht“, sagt Elias und pustet in seine Tasse.

„Halt die Klappe und trink deinen Tee-Tee.“

Er lehnt sich vor, streckt mir die Zunge raus und schüttet dabei etwas Tee aus.

Ich muss lächeln. Die Jahre über habe ich mir immer wieder gewünscht, zu dem zurückzugehen, was ich vorher hatte. Vor dem Brand, oder vor dem Autounfall. Jetzt, wo ich wieder hier bin, ist alles anders. Nicht schlecht— nur anders.

Dann wiederum bin ich auch anders.

Mein Blick wandert zum Fensterbrett, zu den Wachsflecken und der weißen Kerze, die in der Mitte steht. Schließlich konzentriere ich mich auf den Docht und lasse auf ihm eine kleine Flamme aufleben.

Teil 7.5

Tinnitus kreischt in meinen Ohren, so laut, dass ich ihn in meinen Zahnwurzeln spüre.

Um mich herum ist nur Schutt, Asche und Fetzen von Blech. Die Geschwindigkeit und der Aufprall haben unser Auto zerrissen, als wäre es ein Spielzeug. Der Asphalt hat den Rest getan, und nun liege ich auf der Straße, meine Haut teilweise von meinem Fleisch geschabt, und muss mit anfühlen, wie ich verbrenne.

Ich will schreien. Mein Atem liegt quer in meiner Kehle, und egal wie sehr ich mich anstrenge, er will sich nicht weiter als auf meine Zunge bewegen. Mein stilles Geschrei geht im Kreischen unter, das meine Ohren erfüllt.

Vor mir hebt sich eine grausame Form aus den Flammen, ein Etwas aus Asche und Ruß, Feuer und Hitze. Zwei Münder öffnen sich.

Es packt meinen Kopf, seine Pranke absurd groß, verbrennt dabei meine Haare, und zwingt mich dazu, ihn zu drehen. Zwischen den Trümmern ist Rot, in Strömen und in Pfützen, und an der Quelle ein Gesicht, das nicht ganz meines ist, denn die Augen sind braun. Daneben schwarze Haare, die durch Blut an einem Gesicht mit blauen Augen kleben, Purpurrot auf bleicher Haut— zwei Mal. Dasselbe Aussehen, nur kleiner.

Alle Augen sind leer.

Erinnerst du dich?, fragt die Kreatur.

Ich schreie.

Erst spüre ich mein Herz, das gewalttätig in meinem Brustkorb hämmert, dann den Schmerz in meiner Lunge, dann das Bettzeug, das unter meinen verkrampften Fingern zerreißt.

Ein ersticktes Wimmern zwängt sich aus meiner Kehle. Ich bekomme keine Luft. Mein Atem geht flach und hastig, ich zittere am ganzen Leib und habe das Verlangen, aus meiner eigenen Haut zu fahren, und gleichzeitig packt mich so ein gewaltiger Schwindel, dass sich das Bett unter mir dreht. Ein gewaltiger Schmerz sitzt in meiner Brust, ein Druck, der droht, meine Rippen nach außen aufzusprengen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, ich hätte einen Herzinfarkt.

Ich versuche, mich aufzusetzen, aber ich kann mich kaum auf die Ellbogen heben. Übelkeit überschwemmt meinen Magen, und der Schwindel wird so schlimm, dass ich würgen muss. Schwerfällig lasse ich meine Füße vom Bett rutschen und setze mich, beuge mich nach vorne und schnappe nach Luft.

Ich bin mir nicht ganz sicher, wie lange ich so sitze. Es können Stunden oder Minuten sein, bis ich mich endlich wieder unter Kontrolle kriege, bis sich die Übelkeit legt und der Schwindel verfliegt und langsam der brennende Schmerz in meiner Brust vergeht. Dann beruhigt sich auch langsam mein Herz. Meine Lippen spüre ich trotzdem nicht, und ich zittere, als hätte ich Schüttelfrost.

Tief durchatmen. Ich fahre mir durch die Haare, bleibe mit meinen Fingern hängen und reibe mir schließlich über das Gesicht.

Mein Blick wandert zu dem Telefon, das auf dem Nachtschrank liegt. Nach dem Anschalten und dem schrecklichen Stechen in den Augen, als mich das Ding blendet, zeigt es mir eine Uhrzeit von knapp vor eins an.

Trotz der Erschöpfung gebe ich den Traum von Schlaf auf, lasse mich vom Bett rutschen und verlasse die kleine Kammer. Irgendjemand wird schon wach sein, um mich abzulenken.

Im Hinterzimmer sind alle Lichter an, der Fernseher läuft. Das Erste, das mir in die Augen fällt, sind die Haare am Tisch, die mich gewaltig verwirren, bis ich Joyce auf dem Sofa finde. Sie flechtet gerade einige letzte Zöpfe in ihre Haare hinein.

„Hey.“ Ich werfe mich neben sie auf das Sofa.

Joyce macht nur ein begrüßendes Geräusch, denn sie hält eine Häkelnadel zwischen den Zähnen. Sie flechtet und knüpft die letzten paar Zöpfe, wobei ich ihr fasziniert zusehe. Ihre Finger arbeiten schnell, gezielt und elegant. Sobald sie fertig ist, wirft sie die Häkelnadel auf den Tisch vor ihr, zwischen Haarverlängerungen und deren Verpackungen, Spangen, zwei verschiedenen Kämmen und einer Bürste.

„Steht dir“, sage ich.

Sie grinst breit und streicht ihre Haare von einer Schulter auf die andere. „War mal wieder Zeit für was Neues.“ Daraufhin beäugt sie mich mit einem Blick, der es beinahe schafft, nicht abwertend zu sein. „Und wann hast du das letzte Mal was für deine Locken gemacht?“

Sie zupft ohne Warnung eines meiner Haare aus und zieht es zwischen ihren Fingern auseinander. Es zerreißt sofort.

„Nur Asche und Regenwasser“, witzle ich, doch es steckt eine gewisse Wahrheit darin. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal auf mein Aussehen geachtet habe. Wenn es jeden Tag darum geht, nicht zu sterben, kommt man auf solche Gedanken nicht. Selbst in meinen Jahren bei der ZEFHA habe ich meine Haare meist hochgebunden und so gelassen, weil ich einfach nicht weiß, was ich damit anstellen soll.

„Vielleicht sollte ich sie einfach abrasieren“, denke ich laut.

„Nicht, wenn ich was zu sagen hab“, sagt Joyce und deutet mir, aufzustehen. Ich folge ihr ins Badezimmer und lasse mich von ihr manövrieren, bis ich mit dem Kopf über dem Rand der Badewanne hänge.

„Du weißt, dass du das nicht machen musst, oder?“, frage ich, während sie meine Haare durchweicht. Meine Stimme hallt von dem Enamel der Wanne ab.

„Ist gute Übung.“

„Übung für was?“

„Was denkst du“, sagt sie und beginnt, in den Schränken des Badezimmers herumzusuchen. „Alle glauben, dass sie mit ihren kosmetischen Problemen einfach zu mir kommen können. Und, ich meine, ja, ich mache Haare, ich kenn mich mit Make-Up aus, ich tätowiere, ich pierce— aber ich bin nicht ihre Mami, verdammt!“

Ich kichere. „Klingt wie ein ordentliches Resume.“

„Alles selbst beigebracht“, sagt sie und beginnt, irgendetwas in meine Haare zu schmieren.

„Selbst beigebracht?“, frage ich. In letzter Zeit wird es immer einfacher, mich an Dinge vor dem Autounfall zu erinnern, und ich weiß noch genau, dass meine Mutter mir immer versucht hat, beizubringen, wie ich meine Haare mache. Einfach einseifen und auswaschen und dann trocken föhnen konnte nur mein Vater.

„Ist eine lange Geschichte, die ich lassen würde. Außer, du willst eine sehr depressive Dose Bohnen aufmachen.“

„Mit nem Glas Wein vielleicht.“

Joyce lacht auf und drückt mir den Duschkopf in die Hand. „Spül das aus. Weiß oder Rot?“

„Mir egal.“

Sie verschwindet in die Küche, redet aber laut genug, damit ich sie trotzdem höre. „Meine Mutter war eine von diesen komischen weißen Frauen, die ein exotisches Baby haben wollte.“

Ich verziehe angewidert das Gesicht. „Klingt grausam.“

„War sie.“ Joyce kommt mit einer Flasche und zwei Gläsern ins Bad, die sie auf dem Boden abstellt, gerade rechtzeitig, damit ihre Hände frei sind und sie mir auf die Finger hauen kann, als ich zum Handtuch greife. „Das ist schlecht für deine Haare.“

„Sorry.“

Sie wirft mir ein anderes Tuch zu, das weitaus feiner ist. Ich wickle meine Haare darin ein, während Joyce die Flasche Wein aufmacht. „Ja, sie hatte keine Ahnung, was sie mit uns machen soll. Wir waren immer auf uns allein gestellt, Val und ich.“ Sie seufzt. „Und während wir älter geworden sind, bin ich mehr und mehr verantwortlich gewesen, für solche Sachen wie Haare oder… Blutergüsse überdecken.“

Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. „Was ist mit deinem Vater?“

Ich setze mich auf und nehme eines der Gläser, das Joyce großzügig anfüllt. Sie trinkt erst zwei große Schlucke und zuckt dann mit den Schultern. „Hab keinen. Nie kennengelernt, und will ich auch nicht. Meine Mutter wollte immer die perfekte Familie, also hat sie irgendeine arme Sau bestochen, damit sie sein Sperma bekommt, und sich damit Zwillinge machen und einsetzen lassen“, sagt sie und grinst zynisch.

„Was zur Hölle stimmt mit der Frau nicht“, murmle ich und trinke.

„Hab ich mich auch mein ganzes Leben lang gefragt.“

Ich kichere in mein Glas hinein.

Joyce stellt ihres am Rand der Badewanne ab und setzt sich daneben, wickelt meine Haare aus und schmiert schon wieder irgendwas rein. Ich weiß vage, dass meine Mutter dasselbe gemacht hätte, aber nicht, was als nächstes kommt. „Echt kein Wunder, dass Val und ich irgendwann abgängig geworden sind. Selbst die Straße war besser als dieses Monster…“

„Alles ist besser als die Straße“, sage ich und werfe ihr über die Schulter einen Blick zu.

„Dann freut es mich, dass du so gute Eltern hattest“, sagt Joyce mit einem scharfen Unterton.

Welche Antwort ich auch immer hatte bleibt mir in der Kehle stecken. Wie schrecklich muss ihr Zuhause gewesen sein, dass sie lieber gar keines hatte?

„Sorry“, sage ich, „Ich kann mir nicht vorstellen, dass… Es ist einfach so verdammt wahnsinnig, ein Kind in die Welt zu setzen, nur damit man es dann misshandelt.“

Sie macht ein zustimmendes Geräusch. „Ist es. Waren deine Eltern besser?“

Ich ziehe die Knie an die Brust und lege meine verschränkten Arme darauf, darauf wiederum mein Kinn. „Jedes Mal, wenn ich an sie denke, finde ich was neues, wofür ich sie vermissen kann.“

Joyce hält inne. Sie lässt kurz von meinen Haaren ab, trinkt ihr Glas aus und schenkt uns beiden nach.

Ich überlege, hacke weiterhin auf den Erinnerungen herum. „Meine Mutter hatte Angst. Viel. Ich versteh mittlerweile warum.“ Ein Lächeln breitet sich unwillkürlich auf meinen Lippen aus. „Und sie hat ihr Bestes getan, das nie zu zeigen. Sie war immer freundlich, liebend, so… unzerstörbar. Als Kind war sie für mich eine Heldin.“

Joyce lacht sanft. „Und dein Vater?“

„Das größte Kuscheltier, was ich gekannt habe“, sage ich und lehne mich leicht vor, damit Joyce einfacher zu meinem Hinterkopf kommt. „Ich hab ihn nie schreien gehört, glaube ich. Er war immer der Schlichter. Hat alles beruhigt. Jeden aufgeheitert.“

„Ein Softie“, sagt Joyce.

Ich mache ein zustimmendes Geräusch. Joyce steht auf und verlässt kurz das Bad, kommt kurz darauf mit den beiden Kämmen zurück, die sie im Wohnzimmer vergessen hat. „Kein Wunder, dass du glaubst, Obdachlosigkeit könnte das Schlimmste sein, was einem passieren kann.“

„Ich glaub nicht, dass es das Schlimmste ist“, wende ich ein, „Nur… ein Dach über dem Kopf? Regelmäßiges Essen und Trinken?“

„Wer hat gesagt, dass wir von ihr regelmäßig was zu Essen hatten?“

Wieder habe ich das Gefühl, als hätte mir jemand in die Kehle geschlagen.

„Wenn du vier Wände für so wichtig hältst, wieso bist du dann nicht bei der ZEFHA geblieben?“, fragt Joyce und beginnt, langsam Knoten aus meinen Haaren zu zupfen, „Wegen deiner Freiheit?“

„Rache“, antworte ich. Dann, langsam, wird mir bewusst, dass das nicht die Wahrheit ist, zumindest nicht die ganze. „Und weil sie mich fast umgebracht haben.“

Joyce sagt nichts, und in der Stille wird mir flau im Magen.

„…tut mir Leid.“

Joyce kichert bloß. „Ja, ja.“

„Das mit den Haaren und dem Schminken versteh ich jetzt“, sage ich, „Aber tätowieren? Piercen?“

„Ich wollte einfach“, sagt sie, „Und mit irgendwas musste ich mich ja nützlich machen.“

„Ich kauf dir nicht ab, dass du die Anführerin einer Gang geworden bist, indem du jemanden Nadeln in die Haut gesteckt hast.“

Sie lacht auf. „Keine Nadel, da hast du recht… Nicht oft.“

Ich grinse sie mit erhobener Augenbraue kopfüber an. „Komm schon, raus damit. Was ist dein Gimmick?“

„Mein Gimmick“, betont sie, „Ist unentdeckt bleiben. Sag, wie oft hast du mich beim Planen oder beim Arbeiten erwischt?“

Ich denke nach. Während ich das Trio eigentlich immer wieder nach oder vor irgendwelchen Aufträgen sehe, und ich Val ständig über den Weg laufe, während er Pläne schmiedet oder sich vernetzt, bekomme ich Joyce‘ gesamtes Dasein nur am Rand mit. Dadurch, dass sie beim Gehen keine Geräusche macht, wundert mich das nicht, aber selbst dafür sehe ich sie viel zu wenig.

„Gar nicht“, sage ich verwundert, „Was zur Hölle machst du die ganze Zeit?“

„Nichts, von dem du was mitbekommen würdest“, flötet sie und schüttet uns Wein nach.

Sie wickelt meine Haare wieder ein und befestigt das Handtuch mit einem Knoten. „Das trocknet jetzt mal.“

„Du jagst mir Angst ein, Joyce“, sage ich und nippe an dem Wein.

„Weil du ja so harmlos bist.“

Ich kann nicht anders, als stolz zu lachen. „Ich weiß, ich sollte mich nicht darüber freuen, aber ich muss schon sagen, es ist schön, nicht wehrlos zu sein.“

„Ich hab noch nie einem Menschen den Tod gewünscht, aber einige Nachrufe hab ich mit großer Freude gelesen.“

Wieder muss ich auflachen, während Joyce zufrieden kichert. „Das hab ich glaub ich von Mark Twain geklaut.“

Ich lehne mich zurück, lege meinen Kopf in Joyce‘ Schoß und lasse sie gedankenverloren an dem Handtuch um meine Haare herumspielen.

„Ich vermiss sie manchmal“, sagt sie plötzlich.

Ich werfe ihr einen fragenden Blick zu.

„Meine Mutter“, erklärt sie. „Naja, nicht sie, nicht wirklich. Ich wünschte, ich hätte als Kind eine gute Version von ihr gehabt. Macht das Sinn?“

Ich nicke langsam. Sie schweigt eine Weile.

„Wie ist eine echte Mutter?“, fragt sie schlussendlich.

„Lieb“, sage ich sofort. Ich schließe meine Augen und lasse meine Gedanken wandern. Anstatt wie sonst verkrampft nach Erinnerungen zu greifen, lasse ich sie zu mir kommen. „Geduldig, auch wenn sie es definitiv nicht sein sollte. Sanft. Verstehend. Akzeptierend.“

„Liebend?“

„Bedingungslos“, bestätige ich, „Auch, wenn du ein kleines Scheißerchen bist.“

Sie kichert. Ich mag das Geräusch.

„Ich weiß noch“, fange ich langsam an, „Wie ich ein Teenie war. Dreizehn, vierzehn Jahre als, vielleicht. Ich hab sie gehasst.“

„Gehasst?“ Joyce‘ Stimme ist anklagend.

Ich summe nur zustimmend. „Gott, ich hab sie gehasst. Um das Alter hab ich schon verstanden, dass es nicht normal ist, die ganze Zeit im Keller zu leben.“ Ich öffne die Augen wieder, starre aber bloß die Decke an. „Ich wollte raus, aber sie musste mich verstecken. Die ZEHFA hätte mich als Kind in Fetzen gerissen. Besser im eigenen Keller feststecken als in einer Fensterlosen Zelle.“

„Das war nicht ihre Schuld“, sagt Joyce.

„War es nicht“, gebe ich zu, „Und trotzdem habe ich sie gehasst.“

Zwischen uns dehnt sich die Stille, und ich bin dankbar dafür. Die Erinnerungen sind sehr zerbrechlich.

„Ich hab sie angeschrien“, sage ich, „Ich glaub, ich hab geweint. Und weißt du, was sie gemacht hat?“

„Zurückgeschrien?“, fragt Joyce. „Dich geschlagen und dir gesagt, es wäre deine eigene Schuld?“

„Sie hat sich entschuldigt.“

Joyce schnappt hörbar nach Luft. Ich kichere.

„Das hat mir den ganzen Wind aus den Segeln genommen“, sage ich grinsend, „Wir haben zusammen geheult. Im Endeffekt haben wir beide einfach gelitten, und wir hatten uns trotzdem lieb.“ Ich seufze. „Ich hab dich angelogen. Ich hab sie nie gehasst. Und sie hat mich nie gehasst.“

Ich halte noch immer mein Glas. Ich leere den Rest und stelle es zur Seite.

„Du warst nur wütend auf sie“, sagt Joyce langsam.

„Ich war müde, traurig, enttäuscht, verängstigt, isoliert und verletzt.“

Joyce streicht über meinen Kopf. „Danke.“

Ich halte ihr als Antwort mein leeres Glas hin. Sie füllt es an, schenkt sich selbst nach, und leert damit die Flasche.

„Ich hab dir gesagt, wir machen eine depressive Dose Bohnen auf.“

„Eher eine depressive Flasche Wein“, summe ich. In Wahrheit fühle ich mich viel besser.

Einige Momente herrscht Stille zwischen uns. Ich lehne meinen Kopf zurück und schließe die Augen. Wir trinken Wein. In meinen Ohren knistert Wasser.

Schließlich seufzt Joyce und zupft geistesabwesend an dem Handtuch herum, das um meine Haare gewickelt ist. „Ich vermiss meine Freundin.“

Ich lächle. „Ist das süß.“

„Victoire“, sagt sie, „Meine Viccie. Ich vermiss sie immer, wenn ich beschwipst bin.“

Kichernd leere ich mein Glas zur hälfte. „Schreib ihr doch.“

„Sie schläft.“

„Dann hat sie was Liebes zum Lesen, wenn sie aufwacht.“

Kurz zögert Joyce, dann zieht sie ihr Telefon aus der Tasche. Sie tippt, dann hält sie inne. „Verrat’s niemandem, aber…“

Ich pantomime, als würde ich einen Reißverschluss über meinem Mund zuziehen.

„Ich will ihr einen Antrag machen.“

Aufgeregt atme ich auf und drehe mich mit einem breiten Grinsen zu Joyce um. „Mach’s!“

„Werd ich“, sagt sie, und sieht etwas verlegen drein. „Bald. Sobald das Wetter stimmt. Und wenn ich noch ein paar Mal geübt hab, wie ich ihr Lieblingsdessert backe.“

Ich lache leicht und will mich wieder zurücklehnen, doch dabei rutscht das Handtuch über meine Augen.

„Wann kann ich das runter?“, frage ich und ziehe es aus meinem Gesicht.

„Morgen.“

„Das muss ich beim Schlafen oben haben?“

„Du trägst eine Maske beim Schlafen, Nona.“

„Nicht freiwillig!“

Sie verdreht lächelnd die Augen.

„Ist nicht so, als würde ich heute noch schlafen“, murre ich.

Joyce schürzt ihre Lippen und summt. „Kennst du Mein Vetter Winnie?

„Du hast nen Vetter?“

„Den Film.“

„Nein.“

„Inakzeptabel“, sagt sie und schubst meine Schulter, „Komm mit. Du hast ne Bildungslücke, die ich füllen muss.“

Ich stehe auf, nehme mein Glas und die leere Flasche und folge ihr grinsend.

Teil 7.6

„Nein, nein, die dritte Straße runter und dann bei der zweiten links abbiegen“, sagt Quinns Stimme über das Telefon.

„Quinn, ich will dir wehtun“, murre ich und jogge den ganzen Weg, den ich gerade gelatscht bin, wieder zurück.

„Das kannst du erst, wenn du hergefunden hast.“

Ich seufze. Nachdem Red mir Quinns und Thanas Nummern gegeben hat, hab ich Quinn angerufen und mich zusammenstauchen lassen, wieso es so lange gedauert hat. Erst dann ist mir wirklich bewusst geworden, dass sie keine Ahnung haben, was passiert ist.

Ich habe heute meine Augenprothese drin.

Das Einzige, was Quinn beschwichtigt hat, war das Versprechen, gleich am nächsten Tag zu ihnen zu kommen. Laut Thanas belustigten Nachrichten hat sie en noch nie so aufgeregt gesehen.

Endlich biege ich in die richtige Gasse ein. Die Wohngebäude hier bilden ein Labyrinth aus Straßen, von dem sogar Quinn und Thana, die den Großteil ihres Lebens in einem Wald verbracht haben, sagen, dass sie sich oft darin verirren.

Quinn wartet auf der Straße auf mich, springt auf der Stelle herum und winkt mir wild. Ich laufe auf en zu, en kommt mir sprintend entgegen und fällt mir in die Arme.

„Was hat so lang gedauert?“, fragt en, „Wir wollten uns treffen! Ich wollte dich füttern—“

En stockt und bricht ab, als en mein Gesicht sieht. Die Angst in ens Augen schmerzt.

„Es ist einiges passiert“, gebe ich zu.

„…wir sollten reingehen.“

Ich nicke.

Quinn führt mich in eines der Wohngebäude, das den anderen um sich vollständig gleicht, und ist dabei unangenehm leise. Mir ist flau im Magen.

Erst, als en die Wohnungstür im zweiten Stock aufsperrt, spricht en wieder. „Willkommen in meiner Luxussuite.“

Die Wohnung ist bescheiden, aber gemütlich eingerichtet. Die Wände haben Wasserschäden, sind aber mit Postern und Kollagen und Fotos tapeziert worden. Die Möbel passen alle nicht zueinander und sehen aus, als hätten die beiden sie vom Straßenrand zusammengesammelt, selbst die Vorhänge sind alle unterschiedlich.

Vor uns liegt eine Kombination aus Wohnzimmer, Esszimmer und Küche, wo Thana mit den Füßen auf dem Tisch auf dem Sofa sitzt. Als sie uns hört, springt sie freudig auf, zögert aber, sobald sie mich sieht.

Ich zwinge mich zu einem Lächeln. „Hey.“

Thana starrt einen Moment lang mit offenem Mund, dann zieht sie mich wortlos in eine Umarmung.

Ich wehre mich nicht dagegen. Es kommt mir unwirklich vor— als ich sechzehn war, war ich einen Kopf kleiner als sie, mickrig und dünn, und jetzt bin ich beinahe so groß wie sie und sie ist diejenige, die dünn auf mich wirkt.

Thana legt ihre Hände an meine Wangen und löst somit die Umarmung. „Was…?“

„Viel“, sage ich.

„Lass sie hinsetzen“, sagt Quinn.

Thana nickt und deutet zum Sofa. Ich setze mich mit ihnen beiden und streiche mit flachen Händen über meine Haare, anstatt sie mit den Fingern zu verwirren, was Joyce mir geraten hat. „Ich weiß nicht mal wirklich, wo ich anfangen soll“, gebe ich zu.

„Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht möchtest“, sagt Thana sanft.

Ich betaste den Gedanken vorsichtig und verkrampfe mich innerlich.

„Nein“, sage ich langsam, „Ich will wirklich nicht darüber reden.“

„Ist schon okay“, sagt Quinn und knufft meine Schulter.

Ich schenke en ein kleines Lächeln. „Vertraut mir wenn ich sage, ich hätte euch weitaus früher besucht, wenn ich gekonnt hätte.“ Trotzig schüttle ich das unangenehme Gefühl ab, das sich jedes Mal an mich klammert, wenn ich an Nicht-Ich denke. „Und wie läufts bei euch?“

„Ich bin ein vorzüglicher Arbeiter, nur weil mich noch niemand beim Klauen erwischt hat“, sagt Thana stumpf. Ich breche in Gelächter aus.

„Und du, Stinktier?“, frage ich Quinn.

„Hab gekündigt“, murrt en.

„Hast du nicht“, sagt Thana.

„Ich arbeite nicht mehr dort!“

Thana wendet sich mir zu, ein unbeeindruckter Ausdruck auf ihrem Gesicht. „En hat so oft verschlafen, dass ens Boss en mit der Kündigung gedroht hat. Und am Tag darauf ist en einfach gar nicht zur Arbeit gegangen.“

„Er ist ein Arschloch!“, sagt en aufgeregt, „Außerdem ist meine Teilzeitarbeit viel besser.“

„Teilzeitarbeit?“, frage ich.

En grinst. „Gartenarbeit.“

Ich beäuge Quinn skeptisch. En spaziert stolz ins Nebenzimmer und kommt mit einer meterhohen Hanfpflanze zurück.

Wieder muss ich lachen. „Du kommst von deinem Grünzeug einfach nicht weg.“

„Ich vermisse einfach mein Zuhause“, seufzt en theatralisch, „Hier in der Stadt gibt es so wenig Grün, da muss ich ein bisschen was züchten.“

„Oder rauchen“, sagt Thana.

„Sagst genau du.“

Mich überkommt das Verlangen, mich bei Quinn und Thana zu entschuldigen. Seitdem ich nach Nicht-Ichs Verbrennung aufgewacht bin, schnürt mir ständig Schuld wegen zahllosen Gründen die Kehle zu.

Doch das, was Thana mir bei unserem letzten Treffen gesagt hat, hat gesessen. Und Quinn sieht so verdammt glücklich aus— muss ich en unbedingt an Aaron und Samael erinnern? Es muss so schon schwer genug sein.

Und dann verstehe ich, dass ich gerade versuche, meine Furcht und Schuld auf die beiden abzuladen. Sie haben damit abgeschlossen. Nur ich nicht.

„Ich muss dir alles zeigen“, sagt Quinn hastig, greift meine Hand und zieht mich auf die Beine, „Wir haben zwei Schlafzimmer, und beide haben Betten! Echte Betten! Und wir haben Zeugs in der Küche!“

„Zeugs?“, frage ich belustigt.

„Abgepacktes Zeugs“, sagt Thana, und kann nicht verstecken, dass sie sich auch freut.

Quinn bringt mich zuerst zu ens Schlafzimmer. Es ist ein Saustall. Der Boden ist durch Schnipsel von Papier kaum erkennbar, das Fensterbrett ist mit Holzspänen besprenkelt, das Bett ist nicht gemacht und es liegen überall Kleidung, Verpackungen von Essen und Dosen von Drinks herum. Trotzdem fühle ich mich sofort wohl— es ist gemütlich.

„Ich schnitz immer am Fenster“, erklärt en, „Und wisch dann die Späne nach draußen. Ich schau den Waschbären immer beim Streiten zu.“

Ich kichere und lasse mir alles zeigen; das echte Bett, die weiche Decke und das flauschige Kissen, die Magazine und Zeitungen, die Quinn sammelt, ens erster Laptop, auf den en unglaublich stolz ist.

Vielleicht waren sie mir wirklich nie böse. Vielleicht habe ich einfach angenommen, dass sie sauer auf mich sind, weil ich selbst sauer auf mich war.

Joyce hatte recht. Manchmal ist die Straße besser als das, was man gezwungen wird, ein Zuhause zu nennen. Quinn und Thana scheinen glücklich zu sein, hier und jetzt. Muss ich ihnen wirklich meinen Mist in die Quere werfen?

Quinn zerrt mich als nächstes ins Badezimmer und erklärt freudig, dass sie nie wieder einen Brunnen reinigen oder neu graben müssen, und ich bin einfach nur froh, dass die beiden nicht mehr im Wald feststecken.

Bis wir im Bad fertig sind, wartet draußen Thana mit einem Becher Fertignudeln. „Hat en schon erwähnt, wie viel Warmwasser wir haben?“

So viel!“, sagt en aufgeregt.

Ich lasse mich weiterziehen, diesmal ins andere Schlafzimmer. Thana stellt sich an den Türrahmen und deutet mit ihrer Gabel im Kreis. „Bett. Schrank. Tisch. Da nehm ich Geräte auseinander“, sagt sie. Ihr Zimmer ist penibel sauber, mit Ausnahme des Schreibtisches und dem umgebenden Boden, die mit elektronischen Geräten vollgeräumt sind, die allesamt in verschiedenen Stufen des Auseinandernehmens sind.

„Was machst du damit?“, frage ich.

Thana geht zum Tisch und zieht ein kleines Kästchen aus einer der Schubladen. Sie stellt es hin und drückt mit der Rückseite ihrer Gabel auf einen Knopf. Das Kästchen geht auf, eine Gummiente wird herausgehoben und dreht sich mit blinkenden Lichtern im Kreis, während eine schiefe Melodie spielt.

Quinn nickt ernst. „Wichtige wissenschaftliche Forschungen.“

„Mechanische Forschungen“, korrigiert en Thana, „Und einen Laptop für Quinn reparieren.“

„Nächste Woche gehen wir in ein Museum für Technik“, beginnt Quinn zu erzählen, „Thana wollte schon immer dorthin.“

„Und ja, wir haben genug Geld für den Geschenkladen“, sagt Thana zwischen zwei Bissen. Quinn feixt sie an.

Ich grinse. Wenn ich daran denke, wie verängstigt und leise sie damals waren, wie wenig Worte gewechselt wurden, wenn Aaron und Samael anwesend waren…

Dass ich zur Hälfte dafür verantwortlich bin, dass sie das nicht mehr ertragen müssen, fühlt sich trotzdem nicht gut an. Selbst jetzt, wo ich weiß, dass Olivia noch lebt— oder eher, weil ich weiß, dass sie noch lebt— kann ich nur daran denken, dass ich gezwungen wurde, jemanden zu töten. In aller Fairness, Samael hat mich selbst gezwungen, doch die blanke Panik, die Todesangst, die ich damals hatte, macht das nicht erträglicher.

Das Gefühl, das mich seit damals verfolgt, kann ich nur als Platzangst beschreiben. Jedes Zimmer war zu klein, egal wie groß es war. Aaron und Samael haben die ganze Luft eingenommen. Die Erinnerungen sind verschwommen, aber ich bilde mir ein, dass ich ständig an den Wänden entlanggegangen bin.

Aus der Küche ertönt ein hohes Piepen, und Quinn hastet an mir vorbei. „Ich hab Knoblauchbrot gemacht. Aus der Packung! Denk dir das, du kaufst den Scheiß, packst ihn aus, machst ihn nur warm, und kannst sofort essen!“

Ich schüttle die Gedanken ab und schmunzle. Thana kichert und geht voran in die Küche.

Als ich ihr folge, bemerke ich eine vertraute Taubheit in den Fingern. Trotzig stecke ich meine zitternden Hände ein und zwänge das aufkeimende Gefühl der Panik zurück, bis ich es ignorieren kann.

Es war Scheiße. Aaron war ein Monster und Samael seine Höllenbrut. Aber es ist vorbei, und ich muss loslassen. Wenn ich weiter ständig über meine Schulter schaue, bekomme ich noch Krämpfe im Nacken.

Ich folge Quinn, setze mich neben en auf das Sofa und lasse mir ein Teller vollgeladen mit Knoblauchbrot reichen.

En quasselt noch immer. „Ich brauch von dir eine Liste von dem, was ich verpasst habe—“

Thana räuspert sich.

„Was wir verpasst haben“, korrigiert sich en, „Wir wollen alles machen. Sobald es wieder warm ist, gehen wir in einen Vergnügungspark. Du solltest mitkommen!“

Ich nicke nur enthusiastisch, weil ich den Mund voll Brot habe.

„Was wär mit nem Aquarium. Oder einem Zoo? Angeblich gibt’s auch Viecher, die nicht tödlich sind.“

„Die Viecher im Zoo sind auch tödlich, Quinn, aber die sollen tödlich sein.“

„Was auch immer“, winkt en ab.

Ich muss wieder lachen. Aus dem Augenwinkel erwische ich Thana, wie sie mich beobachtet; in ihren Augen liegt klarer Stolz, der sich besser anfühlt, als ich erwartet hätte.

„Nettes Gesicht“, sagt sie beiläufig. Entweder sie meint, dass mir immer noch ein Stück Brot aus dem Mundwinkel hängt, oder…

Atme durch, und wisch die Schuld von deinem Gesicht. Das war das, was sie mir geraten hat, richtig?

Ich zucke mit den Schultern. „Ist gutes Brot.“

Teil 7.7

Einige Tage nach meinem Besuch bei Quinn und Thana habe ich Nick endlich gefragt, wo er trainiert— es schien mir bei ihm am plausibelsten, dass er in ein Fitnessstudio geht. Er hat mir verraten, dass es ein kleines Warenhaus gibt, das Joyce und Valentin nur für das Training hergerichtet haben. Jeder aus dem inneren Kreis besucht es hin und wieder, doch er am häufigsten und am regelmäßigsten. Der folgende Freitag war einer der wenigen Tage, an denen alle von ihnen gleichzeitig gehen, und er hat mich mitgenommen.

Es ist offensichtlich, dass es kein professionelles Studio ist; die Gewichte sind eingedellt, zerkratzt und der Lack platzt ab, der Boden hat mehrere Löcher, wo die Platten und Hanteln Leuten aus den Händen gerutscht sind, die Abdeckungen aus Schaumstoff sind rissig und an vielen Stellen provisorisch repariert.

Trotzdem und dem intensiven Gestank von Schweiß fühlt es sich gut an, hier zu sein. Ich kann das auffrischen, was Bianca mir in meiner Zeit bei der ZEFHA beigebracht hat, kann meine Kraft wieder aufbauen, und mich einfach wieder so bewegen, wie ich es über die Jahre gewohnt worden bin.

Ich lehne mich zurück und wische mir mit dem Handtuch Schweiß von der Stirn. Nur eine kurze Pause, bevor ich für heute fertig mache.

„Du starrst.“

Ich zucke zusammen, mein Gesicht brennt trotz Schweiß.

Nick lacht auf und patscht mir mit der flachen Hand auf den Rücken, dann sieht er an mir vorbei zu Val, der gerade beim Bankdrücken ist. „Ich kann’s dir nicht verübeln.“

„Klappe“, sage ich, aber es liegt kein Gift dahinter.

„Ich mein’s ernst.“

Ich schnaube. „Wieso trainiert er eigentlich? Ich hab mir gedacht, der Diplomat kämpft nicht.“

Nick zieht die Augenbrauen hoch. „Ich nehm an, aus demselben Grund, wieso du trainierst, obwohl du dein Feuer hast.“

„Hm.“ Ich lasse meinen Blick schweifen. Joyce ist gerade bei irgendeiner Ausdauerübung, von der mir nur beim Zusehen die Arme wehtuen. Auf einer Matte in der Nähe machen Glitzer und Soren einen Übungskampf mit leeren Händen, aber Soren hat keine Chance. Einerseits weil er ein Scharfschütze ist und im Nahkampf nicht besonders ausgebildet ist, andererseits weil er genauso wie ich mit dem Starren beschäftigt ist. Nur glotzt er nicht Val hinterher, überhaupt niemandem aus dem inneren Kreis, sondern einem anderen Mann mit brauner Haut, schwarzen Haaren und einem gepflegten Dreitagebart, der mir bekannt vorkommt, obwohl ich nicht sagen könnte, woher.

„Malik“, sagt Nick, der meinen Blick bemerkt hat.

„Oh“, sage ich und erinnere mich endlich an Sorens Portraits.

„Ja, die beiden…“ Nick zögert und seufzt. „Die sind die letzten, die realisieren, dass sie ineinander verknallt sind.“

Ich kichere, und tatsächlich: In dem Moment, in dem Soren im Kampf seinen Rücken zu Malik dreht, wirft Malik ihm unverkennbare Blicke hinterher.

„Die sind ja wirklich ahnungslos“, murre ich leise, und entscheide, dass meine Pause vorbei ist. Immerhin geht mein Puls wieder normal und ich kann halbwegs normal atmen.

„Nona. Moment“, sagt Nick und greift meinen Ellbogen, bevor ich vollständig aufstehen kann. Ich lasse mich zurück in eine sitzende Position fallen.

Nick kramt in seiner Tasche herum und hält mir eine kleine, orangene Dose entgegen. Ich erkenne das Vi auf dem abgekratzten Etikett.

Ich schnappe die Schmerzmittel aus seiner Hand und spüre einen scharfen Funken Wut in meiner Kehle. „Was soll die Scheiße, Nicky?“

„Joyce hat sich die für mich geborgt“, sagt Nick ruhig. Ich mache mir eine geistige Notiz, um sie herum schärfer auf meine Taschen aufzupassen. „Ich dachte mir schon, dass was nicht stimmt. Wenn du die verkauft hättest, würde ich’s noch verstehen.“

Ich schnaube, schiebe die Dose unter die Bank, auf der wir sitzen, und verweigere ihm die Antwort.

„Ich kann sehen, dass es dir nicht gut geht“, sagt er mit echter Sorge in der Stimme, die in meinen Ohren nur herablassend klingt. „Wieso nimmst du nichts gegen die Schmerzen?“

„Geht dich einen großen Scheißdreck an“, sage ich stumpf und stehe auf. Ich komme zwei Schritte weit, bis sich Nick mir in den Weg stellt, die Arme verschränkt und sich wortlos an eine unbenutzte Rudermaschine lehnt.

Die Stille zwischen uns füllt sich mit tausend Volt. Unwillkürlich drängt sich mir die Idee auf, ihm einfach eine reinzuhauen, doch ich jage meine Fingernägel in das Fleisch meines Arms und reiße mich zusammen.

„Ich will nicht darüber reden“, versuche ich ruhig zu sagen, doch ich klinge lauter und wütender als beabsichtigt. In Wahrheit weiß ich selbst nicht, wieso ich mich so sträube. Die Erinnerung ist immer noch schwammig, aber es hat etwas mit meiner Mutter zu tun.

Nick zuckt mit den Schultern. „Dann musst du nicht. Aber nimm eine.“

„Nach dem Training.“

„Deal.“

Ich schnaube und grinse. „Und jetzt geh weg, du versperrst mir die Aussicht.“

Er lacht auf und schubst mich mit der Schulter. Die Wut verfliegt. Habe ich ihn wirklich fast geschlagen, weil er sich Sorgen um mich macht?

Glitzer hat sich mittlerweile an Sorens Rücken geklammert und lässt einige schwache Übungsschläge auf ihn einprasseln. Soren versucht verzweifelt, Glitzer abzuschütteln, und versagt haushoch.

Ich lache leicht und sehe sofort mehrere Fehler an seiner Haltung: Seine Füße stehen falsch, sein Rücken ist durchgebogen, seine Knie gestreckt. Bianca hätte gesagt, seine Haltung wäre zum Kotzen.

Ein Stich Nostalgie durchfährt mich. Ich hoffe, sie hat das Feuer überlebt.

Es fühlt sich seltsam an. Obwohl ich nie wieder zur ZEFHA zurück will, vermisse ich doch meine Zeit dort in gewisser Weise. Zumindest die Momente mit Bianca und Moby, selbst die Momente, in denen ich Velda gereizt habe.

Aber es ist vorbei. Ich kann nur hoffen, dass es ihnen gut geht, und mich daran erinnern, dass es dort nur ein klein wenig besser war, als obdachlos zu sein.

Meine Gedanken ziehen mich unwillkürlich weiter. Was wohl mit dem Obdachlosenheim passiert ist?

Beim Gedanken an Erna wird meine Kehle eng. Ich fasse kurzerhand einen Entschluss und mache mir eine geistige Notiz, Red später nach dem Heim zu fragen.

„Genug! Du Affe“, faucht Soren und wirft seine Hände in die Luft.

Glitzer springt leichtfüßig auf die Matte und hopst auf der Stelle. „Ich hab dir gesagt, du solltest öfter aus der Nähe kämpfen, du Feigling.“

„Ich will dich mal mit einem Revolver im Wind schießen sehen, Kurzer“, faucht Soren und reibt sich über den Nacken.

Glitzer lacht auf, dreht sich im Kreis und deutet auf mich. „Du. Du bist die Nächste.“

„Ist das eine Drohung?“, frage ich herausfordernd und steige überheblich grinsend auf die Matte.

„Es ist ein Versprechen“, sagt Glitzer und springt ohne Vorwarnung auf mich zu.

Er ist schnell. Verdammt schnell. Ich habe kaum Zeit zu reagieren und den Arm zu heben, um seinen Schlag abzulenken. Er hat mich sofort auf der Defensive. Ich kann nicht einmal wirklich beurteilen, was sein Kampfstil ist oder welche Schwächen er hat, weil ich seine Bewegungen kaum verfolgen kann.

Ich weiche zwei Schritte zurück, eher aus Verzweiflung als durch Taktik. Als er das nächste Mal versucht, anzugreifen, ist es schon eher ein Schlagaustausch als ein einseitiges Gedränge.

Glitzer blockt nicht. Er weicht aus, lenkt ab, doch er lässt nie direkte Schläge zu.

Ich mache einen experimentellen Schritt auf ihn zu, und er springt instinktiv aus meiner Reichweite. Wieder schleicht sich ein Grinsen auf mein Gesicht. Fuck, ich habe das vermisst.

Zwischen uns entsteht eine Pause. Glitzer schätzt offensichtlich ab, ob er näher kommen kann. Ich gehe in die Mitte der Matte, halte mich bereit und lasse ihn entscheiden.

Als er wieder auf mich zuspringt, komme ich ihm entgegen. Er zögert, nur für einen Moment, unsicher zwischen Ausweichen und Angreifen. In dem Moment schlage ich zu— und Glitzer weicht aus, als wäre es ein Spiel.

„Du musst schon schneller sein als das“, flötet er.

Ich nehme es als Einladung. Wieder und wieder schlage ich zu, ziele auf seinen Kopf, Körper, leichte Schläge, die nicht meine ganze Energie verlangen, genau so, wie ich es gelernt habe. Doch Glitzer hopst und biegt sich mühelos um jeden Angriff herum.

„Du nervst“, schnaube ich amüsiert, verstehe aber langsam auch, wieso Glitzer zu Vals innerem Kreis gehört. Ich selbst bin ordentlich schnell— Bianca hätte gesagt, ich habe die Kraft, Geschwindigkeit und den Enthusiasmus einer Kugel, und die Zielgenauigkeit und Taktik eines betrunkenen Nilpferds— aber Glitzer ist schneller. Weitaus schneller.

Ich schaffe es immerhin, Glitzer außer Atem zu bringen. Er hopst grinsend von einem Bein auf das andere und hält wieder Abstand.

„Ist das für dich genauso langweilig wie für mich?“, frage ich.

„Das ist der längste Übungskampf, den ich jemals machen durfte“, keucht er lachend.

Sein Enthusiasmus ist ansteckend. „Wo hast du das Kämpfen gelernt, Brandgefahr?“, fragt er und geht langsam im Kreis. Ich weiß, dass er mich nur zur Pause zwingen und ablenken will, um sich zu erholen, weil ich dasselbe auch bei Bianca gemacht habe, als ich noch jung war, aber ich lasse ihn. Mit ihm zu kämpfen macht Spaß.

„Zuerst von einem Stinktier mit einem Messer“, sage ich, „Dann von meiner Babysitterin, damit sie nicht auf Monster aufpassen musste, und dann von den Straßen.“

„Das erklärt alles“, sagt Glitzer, Sarkasmus dick in seiner Stimme.

Bevor er das letzte Wort fertig ausgesprochen hat, setze ich ihm hinterher und unser Tanz beginnt von vorne. Schlag um Schlag.

Glitzer ist schneller. Ich spüre Druck und Schmerz in meiner Magengrube, doch es reicht kaum, um ein Keuchen aus mir herauszudrücken. Trotzdem gibt es Glitzer genug Zeit, um an mir vorbei zu hechten, sich abzustoßen und seine Beine um meine Taille zu wickeln. Bevor ich reagieren kann, prasseln bereits Schläge auf mich ein und ich muss mich zusammenreißen, um mich zu konzentrieren und meine Haltung richtig zu halten. Ich greife nach Glitzers Knöchel und drehe sein Bein entgegen der Richtung, in die sich sein Knie drehen sollte.

Er keucht auf und löst seine Klammer, rutscht hinunter und will seinen Knöchel aus meinem Griff reißen, doch ich packe bloß fester zu und reiße sein Bein in die Höhe. Glitzer knallt mit dem Rücken auf den Boden, doch dort bleibt er nicht lange; er windet seinen Knöchel aus meinem Griff, drückt seinen Rücken und seine Handflächen auf den Boden, um seine Hüften zu heben, und schon fliegt ein Tritt in Richtung meines Gesichts.

„Du bist widerspenstig“, sage ich und weiche aus— der Luftzug von dem Angriff pustet mir die Haare aus der Stirn.

„Danke.“

„Wie Unkraut.“

Ich lasse ihn angreifen, blocke seine Schläge nicht einmal ab, sondern drehe einfach mein Gesicht weg oder weiche aus seiner Reichweite zurück.

„Könnt ihr auch mal fertig werden?“, fragt eine Stimme, die ich als Joyce‘ erkenne, doch ich wende meine Augen nicht von Glitzer ab, um zu ihr zu sehen. Den Fehler macht man nur ein Mal.

„Es ist aber gerade so lustig“, sage ich und trete nach Glitzers Beinen. Er kann nicht schnell genug ausweichen, wird von den Füßen gerissen und landet wieder auf dem Boden. Ich trete nach ihm, er rollt sich weg, und mein Tritt donnert stattdessen ohrenbetäubend auf der Matte auf.

Glitzer rappelt sich auf und springt auf, als würde er ein Rennen beginnen, Finger- und Zehenspitzen am Boden und entschlossene Hechtsprünge in meine Richtung. Ich entschließe, dass ich Joyce‘ Rat folgen sollte.

Werden wir fertig.

Glitzer springt, zielt auf mein Gesicht. Ich lasse ihn. Sein erster Schlag trifft meine Wange, die bloß leicht zu kribbeln beginnt. Anstatt abzuwehren oder anzugreifen wickle ich meine Arme um ihn, drücke zu, bis er keucht. Als Antwort setzt er zu einem zweiten Schlag an— nur diesmal hat er einen weitaus besseren Winkel.

Schmerz explodiert in meiner Nase, mir wird schwarz vor Augen. Trotzdem lache ich auf, hole aus, und schleudere Glitzer mit voller Wucht auf die Matte hinunter.

Ein Knall, ein Keuchen. Ich stakse zur Seite weg, kneife die Augen zu und halte mir die Nase, die taub und warm und feucht wird.

In Begleitung von meinem Adrenalin getränkten Kichern keucht Glitzer am Boden ein pfeifendes Lachen heraus.

Langsam kommt das Licht in mein Auge zurück. Joyce, Val und Nick sehen uns mit unterschiedlichen Maßen von Belustigung zu. Auch einige andere Angestellte der Zwillinge haben mitten im Training innegehalten und starren zu uns herüber.

Ich wische mir mit dem Handballen über die Oberlippe, dann gehe ich zu Glitzer und halte ihm meine blutige Hand hin. „Gut gekämpft, Kurzer.“

„Kann ich nur zurückgeben, Brandgefahr“, keucht er, hustet, und lässt sich von mir aufhelfen.

„Ich hab seit einer Ewigkeit nicht mehr so viel Spaß gehabt“, kichere ich und kneife mir die Nase zu.

Glitzer holt ein Taschentuch aus seiner Sporttasche und reicht es mir. Ich drücke es gegen meine Nase. Mein ganzer Mund schmeckt nach Eisen.

„Gut zu wissen, dass mein innerer Kreis sich gegenseitig verprügeln kann“, sagt Val mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Ich bin mir ziemlich sicher, das Verprügeln war einseitig“, sagt Glitzer.

„Wenigstens kannst du zugeben, wenn du verloren hast“, sage ich großspurig und recke den Kopf.

„Jedes Mal, wenn du deine Nase so hochdrehst, gibst du deinen Hals preis“, wirft Val dazwischen.

„Dann beiß zu“, sage ich, grinse ihm zu und zwinkere ihn an.

Er verdreht die Augen, aber seine Wangen werden dunkler.

„Du bist der Nächste“, sage ich, gehe von der Matte und lehne mich neben ihm mit verschränkten Armen an eine der Maschinen.

„Inwiefern?“, fragt er.

„Übungskampf, du Diplomat. Für irgendwas müssen die Muskeln doch gut sein.“

„Ich kämpfe nicht“, sagt er schlicht und wendet sich zum Gehen.

Ich schnalze mit de Zunge. „Haben Kocher und seine Schoßhunde dir etwa das Rückgrat rausgeprügelt?“

Joyce, Soren, Glitzer und Nick kichern, auch wenn Nick den Anstand hat, so zu tun, als würde er es nicht lustig finden.

Val zögert. Der Konflikt in ihm ist spürbar. Bei Kämpfen bin ich vielleicht nicht besonders zielgenau, aber verdammt, wenn ich keinen Nerv treffen kann.

„Ich weiß, es muss dir furchtbar peinlich sein, dass wir uns so kennengelernt haben“, säusle ich ihn an, „Aber ich verspreche, dass es meine Meinung über dich nicht verschlechtern wird, wenn ich dich ein zweites Mal wimmernd knien sehe.“

Das war’s. Ich bemerke es, bevor er noch seine Tasche zur Seite wirft und auf die Matte tritt. Ich folge ihm mit einem fiesen Grinsen im Gesicht, während Aufregung in meiner Kehle pulsiert.

„Hast du ihn schon Mal kämpfen gesehen?“, höre ich Glitzer murmeln. Folglich sehe ich aus dem Augenwinkel, wie Nick den Kopf schüttelt und Soren mit den Schultern zuckt.

Val tut sein Bestes, entspannt auszusehen, aber seine Füße stehen hüftbreit und seine Knie sind leicht gebeugt. Also doch irgendeine Art von Kampftraining?

Ehrlich gesagt würde ich ihn gerne zuerst angreifen lassen und sehen, was er auf Lager hat, aber der Mann hat immer wieder bewiesen, dass er seine Karten nie als Erster auf den Tisch legt. Und er hat eine besondere Art von Geduld, die mich unglaublich nervt.

Also greife ich zuerst an. Keine Warnung, kein Witz, nur ein kalkulierter Schritt nach vorne und ein Schlag auf seine Brust. Und zu meiner Überraschung treffe ich– Val macht einen Schritt zurück und schnauft.

So einfach kann es nicht sein. Und wie zur Bestätigung; meine nächsten Angriffe werden abgewehrt oder ihnen wird ausgewichen, und Val versucht nie, zurückzuschlagen. Es ist frustrierend – nein, schlimmer – es ist langweilig.

Natürlich. Was habe ich mir gedacht? Val Quintieri zeigt freiwillig seine Stärken?

Andererseits scheint er für mich immer wieder Ausnahmen zu machen.

Ich grinse und drehe die Nase hoch, so wie er mich dafür kritisiert hat. „Wenn es so einfach ist, dich zu schlagen, ist es keine Überraschung, dass ein Haufen Straßenköter dich überwältigt haben.“

Er zeigt es kaum, aber ich weiß, dass es ein wunder Punkt für ihn ist.

Ich lache, lasse die Kampfhaltung und stecke demonstrativ die Hände in die Taschen. „Und da dachte ich, ich müsste mich anstrengen. Wie langweilig.“

Etwas in seinen Augen verändert sich. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen und ein verspielter Funke breitet sich hinter seinen Pupillen aus. Und dann, endlich, greift er an.

Sein Schlag haut mich fast um. Meine Hände in die Taschen zu stecken hat erreicht, was es sollte – es hat ihn gereizt– war aber objektiv blöd. Mit einem überraschten und aufgeregten Kichern schaffe ich es gerade noch, auszuweichen, meine Fassung wiederzugewinnen und seinen nächsten Schlag abzuwehren.

Seine Ellbogen sind eng an seinen Seiten, seine Fäuste auf Kopfhöhe und sein Oberkörper dreht sich bei jedem Schlag mit. Ein Boxer? Militärausbildung?

Ich lenke seinen nächsten Schlag zur Seite ab, bedränge ihn und ramme ihm das Knie in den Bauch. Als Reaktion darauf spüre ich einen stechenden Schmerz in meinem Kiefer, als ein linker Haken mir Sterne in die Augen zaubert.

Ich lasse mich davon nicht ablenken. Ich dränge ihn zurück in die Defensive und lasse eine Flut von Schlägen auf ihn einprasseln. Seine Verteidigung ist solide und er lenkt die meisten – nicht alle – meiner Schläge ins Leere ab. Es gelingt mir, ihn zweimal zu treffen, einmal in seinen Bauch, einmal in sein Gesicht.

Wir lösen uns voneinander. Schweres Keuchen hebt und senkt seine Brust rapide, sein Gesicht ist schweißbedeckt und seine Haare sind zerzaust. Ich gebe es nur ungern zu, aber es steht ihm.

Ich beschließe, als nächstes seine Beinarbeit zu testen, aber auch da ist er passabel. Selbst bei unserem Schlagabtausch folgt er meiner veränderten Haltung, stellt seine Füße genau richtig und behält das Gleichgewicht. Nicht einmal ein herzhafter Versuch, ihn zum Stolpern zu bringen, funktioniert, aber es gibt mir die Chance, einen heftigen Schlag gegen seine Schulter zu landen. Zugegebenermaßen nicht sehr effektiv, aber dennoch schmerzhaft.

Er holt tief Luft und versucht, seine Fassung wiederzugewinnen. „Du bist gut.“

Ich grinse arrogant. „Ich weiß.“

Sein Lächeln wird zum verschmitzten Grinsen und er beäugt mich auf eine Art und Weise, bei der mir Schauer den Rücken hinunterlaufen. „Du machst Spaß.“

„Beruht auf Gegenseitigkeit.“

Das ist die ganze Pause, die ich ihm gebe. Es macht Spaß, ihn kämpfen zu sehen, wie ihm seine Konzentration langsam aus den Fingern rutscht und seine Energie nachlässt.

Ich trete ihn zwei mal, Bauch und Rücken, weiche einem seiner Schläge in Richtung meines Gesichts aus und kassiere einen an der Seite, der sich anfühlt, als hätte er meine Rippe gebrochen. Ich war noch nie so aufgeregt, geschlagen zu werden.

Als er wieder auf mich zielt, lasse ich ihn. Seine Faust streift meine Nase und hinterlässt ein taubes, kribbelndes Gefühl in meiner Wange, aber ich ducke mich zu schnell und sein Schlag landet letztendlich nicht wirklich. Ich stoße mit meiner Schulter gegen seine Brust, packe seinen Arm und nutze seinen eigenen Schwung gegen ihn, um ihn über meine Schulter zu werfen.

Er landet mit einem Knall auf der Matte, der nur vom zuhören wehtut. Ich lasse mich von der Bewegung tragen und falle mit ihm auf den Boden, knie mich auf seine Ellbogen und drücke eine Hand über seinem Kopf in die Matte.

Zwei Blutstropfen fallen von meiner Nase auf seine Wange.

Ich grinse immer noch. Ich glaube, ich habe nicht aufgehört, seitdem wir angefangen haben.

Val ist kaum eine halbe Sekunde lang benommen. Seine Augen zucken zu meinen hoch, und ich erwarte keine Reaktion, nur sein allgegenwärtiges Lächeln und vielleicht einen witzelnden Kommentar, wenn ich Glück habe.

Stattdessen darf ich zusehen, wie ihm die Röte den Hals hinaufsteigt und seine Wangen dunkler werden. Sein Blick wandert von meinem, zum Blut auf meiner Nase, zu meinen Lippen und wieder zurück.

Ich grinse ihn an. „Du siehst süß aus dort unten.“

Fast kann ich es nicht glauben, aber ich habe Val sprachlos gemacht. Zu seinem Glück werden wir von Gelächter und übertriebenem Pfeifen unterbrochen, das mich daran erinnert, dass wir nicht alleine im Raum sind.

Schnell rapple ich mich auf. Im Laufe unseres Kampfs haben wir uns ein kleines Publikum zusammengesammelt. Wenige von ihnen stehen direkt um uns, die Meisten haben inmitten ihres Trainings innegehalten, um zu starren. Ich verneige mich theatralisch.

Als ich mich wieder umdrehe, liegt Val immer noch aufgestützt am Boden und starrt mit großen Augen zu mir hoch. Seine Pupillen sind riesig— anscheinend bekommt er vom Kämpfen denselben Adrenalinkick wie ich.

Ich halte ihm die Hand hin. Er greift mein Handgelenk, ich greife seines und ziehe ihn auf die Beine.

„Gut gekämpft“, sage ich lächelnd und gehe mit ihm von der Matte.

„Du auch“, sagt er. Er hat anscheinend seine Zunge wiedergefunden. „Deine Tritte sind schrecklich.“

Ich kichere.

Val legt seine Hand an meine Wange und dreht mein Gesicht zu ihm. Ich blinzle überrascht, doch bevor ich reagieren oder protestieren kann, wischt er mit einem Taschentuch das Blut von meinem Gesicht. Sein Daumen streicht den Punkt an meinem Kiefer, wo er mich getroffen hat. „Tut das weh?“

Ich spüre nichts außer Wärme und ein angenehmes Kribbeln. „…nein.“

Sein Lächeln weitet sich kurz, und das war’s. Einen Moment lang stehe ich verloren da, bis Nick mir auf den Rücken klatscht und mich zurück ins Jetzt holt.

„Wie versprochen, Feuermädchen“, sagt er und drückt mir die Dose Vicodin in die Hand. „Jetzt brauchst du sie definitiv, warte nur, bis das Adrenalin abflaut.“

Ich lache leicht. Seltsamerweise fühle ich mich nur gut.

Teil 7.8

Vor mir blinzelt ein Funke in der Schwärze. Ich verschränke die Arme. „Schön langsam hab ich die Schnauze voll von dir, Tim.“

Der Funke antwortet nicht.

Immerhin ist es besser, als wieder von dem Autounfall zu träumen, oder von Aarons Hütte, oder davon, wieder in der ZEFHA-Zentrale eingeschlossen zu sein. Ich seufze und halte die Hand aus.

Der Funke legt sich auf meine Handfläche und wächst dort. Kerzenflamme, Feuerchen, Inferno. Schließlich steht Tim vor mir, seine Schemen sich ewig windend. Es sieht auf mich herab.

„Brauchst du auch was?“, frage ich, „Oder kann ich weiter in Ruhe schlafen?“

Seine zwei Münder reißen auf. Die Innenseite ist nicht, wie ich gedacht habe, dunkel— an Tim gibt es überhaupt nichts dunkles— sondern hat das Material und Aussehen von brodelndem Magma oder glühender Kohle.

„Reden“, sagt es, seine Stimme wie Rauch und das Knistern eines Lagerfeuers, „Vorzüglich ohne Unhöflichkeiten.“

„Ein Spitzname ist unhöflich?“

Stille.

Ich gebe klein bei. „Reden wir.“

Es legt den Kopf schief. „Du bist ruhiger geworden.“

„Ich schlafe.“

Tim schüttelt den Kopf. „Im Leben, Endling.“

Endling? Was soll das bedeuten?

„Ich gönn mir eine Pause. Was geht dich an, ob ich Leidinger weiter nachjage oder nicht?“

Das alles ist so unglaublich blöd, es muss ein Traum sein. Ich streite gerade mit der Innenseite meiner Augenlider.

„Leidinger ist für mich irrelevant“, sagt Tim.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Wieso bist du dann überhaupt sauer?“

Es hält seine Hand aus. Ich lege meinen Arm hinein, ohne darüber nachzudenken. Jetzt, wo ich weiß, dass das alles nur ein Traum ist, sind die Flammen harmlos und hinterlassen nichts als ein warmes Prickeln.

„Ich bin das Feuer, das durch deine Venen fließt“, sagt Tim.

„So weit waren wir beim letzten Mal schon“, sage ich.

Mein Handgelenk brennt. Als ich hinsehe, glühen meine Adern von innen heraus und bringen meine Haut orange zum Leuchten.

„Ohne mich“, sagt Tim, „Wärst du leer. Du hast mir zu danken, dass du dein Feuer hast.“

„Du siehst zumindest so aus.“ Ich beäuge Tim skeptisch und ziehe meinen Arm aus seinem Griff. Das Glühen vergeht.

„Du hast mir dein Leben zu verdanken“, zischt es, ein ungewöhnlich scharfer Ton in seiner Stimme.

Ich lache laut auf. „Das soll ich dir abkaufen? Feuerchen, ich quatsche gerade mit der Innenseite von meinem eigenen Schädel“, sage ich und tippe gegen meine Schläfe, „Nichts, was du sagst, geht bei mir weiter als an die Ohren.“

Eine schwere Pause entsteht. Ein tiefes Grollen geht durch das Nichts in dem ich stehe und Tim schwebt. Tims Flammen zischen und fauchen, werden heller, springen von Rot zu Weiß-Gelb.

Die beiden Münder reißen auf. Ich spanne mich instinktiv an, weiche zurück—

Joyce‘ lautes Lachen durchbricht das Grollen. Der Traum platzt und ich starre nicht in brennend helle Flammen, sondern nur in ein halbdunkles Zimmer hinein.

Ich muss kichern. Was für ein Scheiß.

Wieder lacht jemand, dieses Mal klingt es wie Nick. Neugier zieht mich aus dem Bett, in meine Kleidung und Schuhe und raus aus der Schlafkammer.

Aus dem privaten Zimmer im Lager kommt aufgeregtes, amüsiertes Geschnatter. Ich könnte ohnehin einen Snack vertragen, also schlendere ich in Richtung des Geredes.

„Brauchen wir einen Vertrag?“, fragt Glitzer gerade.

Nick macht ein überlegendes Geräusch. „Ich glaube, wir müssen uns bei irgendeinem Amt melden.“

„Wir? Bei einem Amt? Das Wort Steuerhinterziehung ist auf meine Stirn tätowiert“, wirft Soren ein.

„Ist es nicht, könnte es aber“, bietet Joyce an.

Was auch immer abläuft, es klingt lustig. Ich krame in den Kästchen der Küche, bis ich etwas Schmackhaftes finde— Müsli— aber als ich an der Milch rieche, vergeht mir der Appetit kurzweilig, und ich esse es trocken Handvoll um Handvoll aus der Packung.

„Dann müssen wir nur zusammenhalten“, sagt Nick, „Einer kündigt, alle gekündigt.“

Glitzer lacht. „Einer für alle und alle für einen? Was sind wir, die drei Musketiere?“

Soren nickt. „Die drei Musketiere und ihr Haustier, Glitzer.“

„Fick dich, Junge.“

„Fick mich selbst, du Feigling.“

Glitzer macht Würgegeräusche. Ich lehne mich gegen den Türrahmen und schmunzle. „Was verpasse ich gerade?“

Joyce winkt mich zu sich. „Perfektes Timing. Wir gründen eine Union.“

„…eine Union“, wiederhole ich.

„Eine Gewerkschaft“, sagt Nick.

„Wofür genau?“, frage ich, doch ich bekomme die Antwort nicht, weil Val in dem Moment vom Haupteingang ins Hinterzimmer kommt. Er wirft einen Blick auf das Trio, das sich mit Joyce im Kreis zusammengesetzt hat, seufzt, und fragt sofort, „Okay, was ist es diesmal?“

„Wir haben eine Gewerkschaft gegründet!“, sagt Glitzer.

Val bedenkt die drei nur mit einem mild amüsierten Blick. „Ihr wisst, dass ihr heute einen Auftrag habt, richtig?“

Soren nickt. „Zeitdruck ist eine unserer Verhandlungstaktiken, ja.“

Val verdreht die Augen. „Okay, bringen wir das hinter uns. Was wollt ihr?“

Nick verschränkt die Arme. „Mutterschaftsurlaub.“

Val blinzelt, dann wendet er sich einzeln an jeden im Kreis, „Nick, du bist schwul, Joyce, du bist lesbisch, Glitzer, du bist asexuell, und Soren, so sehr du es auch willst, Malik kann dich nicht schwängern.“

„Das heißt nicht, dass er es nicht versucht!“

Wieder macht Glitzer Würgegeräusche.

„Endeffekt ist, keiner von euch braucht Mutterschaftsurlaub.“

„Scheiße“, murmelt Soren, dann wendet er sich an mich. „Nona! Tritt unserer Gewerkschaft bei.“

Ich wechsle einen Blick zwischen Val und dem Rest der Gruppe hin und her. Val seufzt. „Bitte nicht.“

„Wieso nicht?“, sage ich grinsend.

„Es gibt keine Gewerkschaft, es gibt keinen Mutterschaftsurlaub, und ihr müsst euch auf euren Job heute vorbereiten“, winkt Val ab.

Ich schürze die Lippen und setze mich mit verschränkten Armen zu meiner Union dazu. Glitzer jubelt und Joyce klopft mir auf die Schulter.

Val fasst sich an die Stirn. „Möchtest du mir erklären, woher du schwanger werden willst?“

Ich grinse großspurig und lehne mich zurück. „Wieso. Interessiert?“

Irgendwo hinter mir kichern Soren und Glitzer.

Val kann sich ein kleines Lachen nicht verkneifen. „Meinetwegen. Mutterschaftsurlaub. Könnt ihr euch jetzt bitte an die Arbeit machen, für die ihr bezahlt werdet?“

Soren steht auf und streckt sich durch, woraufhin Nick ihm einen abschätzenden Blick zuwirft. „So einfach ist es, unsere Gewerkschaft aufzulösen?“

„Krieg ich jetzt immer noch Mutterschaftsurlaub?“, frage ich.

„Arbeitest du?“, fragt Val.

„Wieso nicht?“

Glitzer hält beim Holstern seiner Messer inne. „Ja, wieso eigentlich nicht?“

Val zieht seine Augenbrauen hoch und tauscht einen Blick mit Joyce, die nach einem Moment nickt.

„Wir könnten dich gebrauchen, Brandgefahr“, sagt Nick und seufzt.

„Was ist der Job?“, frage ich.

„Derselbe wie seit einer gefühlten Ewigkeit“, sagt Glitzer mit hörbarer Frustration in der Stimme, „Kochers Hunde hinrichten.“

„Die vermehren sich wie die Pest, und das nur, weil sie was gegen Mister und Misses Quintieri hier haben“, murrt Soren.

„Wieso gegen euch? Ich hab ihren Daddy umgebracht“, frage ich und werfe Joyce einen fragenden Blick zu.

Joyce wirft Val einen Blick zu, den ich schon wieder nicht deuten kann. „Irgendjemand wollte dich ja unbedingt öffentlich als Kollegin bezeichnen.“

Val schmunzelt. „Du weißt, wie oft ich mich verrede, Joyce.“

„Halt doch die Klappe.“

Kaum eine halbe Stunde später sitze ich mit dem Trio in einem der Autos. Glitzer fährt, was bedeutet, dass ich mir nach zwei Minuten wünsche, einfach selbst zu fahren, obwohl ich noch nie am Steuer gesessen bin.

Meine Knöchel sind weiß von der Kraft, mit der ich den Haltegriff umklammert habe. „Wenn ich hier lebendig rauskomme, küsse ich den Boden und werde religiös“, keuche ich, nachdem Glitzer auf schneenassem Boden mitten in der Nacht eine Kurve so eng nimmt, dass uns die Hinterreifen ausrutschen.

„Welche Religion?“, fragt Soren, der in Seelenruhe seine Waffen überprüft und lädt.

„Alle.“

„Auch wenn es sich nicht so anfühlt“, beginnt Nick, und muss eine Pause machen, weil er in einer Kurve gegen die Wagentür geschleudert wird, „Ist Glitzer der beste Fahrer hier. Vielleicht musst du kotzen, aber du wirst nicht sterben.“

„Freude“, knurre ich sarkastisch und konzentriere mich darauf, ruhig zu atmen.

Der Wagen hält, ich öffne die Tür, falle mehr aus dem Auto, als das ich steige, und muss mich an der Motorhaube abstützen, damit meine weichen Knie nicht einknicken.

Die Gasse, an der wir ankommen, ist genau so unauffällig, wie ich es mir vorgestellt habe. Betonklötze inmitten von Betonklötzen.

„Und wo sind die Kocher-Hunde?“, frage ich mit dünner Stimme.

„Überall“, spuckt Soren genervt aus. „Die ganze Gasse gehört ihnen.“

„Die züchten dort drin Hanf“, sagt Nick.

Drei verwirrte Blicke treffen ihn. „Woher genau weißt du das?“, frage ich.

Er deutet auf die Dächer. Selbst jetzt, wo er mich in die richtige Richtung schickt, dauert es, bis ich es bemerke; jedes Gebäude, das angeblich ein Versteck für sie ist, hat ein schneefreies Dach.

„Hanf wächst nur in Wärme. Wenn ich raten müsste, züchten sie am Dachboden und im Keller“, sagt Nick, „Ich nehme an, das war früher ein Drogenlabor, und ihnen gehen die Verstecke aus.“

Ich pfeife anerkennend. „Und wir sind hier, weil…?“

„Wir sollen ausmisten“, sagt Glitzer.

Du sollst ausmisten. Manche von uns haben echte Arbeit hier“, wirft Soren ein, und öffnet den Kofferraum. Darin wartet ein Kasten, den er mit einem Schlüssel aufschließt. Darin wiederum ist ein makellos sauberes Scharfschützengewehr.

„Was die beiden Idioten meinen“, sagt Nick und nimmt einen mit Nägel verzierten Baseballschläger aus dem Kofferraum, „Ist dass wir Chaos verursachen sollen. Als Ablenkung. Wir suchen nach einem Leutnant von Kocher.“

„Leutnant?“, frage ich irritiert.

„Kocher hat so ein komisches Ding mit dem Militär. Der nennt seine Helfer Soldaten, seine rechte Hand war sein General, alle seine Stellvertreter sind Leutnants“, sagt Soren und lädt sein Gewehr.

„Wer sind die Leutnants von Val und Joyce?“, frage ich.

„Wir äffen das Militär nicht nach. Weil wir keine Loser sind.“ Glitzer patscht seine Hand an den Lauf von Sorens Gewehr und hinterlässt einen Handabdruck auf dem penibel geputzten Metall.

Soren schnippt ihm dafür an die Stirn. „Wir sind ihre Stellvertreter, wenn du dich das fragst.“

Ich besehe die drei Mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ihr drei.“

„Ja.“

„Wie existiert eure Gang überhaupt noch?“

Zwei Mittelfinger werden in meine Richtung gehoben.

„Stirb nicht“, sagt Glitzer zu Soren und macht einen viel zu komplizierten, langen Handschlag bei ihm.

„Ich versuch’s.“

Soren schlägt bei mir und Nick auch ein, aber weitaus kürzer. „Ziel gut“, sagt Nick.

„Lass dich nicht erwischen“, sage ich.

Soren salutiert mit zwei Fingern und schlendert von uns weg, wenn ich raten müsste, zu einem Aufstieg zu einem der Dächer.

Glitzer, Nick und ich nehmen die Nebengassen, schleichen zur Hinterseite eines der Gebäude und entlang der Wand. Keine Türen, keine Fenster.

Glitzer bleibt stehen und deutet nach oben, auf ein Fenster im ersten Stock. „Da.“

Nick geht unter dem Fenster in Position und hält seine Handflächen aus. Glitzer nimmt zwei Schritte Anlauf, steigt auf seine Hände und wird von Nick nach oben geschleudert. Seine Fingerspitzen kommen über den Rand des Fensterbretts, seine Füße finden Halt und im nächsten Moment sitzt er am Sims. Dann schiebt er das Fenster auf und verschwindet in das Gebäude.

Nick deutet mir, ihm zu folgen, und geht weiter um das Gebäude herum. Um die Ecke ist eine Tür, deren Klinke entfernt wurde und dessen Schlüsselloch zugeschweißt ist.

„Was zur Hölle…“

„Nur ein Eingang. Vorne“, sagt Nick, „Schützt ihren Rücken. Außer, man hat einen Glitzer.“

Nick und ich warten und frieren uns die Ärsche ab. Ich puste kleine Flammen in meine vor dem Mund zusammengehaltenen Handflächen, damit meine Finger nicht taub werden.

„Mach bei mir auch“, sagt Nick und hält mir seine Hände hin. Ich nehme sie und schicke etwas Wärme seine Arme hinauf. Er erschaudert.

„Fühlt sich an wie ein warmes Bad.“

Mehr Zeit vergeht.

„Glaubst du, ihm geht’s gut?“, frage ich.

Nick winkt bloß ab.

Meine Gedanken wandern. „Nick“, frage ich schließlich, „Weißt du, was ein Endling ist?“
„So hat unser zweitletztes Pferd geheißen“, murmelt er gedankenverloren.

„Was?“

Er blinzelt. „Oh. Mein Vater und ich hatten Pferde. Endling hätte unser letztes sein sollen, aber dann ist einer unserer Nachbarn gestorben, und niemand wollte sein Pferd, also…“

„Und was heißt es?“, frage ich.

„Ein letzter Überlebender seiner Art.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Mir sagt das nichts.

„Wie hat euer letztes Pferd geheißen?“, frage ich.

Etwas kratzt im Schloss der Tür.

„Zucker“, sagt Nick.

Die Tür schwingt auf und ein blutiger, keuchender, grinsender Glitzer steht vor uns. „Sorry, hatte ein kleines Problem.“

„Das war der Plan?“, frage ich, „Einfach nur durch die Tür?“

Die beiden nicken.

Ich schlage mir die Hand vor die Stirn. „Leute“, sage ich langsam, „Ich hätte einfach den Bolzen schmelzen können.“

Glitzer und Nick sehen verlegen drein.

„Wir müssen uns noch an ein neues Teammitglied gewöhnen“, sagt Glitzer und zuckt mit den Schultern.

Ich verdrehe die Augen. „Dass noch keiner von euch verreckt ist…“

Die Innenräume des Gebäudes waren vielleicht einmal ein normales Wohnhaus; alleine der süßliche Geruch verrät, was es mittlerweile geworden ist.

Nick, Glitzer und ich huschen einen Flur entlang. Wir steigen dabei über eine Leiche, die mehrere Stichwunden im Nacken hat. Ich nehme an, das hat Glitzer mit kleines Problem gemeint. Der Flur zweigt ab, ein Weg geradeaus, ein Weg nach links.

„Wieso willst du wissen, was ein Endling ist?“, fragt mich Nick leise, während wir den Weg nach links nehmen und in einem Treppenhaus landen.

„Ich hab was geträumt“, erkläre ich und folge den beiden einen Treppenabsatz rauf, „Von so einem… Feuer-Dings. Es hat mir gesagt, dass es dafür verantwortlich ist, dass ich Kräfte habe, und hat mich Endling genannt.“

Der erste Stock ist ebenfalls, glücklicherweise, leer, mit Ausnahme von Kartons und Müllsäcken, die an den Wänden stehen. Jeder Mensch in diesem Gebäude, der nicht in einem der Apartments ist, hätte uns gehört.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du nicht der letzte überlebende Mensch auf der Welt bist“, sagt Nick.

„Steckst du nicht ständig unabsichtlich Dinge in Brand? Jetzt weißt du, wer dafür verantwortlich ist“, kichert Glitzer.

Ich stocke. Dieser verdammte…

Bevor ich wirklich wütend werden kann, deutet Glitzer die Treppen hoch. „Kochers Vertretung schläft angeblich im zweiten Stock. Ich versuch das hier schnell zu beenden, aber das wird…“

„…laut“, vollendet Nick den Satz. „Schon verstanden. Wir halten dir den Fluchtweg frei.“

Glitzer nickt uns zu. Nick und ich gehen unter den Treppen in Stellung, warten auf den Aufruhr.

Es dauert nicht lange. Eine tiefe Stimme brüllt etwas unverständliches, gedämpft durch eine Tür und den Abstand der Treppen. Etwa sechs Sekunden später fliegt neben uns eine Tür auf und ein Mann rennt auf den Flur, eine Schusswaffe in seiner Hand.

Nick zögert nicht. Ich blinzle nur ein Mal und Nick steht hinter ihm, legt den Griff des Schlägers an sein Kinn und ruckt gewalttätig zur Seite. Es knackt. Der Mann erschlafft.

„Halt dich bereit“, zischt er mir zu.

Die Warnung hilft. Im nächsten Moment schwingt eine weitere Tür auf, dann eine weitere. Vom oberen Stock kommen Schritte, die zu schwer sind, um zu Glitzer zu gehören.

Ich erfasse kaum, wie viele es sind und wer welche Waffen hat. Schusswaffen, jemand trägt ein Messer mit sich, ich sehe Gartenscheren und erinnere mich, dass ich eigentlich in einer versteckten Hanfplantage stehe.

Ich gehe Nicks Beispiel nach und zögere nicht, schleudere eine Flammensäule auf zwei von ihnen. Die Wucht schleudert sie von den Füßen und zurück durch die Tür, aus der sie gekommen sind.

In mir bäumt sich etwas auf und schreit freudig. Ich finde mein nächstes Ziel, lasse fauchende Flamen aus meinen Knöcheln springen und schleudere ihn gegen die Wand; sein Kopf knallt auf, er sackt zusammen und bewegt sich nicht mehr.

Gott, ich habe das vermisst.

Unwillkürlich breitet sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus. Das Feuer windet sich unter meiner Haut, kratzt und schreit, heult, aufgeregt und eifrig. Ich blinzle, und in dem Moment, in dem ich die Augen schließe, breitet sich vor mir eine Karte des Flurs aus. Ich kann spüren, was brennbar ist, fühle die Leichen vor mir und im Zimmer nebenan, die noch stehenden Leute hinter mir.

Sie sind bloß Brennstoff.

Ich drehe mich in voller Erwartung um, aber Nick ist schneller als ich. Es ist beinahe angsteinflößend, wie kurz die Kämpfe sind. Er hechtet auf den ersten zu— der mit der Gartenschere— weicht spielend einem Hieb aus und schlägt zurück, von unten in sein Kiefer. Der Kampf endet. Jemand kommt von den Treppen auf ihn zu und hat gerade genug Zeit, um seine Waffe zu zücken, bevor Nick ihn erst im Magen, dann an der Schläfe trifft, und ihn die Stufen wieder hinunterschickt.

Für einen kurzen, ruhigen Moment betrachte ich den Schlachthof. Das verbrennende Fleisch füllt den Flur mit einem Geruch, der mich früher zum Kotzen gebracht hätte. Denen, die das Pech hatten, sich gegen Nick zu stellen, fehlen nun Teile ihres Schädels, die stattdessen am Boden oder an der Wand verstreut sind.

Ich finde keinen Ekel, nur Aufregung.

„Bleib hier“, sagt Nick schnell und nickt zu den Treppen, „Ich helfe Glitzer.“
Ich nicke. Nick nimmt auf seinem Weg nach oben zwei Stufen auf einmal. Irgendwie mache ich mir keine Sorgen mehr, ob es den beiden gut gehen wird.

Mir ist es zu lange leise. Anstatt zu warten, bis die Türen um mich aufgehen, entscheide ich, vorbeugend zu sein.

Ich fange links hinten an und reiße die Tür mit einer gezielten kleinen Explosion aus Feuer auf, gehe in die Wohnung und lasse die Flammen hinter mir nachziehen.

„Hallooooo“, rufe ich in das Apartment hinein. Es sieht aus wie ein Lager, gefüllt mit Werkzeug, Töpfen, Säcken von Erde, Dünger, Gießkannen…

Ich laufe hastig jedes Zimmer ab und finde nichts. Mein Weg führt mich wieder nach draußen, ins nächste Apartment, in dem mich die zwei Leichen begrüßen, die ich dort hineingeworfen habe. Ich nehme an, dass es leer ist, und gehe zum nächsten.

„Irgendwer hier?“, rufe ich freudig in die Leere. Wieder keine Antwort. Wieder durchlaufe ich die Zimmer, und wieder werde ich enttäuscht.

Als ich für das letzte Apartment zurück auf den Flur gehe, erwische ich gerade zwei Leute, die die Treppen hochkommen.

„Da seit ihr!“, rufe ich freudig und schicke sie brennend denselben Weg wieder nach unten, den sie hochgekommen sind.

Ich folge ihnen die Treppen hinunter, aber weitaus nicht so schnell, und ich bleibe auch im Gegensatz zu ihnen nicht am Fuß der Treppe liegen. Stattdessen ziehe ich das Feuer hinter mir nach, lasse es die Wände und Böden belecken.

Es rauscht in meinen Ohren, singt und lacht und jauchzt, und übertönt die Schritte eines Mannes, der hinter mir eine Waffe erhebt.

Seine Stirn öffnet sich nach außen. Er klappt zusammen.

Ich blinzle verwirrt, dann fällt mir das Fenster hinter ihm auf. Es hat ein Kugelgroßes Loch in der Scheibe, von dem Risse ausgehen, die bis zum Rand reichen. Grinsend gehe ich hin, öffne es, und werfe für Soren einen Kuss in die Nacht.

Ich mache so weiter wie zuvor. Tür um Tür sprenge ich auf, Wohnung um Wohnung wird durchsucht. Ich finde nur eine einzige weitere Person, die mit einem Küchenmesser in einer Ecke hinter einem Stapel leerer Kartons kauert.

„Hab dich“, säusle ich.

Er schreit. Nicht lange.

Ich schlendere aus dem Apartment. Trotz meiner gründlichen Aufräumarbeiten höre ich um die Ecke Schritte, die weder zu Nick noch zu Glitzer gehören können. Ich lasse präventiv den gesamten Bereich um die Ecke in Flammen aufgehen und höre, zu meiner Freude, Schreie.

Ich summe, irgendeine Melodie, die mir gerade einfällt, und schaue um die Ecke. Kellertreppen, ein verängstigtes Gesicht auf ihnen. Der Mann wirft einen Blick auf mich, dann auf die noch-nicht-ganz-Leichen zu meinen Füßen. Sie hatten nicht das Glück, eine Wand zu treffen und bewusstlos zu werden, und winden sich brennend und wimmernd am Boden. Einer von ihnen greift mach meinem Knöchel. Ich schüttle ihn ab wie eine Fliege.

Der Mann am Fuß der Treppe dreht sich um, reißt die Kellertür auf und verschwindet dahinter.

„Nona!“

Glitzer.

Seine Stimme lässt mich zusammenzucken. Ich sehe mich um; die Wände stehen allesamt in Brand, die Fassade bröckelt und legt verschwärzte Ziegel frei. Rauch sammelt sich an der Decke, kreist bedrohlich.

Ich haste hoch bis in den zweiten Stock. Vor mir drängen sich die Flammen an die Seiten, weichen von mir zurück und geben mir den Weg preis.

Nick und Glitzer sind gerade dabei, aufwandslos eine kleine Gruppe von Gegnern auseinanderzunehmen. Ihnen zuzusehen ist faszinierend; als könnten sie ihre Gedanken gegenseitig lesen, oder als würde ihnen jemand einen Rhythmus vorgeben, arbeiten sie perfekt zusammen, wechseln Gegner, decken sich gegenseitig den Rücken.

„Nona“, keucht Nick, bricht seinem letzten Gegner das Bein und dann die Wirbelsäule.

„Schon verstanden.“ Ich hole aus, greife nach den Flammen, drücke meine Handrücken nach außen und zwinge sie dazu, der Bewegung zu folgen. Das Treppenhaus sieht höllisch aus, Flammenzungen an beiden Seiten, Ruß und Rauch, doch der Weg ist frei.

Nick und Glitzer rennen ohne zu zögern durch den Feuertunnel. Ich gehe ihnen hinterher, stelle sicher, dass das Feuer sie nicht anrührt.

Die beiden kommen sicher und unverletzt, wenn auch mit leicht angesengten Haaren und rußiger Kleidung draußen an. Sie reißen die Tür auf, bevor ich sie warnen kann— frische Luft strömt ins Gebäude, füttert das Feuer, das freudig auflodert und auf uns zuspringt.

Ich hebe die Arme, zwänge es zurück. Gierige Mäuler schnappen wenige Zentimeter vor meinem Gesicht zu, doch wagen es nicht, sich meinem Befehl zu widersetzen.

Glitzer und Nick stehen draußen, warten auf mich. Sie sind umgeben von Leichen, Leute, die versucht haben, zu fliehen, allesamt mit ähnlichen Schusswunden im Kopf oder im Brustkorb. Soren hat ganze Arbeit geleistet.

„Wir sind fertig!“, ruft Glitzer, hustet, hält seine Hand aus. „Komm schon!“

Ich grinse, lege eine Hand an das kochend heiße Metall der Tür, und schlage sie zu.

Das Grinsen wandelt sich zu einem irren Kichern, das mich meinen Weg die Kellertreppen hinunter verfolgt. Ich überprüfe nicht einmal, ob die Tür abgeschlossen ist, sondern hetze die Flammen um mich direkt darauf, um sie aus den Angeln zu sprengen.

Sie fliegt in den Raum dahinter und landet mit einem ohrenbetäubenden Knall auf dem Boden. Staub und Erde wirbelt auf, kreist im Licht von Wärmelampen. Scheinbar habe ich die Plantage gefunden.

Der Keller ist ein einziger, riesiger Raum, mit Reihen um Reihen von Pflanzenkästen, allesamt bestückt mit meterhohen Hanfstauden. Es ist stickig und warm hier unten, aber nichts im Vergleich zu dem Feuer, aus dem ich gerade komme, das mir immer noch folgt.

Ich gehe langsam und entspannt die Reihen ab. Irgendwann schließe ich die Augen, lasse mich leiten. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, erkenne ich den Raum besser, den Unterschied zwischen den Kästen, dem Boden, den Pflanzen, jedem Stamm, jedem Blatt, jeder Blüte.

Ich spüre ihn, bevor ich ihn höre.

Blind schlage ich aus, knalle sein Handgelenk gegen die Wand, bevor er die Chance hat, auf mich zu zielen. Ich erkenne weite, verängstigte, gerötete Augen und blutig gebissene Lippen, spüre, wie Luft in seinen Mund, durch seine Kehle, seine Atemwege hinunter in seine Lungen strömt. Mit einer schnellen Bewegung, zwei Finger in Richtung seines Mundes, folgen die Flammen demselben weg.

Er bekommt nie die Chance, zu schreien.

Hinter mir knallt etwas auf den Boden. Ich drehe mich langsam um. Auf einem objektiven Level weiß ich, dass das wahrscheinlich gefährlich ist, und mir jemand jederzeit etwas in den Rücken rammen könnte. Auf einer anderen Ebene fühle ich mich unsterblich.

Ein Kollege des Toten, dessen Handgelenk ich nun endlich loslasse, ist mit dem Rücken gegen eine der Boxen geprallt, die nun ausgeschüttet und zerbrochen liegt. Er selbst ist zusammengekauert am Boden und starrt mich mit großen Augen an.

„Nein“, wimmert er.

Ich lache. Laut, tief aus der Kehle heraus, sodass ich am ganzen Körper bebe und mich krümmen muss, um wieder Luft zu kriegen.

Der Mann am Boden hetzt an mir vorbei, rempelt mich an, greift nach der Waffe, die sein Kollege immer noch verkrampft in der Hand hält. Anstatt auf mich zu zielen hebt der die Waffe— samt Hand— presst den Lauf gegen die Unterseite seines Kinns und drückt ab.

Der Knall bringt meine Ohren zum Klingeln, doch es hört sich an wie Musik. Ich sehe fasziniert zu, wie Blut und Teile seines Schädels und Gehirns erst die Wand bemalen und dann langsam daran herunterfließen.

Das Erdgeschoss und den ersten Stock habe ich persönlich ausgerottet, und jeder, der jetzt noch in den Etagen darüber ist, hat keinen Ausweg mehr. Kichernd schwanke ich zurück zu den Treppen, wieder hinauf, in den Brand hinein. Gehorsam tun sich die Flammen vor mir auf, lassen mich passieren, bis ich das brennende Gebäude verlasse und die vorhin schneebedeckte, nun trockene Straße betrete. Zu den Leichen am Boden haben sich einige dazugesellt; scheint so, als würden aus den anderen Häusern ebenfalls Leute fliehen, und alle von Soren hingerichtet werden.

In der Entfernung stehen drei Schemen, die ich als Nick, Glitzer und Soren erkenne. Ich winke aufgeregt, dann drehe ich mich mit Schwung um, lehne mich zurück und reiße beide Arme in die Luft.

Die Erde bebt. Aus den Fenstern brechen Flammensäulen aus, zerschmettern die Scheiben, deren Splitter wie Schneeflocken herabregnen. Die Tür wird ergriffen und aufgesprengt, knallt gegen die Außenwand und bleibt dort stecken. Das Feuer frisst gierig, schreit und jubelt, dass es endlich den Platz und das Fressen hat, das es so sehr wollte.

Hitze trifft mein Gesicht, nimmt meine Wangen in seine Hände und drückt mir einen Kuss auf die Stirn. Euphorie überschwemmt mich. Ich breite die Arme wie für eine Umarmung aus, lasse den Kopf in den Nacken fallen, lehne meinen Oberkörper zurück, schreie, juble, lache bis ich keine Luft mehr bekomme.

„Hey. Brandgefahr. Genug.“

Soren legt mir die Hand auf die Schulter, betrachtet besorgt mein Gesicht. „Geht’s dir gut?“

„Gut?“ Ich lache laut auf, raufe mir durch die Haare. „Ich hab mich noch nie so lebendig gefühlt!“

Ein irres Kichern kommt aus meiner Kehle. Ich kann nicht aufhören, zu grinsen, mein Herz rast, zum ersten Mal seit Ewigkeiten nicht aus Panik. Adrenalin läuft pur durch meine Venen. In meiner Kehle Glüht es, heiß und hell— es fühlt sich unglaublich gut an.

Ich kann nicht mehr stillstehen, gehe hopsend weiter an das brennende Gebäude heran und setze mich so nah ich kann an die Flammen. Dann Schließe ich die Augen, halte meine Handflächen dem Feuer entgegen und genieße die Wärme, den orangenen Schein des Lichts an meinen Augenlidern.

Über das Knistern kann ich gerade noch so Getuschel hinter mir hören. Dann Schritte.

„Nona.“

Ich drehe meinen Kopf und sehe zu ihm hoch. „Hmm?“

Nick weicht zurück.

„Was ist denn?“, frage ich.

„…ich glaube, du hast zu viel Hanfrauch inhaliert.“

„Der Keller brennt doch erst jetzt.“

Nick verzieht das Gesicht.

Ich kichere, schon wieder, noch immer. „Nein, das ist nicht das Gras…“, säusle ich und wende meinen Blick wieder den Flammen zu. Fasziniert hebe ich meine Arme; meine Adern scheinen zu glühen.

„Gras oder nicht, wir sollten hier weg.“

„Wir sollten wegen dem Gras weg“, sagt Glitzer, „Sonst bin ich zu high fürs Fahren.“

Die Vorstellung, wieder im Auto zu sitzen, jagt mir überhaupt keine Angst mehr ein. So stehe ich auf, schwanke, stolpere beinahe, bis mich Nick stützt und mit mir zum Auto geht.

Mich stört es nicht, dass wir durch Pfützen von geschmolzenem Schnee gehen, nicht einmal die Kälte erreicht mich mehr. Selbst der dunkle Fleck in meiner Sicht, wo sich das Licht des Feuers kurzzeitig in meiner Retina verewigt hat, ist mir vollkommen gleich.

Nick lehnt mich kurzerhand gegen den Wagen, während er seinen Baseballschläger in den Kofferraum lädt. Unter meinen Händen schmilzt der Frost am Metall, unter meinen Füßen der Schnee am Boden.

„Du brauchst erste Hilfe und ein Nickerchen“, sagt Glitzer und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Was ich brauche“, sage ich betont, „Ist eine Zigarette.“ Ich halte zwei Finger aus.

Soren zieht eine Packung aus der Tasche und legt eine davon zwischen sie.

„Du bist ein Schatz“, schnurre ich ihm zu.

„Unterstütz das nicht“, scheltet ihn Nick.

Glitzer schnauft ihn ebenfalls an. „Hast du nicht gesagt, dass du aufhörst?“

Ich lege die Zigarette zwischen die Lippen und atme tief ein. Die Glut vorne springt von selber an, ohne dass ich darüber nachdenken muss.

Der Rauch schmeckt fantastisch. Ich lecke mir über die Lippen, beiße mir auf die Unterlippe und atme mit einem genussvollen seufzen wieder aus.

„Okay, das reicht.“ Nick nimmt mir die Zigarette aus den Fingern, lässt sie in den Schnee fallen und tritt sicherheitshalber darauf. Dann öffnet er die Hintertür des Autos und schiebt mich hinein.

Ich erhasche einen Blick auf mich selbst im Rückspiegel. Mein Gesicht ist rußverschmiert und meine Wange blutet, wieso weiß ich nicht genau. Ich spüre die Wunde ohnehin nicht. Trotz der Lichter, die im Auto angegangen sind, sind meine Pupillen riesig.

Ich finde es lustig.

Nick setzt sich neben mich, Glitzer fährt, Soren nervt ihn dabei vom Beifahrersitz.

„Das war… nicht das, was ich erwartet habe“, denkt Soren laut.

„Es ist eine Gehaltserhöhung. Danke, Feuermädchen“, wirft Glitzer ein und zwinkert mir durch den Rückspiegel zu. Ich kichere.

„Es war leichtsinnig“, murrt Nick.

„Nickyyy“, seufze ich und lasse mich gegen seine Schulter fallen. „Es ist alles gut! Alles toll. Alles sooo toll.“

Er verdreht die Augen und tätschelt meine unverletzte Wange.

Ich lasse meine Augen zufallen und bleibe einfach so. Mittlerweile kann ich die Asche schmecken, die bitter meine Zunge bedeckt, spüre das aufgeregte Zittern in meinen Händen. Über allem bin ich einfach nur müde.

Ich gähne ausgiebig. Glitzer hatte recht; nach alldem brauche ich wirklich ein Nickerchen.

Teil 7.9

Val bleibt ein Stück die Straße runter stehen und wirft mir einen Blick zu. „Ganz sicher, dass es hier ist?“

Ich nicke. „Sicher.“

Ich löse den Sicherheitsgurt, greife gedankenlos nach Vals Hand und drücke sie leicht, während an meiner anderen eine Plastiktüte hängt. Zwischen meinen Fingern sieht der tätowierte Engel auf seinem Handrücken zu mir hoch. „Danke. Ich bin gleich wieder da.“

Val sieht auf seine Hand hinunter, dann zu mir hoch. Bevor er antworten kann, bin ich ausgestiegen und schon halb die Straße runter.

Es fühlt sich kleiner an. Als ich ein Kind war, war alles so gewaltig, insbesonders die Straßen. Das Labyrinth aus Gassen wirkt jetzt eher bedrängend als unendlich auf mich.

Ich brauche kaum zehn Minuten, bis ich dort ankomme, wo ich hinwollte. Das kleine Obdachlosenheim hat bestimmt bessere Tage gesehen; die Fassade bröckelt, die Fenster sind schmutzig, eines davon ist eingeschlagen und mit Plastikfolie zugeklebt. Die anliegende Suppenküche wurde vor Jahren geschlossen. Das Obdachlosenheim selbst musste aufgrund von fehlender Unterstützung mehrere Monate lang schließen, und konnte nur durch Spenden wieder öffnen.

Daran ist Erna gestorben.

Ein saurer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus. Ich öffne die Tür und trete ein.

Maryam arbeitet meines Wissens nach nicht mehr hier und ich kann es ihr nicht verübeln.

Bevor ich losgefahren bin, hat Joyce mit Make-Up meine Narbe überdeckt. Dank dessen und meiner Augenprothese erkennt mich die junge Dame an der Rezeption nicht. Das erlaubt ihr auch, mich anzulächeln und mich näher zu bitten.

„Guten Tag“, sagt sie freudig.

„Ich will eine Spende abgeben.“

Sie blinzelt. „Eine Spende?“

Ich nicke. Meine Stimme beginnt zu zittern. „Eine gute Freundin von mir hat hier eine weile gelebt. Ihr habt ihr das Leben gerettet. Sie ist daran gestorben, dass ihr schließen musstet.“

Die Frau auf der anderen Seite des Tisches legt ihre Hände vor den Mund. „Das tut mir so Leid.“

Ich atme durch, reiße mich zusammen. „Ich will, dass das nicht noch einmal passiert. Darum bin ich hier. Ich möchte etwas spenden.“

Die Dame nickt langsam und atmet zittrig ein. „Wie viel denn? Und durch welche Zahlungsart?“

„Bar“, sage ich und schütte den Inhalt der Plastiktüte auf den Tisch. Mehrere Geldbündel fallen heraus. Es ist alles, was ich von Kochers Tod und von meinem ersten Auftrag noch übrig hatte.

Der Dame fällt die Kinnlade herunter. „Wir… Wir können das nicht annehmen.“

„Wenn Sie das Geld nicht nehmen, lege ich es draußen auf die Straße und zünde es an“, sage ich stumpf. Dann drehe ich mich um und verlasse das Obdachlosenheim wieder.

Hinter mir beginnt die Dame vor Freude zu weinen.

Teil 7.10

Fast bin ich es gewohnt, wieder in einem Auto zu sitzen. Zwar zucke ich hin und wieder zusammen, wenn andere Leute zu knapp an uns vorbeifahren, aber immerhin kann ich meine Finger und Lippen noch spüren. Wann auch immer ich Panik aufkommen spüre, greife ich instinktiv zu Vals Hand und drücke sie. Er scheint mittlerweile zu verstehen, was das bedeutet, und fährt langsamer.

Die Stille geht mir irgendwann zu weit. Ich drücke und drehe so lange an Knöpfen am Radio, bis Musik anspringt. Der Song ist schrecklich und hat unangenehme Statik untergemischt.

Wir halten an einer roten Ampel. Val dreht einen der Knöpfe zurück und schiebt eine CD ins Radio. Ein Lied, das mir weitaus besser gefällt, beginnt zu spielen.

„Ich habe gedacht, dass dich Musik nur noch nervöser macht“, gibt er zu.

„Stille hilft gar nicht“, sage ich, greife wieder nach seiner Hand und fummele an seinen Fingern und seinem Ärmel herum. An meiner eigenen Hand würde ich so lange an meinen Nagelbetten zupfen, bis sie bluten, aber Val kann ich das nicht antun.

„Nicht?“, fragt er und fährt an.

Ich schüttle den Kopf. „Gott, ich hasse das. Stillsitzen müssen, insbesondere… jetzt.“ Ich schnaube. „Das hält doch niemand aus.“

„Hm.“ Val dreht die Musik etwas lauter.

„Ich weiß nicht, was ich erwartet hab, aber das nicht.“

„Hm?“ Val wirft mir einen Blick zu.

„Dein Musikgeschmack.“

„Was denn sonst?“, fragt er amüsiert.

„Entweder Screamo Heavy Metal oder klassiche Musik.“

Er macht ein unzufriedenes Geräusch. „Von Klassik hatte ich schon mit neun Jahren die Schnauze voll.“

„Und stattdessen…?“

Somebody to Love“, erklärt er.

„Ist das nicht von Queen?“

„In dem Fall von Jefferson Airplane.“

Ich bin von unserer Unterhaltung so abgelenkt, dass ich vergesse, nervös zu sein. Halb versuche ich mir zu merken, welche Musik läuft— tatsächlich sind einige Lieder von Queen dabei, viel ältere Musik, viel Rock, und einige von jemandem namens Hozier— halb schaue ich der Landschaft zu, die sich langsam von Stadt zu Landstraße ändert. Um uns sind für eine ganze Weile nur verschneite Felder, bis einzelne, idyllische Häuser mit großen Gärten auftauchen.

„Anwesen Falegname.“

Wir biegen in eine Seitenstraße ein und fahren auf ein riesiges Gelände zu. Weingärten, mit Schnee bedeckt als wären sie gezuckert, erstrecken sich über einen Hügel. Auf der Anhöhe steht eine ansehnliche Villa, die ähnlich italienisch aussieht, wie es der Name vermuten lässt. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, das ist ein Urlaubshaus.

Das ganze Gelände ist ummauert. Val hält vor einem Tor und kurbelt das Fenster hinunter, um mit einer Rücksprechanlage zu quatschen. Die Kälte draußen schleicht sich sofort in das Auto und streicht mir unangenehm über die Arme.

„Valentin Tobias-Marko Quintieri“, meldet sich Val, „Und… Nona.“

Das Tor schwingt auf.

Vor der Villa gehen warme Lichter an, die die Vordertür einladend beleuchten. So heimelig es auch ist, es wirkt trotzdem imponierend.

„Wir treffen hier ordentlich große Fische, nicht?“, murmle ich.

Val kichert. „Fische?“

„Du weißt schon. Es gibt immer einen größeren Fisch. Ich springe blind in einen Pool mit Haien, nur weil du so geheimnistuerisch bist.“

„Es gibt wirklich nichts, was zu erklären ist“, sagt Val, und fast glaube ich es ihm. Er steigt aus, und bevor ich fertig mit dem Abschnallen bin, hält er mir schon die Tür auf.

„Ich hab zwei gut funktionierende Arme“, sage ich.

„Das weiß ich.“

Ich verdrehe lächelnd die Augen. Immerhin versucht er nicht, mir aus dem Auto zu helfen. Ich folge ihm hastig zur Vordertür, bevor die Kälte unter meinen Mantel kriechen kann. Im Weg sind flache Steine eingelegt, die als Treppe dienen, glücklicherweise ohne Glatteis. Gerade als wir das obere Ende der Anhöhe erreichen, öffnet sich die Vordertür.

Uns steht ein älteres italienisches Paar gegenüber, von denen ich annehme, dass sie Herr und Frau Falegname sind. Beide haben Grau in ihren Haaren, was ihr Alter verrät, sehen dafür aber jung aus. Frau Falegname trägt ein elegantes Kleid und einen Federschal, ihr Mann einen ebenso eleganten Anzug.

„Valentin“, sagt der Herr Falegname und schüttelt seine Hand.

„Francesco“, sagt Valentin genauso freudig. „Ist viel zu lange her.“

Bei Frau Falegname nimmt Valentin ihre Hand und deutet höflich einen Handkuss an. „Magdalena.“

„Valentin“, sagt auch sie und drückt seine Hand, dann wendet sie sich an mich. „Und Sie müssen Nona sein.“

Ich grinse etwas verloren. „Du, bitte.“

Francesco hält seine Hand aus, auf der er eine ordentlichen Menge goldene und mit Edelsteinen bestückte Ringe trägt, mit der Handfläche nach oben. Verwirrt nehme ich seine Hand, drehe sie seitlich und schüttle sie. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Valentin sich ein Grinsen verkneift.

Bei Magdalena kopiere ich einfach das, was Val getan hat, und deute einen Handkuss an. Meine Lippen waren noch nie so nah an so viel Gold.

„Bitte, kommt rein. Es sind fast alle da“, sagt Francesco.

Ich folge den beiden— damit meine ich, ich folge Val, der den beiden folgt. Die Innenseite ist genauso angenehm und edel wie die Außenseite und die Besitzer. Bunte Fliesen dekorieren Wände und Böden, die Möbel sind aus dunklem Holz und allesamt farblich aufeinander abgestimmt. Auf jeder freien Fläche stehen Fotos, kleine Erinnerungsstücke.

Das Ehepaar führt uns in ein Zimmer, dessen südliche Wand aus großen Fenstern besteht. Selbst die schwache Wintersonne schafft es, hier etwas Wärme hereinzubringen.

Ein großer Esstisch steht in der Mitte des Raumes, bestückt mit etwa einem Dutzend Sesseln, auf denen weniger als ein Dutzend Leute verstreut sind.

Die erste Person, die mir ins Auge fällt, ist ein blonder, dürrer Kerl, der zusammengesackt im Dunkelsten Eck des Tisches sitzt und mich mürrisch durch seine Augenbrauen anstarrt, als ich das Zimmer betrete. Neben ihm, zwischen ihnen ein leerer Sessel, sitzt eine junge Dame, die nur Magdalenas und Francescos Tochter sein kann; lange, schwarzbraune Locken, gebräunte Haut, Sommersprossen, ähnlich fein gekleidet. Sie besieht mich mit einem leichten Lächeln, das Grübchen in ihre Wangen malt. Es sieht dem von Val ganz ähnlich, und ist genauso undurchsichtig.

„Ist Asil da?“, fragt Val leise.

Francesco schüttelt seinen Kopf. „Sie hat leider abgesagt. Wirklich schade…“

Val macht ein zustimmendes Geräusch. „Und Mei und Yuuto?“

Francesco schnaubt. „Als hätten die beiden jemals Interesse daran, ihr Gebiet zu erweitern.“

„Wer weiß, ob sie auf Besuch vorbeikommen.“ Als Val an dem Blonden vorbeigeht, sagt er nur knapp, „Silvester.“

Der blonde Mann, Silvester anscheinend, murrt nur.

„Frau Falegname“, sagt Valentin höflich zu Francescos und Magdalenas Tochter und täuscht bei ihr auch einen Handkuss vor.

Bei ihren Eltern ist er per du, und sie muss er mit Nachnamen ansprechen? Ich grinse. Ich mag sie jetzt schon.

„Ich nehme an, Red wird… irgendwie dabei sein?“, fragt Magdalena und wirft einen deutlichen Blick auf Silvesters Telefon, das vor ihm neben einer Packung Zigaretten auf dem Tisch liegt.

„Wenn er sich dafür interessiert“, sagt Valentin leicht. Er zieht einen Sessel gegenüber Tochter Falegname heraus und deutet mir.

„Noch mal, ich hab funktionierende Arme“, sage ich.

Hinter mir rauscht plötzlich jemand vorbei und schlägt Valentin die flache Hand so hart auf den Rücken, das mir nur vom Zuhören wehtut.

„Hör auf sie. Dein Höfliches Getue hängt jedem schon beim Hals raus.“

Ihre schwarzen, kurzen Haare hängen zerzaust in ihre braunen Augen. Mir fällt erst auf, dass ihr rechtes Auge schwarz tätowiert ist. Dann ihre Tattoos, die an ihrem rechten Unterarm und an ihrem Hals sichtbar sind. Ihr linker Arm fehlt; stattdessen trägt sie ab dem Ellbogen eine Prothese. Sie besteht aus geschwungenem, dunklen Metall, das reichlich Löcher formt, hinter denen die Mechanik auf der Innenseite des Arms sichtbar ist. Sie sieht elegant, aber fragil aus.

„Iseul“, sagt Val, ohne sich anmerken zu lassen, ob der Schlag geschmerzt hat. Glücklicherweise hat sie nicht ihre Prothese dafür verwendet.

„Und du bist der kleine Feuerteufel, der Kocher und seine Gendarmerie auseinandergenommen hat.“ Iseul grinst mich breit an. Unter ihrer Oberlippe kommen zwei geschärfte Eckzähne und eine gespaltene Zunge zum Vorschein.

Ich grinse zurück. „Schuldig wie angeklagt“, sage ich und schüttle ihre Hand. Ein bisschen prahlen schadet schon nicht.

An der Spitze ihrer Finger trägt Iseul Ringe, die über ihre Fingerspitzen hinweg in Klauen zusammenlaufen. Sie graben sich leicht in meine Haut, scheinen aber stumpf zu sein.

Francesco räuspert sich. „Sind wir vollzählig?“

Magdalena sieht sich um. „…nehmen wir an, dass wir es sind.“

Ihr Mann nickt. Iseul, Val und ich setzen uns nebeneinander, gegenüber Familie Falegname und Silvester. Ich lehne mich zu Val hinüber und flüstere, „Ich nehme an, du und Iseul kommt nicht gut aus?“

„Sie ist unsere Verbündete.“
Ich kann mir ein ungläubiges Schnaufen nicht verkneifen. „Sie?“

„…eigentlich Joyce‘ Verbündete. Sie ist auf unserer Seite.“

„Und was machen wir hier?“

Wieder räuspert sich Francesco, deutet seiner Tochter etwas. Sie steht auf und verlässt kurz das Zimmer, während ihr Vater zu sprechen beginnt. „Vielen Dank an Valentin, dass du Nona auf so kurze Frist kontaktiert und eingeladen hast.“

Valentin nickt. „Vielen Dank, Magdalena und Francesco, dass ihr so vorzügliche Gastgeber seid.“

Frau Falegname kommt wieder zurück, sieben Weingläser und zwei Flaschen Rotwein auf einem Tablett. Sie stellt es ab, geht durch die Runde und stellt jedem ein Glas hin, das sie mit Wein füllt. Silvester leert seines und hält es ihr sofort wieder zum Nachfüllen hin.

„Ich bin dafür, dass wir das Gebiet als herrenlos ansehen. Generell vergeben wir nichts an Leute, die keinen Einfluss, geschweige denn keinen Wohnsitz in der Gegend haben— nichts für ungut“, wendet sich Francesco am Schluss an mich.

Ich zucke nur mit den Schultern.

„Ich bin auch dafür“, sagt Iseul, die kaum interessiert aussieht. „Es ist immer lustig, Gebiete den Kötern zu überlassen. Die streiten sich drum wie um Leckerlis.“

„Iseul, bitte“, sagt Magdalena streng.

„So langweilig…“

Val weist sein Glas höflich ab. Als bei mir einschenkt wird, erhasche ich einen Blick auf das Etikett, auf dem in geschwungener Goldschrift Falegname steht.

„Sie hat Kocher getötet“, sagt Valentin schlicht, „Und sie war diejenige, die Kochers Drogenstraße abgebrannt hat.“

„Woher wissen wir das?“, fragt Magdalena.

Es wird langsam alt. Ich halte die Handfläche auf und lasse eine Stichflamme herausschießen.

„…ah“, sagt Magdalena nur.

Wieder überrascht es mich, dass niemand sich wirklich wundert, woher das Feuer kommt.

„Was würdest du mit dem Gebiet anfangen?“, fragt mich Francesco.

„Wieso muss deine Tochter Kellnerin spielen?“

Francesco klappt die Kinnlade zu. Tochter Falegname prustet in ihr Weinglas hinein. Ich proste ihr subtil zu und nippe an meinem eigenen Glas. Der Wein ist fantastisch.

„Maria“, stellt sie sich vor, und trinkt weiter ihren Wein.

„Nona“, sage ich zurück, obwohl sie es schon weiß.

Francesco findet seine Worte wieder. „Wenn wir diesen Teil des Territoriums erhalten, können wir leichter neue Drogen herstellen und transportieren, Silva“, sagt er, in Richtung des schlaksigen Blonden. „Wir könnten kollektiv Gebietsschutz betreiben. Wir würden alle profitieren.“

Silva lacht, rau und heiser. „Klingt doch gut.“ Sein Glas ist bereits wieder leer.

Mittlerweile verstehe ich, was los ist. „Wieso gibt es überhaupt eine Diskussion?“

Mich treffen verwirrte Blicke.

Ich drehe absichtlich beiläufig das Weinglas am Tisch. „Kocher’s Tod war meine Arbeit. Ich hab sein Kopfgeld kassiert, ich hab seine… wie nennt er sie? Soldaten?

Val nickt.

„Seine Soldaten… ehrenvoll entlassen.“ Ich grinse. „Das Gebiet gehört mir.“

Francesco rümpft unauffällig die Nase. „Eigentlich gehört sich so etwas nicht.“
„Gehört es sich nicht? Oder willst du einfach nur Territorium, ohne dafür zu arbeiten?“

Magdalena wirft mir aus dem Augenwinkel einen scharfen Blick zu, den ich geflissentlich ignoriere.

„Ich brauche keine Almosen“, sagt Francesco schlicht.

„Gut. Dann gehört es mir.“

Silva kichert schief. Einen Moment lang wenden sich alle Blicke auf ihn. Ich lehne mich zu Val und flüstere, „Was ist mit ihm?“

Val senkt die Stimme. „Er ist ausnahmsweise nüchtern.“

„Bis jetzt haben wir immer ehrlich verhandelt“, sagt Magdalena. „Bei Marcus Fuller, bei Lentz-Protich, das Gebiet ist immer als Freiwild eingestuft worden.“

„Weil sich niemand gemeldet hat, der dafür verantwortlich war“, sagt Valentin, „In dem Fall sitzt sie unter uns.“

„Zwar weiß niemand, wer Lentz-Protich und Fuller auf dem Gewissen hat“, sagt Magdalena— Valentin sieht leicht auf. Es ist nur ein winziges Zucken seiner Augen, aber ich weiß, dass er irgendwas an der Information gefunden hat. „Aber sie hat keinerlei Einfluss“, vollendet Magdalena.

„Wie soll sie denn einen bekommen, wenn sie nie Gebiet kriegt?“, fragt Iseul.

„So wie jeder hier“, sagt Silva.

„Sie fängt als Arbeiter bei einem echten Boss an, und arbeitet sich hoch. Und wenn sie kompetent genug ist, hat sie Territorium verdient“, stimmt Magdalena zu.

„Mord, Verrat, ein wenig Intelligenz und sehr viel blödes Glück“, sage ich.

Valentin grinst und legt unauffällig seine Hand über den Mund, um es zu verstecken. Selbst Silva keckert.

Iseul ist nicht annähernd so höflich und lacht laut auf. „Als hätte ich mich ehrlich hochgearbeitet. Und ich sitze immer noch in diesem verschissenen Meeting.“

Ich schnaube und wende mich an Silva. „Sag, und was machst du so?“

„Ich bin Künstler“, sagt er und lehnt sich dramatisch zurück, „…und Drogenbaron.“

„Künstler, hm?“, sage ich, „Erfolgreich?“

Er nickt.

„Wie reich ist dein Vater?“

Er verzieht das Gesicht, als hätte ich ihm auf die Schuhe gespuckt.

„Wir kommen vom Thema ab“, geht Francesco dazwischen, „Punkt ist, wir können nicht jeder Person, die Glück hat, einfach Territorium überlassen.“

„Glück?“, frage ich empört, „Du nennst das Glück?“

Ich rege mich künstlich auf. Dass ich Kocher erwischt habe, war kompletter Zufall.

Magdalena legt ihrem Mann eine Hand auf die Schulter. „Wir kommen so nicht weiter. Wie wäre es mit einer kurzen Pause?“

Von der Tischrunde kommt allgemeine Zustimmung. Silva legt seinen Kopf in seine Arme.

Ich stehe auf. Val wirft mir einen fragenden Blick zu.

„Ich muss strullern.“

Magdalena räuspert sich höflich. „Soll ich dir die Toiletten zeigen?“

„Bitte, ja.“

Sie führt mich durch das Haus, das kein Ende zu nehmen scheint.

„Darf ich dich etwas fragen?“

Ich zucke mit den Schultern. „Schieß los.“

„Wie kennst du Valentin?“

„Wir haben uns zufällig getroffen“, sage ich wahrheitsgemäß. Ich habe bis jetzt mitbekommen, dass Val niemandem ehrlich erzählt hat, wie wir uns kennengelernt haben oder wie wir zueinander stehen, und das wahrscheinlich aus einem guten Grund.

„Versteh mich nicht falsch“, sagt Magdalena, „Es ist nur sehr schwer nachzuvollziehen, wie ein harmloser Pazifist wie Valentin mit jemandem wie dir…“

Ich schnaube amüsiert. „Harmloser Pazifist?“

„Valentin? Der kann keiner Fliege was zuleide tun.“

Ich belasse es dabei, „Es ist sehr einfach“, sage ich und öffne die Tür zur Toilette. „Er ist mein Sugar Daddy“, sage ich und mache ihr die Tür vor der Nase zu, bevor sie den Satz verarbeiten kann.

Als ich in den Konferenzraum zurückkomme, tuschelt Magdalena mit Francesco. Ich schenke ihr ein breites Lächeln und setze mich zu Val. Iseul ist die letzte, die sich an den Tisch setzt. Sobald alle wieder anwesend sind, räuspert sich Magdalena.

„Ich verstehe jetzt, wie du Nona so schnell finden konntest, Valentin. Nimm mir es nicht böse, aber du musst zugeben, dass es einen ziemlichen Interessenkonflikt gibt, wenn sie… nun ja.“

„Wenn sie was, Magdalena?“, fragt Valentin ruhig und wirft mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu.

„Wenn ihr geldlich so miteinander verbunden seit.“

„Ich weiß leider nicht, wovon du sprichst.“

Magdalena faltet die Hände. „Möchtest du wirklich Gelände durch den Sugar Baby erlangen?“

Ich kann nicht anders— ich pruste los. Val wirft mir einen Blick zu, tut sein Bestes, sich das Lachen zu verkneifen, und versagt miserabel. Innerhalb von Sekunde zerfällt seine Miene zu schallendem Gelächter. Es ist nicht mal falsch, perfekt und künstlich. Er schnappt nach Luft. Mir selbst steigen die Tränen in die Augen. Dann finde ich etwas heraus, wofür sich das ganze Treffen gelohnt hat: Val grunzt beim Lachen.

Wir reißen uns nach einer zugegeben etwas ausgedehnten Weile wieder zusammen und Val atmet durch.

Nona“, sagt er einfach.

„Ich konnte nicht anders“, keuche ich und wische mir über die Augen. „Fuck, das war gut.“

„Nona“, wiederholt er nur, aber dieses freche Grinsen, das ihm so gut steht, zupft noch immer seine Mundwinkel nach oben.

„Gib zu, das war lustig.“

„Das verneine ich nicht“, sagt er.

Magdalena ist die Röte ins Gesicht gestiegen. Sie beißt sich sichtbar auf die Zunge, während ihr Mann sich räuspert.

„Kommen wir aufs Thema zurück“, sagt er und wendet sich an mich. „Wir könnten beide davon profitieren, wenn du uns das Gebiet überlässt. Immerhin hast du keinerlei Wissen oder Mittel, wie du damit umgehst— wir könnten das für dich übernehmen.“

„Das ist eine freche Annahme.“ Ich ziehe die Oberlippe hoch, was schon fast als Grinsen gedeutet werden kann.

Francesco will antworten, doch die Tür zu unserer Rechten geht auf unterbricht ihn. Jemand betritt den Raum, mit ihm der strenge Geruch von Nikotin und etwas Blumigerem.

Silva sieht sich verwirrt um und dann auf seinen Platz hinunter, wo noch ein Silva sitzt.

„…seht ihr das auch? Ich bin nüchtern, ich schwör’s“, sagt der Silva, der gerade ins Zimmer gekommen ist.

Der zweite Silva grinst breit. Zu breit für sein Gesicht, als hätte er zu viele Zähne. Er streckt genüsslich seine Arme und Beine durch, presst seine Handflächen auf die Tischplatte und erhebt sich. In der Bewegung kocht seine Haut, wirft Blasen und verformt sich.

Als würde ich in einen Spiegel schauen.

„Lange nicht gesehen“, säuselt Nicht-Ich mit meiner Stimme.

Hitze entspringt instinktiv meinen Handflächen und bringt das Holz unter meinen Fingern zum Rauchen.

Der echte Silva betrachtet Nicht-Ich mit einer Abneigung, der ich nur zustimmen kann. „Du Fotze.“

Ich stehe auf. Aus meinen Fingern fließt Rauch.

„Ah, ah, Nona. Hast du nicht dazugelernt?“, fragt sie und tippt gegen ihre— meine— Brandnarbe.

Meine Hände ballen sich zu Fäusten, bis meine Fingernägel in meine Haut stechen. Mittlerweile fliegen Funken von meinen Knöcheln.

„Wir sind hier doch alle befreundet“, säuselt Nicht-Ich.

Val steht plötzlich neben mir auf und nimmt meine Hand. Irgendein tiefsitzender Teil von mir weigert sich, ihn zu verletzen. Die Funken verglimmen, der Rauch verpufft zumindest in meiner Linken.

Val verschränkt unsere Finger. „Setz dich“, sagt er ruhig zu Nicht-Ich.

Sie wirft einen Blick auf unsere Hände und grinst hämisch. „Oh, ist das süß.“

„Ich kann auch loslassen“, sagt Val schlicht.

Nicht-Ich verzieht kurz das Gesicht, dann setzt sie sich an das Ende des Tisches. Val setzt sich und zieht mich mit, hält aber unter dem Tisch noch immer meine Hand.

Iseul wirft Nicht-Ich einen giftigen Blick zu, sagt jedoch nichts.

„Wieso bist du überhaupt hier?“, fragt Francesco.

„Kann ich nicht neugierig sein?“, fragt Nicht-Ich zurück, wirft einen Blick durch die Runde und fixiert sich auf Maria. „Du bist doch die Tochter von den beiden, nicht?“

Sie betrachtet Nicht-Ich misstrauisch. „Ich habe Ihnen nicht das Du angeboten“, korrigiert sie schlicht.

Nicht-Ich haltet die Hand aus. „Schön, dich auch mal kennenzulernen.“

Maria reagiert nicht.

Nicht-Ich packt ihre Hand und drückt. Maria reißt ihren Arm zurück, doch es ist zu spät. Es scheint, als würde Nicht-Ich Maria‘s Abbild durch ihre Haut aufsaugen. Der Kontakt bricht jedoch, bevor Nicht-Ich‘s Transformation vollständig ist— Nicht-Ich japst nach Luft und krallt sich an ihre Hand, die schrecklich krampft und zuckt. Maria ballt ihre Hand bloß zur Faust und kneift ihre Augen zu. Ein Rinnsal Blut läuft aus beider Nasen.

Nicht-Ich wischt das Blut von ihrer Oberlippe. Wütend starrt sie Maria an, zischt, „Das wäre nicht passiert, wenn du einfach—“

„Genug“, sagt Magdalena laut. „Wir wissen alle, dass du kein Interesse an Territorium hast. Entweder rück raus, was du willst, oder lass uns diese Verhandlung in Ruhe beenden.“

Maria berührt das verwischte Blut an ihrer Oberlippe langsam, beinahe andächtig. Sie schult ihr Gesicht in vorsichtiger Neutralität, bevor sie Nicht-Ich anlächelt. Die Grübchen in ihren Wangen sind verschwunden. Ihre Augen sind kalt und tot, als wären sie aus Glas.

„Wenn ich wollte, könnte ich das als Angriff auf neutralem Grund ansehen“, sagt sie, zu ruhig, zu direkt. Im Zimmer wird es zehn Grad kälter.

Nicht-Ich entgleisen kurz die Gesichtszüge. Sie lacht nervös auf. „Ich bin doch nur hier, um eine alte Freundin zu besuchen“, sagt sie und wendet sich an mich.

Ich schnaube. Inzwischen hab ich die Schnauze voll von diesem Treffen.

„Mir reicht’s“, sage ich, löse widerwillig meine Hand von Vals und stehe auf. „Wenn ihr Kochers Territorium haben wolltet, hättet ihr ihn selbst töten sollen. Das Gelände gehört mir. Falls nötig werde ich das beweisen.“

Um zu unterstreichen lasse ich Flammen aus meinen Fäusten wabern. In der Tischrunde weiten sich einige Augen.

Kurz überlege ich mir, etwas zu Nicht-Ich zu sagen, aber alles, was mir einfällt, ist Gewalt, und ich habe am eigenen Leibe erfahren, dass sich das auf Maria übertragen würde.

„Danke für den Wein. Ich bin hier fertig“, knurre ich und gehe.

Mir schlägt vor der Tür sofort der Winter ins Gesicht. Da ich meinen Mantel nur geschnappt habe und erst jetzt anziehe, läuft mir sofort am ganzen Körper kalt auf. Es hat wieder zu schneien begonnen. Weiche, große Flocken landen in meinen Haaren. Obwohl ich die Kälte hasse, ist sie mir doch lieber, als noch eine einzige Minute mit Nicht-Ich in einem Raum zu sein.

Ich gehe die Anhöhe hinunter und lehne mich an Vals Auto. Mich juckt es nach einer Zigarette, dann hätte ich wenigstens etwas, womit ich mir die Zeit vertreiben und den Stress abbauen kann. Wieder kommt eine vage Erinnerung auf, eine Warnung— ich kann nur Feuer in meine Hände pusten, damit sie nicht kalt werden.

Val reißt mich aus den Gedanken. „Ist alles in Ordnung?“

Ich zucke zusammen und bekomme erst jetzt mit, dass ich ein Loch in den Schnee gestarrt habe— wörtlich. Dort, wo mein Blick geruht hat, ist der Schnee geschmolzen und das Wasser verdampft.

„Ja“, sage ich, aber es klingt nicht sehr überzeugend. Ich schaue den Flocken zu, wie sie in Vals Haaren landen und dort hängen bleiben.

„Zittern deine Hände wegen der Kälte, wegen Wut oder wegen der Panik?“

Ich muss in mich reinhorchen, aber der schnelle Herzschlag kommt von Wut, nicht von Angst. Meine Lippen kann ich dank des Feuers auch noch spüren, genauso wie meine Hände.

„Kälte“, sage ich.

Val sperrt das Auto auf. Wir setzen uns hinein, er startet den Motor und schaltet die Heizung ein.

„Was für ein Disaster“, murre ich.

Val wirft mir einen fragenden Blick zu.

„Ich weiß schon, wieso du mich heute hier hergebracht hast“, sage ich.

„Erleuchte mich.“

„Du wolltest meine Geduld testen. Prüfen, ob ich mich seit… dem hier—“ Ich greife an meine Narbe. „—verbessert habe.“

Val schüttelt leise lachend den Kopf. „Nein, das war nicht der Sinn dahinter.“

„Was?“

„Ich wollte sehen, wie du dich verhältst, das ist alles.“

Zugegeben, ein wenig erleichtert bin ich schon. „Und?“, frage ich, „Wie war ich?“

„Unter gegebenen Umständen? Gut.“

Ich kann nicht anders als stolz zu grinsen.

„Du hast niemandem verraten, wie genau wir zueinander stehen, ohne dass ich dich gewarnt habe. Du hast sie sogar weit davon abgelenkt.“

„Mit dem Sugar-Daddy-Witz?“, frage ich ungläubig.

Er nickt. „Sehr taktisch.“

Ich lache.
„Außerdem war es lustig“, gibt er zu, „Du hast zugesehen, zugehört und gewartet, bis du verstanden hast, was los ist, und dann angemessen reagiert. Und selbst als Nicht-Ich aufgetaucht ist, hast du dich zusammengerissen.“

„Auch nur, weil du dabei warst“, sage ich.

„Dafür bin ich da.“

Ich lächle ihn dankbar an. Er lächelt zurück, und ich kaufe es ihm ab.

„Ich hab ja gewusst, dass du absichtlich geheimnistuerisch warst“, sage ich selbstzufrieden.

Val schnaubt amüsiert. „Ich musste dich blind reinschicken.“

„Und mich die ersten paar Minuten im Dunkeln tappen lassen?“

Er nickt. „Das Beste, was du tun kannst, ist lächeln, schweigen, mitspielen, und so tun, als kennst du dich aus.“

„Grinst du deshalb die ganze Zeit so?“

Er nickt. „Mein Lächeln, mein Ruf und meine Lügen. Meine größten Stärken.“
„Und was heißt das für mich?“, frage ich, „Ich kenn jetzt dein Geheimnis.“

„Das heißt, dass ich dir vertraue, Nona.“

Mir brennen die Wangen. Ich sehe aus dem Fenster und hoffe, dass Val davon nichts mitbekommt.

„Du würdest niemandem etwas verraten, oder?“, fragt er mit spielerischem Unterton.

Ich schnaube. „Als würde mir das jemand glauben. Der kann doch keiner Fliege was zuleide tun.“

Er lacht und prustet wieder wie vorhin. Es klingt irgendwie süß.

„Und du?“, frage ich.

Er hält inne.

„Du weißt, dass ich Pyromane bin. Was, wenn du herausfindest, dass ich mit Streichhölzern spiele?“, frage ich ihn.

Er macht eine bewusste Pause und grinst frech. Auf seinen Gesichtszügen zischt ein Funke umher, diese Verspieltheit, die ich bei ihm ständig suche.

„Ich würde dir Benzin bringen“, sagt er, „Ich würde ich dir helfen, von der Polizei wegzukommen. Wenn du ein anderes Haus zum Abbrennen bräuchtest, würde ich dir eines besorgen. Und wenn du die ganze Stadt in Schutt und Asche legen willst…“

Ein hastiger Atemzug entkommt ihm. Seine Augen werden dunkel, und für einen Moment denke ich, ich könnte einen Blick auf das Monster hinter dem Mann erhaschen, vor dem mich jeder warnt, würde ich nur nah genug hinsehen. Mir gefällt es.

„Dann würde ich dir den besten Platz freihalten, um den Feuerwerken zuzusehen“, vollende ich seinen Satz.

Er seufzt theatralisch. „Beim letzten Mal durfte ich ja nicht zusehen.“

Der Motor ist endlich warmgelaufen. Val wendet und fährt wieder vom Gelände.

Ich grinse stolz. „Ich habe ganze Arbeit geleistet, das kann ich dir verraten.“

„Und mehrere Kilo perfektes Kannabis verbrannt.“

Ich presse die Lippen zusammen. Val wirft mir aus dem Augenwinkel einen Blick zu.

„…ich bin voller Überraschungen“, sage ich mit einem gezwungenen, breiten Lächeln.

Val lacht.

Teil 7.11

Eine ungewöhnliche Stille erfüllt den Stützpunkt. Draußen bedecken dichte Wolken die schwache Wintersonne und tauchen das Hinterzimmer ins Halbdunkel, obwohl es Mittag ist. Die Sofas und Sessel sehen ohne das Trio und die Zwillinge schrecklich leer aus. Selbst die Lagerhalle, gefüllt mit einer Handvoll von Joyce‘ und Vals Angestellten, gibt nur ein stetiges Murmeln von sich.

Es fühlt sich an, als wäre ich wieder sechzehn, Nachts wach, leicht verloren und alleine, inmitten des riesigen Jugendheims, das mich praktisch gebeten hat, es zu erkunden. Leider gibt es hier nicht viel zu sehen; die Küche ist überraschenderweise sauber, was auf den ersten Blick das Besonderste ist, das ich finde. Ein Zettel liegt neben der Spüle, mit feiner Handschrift darauf: Wenn ihr so weiter macht, bekommt ihr alle Salmonellen. Ich putze eure Küche nie wieder. Malik. Ich drehe den Zettel um. P.S.: Soren, ich liebe das Portrait am Garagentor <3

Ich kichere und lege den Zettel zurück. Sonst führen vier Türen vom Hinterzimmer weg: Eine davon in die Garage, in die ich mich weigere, zu gehen, weil sie sogar an sonnigen Tagen kalt ist, die zweite führt zu den Schlafräumen, die dritte in die Lagerhalle, die vierte in das Büro der Zwillinge.

Neugierde zieht mich zur letzten Tür, die unerwartet nicht abgeschlossen ist. Wieder bekomme ich Déjà-vu, stehe kurz wieder in Kocher’s Büro und rette Val den Arsch.

Die Flyer verlangen meine Aufmerksamkeit und demonstrieren mir den Unterschied zwischen den beiden Räumen. Kocher’s Büro war schrecklich leer, dazu ausgelegt, jedem zu imponieren, der es betritt. Das Zimmer hier strahlt mit Charakter; Zeitungsausschnitte, Notizen und kleine Zeichnungen hängen an den Wänden und an den Regalen, zwei gestohlene Straßenschilder— ein Stoppschild und ein Einbahnschild— sind hinter dem Schreibtischstuhl befestigt. Und natürlich die Flyer: Nick, Glitzer, Soren, Joyce, Val. Die Preise des Trios sind allesamt um mehrere Hundert gestiegen, Joyce‘ Kopf is mittlerweile Zweiundvierzigtausend wert. Ich glaube Vals Geschichte, dass sein niedriger Preis gerechtfertigt ist, nicht mehr im Geringsten.

Mein eigenes Gesicht hängt zwischen dem Trio und den Zwilligen. Wenn ich raten müsste, kommt mein Preis teils von der ZEFHA, teils von Kocher. Achtundvierzigtausend. Ich weiß nicht, ob mein Stolz gerechtfertigt ist.

Ich werfe einen Blick auf die Regale. Bücher über Schach, Schwerter, griechische und nordische Mythologie, Musikbücher. In den unteren Reihen Lektüre über Jura und Medizin.

Der Schreibtisch ist penibel abgestaubt. Zwei kleine Stapel Papiere liegen an der Seite, die ich kurz durchblättere; Der linke enthält Berichte von verschiedensten Leuten, alle an unterschiedlichen Orten, über unterschiedliche Aufträge. Welche Details am wichtigsten sind, ändert sich auch von Zettel zu Zettel. Der Rechte besteht exklusiv aus Zahlen, Rechnungen und Dokumenten, von denen mir nur beim Ansehen schwindelig und langweilig wird.

Ich setze mich auf den Sessel hinter den Schreibtisch und taste die Unterseite der Tischplatte ab. Keine Waffe.

Folgend öffne ich die Schubladen. In der obersten sind überraschend normale Büroartikel, von Büroklammern zu Kugelschreibern zum Tacker. Die zweite Schublade ist außer einigen Papierkugeln und einem Notizbuch ziemlich leer; nur zwei kleine Stofftiere haben darin ihr Zuhause gefunden, eine Maus und ein Wolf. Die Maus erinnert mich sofort an Joyce und ich muss lächeln.

„Ganz unten wird’s interessant.“

Ich zucke zusammen und sehe auf. Val steht mit verschränkten Armen im Türrahmen. Ich nehme ihn beim Wort und ziehe am Griff der untersten Schublade. Sie ist abgeschlossen. Als ich aufsehe, steht Val neben mir an den Schreibtisch gelehnt und grinst mich frech an.

„Sehr lustig“, sage ich und hebe die Augenbrauen.

„Mein Sinn für Humor wird selten wertgeschätzt“, säuselt er theatralisch und zuckt mit den Schultern.

„Ich gehe schon“, sage ich, „Tut mir Leid, dass ich gestöbert hab, ich konnte nicht anders.“

„Alles, was nicht zugänglich sein sollte, ist abgeschlossen“, sagt er leicht und nickt vage in Richtung der Schublade.

„Was ist da drin?“

„Eine Pistole mit vollem Magazin, sieben Zyanidtabletten, eine gute Flasche Honigwhiskey und eine Dose Kekse.“

Ich presse die Lippen zusammen und mustere ihn scharf. Selbst jetzt wo ich ihn kenne, kann ich nur selten wirklich einschätzen, ob er die volle Wahrheit sagt oder ob er mir ins Gesicht lügt.

„Kommt gelegen, dass ich dich gefunden habe“, sagt er, „Ich will dich zu einem möglichen Kontakt mitnehmen.“

„Kontakt?“, wiederhole ich, „Wir waren doch erst letzte Woche.“

„Letzte Woche hast du dein Gelände verteidigt—“

„Unser Gelände“, korrigiere ich.

Val blinzelt mich perplex an. Ich lache auf. „Hübscher, glaubst du ich hab irgendeine Ahnung oder Interesse daran, mir hier Territorium zu machen? Mach damit, was du willst. Wir sind doch Verbündete, oder Kollegen, oder wie auch immer du es nennst.“

„Freunde?“, schlägt er vor.

„Sugar Daddy“, schnurre ich halb flirtend, halb witzelnd und streiche mit einem Finger seine Kieferpartie entlang.

Er erschaudert, beißt sich subtil auf die Lippe und lehnt sich etwas zu mir herunter. „Du musst wirklich aufhören, das zu verbreiten. Irgendwann glaubt das jemand.“

Ich schnaube. „Als ob. Jeder kann sehen, dass ich der Sugar Daddy wäre.“

Val kichert. Ich erwarte, wie so oft, dass er widerspricht, und wie so oft überrascht er mich damit, dass er nichts dazu sagt. Stattdessen sagt er nur, „Es geht um Leidinger.“

„…oh. Richtig.“

Wieso bin ich nicht aufgeregt? Bevor ich Red, Elias, Quinn und Thana gefunden habe, war es einfach keine Priorität. Jetzt habe ich sie alle wieder, habe sogar Martha besucht, Ernas Andenken geehrt, und habe über die letzten Wochen Zeit damit verschwendet, mich im Sinne von Fischen und Territorien und Verhaltensregeln einzufinden. Eigentlich sollte ich schrecklich scharf darauf sein, nach ihm zu suchen, denn ich habe ja jetzt alles, was ich wollte. Doch ich bin nicht aufgeregt, nach ihm zu suchen— eher fühlt es sich an, wie sechs Uhr morgens zur Arbeit gehen zu müssen. Anstrengend. Nervig.

Das Verlangen nach Rache brodelt immer noch unter meiner Haut. Zu oft bin ich Nachts wach gelegen und habe mir vorgestellt, wie ich Leidinger bei lebendigem Leibe entzünde, sein Fleisch koche und diese verdammten Augen aus ihren Höhlen brenne.

Aber ich könnte stattdessen mit Nick ins Fitnessstudio gehen, oder mit Soren quatschen, während er malt, oder mit Glitzer Übungskämpfe machen, oder Quinn und Thana besuchen, oder mir mit Joyce eine Flasche Wein teilen.

Vielleicht habe ich deshalb Red noch nicht nach Hilfe gefragt. Oder weil die stärkste Spur, die ich bisher habe, Dahlia’s Wort ist, dass Leidinger vor zwanzig Jahren in ihrem Club war.

Wenn ich heute etwas besseres finde, frage ich Red. Irgendwann.

„Du bist nicht begeistert.“

Es ist nicht einmal eine Frage, und ich sage trotzdem, „Doch. Wirklich, ich bin dankbar für alles, was ihr macht.“

„Das ist nicht dasselbe“, sagt Val und mustert mich interessiert.

Ich schweige.

„Erkennst du langsam, dass Rache dich nicht glücklich machen wird?“, fragt er mit einem deutlichen neckenden Unterton.

„Glücklich,“ wiederhole ich, lache schnaubend, doch es liegt kein Humor darin. „Rache ist nicht etwas, das ich tun will. Es ist eine Aufgabe wie Zähne Putzen oder Arsch abwischen. Wenn ich damit fertig bin, dann kann ich glücklich sein.“

Pause. Ich seufze. „Wo geht es hin?“

Val lässt das Thema fallen und ich bin ihm dankbar dafür. „Asil Káya“, sagt er.

„Asil…“, murmle ich. Irgendwoher kenne ich den Namen.

„Sie hätte beim Grenzdisput dabei sein sollen“, erklärt er, während wir aus dem Büro gehen. Ich hole meinen Mantel und meine Schuhe, während Val weiter erklärt, „Nicht, weil ihr Gebiet dort angrenzt— sie hat keines— sie ist nur neugierig.“

Wir gehen in die Garage und steigen ins Auto ein. Ich zögere dabei kaum.

„Wie kann sie uns helfen?“, frage ich.

„Sie dealt mit Informationen. Zwar hat sie nicht viel über die ZEFHA, aber wenn Leidinger sich anders bekannt gemacht hat, sollte sie davon wissen.“

„Informationen, so wie Dahlia?“

„Etwas anders.“

Wir verlassen die Garage und fahren los, durch die schneebedeckten Straßen. Der Winter hat sich mittlerweile eingenistet; es regnet nicht mehr, schneit nur noch, und anstatt einer toten, kalten Ödnis bedeckt mit gräulichem Schlamm hat sich die Stadt in eine Decke aus Weiß gehüllt. Beinahe kann ich es wertschätzen, selbst wenn ich Kälte abgrundtief hasse.

„Womit macht ihr eigentlich euer Geschäft?“, frage ich, Blick aus dem Fenster gerichtet.

„Bevor wir uns zusammengeschlossen haben, hat Joyce‘ Gang mit… sagen wir Diensthandlungen gearbeitet“, sagt er.

„Auftragsmorde?“

„Botenaufträge, Prostitution, Pornographie, kleinere Bereiche mit illegalen medizinischen Operationen“, vollendet er, dann verzieht er das Gesicht und macht ein unzufriedenes Geräusch „Prostitution und Pornographie hat Joyce abgeschafft, sobald sie konnte. Anstatt eine Rivalität mit Dahlia zu führen, hat sie ihr ein Friedensangebot gemacht. Außer ihr gibt es ohnehin niemanden, der respektabel mit solchen Geschäften umgeht.“

Beinahe erhasche ich wirklichen Ekel in seiner Stimme.

„Was ist mit dir?“, frage ich.

„Großteils Informationen“, sagt er und zwinkert mir zu, „Mit einem kleinen, unwichtigen Waffengeschäft auf der Seite.“
„Und das soll ich dir abkaufen?“

„Von mir bekommst du’s gratis.“

Ich lache auf. Es ist schwer vorzustellen, dass das derselbe Valentin ist, der einen erwachsenen Mann zum Heulen gebracht hat, ohne ihn zu berühren.

„Wie hast du das damals gemacht?“, frage ich.
„Was?“

„Dein Angestellter, der dich hintergangen hat. Der, den du dir mit Kocher geteilt hast. Wie hast du ihn zum Weinen gebracht?“

Zwischen uns entsteht eine lange Pause. Dann, endlich: „Asil ist wirklich schwer zu erwischen. Für sie ist es ein Spiel, sie zu finden, und ihr dann etwas anzubieten, das sie interessant findet—“

„Schon verstanden“, sage ich und verdrehe die Augen.

Val grinst. „Nein, wirklich. Sie ist Red überraschend ähnlich. Wir mussten viel zu oft unsere Passwörter ändern und verlängern, weil er es als Spiel angesehen hat. Glücklicherweise sollte deine Anwesenheit alleine für Asil schmackhaft genug sein.“

„Du hast eine Menge seltsame Kollegen, Val“, sage ich.

Er beäugt mich nur einen Moment zu lange. Ich lache und stoße ihn mit dem Ellbogen in die Seite. „Ach, halt doch die Klappe.“

Wir verlassen über eine Landstraße die Stadt und kommen kurz darauf in einem idyllischen kleinen Dorf an, das direkt aus einer Weihnachtsgrußkarte gepurzelt zu sein scheint. Überall hängen Lichterketten und beleuchten den Schnee mit bunten Flecken.

„Es ist schon Weihnachten?“, murmle ich mehr zu mir selbst als zu Val.

„Bald“, sagt er. „Feierst du?“

Ich muss scharf darüber nachdenken. „Nein, das hat damals bei uns zuhause niemand. Zumindest nicht aus christlichen Gründen.“

„Sondern?“

„Urlaub und Geschenke.“

Val kichert. „Kein großer Fan von der Messe?“

„Meinen Vater zerren keine zehn Pferde in eine Kirche“, sage ich, „Aber die Lichter waren hübsch. Val, was zur Hölle machen wir hier?“

Wir haben vor einem weiteren, äußerst idyllischen Häuschen gehalten. Hier soll ein Gangboss wohnen?

„Asil hat zwar ihren Hauptstandort hier, doch sie besitzt Lagerhäuser außerhalb. Außerdem ist es die perfekte Tarnung. Niemand würde jemanden wie sie hier vermuten.“

Als Val aus dem Wagen steigt, bemerke ich ein kurzes Zögern, bevor er sein linkes Bein belastet.

„Alles in Ordnung?“, frage ich.

„Rutschig“, sagt er, obwohl ich die eislose Straße unter seinen Füßen sehen kann. Ich hinterfrage es nicht, sondern wende mich dem Haus vor uns zu, Zweifel im Gesicht. „Das ist es?“

Val kneift die Augen zusammen. „…nein. Ich hab mich bei der Hausnummer vertan.“ Er deutet auf das Haus links daneben. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Sie sind identisch.

Der Pfad des Vordergartens ist mit einer dicken Schicht von makellosem Schnee bedeckt. Val drückt eine Klingel, die wie eine Eule geformt ist. Einige Sekunden passiert nichts, dann höre ich ein Surren. Ich sehe auf und finde eine eine Überwachungskamera, die am Dachbalken befestigt ist und sich auf uns fokussiert.

„Hallo“, sagt Val freundlich und winkt. Keinen Moment später wird die Tür geöffnet.

„Quintieri“, sagt eine stramme Stimme.

Eine Frau, etwas älter als ich, steht im Türrahmen. Ihre Haare sind gräulich-braun, wellig und kurz. Ihre Augen sind groß, hell und durchdringend und schauen Val über ihre scharfe Hakennase hinweg und durch eine große, runde Brille verdächtig an.

„Asil“, sagt Val freundlich.

Sie legt den Kopf schief, wobei die Bewegung mehr einem Zucken gleicht. „Was brauchst du?“

Er deutet auf mich. „Das ist Nona“, sagt er, und überraschenderweise nichts weiter.

„Nona. Nona, Nona, Nona…“, murmelt sie.

„No-Name“, erklärt er.

In ihren Augen blitzt es. „Die lebende Jane Doe?“, fragt sie und blinzelt ihn groß an.

„Wonach sieht es aus?“

Sie tritt zur Seite. „Komm rein, es ist kalt.“

Ich sehe mich um, während ich den Mantel ausziehe; während die Außenseite des Hauses das Wort Uniformität neu definiert, ist die Innenseite in etwa so seltsam, wie sie es sein kann. Keine Oberfläche ist frei, es stehen in jedem Zimmer mehrere Tische und Regale nur für Dekor. Alles hier drin ist mit Motiven von Vögeln bestückt, hauptsächlich Eulen. Die Deckenleuchte, die aussieht, als würde eine goldene Eule eine Glühbirne tragen, ist das, was die Frage aus mir zwingt: „Ich schätze, dein Lieblingstier sind Katzen?“

Sie lacht leise. „Ich wurde hin und wieder mit einer Eule verglichen, bis das ganze eskaliert ist, weil jemand—“ Sie wirft Val einen giftigen Blick zu, „—mich während einem Treffen Eule genannt hat.“

Ich kichere hinter vorgehaltener Hand. Val selbst muss sich sichtbar ein Lachen verkneifen.

Sie seufzt. „Genug herumgevögelt“, sagt sie, „Warum lässt du dich freiwillig hier blicken, Quintieri?“

Er lächelt scheinheilig. „Kann ich dich nicht besuchen wollen?“

„Mit einer Opfergabe?“, fragt sie und deutet auf mich. „Nichts für ungut.“

Ich zucke mit den Schultern.

„Wir suchen nach jemandem“, sagt Val schließlich.

Asil winkt sofort ab. „Kein Wort mehr. Nona, folg mir.“

Sie geht zu einer Tür, hinter der bloß Treppen warten. Als Val Anstalten macht, uns zu folgen, schüttelt sie den Kopf und schiebt ihn an den Schultern zurück.

„Nein, nein, nein, vergiss es. Ich lasse dich nicht in mein Lager. Du und dein verdammtes fotografisches Gedächtnis.“

„Es ist eigentlich nicht fotografisch—“

„Es ist gut genug, um mir Probleme zu breiten“, sagt sie und schubst ihn über die Türschwelle. „Und ich lasse dich in meinem Haus sicher nicht alleine. Vielleicht stellst du noch eine Eule dazu“, sagt sie und wirft die Tür vor seiner Nase zu.

Sie holt tief Luft und dreht sich dann ohne Pause zu mir. „Folgen“, sagt sie noch mal und verschwindet die Treppen hinunter. Ich eile ihr hinterher.

„Ihm wird kalt werden“, sage ich geistesabwesend.

„Das hält dein Hündchen schon aus“, winkt sie ab, „Wie heißt er?“

„Anton— Moment, woher weißt du, dass es ein Er ist?“

„Ich kann gut raten“, sagt sie, „Frauen, die so aussehen wie du, suchen nach Männern, damit sie sich rächen können“, sagt sie. Sie dreht ihren Kopf herum, etwas weiter als normal. Ihre Augen funkeln mich kurz an. „Habe ich recht?“

Ich grinse. „Bingo.“

„Der Name, Nona.“

„Anton B. Leidinger“, sage ich, und bevor ich darüber nachdenken kann, „Das B steht für Bastard.“

Sie lacht laut. Am Fuß der Treppe wartet eine überraschend große, schwere Metalltür. Asil stellt sich vor ein Ziffernschloss, tippt fünfzehn Zahlen ein und wartet. Es surrt, die Tür gleitet auf. In dem Raum dahinter springen flackernd Lampen an.

Mir bleibt der Atem in der Kehle hängen. Der Raum ist riesig, vollgestopft mit Aktenschränken und Regalen. Die höchsten davon reichen mehrere Meter nach oben und streifen die Decke. Wie in einer Bibliothek sind Leitern an Rädern angebracht, und genau so stehen auch kleine Wägen herum. Ein Surren erfüllt die Luft, kommt aber nicht von den Lichtern, sondern von mehreren Luftentfeuchtern, die im Raum verstreut sind.

Hinter uns geht die Tür mit einem ominösen Knall zu. Asil legt plötzlich ihre Hand auf meine Schulter und drückt so fest, dass sich ihre Fingernägel in meine Haut bohren.

„Dieser Raum ist mit einem CO2-Löschsystem ausgestattet“, sagt sie, ihre Augen groß und ihre Pupillen klein. „Ich weiß, wozu du fähig bist. Wenn dich der Quintieri Bursche geschickt hat, um irgendetwas zu verbrennen, verriegelt sich die Tür und wir ersticken beide, und meine Sammlung ist die einzige, die überlebt.“ Sie lässt los, ohne mir die Möglichkeit zu geben, zu antworten, als hätte sie nie ein Wort gesagt.

„Anton, Anton, Anton…“ Sie tippt auf ihr Kinn. „Hast du nur den Namen? Dann brauchen wir heute eine Weile.“

„Er hat für die ZEHFA gearbeitet“, sage ich. Noch bevor ich weiter erklären kann, stöhnt sie auf und dreht sich am Absatz um. „Das macht unsere Suche weitaus kürzer.“

Wenn das so weitergeht, finde ich Leidinger nie. Vielleicht muss ich mich langsam damit abfinden, dass die ZEHFA seine Identität ziemlich ordentlich von jeglichen Aufzeichnungen geschrubbt hat.

Asil bringt mich zu einem einzigen, kleinen Aktenschrank. Sie zieht ein Paar Handschuhe und eine Schutzmaske aus ihrer Jackentasche über, dann geht sie in überragender Geschwindigkeit einige Mappen durch. Danach folgen zwei Zeitungen, die sie so anfasst, als wären sie aus Glas. Danach eine Akte.

„Die ZEFHA ist sehr spezifisch mit ihren Dokumenten“, sagt sie. „Und so nervig mit ihren Zeitungen. Kaum steht irgendetwas seltsames drin, werden sie zensiert. Das ist doch Wahnsinn.“

Sie nimmt eine weitere Zeitung heraus und hält sie mir entgegen. Ich möchte sie nehmen, doch sie zuckt zurück. „Nicht mit bloßen Händen. Schau einfach. Und atme nicht darauf.“

Ich überfliege das Titelblatt. Es ist die Zeitung, die ich gefunden habe, nachdem ich vor Aaron geflüchtet und in die Stadt gekommen bin. Mein sechzehnjähriges, blutiges Gesicht ist nostalgisch.

„Ich habe einiges über dich dokumentiert“, flötet Asil, „Du bist eine kleine Sensation, für die, die richtig hinsehen können.“

Die Aussage steigt mir sofort zu Kopf und ins Ego. Ich grinse großspurig.

„Ah. Ich hab sogar was von ihm“, sagt sie, positiv überrascht.

„Was ist es?“

„Er wurde aufgrund von unangemessenem Verhalten gegenüber einer Anomalie gefeuert und hätte amnestiert werden sollen.“

Ein bitterer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus. Ich kann mir vorstellen, was dieses unangemessene Verhalten war. Ich überspiele es, frage stattdessen, „Amnestiert…?“

„Gedanken gelöscht.“ Sie verzieht das Gesicht. „Stattdessen hat er Sachschaden in Höhe von vierhunderttausend angerichtet und hat sich verzogen. Dafür aber nicht ganz unbeschadet, wie es scheint…“

„Wie das?“

„Er wurde von jemandem namens Dr. Gimmick zusammengeschlagen.“

Ich schnaube amüsiert. „Lustig, nicht hilfreich.“

„Das B steht nicht wirklich für Bastard“, sagt sie tröstend, „Sondern für Bernd.“

Ich lache auf. Asil erhebt sich und führt mich zum rechten Ende der Halle, wo inmitten von Tischen und Regalen ein Computer steht, der wahrscheinlich älter ist als ich. Sie tippt Antons Namen in eine Suchmaschine ein, die langsam eine Datenbank durchsucht, bei der mir nur vom Hinsehen der Kopf schmerzt. Während sie die Ergebnisse durchforstet, stehe ich verloren daneben und muss mich anstrengen, nicht sofort alle Dokumente aus den Schränken zu nehmen und zu betatschen.

Asil steht ohne Erklärung oder Anweisung auf und rauscht entlang der Regale. Ich haste ihr hinterher, bis sie wieder vor einem Schrank innehält und sich hinhockt. Sie durchblättert eine Aktenmappe und zieht die Augenbrauen hoch. „Ich nehme an, er ist kein Anwalt?“

„Ich habe keine Ahnung“, gebe ich zu.

„Das wäre während seiner Dienstzeit gewesen. Erlaube mir zu bezweifeln, dass die ZEFHA ihm so viel Urlaub gibt.“ Sie seufzt. „Tut mir Leid. Das ist alles, was ich habe.“ Sie legt die Dokumente zurück und schließt den Schrank.

„Trotzdem danke.“

Sie legt eine Hand auf meinen Rücken und führt mich weiter entlang der Reihen um Reihen von Schränken.

„Ich versuche schon seit Ewigkeiten, eine von diesen verdammten Akten in meine Finger zu bekommen. Aber leider ist bei der ZEFHA alles eng unter Verschluss.“

„Ich hatte mal eine“, sage ich.

Sie holt aufgeregt Luft. Ich muss sie leider enttäuschen.

„Ist mir abgenommen worden, nachdem sie mich gefangen haben“, sage ich.

Asil seufzt. Ich denke an die langen Flure zurück, die mit Papieren bestreut waren. Damals bin ich mit dreckigen Stiefeln darübergelatscht und habe sie dann in Flammen aufgehen lassen. Heutzutage scheint es mir blöd, nicht wenigstens eine mitgenommen zu haben, wenn Information über die ZEFHA hier draußen so wertvoll ist.

Asil hält nach einer Weile vor einem Schrank inne, der in etwa vier Mal so groß ist wie der Aktenschrank der ZEFHA. Sie reicht mir ein Paar Handschuhe und eine Atemmaske.

„Du erzählst mir alles“, sagt sie, „Jedes Detail, jede Kleinigkeit.“

Erst bin ich verwirrt, dann reicht sie mir das erste Dokument. Eine Zeitung mit Berichten über den „Unfall“, der mir meine Familie genommen hat.

Ich muss unwillkürlich grinsen. Natürlich hat das alles seinen Preis. Wie verlangt beginne ich von vorne, und zu jedem Ereignis bekomme ich ein Dokument: Zeitungsausschnitte über mein Aufwachen im Krankenhaus, den Transfer zum Jugendheim. Dann das aufeinanderfolgende Abbrennen meines Zuhauses und des Heims. Was in dem Wald passiert ist, überspringe ich einfach— davon muss sie nicht unbedingt wissen. Ein weiteres Exemplar der Zeitung, auf der ein sechzehnjähriges Ich blutig und irre durch eine Stadt stakst. Darauf folgt eine mehrere Jahre lange Lücke.

„Ich hab ehrlich gedacht, dass du gestorben bist“, sagt sie und holt ein Poster hervor; eines von denjenigen, die in den neutralen Zonen hängen. Danach eine Liste.

„Was ist das?“, frage ich.

„Jeder, der diesen Auftrag angenommen hat“, sagt Asil und schüttelt das Poster leicht. Auf der Liste stehen mehrere hundert Namen.

„Kein Wunder, dass so viele Gerüchte um dich schwirren. Nicht jeder schafft es, so viele Mordversuche zu überleben“, witzelt sie.

Als nächstes kommen einige Zeitungen, die mich überraschen: Mehrere Sichtungen in Städten, die ich durchkämmt habe, bevor ich Val gefunden habe, sogar Polizeireporte darüber. Schlussendlich ein letzte Meldung, in der Stadt, in der Val und ich uns getroffen haben. Kurz mache ich mir Sorgen, dass er draußen wartet und friert.

„Seitdem gibt es von dir nichts mehr“, sagt sie seufzend und sieht mich erwartend an.

„Das ist wahrscheinlich auf Reds Mist gewachsen.“

„Red? Hacker? R.E.D?“

„Genau der“, sage ich, „Wir kennen einander.“

Asil nickt, räumt auf. „Das würde Sinn machen. Der Bursche ist verdammt talentiert. Und furchteinflößend, um ehrlich zu sein…“ Ihre Stimmlage erzählt eine ganze Horrorgeschichte.

Wir spazieren zwischen den Aktenschränken durch zurück zur Tür, dann die Treppen hoch, und zum Ausgang. Ich ziehe mir den Mantel über, doch bevor ich mich bedanken und verabschieden kann, hält sie mich auf.

„Moment“, sagt sie und drückt mir etwas in die Hand. „Gib das Val.“

Ich blinzle. Das ist das erste Mal, dass ich jemanden außerhalb des inneren Kreises einen Spitznamen verwenden höre. Ich öffne meine Hand: Es ist ein kleiner Plastikwolf. Verwirrt ziehe ich die Augenbrauen zusammen.

„Dein Freund hatte eine ziemlich peinliche Goth-Phase“, sagt sie, „Wenn ich die Eule sein muss, bleibt er gefälligst Luzifer, der Wolfliebhaber.“

Ich lache schallend. Asil schließt die Tür auf und ich trete in die Kälte— erst dann fällt mir etwas auf und ich drehe mich noch einmal um.

„Val ist nicht mein Freund“, sage ich, „Wir sind befreundet, aber wir sind nicht zusammen.“

Asil sieht skeptisch zu mir, dann die Straße hinunter, wo Val gerade aus dem Auto steigt, um mir die Tür aufzuhalten.

„…gib ihm noch eine Weile“, sagt sie und knallt die Tür vor meiner Nase zu.

Teil 7.12

Die Luft ist dicht mit Rauch versetzt und riecht süß. Die Serie, die es im Fernsehen spielt, sieht sich niemand wirklich an und dient hauptsächlich als Geräuschkulisse.

Das Trio und ich sitzen kreuz und quer und verhakt auf dem Sofa. Nick sitzt ganz links, ich rechts neben ihm. Soren sitzt rechts, seine Füße in Nicks Schoß gelegt. Glitzer liegt ausgestreckt über uns allen, sein Kopf in meinem Schoß und seine Beine über Sorens gelegt.

Elias ist tief in einen Sitzsack versunken und scheint so, als hätte er eben den Planeten verlassen. Glitzer muss ihm den Joint wegnehmen, den er seit fünf Minuten unbeteiligt hält.

Red hat sich auf Distanz auf einen Sessel gesetzt, sein Laptop auf seinem Schoß. Als Glitzer eine Lunge voll Rauch ausatmet, verzieht er angewidert das Gesicht. „Muss das sein?“

„Man könnte auch einfach geduldig sein“, sagt Nick, „Aber man kann von ihm nicht erwarten, dass er ein Edible wirken lässt.“

„Das letzte Mal hab ich gekotzt“, sagt Glitzer und wirft demonstrativ den kleinen, rosa Beutel, gefüllt mit genauso kleinen Vanillekeksen, zu Soren. Dieser fängt den Beutel und isst zwei davon. „Du hast auch nicht gewartet, bis du was gespürt hast. Stattdessen hast du in einer Viertelstunde vier gegessen. Und das auf deine Körpermasse.“

Glitzer schnaubt. Elias lacht zu laut und zu viel.

„Geht’s ihm gut?“, frage ich.

„Der hat genug intus“, murrt Nick. „Muss ich wirklich wieder Babysitter spielen?“

„Du bist der einzige, der nichts nimmt“, sagt Glitzer.

„Ihr seid alle widerlich“, murrt Red hinter seinem Laptop.

„Die Kekse sind auch ohne Gras gut“, sagt Nick und reicht mir den Beutel.

„Woher kriegt ihr euren Scheiß?“, frage ich und drehe das rosa Säckchen, das mit einem glitzernden Band zugebunden ist, in den Händen hin und her.

„Henna“, sagt Soren, „Bester Scheiß, beste Kekse, beste Gummibärchen, bestes Gras. Und die besten Verpackungen.“

Glitzer reicht mir grinsend den Joint. Ich nehme ihn, lege ihn an die Lippen und atme selbstsicher tief ein, nur damit der ganze Rauch unter hastigem Husten sofort wieder hochkommt. Ich werde von allen Seiten ausgelacht.

„Können wir uns konzentrieren?“, fragt Red.

„Sorry“, murmle ich.

„Du hast gesagt, vor zwanzig Jahren, in Dahlia’s Strip Club?“

Ich nicke. Dadurch, dass ich bei Asil nichts genaueres gefunden habe, ist das die einzige Spur, die uns noch übrig bleibt.

„Hättest du Nicht-Ich nicht fotografieren können, während er so ausgesehen hat wie Leidinger?“, fragt Red und dreht den Laptop zu mir. „Ist er das?“

Dahlia‘s Überwachungskameras haben überraschend hohe Qualität. Das kann nur daran liegen, dass sie die Aufnahmen entweder als Druckmittel verwendet oder verkauft, oder beides.

Die Aufzeichnung zeigt einen großen, bleichen Mann mit schwarzen Haaren, der auf einer der Bänke sitzt und einem Stripper zusieht. Ich schüttle den Kopf. “Nein. Was hättest du überhaupt mit einem Foto gemacht?”

“Es meinen Gesichtserkennungssoftwares gefüttert”, sagt Red und durchsucht weiter die Aufzeichnungen.

“Seit wann interessierst du dich für Personensuche?”, frage ich.

“Seitdem du verschwunden bist.”

Ich beiße mir auf die Zunge.

„Den Scheiß, den ich mir für dich reinziehe…“, murmelt Red. „Der?“

Wieder ein Bild eines Mannes, schwarzhaarig, bleich, groß. „Nein.“

Red ist für eine Weile leise. Elias linst ihm über die Schulter und kichert langgezogen. „Ich hab gar nicht gewusst, dass man so dehnbar sein kann.“

„Ihr Leute müsst aufhören, kreativ mit euren Löchern zu sein“, murrt Red, „Er?“

Dieses Spiel läuft nun seit etwa zwanzig Minuten. Red durchsucht mit seinen Programmen die Aufzeichnungen von Dahlia’s Kameras und zeigt mit jeden Mann, auf dem die Beschreibung von Anton Leidinger passt.

Ich blinzle. Kälte strömt in meine Hände. „Das ist er.“

Leidinger sitzt in dem Bild entspannt an der Bar des Strip clubs und tratscht mit einer Frau, dünn in weiß bekleidet. Lange, dunkle Haare, mit Ausnahme einer weißen Strähne, die in ihren Nacken fällt. Dunkle Haut mit Flecken von Vitiligo.

„Und das ist Schneeglöckchen“, sage ich und deute auf sie. „Dahlia hat gesagt, sie ist von ihm schwanger geworden.“

„Arme Frau“, kommentiert Glitzer beiläufig, „Der sieht aus, als wär er mit Stroh ausgestopft.“

Ich pruste.

„Schau ihn dir an!“, beharrt er, „So eine Vogelscheuche.“

„Frauenscheuche“, sage ich.

„Ich verfütter die Frauenscheuche mal meinen Programmen“, sagt Red und nimmt den Laptop zurück.

„Was hat er eigentlich dort gemacht?“, fragt Elias.

„Was wohl?“, fragt Red.

„Nein, ich meine…“

„Ich werde mir nicht reinziehen, was in diesen Zimmern abgegangen ist“, sagt Red empört.

„Ich schon!“ Elias schnappt den Laptop und klickt herum. Seine Augen werden größer, und er beginnt zu lachen. „Nona—“

„Ich würde mir lieber ins Knie schießen“, sage ich, bevor er den Laptop zu mir drehen kann.

Red nimmt Elias den Laptop wieder weg und sieht mild traumatisiert aus, während er die Fenster schließt, die Elias geöffnet hat. „Seltsam“, murmelt er, „Normalerweise hätte ich schon hunderte Treffer.“
„Er hat für eine geheime Regierungsorganisation gearbeitet“, wende ich ein. „Wenn irgendwer sich vor dir verstecken kann, dann er.“

Red verzieht das Gesicht.

Mir geht es überraschend schnell am Arsch vorbei. Eigentlich sollte es mich enttäuschen, doch in gewisser Weise bin ich erleichtert. Wenn wir ihn gefunden hätten, würde ich losziehen müssen, meine Freunde und Familie hinter mir lassen…

Wirklich war die Suche nach ihm nur ein Umstand, um Red aus seiner Wohnung zu locken. Seitdem ich ihn wiedergefunden habe, vermisse ich ihn und Elias täglich— nur muss ich Elias nicht bestechen, damit er mit mir abhängt.

„Sorry, Nona“, sagt Red. „Ich kann das im Hintergrund laufen lassen, aber—“

„Schon okay.“

Er blinzelt überrascht.

Ich will ihm eine Rechtfertigung geben, aber ich weiß es selbst nicht. Als ich mit der Suche begonnen habe, hatte ich nichts. Der Unfall hat mir meine Familie genommen, ich hatte keine Freunde, keinen Platz in der Welt. Rache war alles, was mir geblieben ist, und war alles, was ich sehen konnte, und ich habe mich daran festgekrallt wie eine Rettungsleine.

Aber ich bin nicht mehr dieses Kind, verletzt und verängstigt und alleine.

Es ist ermüdend. Leidinger zu finden war immer nur eine unmögliche Anstrengung nach der anderen, und bis jetzt hat es mir nichts gebracht außer Narben, Schmerzen, und einem verlorenen Auge.

Mein Blick schweift in der Runde umher. Zu meinen beiden besten Freunden, die mich seit der Kindheit gesucht und vermisst haben, zu Leuten, die mich ohne Frage aufgenommen und toleriert haben. Eine seltsame Wärme breitet sich in meiner Brust aus. Sie zieht sich durch meine Venen bis in meine Fingerspitzen.

„Scheiß drauf, wie lange das dauert“, sage ich und zucke mit den Schultern. „Ich kann das später auch machen.“

Ich klappe den Laptop von hinten mit meinem Fuß zu. Red sieht mich so beleidigt an, dass ich in Gelächter ausbreche.

„Ich glaub irgendwie nicht, dass du mit der Frauenscheuche verwandt bist“, sagt Glitzer und atmet Rauch aus.

„Ich will’s auch nicht glauben“, murre ich.

„Die Augen, oder?“, sagt Soren, der von Glitzer dafür eine Schelle auf den Hinterkopf bekommt. Empört setzt er sich auf. „Was?“

„Er hat recht. Außerdem bin ich nicht blind und habe einen Spiegel“, sage ich. Leidinger hat sein Grau an mich weitergegeben, aber glücklicherweise nur das.

„Halb blind“, korrigiert Elias. Ich erhebe meinen Mittelfinger in seine Richtung.

„Hat er recht oder nicht?“, fragt Glitzer.

„An die Aussage erinner ich dich noch, Gartenzwerg“, kommentiert Soren. Glitzer streckt ihm die Zunge heraus.

Ich spüre es, bevor ich hinsehe; eine Lücke in der Runde, eine Stille die fehlt. Und es bestätigt sich, denn der Platz neben Elias ist leer.

„Wo ist Red?“, frage ich.

„Der macht das ständig. Ihm ist das alles wahrscheinlich zu viel geworden“, sagt Elias und lehnt sich zurück.

Mir gefällt das nicht.

„Ich bin gleich wieder da“, sage ich, hebe Glitzers Kopf und Sorens Beine und stehe auf. Mir antwortet nur mildes Gewinke.

Red ist nicht weit weg. Es hätte mich gewundert, denn sein Laptop liegt noch am Sessel. Er sitzt auf den Stufen vor dem Eingang und hat den Kopf in seine Arme gelegt.

„Hey“, sage ich, ziehe meinen Mantel zu und werfe ihm einen Schal in den Nacken. Er reagiert nicht. „Brauchst du einen Moment alleine, oder kann ich bleiben?“

Er zuckt mit den Schultern. Ich setze mich neben ihn auf die Stufen.

„Wieso bist du gegangen? Ich hab dich vermisst“, frage ich und schubse ihn mit der Schulter.

„Ist nicht so, als hätte jemand bemerkt, dass ich weg war.“

„Ich hab’s bemerkt. Elias auch. Der ist nur leider gerade in einer anderen Dimension.“

Red schweigt. Für einige Zeit kann ich es ihm nur nachmachen.

„Ich bin froh, dass ich dich wieder hab“, sage ich schließlich.

Er sagt nichts.

„Du warst das Erste, woran ich gedacht habe“, fahre ich fort, „Nach dem Feuer. Nachdem ich aus der ZEHFA draußen war. Als ich deinen Flyer in der Bar gefunden habe. Nachdem ich bei Nicht-Ich—“

„Erinner mich nicht daran“, zischt Red.

„Wieso nicht?“

Stille.

„Komm schon, Red. Ich weiß, du tust immer so, als wäre alles in Ordnung, aber man sieht’s dir an.“

Er schweigt trotzig.

„Du bist noch immer so ein Kind“, seufze ich, „Schmollst in der Ecke, weil die anderen ohne dich Monopoly gespielt haben.“

„Ich hab damals nicht geschmollt“, murrt er, „Und das mache ich jetzt auch nicht.“

„Dann komm wieder rein. Du hast deinen Laptop in Elias’ Gnade gelassen.“

Red sagt nichts und bewegt sich auch nicht. Nach so einer Aussage ist das besorgniserregend.

„Dann red mit mir“, beharre ich. „Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst. Ist es so schwer—“

„Halt die Klappe“, faucht er und sieht zu mir herüber. Seine Augen weiten sich, zucken auf meinem Gesicht umher. Er wird bleich um die Lippen, blinzelt rapide und sieht wieder weg.

„Siehst du, was ich meine?“

Red zieht die Augenbrauen zusammen und starrt entschieden auf den Gehsteig hinunter.

„So hässlich kann ich nicht sein“, witzle ich, doch als ich wieder zu ihm schaue, stehen Tränen in seinen Augen.

„Red?“

„Geh“, keucht er, „Bitte.“

Vorsichtig lege ich meine Hand auf seine Schulter. Er zuckt.

„Ich kann dich so nicht alleine lassen“, sage ich. „Tut mir Leid. Bin ich zu weit gegangen?“

Pause. Red starrt entschieden auf den Asphalt. Dann holt er Luft, atmet durch.

„Weißt du, wie Scheiße es war?“ In seiner Stimme liegt ein ungewohntes Zittern. „Ich hab gedacht, du bist tot.“

Schuld schleicht sich von hinten an und stranguliert mich. Ich atme durch und lasse ihn reden.

„Nach dem Feuer im Heim bist du einfach verschwunden. Ich war nie schnell genug. Ich hab mich angestrengt, bin besser geworden, schneller, hab Gesichtserkennungssoftwares laufen lassen, und gerade, als ich gut genug war, um in Überwachungskameras reinzukommen, hab ich dich in diesem Obdachlosenheim gefunden.“

Sein Atem bildet Wolken vor seinem Mund, die genauso zittern wie die Wut in seiner Stimme.

„Ich bin hingegangen“, sagt er, „Und sie haben mir gesagt, du wurdest verhaftest, weil du gestohlen hast. Du warst wieder weg— also bin ich besser geworden. Hab mich in Gefängnisse reingehackt, ihre Datenbanken durchsucht. Nach einer verdammten Ewigkeit suche ich nach einer Überwachungskamera, die vielleicht aufgenommen hat, wer dich verhaftet hat…“

Seine Unterlippe zittert. Sein Kiefer spannt sich an, er wischt sich über die Augen und atmet durch.

„Jedes Mal“, fährt er fort, „Jedes Mal, wenn sie eine Leiche gefunden haben, auf die deine Beschreibung gepasst hat, habe ich gedacht, ich hab dich verloren. Ich war jedes Mal dort.“

„Ich war am Leben“, werfe ich ein, „Auf den Aufzeichnungen—“

„Ich musste.“ Er drückt seine Hände gegen seine Augen. „Ich musste sehen, dass es nicht du bist.“

Meine Zunge liegt gelähmt und nutzlos in meinem Mund. Was soll ich sagen?

„Immer zu langsam. Jedes Mal hab ich dich gefunden, und jedes Mal warst du weg. Dann findest du Val, und Val schickt dich zu diesem verfickten Teufel, und natürlich sagt er mir nichts davon, weil wann habe ich jemals einen Auftrag von irgendwem angenommen? Und er wusste nichts von uns, also wieso hätte mich es interessieren sollen, woher hätte er wissen sollen, dass ich seit Jahren nach dir—“

Ich ziehe ihn in eine Umarmung.

Er bewegt sich für einen Moment nicht, dann legt er seine Arme um mich. Ich drücke ihn fest und wärme ihn gleichzeitig auf. Der Wind ist bissig.

„Ich war schon wieder zu spät“, sagt er langsam. „Bis ich daran gedacht habe, bei Val und Joyce reinzuschauen, warst du bei Nicht-Ich, und ich hab dich wieder verloren.“

Ich drücke ihn fester. Wenn ich nur früher nach ihm gefragt hätte…

„Du hast ausgesehen wie eine Leiche“, flüstert er.

„Im Koma?“

Ich spüre ein Nicken gegen meinen Hals. „Ich konnte nicht bleiben. Nona, ich hab versagt, jahrelang. Es ist meine Schuld, dass du…“

„Nein.“ Ich löse die Umarmung und drücke seine Schultern. „Sag so was nicht.“

Sein Blick ist am Boden festgefroren.

„Hast du deshalb Elias nichts gesagt?“, frage ich leise.

„Ich dachte nicht, dass du aufwachst.“

Mir wird eiskalt, und es hat nichts damit zu tun, dass wir draußen sind.

„Es war Scheiße von mir, ihm nichts zu sagen“, gibt er kleinlaut zu. „Er ist immer noch sauer.“

„Es tut mir Leid“, murmle ich.

„Mir auch.“

Wir umarmen uns wieder. Ich streiche über seinen Rücken. Er hängt in meinen Armen.

„Weinst du?“, frage ich.

„Nein“, lügt er.

Ich frage nicht weiter nach.

Nach einer gefühlten Ewigkeit murmelt er, „Ich hab Val fast verprügelt.“

Ich kichere sanft, drücke ihn bloß fester. „Was?“

„Als ich herausgefunden habe, dass du dort warst. Dass er nichts gesagt hast, und was Nicht-Ich mit dir angestellt hat.“ Er kichert leise. „Hab ihn Kragen gepackt und gegen die Wand gedrückt. Er hat so ausgesehen, als würde er sich anpissen.“

Ich lache. „Kannst du überhaupt wütend werden?“

„Anscheinend schon.“ Er atmet tief und zittrig durch. „Es war gar nicht seine Schuld, oder? Joyce hatte die Idee.“

„Sie hat mich überschätzt.“

„Sie hätte es besser wissen müssen“, knurrt er. „Ich hab tagelang nicht mit ihr geredet.“

„Und dann?“

„Dann hab ich ihnen von dir erzählt“, sagt er.

„Wie süß.“

„Spar dir den Sarkasmus.“

„Das war keiner.“

Er antwortet nicht, also halte ich ihn in Stille, bis er sich wieder bereit fühlt, zu reden.

„Manchmal gehe ich immer noch zu Leichenschauen“, gibt er schlussendlich zu.

„Was?“ Ich lehne mich zurück und suche seine Augen mit meinen, aber er weigert sich, Blickkontakt zu machen. „Red, ich sitze vor deiner Nase.“

„Ich weiß.“

„Du kannst mich anrufen“, sage ich, „Oder mir schreiben.“

„Was soll ich sagen?“, fragt er und starrt entschieden auf die Straße heraus, „Hey Nona, lebst du noch? Cool, kannst du mir ein Bild von deinem Gesicht schicken? Ich will sichergehen, dass keine Maden drin sind.

„Ja, zum Beispiel.“

Er verzieht das Gesicht. „Ich kann nicht.“

„Gut.“ Ich schnaube. „Du bekommst von mir jetzt jeden Tag Guten-Morgen-, Guten-Appetit- und Gute-Nacht-Nachrichten. Kannst du mich mal anschauen?“

„Nein“, würgt er heraus, „Ich sehe nur Maden. Oder geblähte Haut.“

„Hey.“ Ich nehme seine Hände, lege sie an mein Gesicht und lasse genug Wärme in sie einfließen, dass es in der Luft dampft. „Lebendig.“

Zögerlich sieht er zu mir.

„Lebendig“, wiederholt er.

„Keine Maden.“

„Keine Maden“, murmelt er nach.

„Gut. Und zu hässlich dafür bin ich auch nicht.“

Er lacht, dreht sich weg, doch er hält immer noch meine Hand— oder eher, er hält mein Handgelenk, Fingerspitzen dort, wo mein Puls durch meine Adern fließt.

„Ich weiß, dass du keine Leiche bist“, sagt er, „Ich schau nur weg, weil ich keinen Blickkontakt mag.“

Ich drücke sein Handgelenk. Er drückt meines zurück.

„Willst du wieder rein? Ich weiß, du magst die Kälte nicht“, fragt er.

Meine Narbe ziept und zerrt, doch ich schüttle den Kopf. „Nur noch kurz. Ich will noch ein bisschen bei dir sein.“ Ich atme durch und beobachte, wie sich mein Seufzen in der Luft in Nebel verwandelt und auflöst. „Ich bin wirklich froh, dass ich dich wieder habe, Red“, murmle ich.

„Ich auch“, sagt Red leise. „Lebendig.“

„Lebendig“, wiederhole ich— nur zur Sicherheit wärme ich meine Hand noch etwas auf.

Teil 7.13

Der Winter setzt sich in den nächsten Tagen fest. Es regnet nicht mehr, schneit nur noch, doch dafür tut es das die ganze Zeit. Innerhalb einer Woche liegt der Schnee einen halben Meter hoch und kommt mit dem Schmelzen nicht nach.

Ich vermeide es, in die Kälte hinauszugehen, und mache es nur für zwei kleine Aufträge. Beide sind meinem ersten ähnlich, und haben damit zu tun, dass ich eine lebende Mischung aus Flammenwerfer und Abrissbirne bin. Ein Mal werde ich von Glitzer begleitet, ein Mal von Nick. Soren scheint seinerseits mit seiner Präzision nicht oft zu meinem Arbeitsstil zu passen.

Darum ist es nett, einmal mit ihm zusammenzusitzen. Wir haben uns Pizza bestellt, uns inmitten von tratschenden Angestellten in die große Lagerhalle gesetzt, er hat zwei Bier aufgemacht, und obwohl mir der Brotsaft nicht wirklich schmeckt, trinke ich aus Solidarität.

„Ich hab dir gesagt, ihm wird das Porträt gefallen“, sage ich, schiebe meine leere Pizzaschachtel weg und klaue ihm ein Stück.

„Es ist trotzdem peinlich!“, beharrt er. „Er war zum ersten Mal hier, sieht eine riesige Malerei von seinem Gesicht, und dann eine dreckige Küche.“

„Dann mach die Küche öfter sauber.“

„Über meine Leiche.“

Ich lache auf. Soren bemerkt, dass das Stück Pizza, das ich gerade esse, eigentlich seines ist, nimmt als Antwort mein Bier und trinkt es aus.

Schritte kommen hinter mir näher, und ich erkenne sie, bevor ich ihn sehe.

„Mahlzeit“, sagt Val.

„Meine Pizza“, sagt Soren und zieht seinen Pizzakarton näher zu sich.

„Niemand will deine Spiegelei-Pizza“, sagt Val.

„Nona anscheinend.“

Ich grinse frech.

Val hält mir einen Flyer entgegen. Abgebildet ist eine abstrakte Zeichnung von zwei eleganten Tänzern, darunter ein feiner Schriftzug in Silber, Winterball. Wiederum darunter, etwas kleiner, Gesponsert und veranstaltet von Sir Silva.

„Ein Ball?“, frage ich.

„Möchtest du mit mir hingehen?“

Hitze steigt meinen Hals hinauf auf meine Wangen. Unwillkürlich grinse ich. „Oh, gerne.“

Val grinst zurück. „Du würdest dich wundern, wie viele— Wie hast du es formuliert?— große Fische dort sind.“

…oh.

Ich schiebe die Enttäuschung irgendwohin, wo ich sie nicht hinterfragen muss. „Du musst nicht mehr nach Leidinger suchen“, sage ich, „Wenn etwas auftaucht, dann bemerken wir das schon. Suchen wird nicht helfen.“

„Hm.“ Er zuckt mit den Schultern. „Wenn ich die Einladung schon habe.“

Ich seufze. „Und was genau soll ich anziehen?“, frage ich, drehe den Flyer um und lese mir die Kleiderordnung durch. Festliche Abendgarderobe. Nichts von dem, was ich habe, ist festlich.

„Ich hätte ein Kleid für dich. Wenn du’s lieber hättest, kann ich aber auch bestimmt einen Anzug für dich auftreiben.“

„Ich bin mal im Kleid hingegangen“, wirft Soren dazwischen, während er an einem Stück Pizza nagt. „Hab besser ausgesehen als jeder andere dort. Seitdem will mich Silva nicht mehr dort haben.“

„Silva will dich nicht mehr dort haben, weil du besoffen ein volles Glas Rotwein über seinen weißen Anzug geschüttet hast“, wirft Val ein.

Er hat Soren schon mal mitgenommen? Also doch nur ein Business Meeting.

„Kleid geht in Ordnung“, winke ich ab.

Abends holt mich Val ab und bringt mich zu seiner Wohnung. Auf der Fahrt dorthin wächst meine Neugierde; wie lebt jemand wie er? Vielleicht bekomme ich durch seinen Geschmack in Dekor einen tieferen Einblick in seinen Kopf.

Gleichzeitig hacke ich darauf herum, dass er mich überhaupt eingeladen hat. Wie lächerlich wäre es, wenn ich mir auf sowas hin Hoffnungen machen würde?

Hoffnungen auf was?, frage ich mich unwillkürlich selbst. Es hilft der Situation nicht.

„Nona?“

„Hm?“ Ich blinzle. Val hat das Auto in einer Tiefgarage geparkt, aber meine Gedanken waren woanders.

„Wir sind da“, sagt er und steigt aus. Wieder geht er um das Auto herum und öffnet mir die Tür, nur sage ich diesmal nichts. Eher konzentriere ich mich auf sein Gehen— Val ist ein guter Schauspieler, das lasse ich ihm, aber trotzdem bemerke ich ein leichtes Humpeln, ein Zögern, bevor er mit dem linken Fuß auftritt.

„Bist du verletzt?“, frage ich.

„Nein,“ sagt er, und plötzlich verschwindet das Humpeln komplett.

„Lügner.“

„Korrekt.“

„Du willst heute tanzen, während du verletzt bist?“ Ich suche seine Augen, aber er sieht stur geradeaus.

„Vergleichsweise wenig Schmerzen.“

„Verglichen mit was?“

Er sagt nichts.

Wir steigen in einen Aufzug, fahren in den vierten Stock und treten in einen hell beleuchteten Flur. Die Wände sind gräulich, trotzdem bin ich mir sicher, dass sie früher weiß waren. Kombiniert mit den hellen, beigen Fliesen brennt mir das ganze Bild in den Augen.

Vals Wohnung liegt ganz am Ende des Flurs. Ich folge ihm und fühle mich seltsam nervös, während er die Tür aufschließt. Obwohl er mich eingeladen hat, fühlt es sich aufdringlich an, seine Wohnung zu betreten.

Die Tür schwingt quietschend auf, Val tastet nach einem Lichtschalter. Ich spähe über seine Schulter, um einen Blick zu erhaschen, als würde ich nicht gleich darin stehen. Im Vergleich zum Flur sieht es unglaublich gemütlich aus. Die Böden sind aus dunklem Holz, die Wände weiß, aber mit Kunst behangen— große, elegante Gemälde, die meines Wissens nach in japanischem Stil sind, und eingerahmte Zettel, die aussehen wie Kinderzeichnungen. Alle Möbel sind aufeinander abgestimmt. Das Überraschende ist die Menge an… Gelb, die überall ist: gelbe Rahmen für die Gemälde, eine gelbe Vase, einige gelbe Töpfe mit gesunden Zimmerpflanzen, gelbe Vorhänge. Ich fühle mich sofort wohl, als würde ich auf auf einem brennenden Docht sitzen.

„Schuhe bitte ausziehen,“ sagt Val, „Kaffee?“

„Bitte.“

„Zucker? Milch?“
„Sieben und viel davon.“

Er nickt, verarbeitet dann, was ich gesagt habe. „Sieben?“

„Sieben“, wiederhole ich bestimmt.

Er verkneift sich den angewiderten Gesichtsausdruck fast komplett und geht voraus in die Küche, während ich mir Schuhe und Mantel ausziehe und mich interessiert umsehe, dabei versuchend, nicht seltsam oder neugierig auszusehen. An den Flur schließen vier Durchgänge an. Einer davon, der in eine Küche mit verbundenem Wohnzimmer führt, hat nicht einmal eine Tür. So kann ich Val dabei beobachten, wie er an einer Kaffeemaschine steht und zwei Tassen befüllt.

Das Wohnzimmer ist geräumig. Ein braunes Sofa steht in der Ecke des Zimmers, bestückt mit gelben Kissen. Am Boden davor ein gelber Teppich, gegenüber an der Wand ein Fernseher, darunter eine offene Kommode, die vollgestellt ist mit Kerzen, Kristallen, und einem Plüschwolf, was alles nur von Joyce kommen kann. Zur Rechten stehen Regale von Boden bis Decke, vollgestopft mit Büchern. Die Wände sind ebenfalls gelb gestrichen, was seltsamerweise nicht schrill aussieht.

„Und deine Lieblingsfarbe ist schwarz?“, frage ich Val witzelnd.

„Genau“, sagt er sarkastisch. „Was ist deine?“

Ich überlege für einen Moment. „Rosa.“

Links von der Küche steht eine Tür offen. Da Val noch immer den Rücken zu mir gedreht hat, folge ich meiner Neugierde und sehe hinein.

Als ich das Licht anschalte, habe ich kurz das Gefühl, in einen schlechten Horrorfilm abgerutscht zu sein. Die Wände sind vollgestellt mit Schaukästen und behangen mit Halterungen, in denen zahllose Schusswaffen verschiedenster Art und Größe ausgestellt sind. Beim näheren Hinsehen finde ich noch dazu einige Schwerter. Alle variieren in Länge, Stil, Schneide, Griff, und haben nur eines gemeinsam: Sie sehen teuer und selten aus.

„Meine bescheidene Sammlung“, sagt Val neben mir. Ich zucke beinahe zusammen, doch er lächelt mich bloß an und reicht mir eine gelbe Tasse Kaffee.

„Beeindruckend“, sage ich langsam und nehme einen Schluck. Es ist schrecklich süß, genau so, wie ich es will.

„Seltsam, ich weiß.“

Ich grinse und sehe mich ordentlich im Zimmer um. Es ist eine Art Büro, mit Schreibtisch und Computer und Drehsessel… und einer lächerlichen Menge Schwerter.

„Ich find’s cool“, sage ich und betrete das Zimmer, drehe mich im Kreis. „Kannst du mir was zeigen?“

„Wie meinen?“, fragt er.

„Sag mir nicht, du hast Wände voll Schwerter und kannst damit nicht kämpfen.“

Er zuckt mit den Schultern. „Ich bin nur bescheidener Sammler, kein Fechter.“

Ich hole beleidigt Luft. „Du frecher kleiner Lügner!“

Er kichert. „Du durchschaust mich sowieso.“

Ich verdrehe die Augen.

„Wie wär’s, wenn wir im Wohnzimmer trinken? Ist bequemer dort.“

„Du zeigst mir nichts, und erzählen willst du mir auch nichts?“

Neugierig beobachte ich ihn. Er schmunzelt, seine Augen sind aber irgendwo im Zimmer. Ist er nervös? …Nein. Er ist verlegen.

Unwillkürlich schleicht sich ein neckendes Grinsen auf mein Gesicht. Ich stelle die Tasse ab, hake einen Finger in seinen Kragen und ziehe ihn zu mir hinunter. „Ist dir das peinlich?“

Seine Augen zucken auf meinem Gesicht herum, seine Wangen werden dunkel. „Mich will nur selten jemand über Schwerter labern hören“, sagt er ausweichend.

„Ich würde zuhören.“ Ich lache leicht. „Du tust so mysteriös und gefährlich, aber du bist in Wahrheit ein kompletter Nerd. Wie süß.“

Seine Lippen öffnen sich, aber keine Worte formen sich daraus.

„Der Ball, Val“, sage ich schließlich, nehme meinen Kaffee vom Schreibtisch und gehe an ihm vorbei ins Wohnzimmer. Er folgt mir nach einem kurzen Moment, legt zwei Untersetzer auf den Wohnzimmertisch und setzt sich neben mich. Er tut so, als wäre nichts passiert, aber seine Wangen glühen immer noch.

„Wen holen wir uns heute?“, frage ich.

„Wen auch immer ich finde“, sagt er. „Von einigen Leuten weiß ich, dass sie heute dort sind. Wenige davon helfen uns. Ich werde improvisieren müssen…“

„Improvisieren?“, frage ich.

Er grinst nur verschmitzt. „Wir sollten uns fertig machen.“

Ich stelle meine Tasse auf den Tisch. Val nimmt sie und schiebt einen der Untersetzer darunter. „Dein Kleid hängt im Badezimmer“, sagt er und nickt entlang des Flurs, „Tür neben dem Büro.“

Gerade als ich denke, dass es im Bad ausnahmsweise nichts Gelbes gibt— der Duschvorhang ist weiß, wie die Wände, und der Boden ist schwarz gefliest— sehe ich die Badematte, dann die Zahnbürste. Ich schließe die Tür hinter mir und bin nur froh darüber, dass der Klodeckel weiß ist.

An der Vorhangstange der Dusche hängt ein Kleidersack. Als ich den Reißverschluss hinunterziehe, fällt mir ein Haufen schwarzer Stoff entgegen. Skeptisch hebe ich das Kleid aus der Verpackung; es ist großteils Schwarz, doch entlang der Säume schillert es rot und orange im Licht. Bereits am Kleiderbügel sieht es so aus, als würde es glühen.

Ich schlüpfe aus meiner Kleidung, hänge sie über den Rand der Badewanne und steige in das Kleid. Es ist schulter- und rückenfrei, der Stoff ist leicht. Jede Bewegung lässt es so scheinen, als würde ich brennen.

Fasziniert drehe ich mich im Kreis. Wo hat Val so etwas überhaupt her?

Unter dem Kleidersack steht ein paar Schuhe, die für meinen Geschmack viel zu fein sind. Vor meinem inneren Auge spielt sich der Rest des Abends ab: Ich stakse auf Stöckeln herum und habe für die nächste Woche Blasen an den Füßen. Doch beim näheren Hinsehen finde ich heraus, dass sie flach sind.

Ich ziehe die Schuhe an, grabe in den Taschen meiner Hose herum, bis ich die kleine Schachtel mit der Augenprothese finde, die ich aus purer Faulheit bis jetzt nur selten getragen habe. Ich stelle mich vor den Spiegel und setze sie ein— dann bemerke ich etwas im Augenwinkel.

Ich öffne die Tür einen Spalt und gehe zurück zum Waschbecken. „Gehört das Make-Up dir?“, rufe ich auf den Flur hinaus.

„Joyce hat es mir geborgt“, ruft Val zurück, „Ich hab ihr gesagt, du möchtest wahrscheinlich keines, aber sie wollte auf Nummer sicher gehen.“

Zwar habe ich keine Ahnung von davon, aber Lippenstift sollte funktionieren. Als ich meine Lippen damit anschmiere, bereue ich, dass Joyce nicht hier ist. Sie kennt sich damit besser aus.

Nächstes Mal, denke ich.

„Was schulde ich dir für das Kleid?“, rufe ich Val zu.

„Gar nichts.“

„Wieso habe ich das Gefühl, du willst mich einfach mit tiefem Ausschnitt sehen?“

Schlussendlich verlasse ich das Bad. Meine Haare lasse ich einfach offen. Seitdem Joyce mir mit meinen Locken hilft, sehen sie weitaus gesünder aus.

Val wartet bereits auf mich und bindet sich vor dem Spiegel im Vorraum die Krawatte. Er trägt einen schlichten schwarzen Anzug, der ihm unverschämt gut steht. Dazu kommen noch die schwarzen Lederhandschuhe, die er sich übergezogen hat.

„Und?“, frage ich.

Er sieht auf und betrachtet mich für einige Sekunden still, dann muss er lächeln. Nicht dasselbe, seichte Getue wie immer— ein echtes Lächeln.

Er hält höflich die Hand aus. Ich gehe auf ihn zu, doch sobald ich direkt vor ihm stehe, drehe ich meinen Rücken zu ihm.

„Zuziehen“, sage ich und wische mir die Haare vom Rücken.

Ich höre sein leises Lachen. Er zieht langsam, fast andächtig den Reißverschluss zu.

„Du siehst umwerfend aus“, flüstert er. Mir läuft eine wohlige Gänsehaut den Rücken hinunter, als sein Atem dabei meinen Nacken streift.

„Danke. Du bist selbst nicht so schlecht.“

Die Untertreibung ist so heftig, das es frech ist. Val nimmt meine Hand und führt mich langsam im Kreis, sodass ich mich drehe. Ich lache freudig, als der Stoff sich dabei lebendig aufbäumt.

„Es hat übrigens Taschen.“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und taste die Seiten des Kleides ab, bis ich die Taschen finde und meine Hände hineinstecke. Aufgeregt schnappe ich nach Luft und flattere mit dem Kleid herum.

Val kichert. „Ich hab mir gedacht, dass dir die gefallen werden.“

„Es ist perfekt.“

Ich grinse ihn breit an. Er hält die Hand aus. „Fertig?“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch und nehme die losen Enden seiner Krawatte, ziehe ihn daran näher. „Hast du die vergessen?“

„Vielleicht ein bisschen.“

Ich binde seine Krawatte, ziehe sie eng, lege dann seinen Kragen flach und streiche über sein Revers, was eigentlich nicht nötig wäre. Dann nehme ich seine Hand. „Fertig.“

Zwar habe ich mir über dem Kleid meinen Mantel angezogen, doch die Kälte kriecht trotzdem innerhalb von Sekunden unter meine Haut. Die Heizung im Auto kann nicht schnell genug anspringen.

Sobald sich das Tor der Tiefgarage öffnet, schlägt uns eine Wolke Schnee mit einer gewaltigen Windböe entgegen. Ich verziehe das Gesicht.

„Ich fahr langsam“, sagt Val und gibt mir wieder seine Hand.

Ich drücke sie fest. „Danke.“

Das Gebäude, in dem der Ball gehalten wird, ist altbacken aber gut erhalten, es fehlen aber jegliche Dekorationen. Sollte das Ganze nicht ein bisschen aufgeputzt sein?

„Bist du dir sicher, dass niemand wegen mir die Polizei rufen wird?“, frage ich Val. Wir sind beide nicht gerade scharf darauf, aus dem Auto zu steigen.

„Silva ladet hier seine besten Drogenlieferanten und Produzenten ein. Ich bezweifle, dass du irgendjemanden interessieren wirst.“

Ich schnaube skeptisch. Val steigt aus, doch dieses Mal lasse ich ihn nicht meine Tür öffnen. Dafür hilft er mir aus dem Auto, was ich mit einem skeptischen Gesichtsausdruck bedenke.

„Früher hat Lentz-Protich Feten geschmissen“, erklärt Val und geht mit mir zum Eingang, „Aber seitdem er verschwunden ist, übernimmt das Silva.“

„Was ist mit ihm passiert?“

„Das weiß niemand.“

„Was hast du mit ihm angestellt?“

Val lacht laut auf.

Am Eingang hält uns ein Türsteher auf und fragt nach Einladungen. Val zeigt eine laminierte, schwarze Karte her, auf der in geschwungener Goldschrift Sir Silva lädt Valentin Tobias-Marko Quintieri (+1) zum Winterball ein steht, gefolgt von einer lächerlich komplizierten Unterschrift mit Schnörkel, die das ganze Blatt bedeckt. Darüber dasselbe Bild von zwei Tanzenden wie auf dem Flyer. Im Gegenzug bekommt er zwei kleine Kärtchen gereicht.

Als wir das Gebäude betreten, überschwemmt mich die Wärme in einer angenehmen Welle. Vor uns liegt eine geräumige Garderobe, bestückt mit teuren Mänteln und Hüten. Wir hängen unsere in eine Ecke.

Die rechte Wand ist über und über mit Haken bedeckt, an denen feine Masken hängen. Von Komödien-Masken zu Tieren, Augenmasken mit Federn und Kristallen, sogar eine Pestdoktormaske. Viele Haken sind bereits leer.

„Such dir eine aus“, sagt Val und beginnt selbst, zu stöbern.

Keine der Tiermasken spricht mich sonderlich an, und nur wenige passen überhaupt zum Kleid. In der Ecke finde ich schließlich etwas: eine Sonnenmaske, schwarz und rot.

Ich ziehe sie über mein Gesicht, sie reicht gerade bis über meine Nase. Als ich damit zu Val sehe, hat er eine viel zu einfache schwarze Maske in der Hand.

„Die“, sage ich, nehme eine andere von der Wand und zeige sie her.

Val lacht auf, nimmt sie und zieht sie sich über; eine schwarze Wolfmaske, die auf der linken Seite in einen Mond übergeht. „Das Image werde ich nie los, oder?“

„In deinen Träumen, Luzifer.

„Immerhin passen wir jetzt zusammen.“ Er hält seine Hand aus. „Sollen wir?“

Ich lasse mich von ihm von der Eingangshalle in den Saal führen. Sofort werden wir vom Geräuschpegel überwältigt. Das Gerede von Dutzenden hallt von dem hellen Holzboden und den weißen Wänden ab. Es verfängt sich in den goldenen Verzierungen, die an den weißen Marmorsäulen hängen; zieht man zwischen den Säulen eine Linie, so folgt man der Außengrenze der Tanzfläche, die aus schwarz-weiß karierten Fliesen besteht.

Ich lege den Kopf in den Nacken— Val führt mich dabei am Ellbogen, damit ich in niemanden hineinlaufe— und starre zur detailliert bemalten Decke hoch. „Oh, Silva’s Daddy ist reich reich.“

Val verkneift sich höflich ein Lachen.

Rund um die Tanzfläche stehen einige kleine Tische mit Gläsern, Getränken und Häppchen. Zwischen ihnen hat sich die Menge verstreut, feine Damen und Herren, die am Körper mehr tragen, als ich mit zehn Aufträgen verdiene. Jeder von ihnen versteckt sein Gesicht hinter einer Maske.

Val nimmt plötzlich meine Hand. Ich zucke leicht zusammen, doch dann bindet er etwas um mein Handgelenk; eines der Kärtchen von vorhin. Ein kleiner Stift hängt daran.

„Was ist das?“, frage ich.

„Eine Tanzkarte.“

Ich frage gar nicht. Die Sitten von reichen Leuten gehen einfach an mir vorbei.

„Valentin!“

Ich erkenne weder die Stimme, noch die Person. Hinter der blauen Maske wäre das ohnehin eine Herausforderung gewesen; Val schüttelt die Hand des Mannes, der einen ebenso blauen Anzug trägt und begrüßt ihn freudig. „Erik.“

„Dich hab’ ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen, was war denn mit dir?“, fragt Erik ihn und wendet sich zu mir. „Und wer ist die Lady?“

Seine Tonlage gefällt mir nicht. „Nona“, sage ich stumpf, nehme seine Hand und drücke sie beim Schütteln etwas fester, als ich müsste. Wenn es ihn stört, lässt er es sich nicht anmerken.

„Nona… oh, von euch beiden habe ich gehört! Silva hat erzählt— Val, ich wusste nicht, dass du solche Vorlieben hast.“

Ich pruste hinter vorgehaltener Hand. Val braucht einen Moment, bevor er antwortet. „Nona ist nicht mein Sugar Baby.“

Selbst hinter der Maske kann ich sehen, wie Erik rot anläuft. Ich lache schamlos.

Val hebt seine Augenbrauen in meine Richtung und senkt seine Stimme. „War das wirklich nötig?“

„Absolut“, antworte ich.

Er verbeißt sich ein Seufzen. Ich könnte mich täuschen, aber es scheint so, als würde er unter seiner Maske rot werden. „Wie wär’s, wenn du dich ein bisschen herzeigst und Leute kennenlernst, bevor die Musik anspringt, während ich ein paar Gerüchte ersticke, bevor sie außer Kontrolle geraten?“

Ich schnaube. „Du willst mich loswerden, schon verstanden“, winke ich ab und wende mich zum Gehen, bevor er etwas erwidern kann.

Entspannt schlendere ich zwischen den Menschengruppen umher, erwische Fetzen von Gesprächen und bemerke, dass Leute mir schamlos hinterher starren. Die Masken scheinen ihnen Mut zu geben und Anstand wegzunehmen.

An mir geht ein Kellner vorbei, auf seinem Gesicht eine hellblaue Maske, auf seiner Handfläche ein Tablett mit einer Flasche Wein und einigen leeren Gläsern. Als ich die Hand aushalte, wischt er eines davon elegant in meine Hand hinein und füllt es. Ich nicke ihm dankbar zu und nippe daran. Er ist sehr gut, und sehr süß; der Geschmack kommt mir bekannt vor, aber es ist nicht, bis ich das Etikett auf der Flasche sehe— Falegname— dass ich mich erinnere, woher.

Der Kellner geht weiter und gibt dabei die Sicht auf jemanden preis, den ich ausnahmsweise erkenne. Ich gehe zu dem Tisch, an dem sie steht, und proste ihr zu.

„Iseul.“

Sie nickt bloß. Ihre graue Katzenmaske passt zu dem genauso grauen Korsett, das sie mit einem weißen Anzug trägt. Auch ihre Prothese ist auf ihre Kleidung abgestimmt.

Val hat behauptet, die beiden sind Verbündete, aber sie scheint nicht so. Außerdem scheint sie mehr Interesse an den Häppchen als an einer Unterhaltung zu haben.

„Also…“, fange ich etwas ungelenk an, „Woher kennst du Val?“

Iseul zerbricht einen Zahnstocher zwischen den Zähnen, auf dem vor kurzem noch ein Stück Lachs aufgespießt war. „Ich bin Joyce‘ Verbündete. Kenn sie, seit sie ein Kind war.“

„Und Val?“

Sie wirft einen kurzen, nichtssagenden Blick in seine Richtung. „Mit ihm bin ich verbündet, seitdem er erwachsen geworden ist.“

Ich habe das Gefühl, es steckt mehr hinter der Aussage, doch bevor ich nachfragen kann, legt mir jemand die Hand auf die Schulter.

„Iseul. Nona.“

Elegant wie immer. Magdalena und Francesco erkenne ich erst an dem Gold an ihren Fingern, nur als zweites an der Stimme. Beide tragen venezianische Masken, die zueinander passen. Weinreben winden sich darüber, und sind auch in Magdalena’s Kleid und in Francesco’s Anzug eingestickt.

Ich erwarte Feindseligkeit nach dem Fiasko beim letzten Treffen, doch beide lächeln mich breit an.

„Schön, dich hier zu sehen“, sagt Magdalena und deutet einen Kuss auf die Wangen an, während Francesco Iseul mit einem Händeschütteln begrüßt.

„Gleichfalls“, sage ich, und bin mir nicht sicher, ob es die Wahrheit ist.

„Auch hier, um dich zu vernetzen?“, fragt mich Francesco, „Oder nur zum Spaß?“

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. „Mittlerweile weiß ich es nicht mehr.“

Das Ehepaar lacht. Magdalena’s Hand ruht an meinem Unterarm. Wieso auf einmal so freundlich?

„Wenn du dich entschieden hast, vielleicht könnten wir etwas zwischen uns ausmachen?“, sagt sie freundlich. „Dadurch, dass du jetzt Gebiet hast, könnten wir dir helfen, dich ein bisschen aufzubauen. Etwas Handel.“

Das ist das also.

„Dasselbe gilt für Sie“, sagt Francesco zu Iseul, mit demselben Lächeln. Iseul reagiert kaum, zerbricht nur einen weiteren Zahnstocher.

„Ich glaube, das kann warten“, sage ich hastig zu Magdalena und trete einen Schritt zurück, damit sie ihre Hand von meinem Arm nimmt.

„Ach, gut.“ Sie winkt kurz. „Schönes Tanzen.“

Ich nicke zurück und beeile mich, die Unterhaltung zu verlassen, solange ich noch kann. Iseul wirft mir einen Blick zu, der bloß „Wieso hast du mich mit ihnen alleine gelassen“ bedeuten kann.

Mein Blick schweift im Saal umher. Ich finde Val auf der anderen Seite der Tanzfläche, inmitten einer kleinen Traube von Leuten, die allesamt gleichzeitig schrecklich wichtig und kitschig aussehen. Entschlossen steuere ich ihn an, doch gerade als ich von der Tanzfläche auf das Parkett steige, greift jemand meine Hand.

Die Person manövriert so, dass ich automatisch ihren Handrücken hebe. Instinktiv senke ich meine Lippen gegen einen schwarzen Spitzenhandschuh. Sie trägt ein Weinrotes Kleid mit einem Beinschlitz. Eine rote Maske mit schwarzer Spitze verdeckt ihr Gesicht, bis auf das Lächeln mit eindrucksvollen Grübchen.

„Maria“, murmle ich gegen ihren Handrücken.

„Hier heiße ich Pangea“, sagt sie. „Maria wurde nicht eingeladen. Das kann zwischen uns bleiben, oder?“

Während sie zwinkert und ihren Finger an ihre Lippen legt, springt die Musik an. Blau-weiß gekleidete Tänzer betreten das Tanzparkett und beginnen koordiniert den ersten Tanz.

Meine Aufmerksamkeit liegt noch auf den Eintänzern, als Pangea die Karte von meinem Handgelenk nimmt und etwas hineinschreibt, dann folglich etwas auf ihrem eigenen Kärtchen notiert.

„Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“, frage ich, nur halb witzelnd.

„Ich bin schon alt genug, um alleine hier zu sein“, sagt sie. „Schmeckt der Wein?“

Bis jetzt habe ich nur wenig getrunken. „Sehr.“

Sie schmunzelt verschmitzt. Ihre Stimmlage kippt ins neckische. „Du magst süße Sachen? Damit kann ich arbeiten.“

Glücklicherweise bedeckt meine Maske meine Wangen, die sofort glühen.

„Es überrascht mich, dass dich noch niemand gefragt hat“, sagt Pangea und schnippt gegen das Kärtchen, das an meinem Handgelenk baumelt.

Ich weiß noch immer nicht, wofür die Dinger gut sind. „Anscheinend bist du weitaus beliebter als ich. Ich verstehe, warum.“

„Charmeur“, schnurrt sie, nimmt mein Glas, stellt es auf einen Tisch hinter sich und hält erwartend die Hand aus. Sobald ich diese nehme, führt sie mich auf die Tanzfläche.

Die Tanzlektionen, mit denen ich mir in meiner Zeit im ZEHFA-Gefängnis die Zeit vertrieben habe, kommen automatisch zu mir zurück. Ich mache einen Schritt vorwärts, währenddessen ich meine Hand auf ihre Hüfte, und sie ihre auf meine Schulter legt. Die ersten Schritte sind holprig, dann gewöhnen wir uns aneinander.

„Woher kommt Pangea?“, frage ich.

„Mir gefällt, wie es klingt.“ Wir drehen uns. „Dir etwa nicht?“

„Weitaus nicht so zahm wie Maria.“

„Das ist der Sinn dahinter.“ Sie lächelt— ihr Lippenstift ist unglaublich rot. „Und was ist mit dir? Wie zahm bist du?“

Ich führe sie im eleganten Halbkreis um mich herum und hole auf, unsere Kleider bauschen sich mit der Bewegung auf. „Nicht sonderlich.“

„Also darf ich den Gerüchten trauen?“

„Nur, wenn sie gut sind.“ Ich grinse sie zahnig an. „Oder lustig.“

„Zum Beispiel, dass du—“

„Nein, ich bin nicht sein Sugar Baby.“

Sie lacht auf, was mir einen Schauer den Rücken hinunter jagt— wer weiß, ob aus Gefallen oder Misstrauen.

„Hätte mich gewundert. Du siehst nicht so aus“, sagt Pangea und lässt sich fabelhaft führen.

„Wie sehe ich denn aus?“

Sie beißt sich kurz auf die Lippe. „Stark.“ Ihre Hand gleitet meinen Arm herunter und drückt subtil meinen Bizeps.

Ich hebe meine Augenbrauen an. „Funktioniert das normalerweise für dich?“

„Bei Sportlern, ja.“ Sie schmunzelt. „Sag’ mir nicht, du würdest mit mir nicht Armdrücken.“

Einen Moment lang überlege ich, ob die instabilen kleinen Tische, auf denen Häppchen und Weingläser stehen, wirklich dafür geeignet sind— dann erst verstehe ich die Zweideutigkeit.

Vielleicht sollte ich darauf eingehen, mich von ihr mitnehmen lassen oder ein Zimmer in der Neutralen Zone mieten und ihr Angebot auf Armdrücken annehmen. Vielleicht kratzt mir das das ewige Jucken aus dem Hinterkopf, das mich dazu bringen will, zu Val zu schauen.

Mir fällt auf die Schnelle nichts Schlaues ein, doch bevor die Pause zwischen uns unerträglich lang und peinlich werden kann, endet die Musik. Pangea verneigt sich elegant.

„Du tanzt fantastisch“, sage ich.

„Kann ich nur zurückgeben.“ Sie streicht eine Haarsträhne aus den Augen hinter mein Ohr, dann ihre Fingerkuppe über mein Kiefer. „Vielleicht kannst du mir ein paar Sachen zeigen?“

Unter ihrer Berührung blüht Hitze auf meiner Haut. Ich nehme ihre Hand und senke sie von meinem Gesicht weg. „Danke, Pangea.“

Es ist seltsam— um uns tratschen Leute lauthals, gehen, lachen, Gläser klirren aneinander, und trotzdem höre und erkenne ich Vals Schritte. Ich wende mich zu ihm, bevor er etwas sagt, und so sagt er gar nichts und lächelt mich bloß kurz an.

„Frau Falegname“, sagt er zu Pangea.

„Quintieri“, sagt sie ebenso kurz angebunden.

„Ich hoffe, ich störe nicht.“

„Du störst doch nie“, sagt Pangea. Den Unterton kann ich nicht deuten.

„Meine tiefste Entschuldigung“, sagt er spielerisch, „Ich verspreche, mich für den Rest des Abends fernzuhalten.“ Er legt seine Hand auf meinen Arm. „Darf ich dich kurz entführen? Ich möchte dir jemanden vorstellen.“

Pangea schmunzelt Val wissend an, dann wendet sie sich zu mir. „Viel Spaß.“ Zurück zu Val. „Viel Glück. Und probiert die Eclairs, sie sind köstlich.“

Ich verabschiede mich mit einem kleinen Winken und gehe mit Val durch den Saal. Sobald Pangea nicht mehr in Hörweite ist, frage ich, „Hätte das nicht warten können?“

Val sagt nichts.

„Wer will mich treffen?“, frage ich schließlich.

„Der Veranstalter“, erwidert er und tritt zu einer Gruppe dazu; jede Person in der Menschentraube ist bunt und ausgefallen angezogen, mit Schleiern, Federn und extravaganten Masken ausgestattet. Eine Maske besteht aus buntem Glas, eine weitere ist eine rosarote, mit Kristallen beklebte Fischmaske. Einer von ihnen, ein Mann mit weißem Anzug und einer Vogelmaske, die mit großen, weißen Federn ausgestattet ist, erinnert mich an einen weißen Pfau. Er grinst schräg und breitet seine Arme aus.

„Nona!“, sagt er, als würde er mich jahrelang kennen, dann zieht er mich ohne Warnung in eine Umarmung. Dabei bemerke ich, dass die Federn auch in seinen hellblonden Haaren stecken— und jetzt auch in meinem Gesicht. Ich rümpfe die Nase und klopfe ihm beschwichtigend auf den Rücken, damit er loslässt.

„So eine Schande, dass wir uns so holprig begegnet sind“, seufzt er, „Ich war bei diesem Meeting ja kaum ich selbst. Aber tja, jetzt bin ich es. Wie gefällt dir das Fest? Magst du den Wein? Oh, ich hoffe, du magst den Wein. Und die Eclairs!“

Ich komme gar nicht zum Wort. Durch die Augenlöcher in seiner Maske kann ich sehen, dass seine Pupillen geweitet sind.

„Du warst fantastisch auf der Tanzfläche“, sagt der rosa Fisch zu mir, nimmt meine Hand und löst die Karte von dem Band um mein Handgelenk.

„Danke“, sage ich hastig, während er etwas in die Karte hineinschreibt. Das Buntglasfenster neben ihm nimmt ihm die Karte ab und kritzelt ebenfalls.

„Wo hast du denn tanzen gelernt?“, fragt ein hellgrüner Frosch hinter mir und greift ebenfalls nach dem Kärtchen.

„Oh, ich will auch so gut sein“, seufzt eine Antilope neben ihm. So geht die Tanzkarte im Kreis herum.

Ich werfe Val einen hilfesuchenden Blick zu. Er schmunzelt, und ich will ihm dafür ins Schienbein treten.

Der weiße Pfau, den ich als Silva erkannt habe, nimmt wieder meine Hand und drückt sie. „Hast du schon mit den Falegnames geredet?“

Ich erwarte eine Unterbrechung, doch es kommt keine. Also sage ich bloß, „Ja.“

Die kleine Menschengruppe bricht in Gekicher aus, als wäre das, was ich gesagt habe, schrecklich lustig.

„Was habt ihr genommen?“, frage ich stumpf.

Wieder Gekicher. Silva beißt sich auf die Lippe. „Willst du auch etwas?“

„Gratis?“

Val nimmt meine Hand. „Nein, möchte sie nicht. Vielen Dank, Silva.“

Silva sieht enttäuscht aus, doch ich könnte mich irren. „Vielleicht beim nächsten Mal. Ich möchte wirklich mit dir und Magdalena und Francesco reden, wir könnten so viel zusammen aufbauen!“

Ich sehe wieder zu Val, doch er lächelt nur erwartend. Am liebsten würde ich mir die Hand an die Stirn klatschen— natürlich ist das wieder nur ein Test. Große Fische, unnötiger Jargon, wichtigtuerisches Gelaber.

„Danke für das Angebot“, sage ich neutral, „Aber ich möchte das wirklich eher professionell besprechen.“

Gemurmel geht durch die Menge, ich spüre Blicke auf mir, die irgendwo zwischen gierig und hungrig sind.

„Auch in Ordnung“, sagt Silva und verneigt sich übertrieben. Sein Frack hebt sich hinten an und zeigt dort ebenfalls Pfauenfedern her. „Ich hoffe, wir sehen uns bald auf der Tanzfläche.“

Ich sage nichts, lächle nicht, nehme Val nur am Handgelenk und führe ihn aus der Hörweite der Gruppe.

„Du kleines Arschloch“, zische ich, kann mir aber ein Lächeln nicht verkneifen.

„Sie sind so charmant, oder?“, fragt er mit einem kaum unterdrückten Lachen in der Stimme.

„Schrecklich charmant. Wolltest du mich wirklich nur foltern?“

Er schüttelt den Kopf. „Ich wollte, dass du siehst, wie Silva sich außerhalb von Verhandlungsräumen verhält.“

„Wenn er… was genau intus hat?“

„Meistens Kokain“, sagt Val. „Fisch, Frosch und Antilope sind seine Dealer.“

„Und wieso musste ich den ganzen Zirkus ertragen?“

„Er ist einer von den wichtigen Leuten in der Gegend“, gibt er zu, „Die einflussreichsten Leute, unsere Verbündeten, unsere Feinde, Gang Bosse, Drogenbarone. Große Fische. Du musst wissen, wer sie sind, wie sie sich verhalten, was du von ihnen haben kannst und was sie von dir wollen, wenn du bleiben willst.“ Er zögert. Ihm entweicht der Atem. „Willst du bleiben?“

Es klingt wie eine Bitte. Es steht in seinen Augen: Bitte bleib. Und ich will Antworten: Ja, ich will bleiben.

Blödsinn. Ich bilde mir das ein.

„Ich sehe keinen Grund, zu gehen“, sage ich stattdessen. „Zumindest noch nicht.“

Val nickt. „Ich muss ihnen teilweise Recht geben“, sagt er, „Ich habe auch nicht gewusst, dass du so gut tanzen kannst.“

„Irgendwie musste ich bei der ZEFHA Zeit verschwenden“, erkläre ich, „Tanzen, Gitarre, Training. Besser, als in meiner Zelle zu verrotten.“ Ich löse das Band von meinem Handgelenk und halte ihm die Karte hin. „Wenn wir schon dabei sind, was ist das?“

„Eine Tanzkarte“, sagt er noch einmal. „Mehr oder weniger ein Notizzettel, wem du einen Tanz versprochen hast.“

Ich öffne das Kärtchen und lese die Namen; Pangea und Silva oben, und folgend neun andere Namen. „Fuck.“

Val wirft ebenfalls einen Blick darauf und lacht.

„Das ist nicht lustig!“, sage ich.

„Ich hoffe, die Schuhe sind bequem.“

Ich verdrehe die Augen. Val nimmt die Karte aus meiner Hand und schreibt seinen Namen ganz unten hin. Nachdem er bei sich selbst meinen Namen eingeschrieben hat, wickelt der das Band wieder um mein Handgelenk und bindet es mit flinken Fingern zu.

„Wie soll ich wissen, wem welcher Name gehört?“, frage ich und sehe mich um, als würde ich irgendjemanden aus Silva’s Posse erkennen.

„Sie werden zu dir kommen. Du bist schwer zu übersehen“, sagt Val, „Spiel einfach mit, wenn dich jemand auf die Tanzfläche zieht.“

„Lächeln, schweigen und warten“, wiederhole ich seinen Rat. Mein Blick schweift immer noch über die Menschenmasse, wo ich eine verdächtige Menge Leute finde, die in unsere Richtung starren.

„Sind wir so interessant?“, murmle ich.

„Publikum“, sagt Val und winkt zwei Leuten zu— einer Frau und einem Mann— die beide enthusiastisch zurück winken.

„Deine Verehrer“, sage ich. Irgendwie schmeckt es bitter.

Ein Walzer springt an. Hinter Val schreitet das Buntglasfenster auf mich zu.

„Ich gebe ihnen mal eine Chance mit dir“, sage ich und lasse den bunten Maskierten meine Hand nehmen und küssen.

„Chance?“, fragt Val.

Eine Hand landet auf meiner Hüfte und kräuselt mich in einer geschmeidigen Bewegung auf die Tanzfläche.

„Nona“, sage ich, in Hoffnung ich bekomme einen Namen zurück.

„Evangeline“, sagt die Dame. „Ich hoffe, ich habe Sie und Herr Quintieri nicht gestört?“

„Ich wollte mit ihm tanzen“, sage ich wahrheitsgemäß, und erinnere mich unfreiwillig, trotzig, an die Anzahl von Leuten, die auf ihn gewartet haben, in deren Weg ich bloß war. „Er war aber vergeben.“

Evangeline lacht hell. Sie führt exzellent, selbst als das Tempo schneller wird. Wir drehen uns, bis uns schwindelig ist, und stolpern dann vom Parkett.

„Vielen Dank“, sagt sie und macht einen Knick.

Ich verneige mich— langsam finde ich Gefallen an der ganzen Theatralik. „Ganz meinerseits.“

Sie verabschiedet sich mit einem kleinen Lächeln und verschwindet in die Menge, wahrscheinlich auf der Suche nach ihrem nächsten Tanzpartner. Ich selbst sehe mich nach meinem um, und obwohl ich weder die Antilope, noch den Frosch, noch den Fisch finde, so sehe ich doch jemanden, den ich kenne.

Ich winde mich zwischen Leuten hindurch und räuspere mich, sobald ich hinter ihr stehe. „Guten Abend, die Dame.“

Joyce dreht sich zu mir und grinst breit hinter ihrer Mausmaske. „Nona.“

Wir umarmen uns, dann deutet sie auf eine weitere Frau, die neben ihr am Tisch steht, im dunkelgrünen Kleid und überwucherter Fuchsmaske. Braune Augen liegen hinter den Augenlöchern, und dunkelbraune Locken fallen über ihre Schultern. „Nona, das ist Victoire. Viccie, das ist Nona.“ Joyce kichert, stellt sich an ihre Seite und küsst ihre Wange. „Meine Verlobte.“

Sofort muss ich lächeln. „Du hast sie gefragt?“

Joyce nickt freudig, während Victoire kichert und rot wird.

„Ich freu mich für euch.“ Ich reiche Victoire die Hand.

„Meine zukünftige Frau hat mir einiges von dir erzählt“, sagt Viccie.

„Sie schwärmt ständig von dir“, sage ich.

„Verräterin“, murmelt Joyce.

„Als wüsste ich das nicht schon“, sagt Viccie und nimmt ihre Maske ab, damit sie Joyce sanft küssen kann.

„Darf ich mit meiner zukünftigen Frau nicht angeben?“

Die beiden sind so süß, ich bekomme Zahnschmerzen davon.

Viccie lächelt Joyce sanft an, dann wendet sie sich an mich. „Wie läuft es mit dir und Val?“

Joyce stupst ihr den Ellbogen in die Seite. Sie schmunzelt. „Was?“

Ich seufze. „Der ist nur für Business hier.“ Irritiert verdrehe ich die Augen. „Und wird gerade von seinen Verehrern belagert. Am Besten, ich lass ihn in Ruhe.“

Joyce und Victoire tauschen einen langen Blick, dann fixiert Victoire ihre Maske wieder und hält ihre Hand aus. „Darf ich um diesen Tanz bitten?“

„Ich würde gerne, aber Silva hat meine Karte im Kreis herumgegeben“, murre ich. „Selbst mit ihm muss ich noch tanzen…“

„Vergiss die Karte“, sagt Victoire und nimmt meine Hand.

Das Lied spielt aus, von einem Walzer zum nächsten. Wir reihen uns nahtlos in die Schlange von Tänzern ein.

„Nochmal Glückwunsch zur Verlobung“, sage ich, während ich mich mit ihr im Kreis drehe.

„Danke.“ Sie wird wieder rot um die Wangen. „Meine Verlobte war so süß. Alles war perfekt, gemütlich daheim. Sie hat mein Lieblingsessen gekocht, dann mein liebstes Dessert gemacht. Und nachher ist sie auf ein Knie gegangen…“ Sie seufzt. Ich kichere.

„Und wie lange seid Val und du zusammen?“, fragt sie.

Mir wird warm um die Wangen. „Wir sind kein Paar.“

„Da hätte er mich täuschen können, so wie er dich ansieht.“

„Was?“ Automatisch verrenke ich mir den Hals, um zu ihm zu sehen. Und ja— obwohl er inmitten einer Traube von Leuten steht, starrt er mir hinterher.

Victoire legt ihre Hand an meine Wange und dreht meinen Kopf zu sich zurück. „Du tanzt noch mit mir.“

„Sorry“, sage ich, und fühle mich seltsam außer Atem. „Ich kann verstehen, wieso Joyce dich so sehr mag.“

Victoire lächelt sanft. „Charmant. Konzentrier dich auf deine Schritte.“

Ich finde mein Tempo wieder.

„Du solltest ihn fragen, ob er mit dir tanzen möchte“, sagt Viccie.

Ich zähle innerlich mit— Eins, zwei, drei— bis ich nicht mehr darüber nachdenken muss. „Er will nicht.“ Ich rümpfe die Nase. „Die ganze Zeit labert er nur mit irgendwelchen Fischen. Wenn er wollte, hätte er mich gefragt.“

„Er sieht nur, dass du die ganze Zeit vor ihm wegläufst, und mit anderen Leuten tanzt.“

Ich ziehe eine unzufriedene Schnute. „Das erste Mal hat er mich weggeschickt.“

„Wieso?“

Kurz zögere ich, dann gebe ich kleinlaut zu, „Weil ich vielleicht ein Gerücht angefangen habe, dass er mein Sugar Daddy ist, das er ausbessern musste.“

Viccie bricht in Gelächter aus. „Ist das dein Ernst?“

„Seine Worte waren, geh ein paar Leute kennenlernen, bevor die Musik anspringt. Das Schreit doch nach, lass mich in Ruhe und rede mit jemand anders.“

Bevor die Musik anspringt, Nona.“ Victoire dreht sich elegant im Kreis. „Das heißt, er wollte, dass du zum Tanzen zu ihm zurückkommst.“

„Blödsinn“, beharre ich. Vor meinem geistigen Auge wiederholt sich unsere kurze Unterhaltung, bloß eine Handvoll Sätze. Ist er nicht rot geworden, bevor er mich weggeschickt hat? Vielleicht war es ihm peinlich, dass Leute ihn für meinen Sugar Daddy halten.

Müsste ich meine Hand nicht auf Victoire’s Schulter lassen, würde ich mir damit an die Stirn klatschen. Natürlich war es ihm peinlich, natürlich wollte er mich nicht dabeihaben, während er so ein Gerücht erstickt.

„Man sieht es dir an, wenn du auf einen grünen Zweig kommst“, sagt Victoire grinsend. „Wenn du mich entschuldigst, ich habe eine Verlobte, die auf mich wartet.“
Wir schreiten vom Tanzboden. Victoire macht einen Knick. „Hol ihn dir.“

Ich verneige mich. „Viel Spaß mit Joyce.“

Wir winken uns zu. Und dann stehe ich alleine in der Menge, drehe mich um und finde heraus, dass Val mich bereits durch das Getümmel ansieht.

Es ist so leicht, sich durch die Menge zu drängen, jetzt wo Val mir entgegenkommt. Und plötzlich ist es wortlos und einfach: Val hält seine Hand aus, und ich lege meine hinein.

Jeder Schritt auf die Tanzfläche hallt in meinen Ohren wieder. Das letzte Lied läuft aus, und das nächste klingt an.

Jedes Detail sticht heraus. Vals Hand liegt locker an meiner Hüfte, meine an seiner Schulter, unsere beiden anderen halten einander. Unsere Finger sind verschränkt. Seine Haltung ist ausgezeichnet. Selbst mit der Maske kann ich das sanfte Lächeln sehen, das nicht nur auf seinen Lippen, sondern auch in seinen Augen liegt. Sein Anzug steht ihm unglaublich gut. Wir stehen nah beieinander, und kurz streift seine Hüfte über meine. Sein Atem an meiner Wange. Hübsche braune Augen.

Und dann ist alles dunkel.

Der schwellende Ton der Violine verschwindet, kurz bevor das Lied wirklich anfangen kann. Um uns erheben sich verwirrte Stimmen. Ich sehe mich um, doch außer Val kann ich kaum etwas erkennen.

Dann gehen langsam weitaus schwächere Lichter an, die gerade so den Saal ausleuchten. Am Ende des Saals, hinter Gruppen von Menschen, schallt Silva’s Stimme: „Bitte, bleibt alle ruhig. Wir haben nur Stromausfall.“

Ich rümpfe die Nase.

„Die Notstromanlage läuft. Es wird weder kalt noch dunkel werden“, redet er weiter, „Bitte, Ruhe.“ Doch der Rest seines Satzes geht im Geschnatter der Menge unter.

Nur widerwillig ziehe ich meine Hände zurück. Val wirft einen Blick zum Ausgang. „Wir sollten gehen, bevor wir in der Masse feststecken.“

Ich nicke bloß.

Wir geben im bereits unruhig belebten Vorraum die Masken zurück, dann ziehen unsere Mäntel über, doch wir hätten es genauso gut bleiben lassen können. Sobald wir draußen sind, wirft uns eine gewaltige Windböe einen Haufen Schnee ins Gesicht. Die Kälte kriecht nicht mehr, sie krallt sich an mich, während der Sturm an meinen Haaren und an meiner Kleidung zieht.

Wir schaffen es bis zum Auto, ohne umzufallen. Drin angekommen wirft Val den Motor an. Dann sitzen wir.

Keiner von uns beiden sagt etwas. Irgendwann ist dann der Motor warm genug, und wir fahren langsam los. Val gibt mir wortlos seine Hand, und ich zupfe während des ganzen Wegs an seinem Handschuh herum.

Bis wir wieder in der Tiefgarage sind und parken, ist der Schnee geschmolzen und unsere Kleidung ist durchnässt. Wieder sitzen wir bloß im Schweigen.

Dann lache ich.

Val sieht überrascht zu mir. Aber das gerade war so ein unbeholfenes Disaster, dass es die Grenze von ärgerlich zu lustig überschritten hat. Und Val gibt mir im Endeffekt auch recht, denn auch er beginnt zu lachen.

„Das…“, sagt Val langsam.

„Ja“, erwidere ich bloß.

Er steigt aus. Dieses Mal lasse ich ihn sowohl meine Tür öffnen, als auch mir aus dem Wagen zu helfen.

Unsere Kleidung tropft den ganzen Weg bis in den Aufzug. Während der kurzen Reise nach oben reißt eine Windböe an dem Gebäude und bringt das Licht im Fahrstuhl zum flackern. Kurz erwarte ich, dass er stecken bleibt, doch die Lampe springt wieder an und wir kommen sicher, wenn auch tropfend in seinem Apartment an.

„Was für ein Disaster“, seufze ich grinsend. Ich ziehe meine Schuhe aus.

„Immerhin durfte ich dir beim Tanzen zusehen.“

Ich verdrehe die Augen. „Charmeur.“

„Anscheinend bin ich nicht der Einzige, der denkt, dass du gut tanzt. Sonst wäre deine Tanzkarte nicht so angefüllt“, sagt er, zieht sein Jackett aus und hängt es an die Garderobe.

„Es war das Kleid“, winke ich ab.

„Du hast es anscheinend gut getragen.“

Ich belächle seinen Kommentar bloß.

„Ich bring dir was trockenes zum Anziehen“, sagt er.

„Danke.“

Val verschwindet in eins der Zimmer und kommt mit einem Stapel Kleidung zurück. Ich nehme ihn, nicke ihm dankbar zu und gehe ins Bad.

Erst nehme ich die Augenprothese heraus, dann dusche ich lang und heiß. Draußen wütet weiterhin der Sturm, rüttelt an den Wänden und heult gegen die Fensterscheiben. Nach einem besonders heftigen Windstoß flackern die Lichter abermals und gehen schließlich aus.

„Val?“, rufe ich.

„Ich hab Kerzen“, hallt seine Stimme zurück.

Ich lasse provisorisch eine Flamme in meiner Handfläche aufleben, bis ich das Handtuch und dann die Kleidung habe. Im schummrigen Halbdunkel erkenne ich Sweatpants und einen Pullover. Sie sind etwas weit, aber genau groß genug, um bequem zu sein. Verstohlen hebe ich den Kragen des Pullovers zu meiner Nase und schnüffle.

Als ich das Badezimmer verlasse, stellt Val gerade einige Kerzen verstreut ins Wohnzimmer.

„Geh duschen, du siehst miserabel aus“, sage ich.

Er lässt es sich nicht zweimal sagen und geht mit einer der angezündeten Kerzen ins Badezimmer. Die Tür schließt, und ich gehe auf Zehenspitzen ins Vorzimmer. Neugierig durchsuche ich die Taschen von Vals Jackett, bis ich seine Tanzkarte finde. Er ist gutaussehend, anständig und single. Sie wird vollgeschrieben sein.

Ich öffne die Karte.

Nona

Überrascht blinzle ich, dann muss ich grinsen, meine Wangen werden heiß. Ich stecke die Karte ein.

Kurz darauf kommt Val aus dem Badezimmer. Auch er hat seine nasse Kleidung gegen etwas Bequemeres eingetauscht. Er geht ins Wohnzimmer und fängt an, die Kerzen anzuzünden.

„Lass mich“, sage ich, wische mit der Hand durch die Luft und entzünde den Rest der Kerzen, so einfach wie Atmen.

Er lächelt. „Danke.“

Ich halte ihm seine Karte hin. Seine Augenbrauen zucken hoch.

„Ich schulde dir noch einen Tanz.“

Er grinst etwas verlegen, holt sein Telefon aus der Tasche, dreht einen langsamen Walzer auf und legt es auf den Wohnzimmertisch.

Meine Fingerkuppen streichen über den tätowierten Engel auf seinem Handrücken, als ich seine Hand nehme. Der Teufel auf seiner Anderen setzt sich auf meine Hüfte. Ich lege meine Freie auf seine Schulter, trete einen Schritt zurück. Er macht einen nach vor.

Val ist gut, aber etwas verspannt. Ich schätze, dass er nach ein, zwei Drinks vielleicht lockerer und weniger mechanisch ist. Ich kichere leise und gehe näher an ihn heran.

„Trau dich. Ich hab nichts gegen ein bisschen Kuscheln.“

Die Spannung schmilzt langsam aber sicher aus seinen Schultern. Zwar ist seine Haltung etwas falsch, aber viel natürlicher, weitaus entspannter. Er gefällt mir so weitaus besser.

Ich lege meinen Kopf an seine Brust und schließe die Augen. Val legt seine Wange auf meinen Kopf. So drehen wir uns langsam im Kreis.

Das erste Lied endet, doch es kümmert uns nicht wirklich. Wir warten einfach, bis das nächste anspringt und drehen uns weiter, wippen zusammen hin und her.

Ein hohles Schnalzen lässt mich zusammenzucken. Einen Moment später springt das Licht im Wohnzimmer an.

Ich sehe zu Val hoch, nur um herauszufinden, dass er mich bereits ansieht. Mein Blick fällt zu seinem Lächeln hinunter, das ständig auf seinem Gesicht ruht, nie vergeht. Aber genau so wie seine Haltung ist auch hier die Spannung geschmolzen.

Ich mag die Art von Lächeln mehr.

Ein Lachen purzelt über meine Lippen. Ich lehne meine Stirn gegen seine Brust und kichere unverschämt. Er tut dasselbe, seufzt, löst seine Hände zögerlich von meinen.

Ich greife zum Lichtschalter und tauche den Raum wieder in Dunkelheit. Val sieht mich für einen Moment verwirrt an, dann scheint er zu verstehen.

Unsere Finger verschränken sich wieder. Ich lege meinen Kopf an seine Brust und trete einen Schritt nach hinten. Val summt bequemlich.

Ich verliere den Überblick darüber, wie viele Lieder vergehen. Irgendwann schließe ich meine Augen; ich muss nicht mehr darüber nachdenken, geschweige denn hinsehen, um meine Füße richtig zu stellen.

Nach einer schrecklich kurzen Ewigkeit springt statt einem klassischen Lied irgendein schrecklicher Pop-Song an und reißt uns unhöflich aus der Trance. Ich verziehe das Gesicht. Val wirft einen Blick auf mich und kichert.

„Danke für den Tanz“, sagt er mit sanfter Stimme, senkt den Kopf und haucht einen Kuss auf meinen Handrücken.

Charmeur, will ich sagen, Schleimer, So gut warst du gar nicht. Stattdessen drücke ich seine Hand leicht. „Ich hab zu danken.“

Kaum habe ich das letzte Wort draußen, unterbricht mich ein Gähnen.

Val schmunzelt. „Mach es dir auf dem Sofa bequem“, sagt er.

„Du nimmst mich gar nicht ins Bett mit?“, necke ich ihn.

„Nicht beim ersten Date“, sagt er und verlässt kurz das Wohnzimmer. Ich setze mich auf die Couch und ziehe die Knie an die Brust, vergrabe mein Gesicht im Kragen des Pullovers und kichere wie ein Teenager.

Val kommt kurz darauf mit zwei Polstern und einer flauschigen Decke zurück, auf der ein schreckliches Muster aus Wolfsköpfen abgebildet ist.

„Ist die von Asil?“, frage ich belustigt.

„Nein, von Joyce. Sie hat dafür einen Mauspyjama bekommen“, sagt er.

Ich lache leicht und lege die Kissen übereinander.

„Gute Nacht“, sagt er. „Danke für den schönen Abend.“

„Nacht“, sage ich.

Er verlässt das Wohnzimmer. Eine Tür schließt sich irgendwo in der Wohnung. Ich wische mit der Hand durch die Luft und lösche alle Kerzen auf einmal.

Teil 7.14

Ich sehe hin, gegen meinen Willen. Blut auf der Straße, in meinem Auge, in meinem Mund, in meiner Nase. Tonnen lasten auf meinem Rücken und quetschen jeglichen Atem aus meinen Lungen, drücken mich gegen die Straße und halten mich dort fest.

Die Welt um mich steht in Flammen. Ich will die Augen schließen, mich abwenden, nicht schon wieder hinsehen. Wenn ich noch ein Mal ihre Gesichter sehen muss, weite, leere Augen, bleich, Blut und Schotter an ihrer Haut, dann werde ich wahnsinnig.

Doch ich habe keine Wahl.

„Ishan,“ wimmere ich und strecke meinen Arm aus. Ich will seine Hand nehmen, für meinen kleinen Bruder da sein.

Mama und Papa sind aus meiner Reichweite. Ich kann Papa’s Kopf sehen, eingeklemmt unter einem der Trümmer. Seine Haare kleben blutnass an seiner Stirn und er starrt in den Himmel hoch.

Was siehst du dort?

Mama liegt nicht weit entfernt neben ihm. Und gerade sie will ich anbetteln, für mich da zu sein und mir zu helfen. Doch auch sie starrt mit leeren Augen und wird mich nie wieder hören können.

Die Flammen bäumen sich auf, recken sich in die Luft, in Richtung eines Punktes, der kaum einen Halben Meter über der Straße schwebt. Dort kräuseln sie sich in der Luft, blendend hell, und formen sich zuerst zu einer Handfläche, dann zu Fingern, dann zu einem Arm.

Tim erstreckt sich vor mir, größer als mein Verstand ihn akzeptieren will, gewaltig, sodass er das Blau des Himmels einnimmt und verbrennt. Seine zwei Münder reißen auf, sodass sein Kiefer hängt. Er beugt sich zu mir herunter, sein Kopf alleine so groß wie ich im Stehen.

„Du hast einiges ausgehalten, Endling,“ spuckt es, seine Stimmen gefächert und überlagert. Und seine Hand wandert, schlängelt über den Asphalt und wickelt sich um meinen Kopf. Tim quetscht, bis ich das Gefühl habe, mein Schädel würde nachgeben und bersten.

Seine Stimme ist ohrenbetäubend.

„Ich frage mich, wie viel es braucht, bevor du zerbrichst.“

Mein Schädel gibt unter dem Druck nach.

Ich schreie. Es ist dunkel, und für einen irren Moment glaube ich, dass Tim meinen Kopf zerdrückt hat und ich deshalb nichts sehen kann.

Verzweifelt schnappe ich nach Luft und presse beide Hände so fest ich kann auf meine Brandnarbe. Sie pocht und brennt, zerrt an meiner gesunden Haut, zerquetscht mein Auge in seiner Höhle. Unwillkürlich zwängt sich ein Wimmern aus meiner Kehle und Tränen in meine Augen.

Schritte zu meiner Linken. Ich sehe auf und erkenne Val, der mit einer Pistole in den Händen hastig im Wohnzimmer umher zielt.

„Niemand da,“ keuche ich.

Für den Bruchteil einer Sekunde kann ich im Zwielicht seine Augen erkennen, kalt und präzise, das Schlimmste erwartend. Dann weiten sie sich. Val wirft die Pistole auf den Wohnzimmertisch, hastet zu mir, reißt die brennende Decke von meinen Beinen und lasst sie auf den Boden fallen, wo er auf sie tritt, bis das Feuer ausgeht. Ich habe weder die Flammen noch die Hitze mitbekommen.

Meine Hände zittern gewalttätig. Egal wie sehr ich mich bemühe, ich bekomme sie nicht mehr unter Kontrolle. Mein gesamter Körper versagt mir den Dienst— kalter Schweiß läuft meinen Nacken hinunter, mein Atem geht flach und hastig, mein Herz hämmert gegen meine Rippen.

„Nona?“, sagt Val, doch es hört sich an, als würde er aus dem Nebenzimmer rufen.

„Tut mir Leid,“ zwänge ich heraus, atemlos, erstickend. Meine Lungen brennen. Ich atme ein und treffe auf hörbaren Widerstand in meiner Kehle.

Vor meinen Augen verschwimmt alles, so drücke ich meine tauben Hände auf sie, bis ich bunte Formen in der Schwärze sehe. Schwindel packt mich gnadenlos, bringt mich zum Schwanken.

Zwei Hände an meinen Schultern. Val drückt mich sanft zurück, bis ich zurückgelehnt bin, anders wäre ich einfach nach vorne umgekippt. Automatisch ziehe ich die Knie an die Brust und versuche, mich so klein wie möglich zu machen. Mein Kopf fühlt sich an, als würde Tim ihn noch immer gepackt halten.

„Nona,“ höre ich Val noch einmal, wieder gedämpft. Und obwohl er verschwommen ist, sehe ich zu ihm auf.

„Tief einatmen,“ sagt er.

Erst als ich mich dazu zwinge, den Mund aufzumachen und dem Folge zu leisten, realisiere ich, dass ich bis jetzt nur erbärmlich nach Luft gerungen habe. Meine Rippen ächzen.

Leider war’s das. Mein Ausatmen ist nichts als ein erdrosseltes Schluchzen, und trotz aller Bemühungen laufen Tränen frei mein Gesicht herunter.

Gottverdammte Scheiße.

Gerade jetzt. Gerade hier. Was für ein erbärmlicher Mist ist das?

Val legt eine Hand auf meine Schulter. Es ist ungewohnt unbeholfen, Welten entfernt von seiner üblichen geschmeidigen Eleganz. Ich will ihn näher haben und ich will, dass er geht.

Er nimmt mir die Entscheidung ab und zieht mich an seine Brust. Ich klammere mich an sein Shirt, als würde mein Leben davon abhängen, und zwinge mich dazu, irgendwie zu atmen.

Wieso gerade heute? Der ganze Tag war so schön, und jetzt das. Wird es ewig so sein? Einzelne Tage, an denen ich ausnahmsweise an nichts denke, nicht an Olivia, Aaron oder Samael, nicht an Erna oder meine Zeit in Gefangenschaft, vielleicht nicht mal meine Familie— nur, dass ich dann dafür bezahle, indem ich solche Anfälle bekomme.

Meine Vergangenheit hat ihre Narben hinterlassen, und sie werden nie verblassen. Ich kann mir nicht einmal einreden, dass es besser wird, denn in letzter Zeit ist alles nur den Bach hinunter gegangen. Eine Episode nach der anderen. Jeder Aufwand, alle Bemühungen sind umsonst; egal, wie schön ich mein Leben mache, der Schaden bleibt. Ich werde nichts mehr jemals genießen können.

Welchen Sinn hat das alles noch.

Es kommt alles in Bruchstücken zu mir zurück. Vals Hände auf meinem Rücken. Die Tränen, die ich in seinen Pyjama gewischt habe. Das Kribbeln in meinen Händen, während die Taubheit langsam nachlässt. Und dann, windend in meinem Magen, Scham.

Ich zwinge mich zum Durchatmen. „Tut mir Leid wegen der Decke.“

Ein überraschtes Lachen bebt in Vals Brust. Ich werfe einen Blick auf den Scheiß, den ich gebaut habe; ein riesiger Brandfleck hat die flauschige Decke ruiniert. Es stinkt noch immer abgöttisch nach verbrannten Fasern.

„Wen interessiert das,“ sagt er sanft. „Wie geht es dir?“

Scheiße, will ich sagen. „Geht schon.“

Ich schniefe, reibe mir hastig die Augen. Val, der Heilige, gibt mir die Privatsphäre, die ich brauche, steht auf und verlässt kurz den Raum. In der Zeit wische ich mir die Tränen vom Gesicht und streiche mir über die Haare.

Schmerz pulsiert wütend um mein Auge herum. Ich bilde mir ein, dass ich ihn gegen meine Fingerkuppen trommeln spüre, während ich die Narbe massiere.

Val kommt mit einem Glas Wasser, einer Tablette und einer Packung Taschentücher zurück. Ich nehme alles dankbar an, schlucke das Schmerzmittel ohne Widerstand und putze mir die Nase.

Die Stille zwischen uns ist pure Folter. Mir ist es peinlich, dass ich mich wegen nichts so aufgeführt habe und so die Kontrolle verloren habe.

„Tut mir Leid,“ wiederhole ich mit belegter Stimme.

„Ich hab noch zwei, die genauso schlimm sind wie die,“ sagt Val, hebt die verbrannte Decke auf und verschwindet mit ihr, sowie der verworfenen Pistole, aus dem Wohnzimmer.

„Nicht das,“ krächze ich.

Ich warte, bis Val wieder im Wohnzimmer ist, bevor ich weiterrede. „Dass ich dich aufgeweckt habe, meine ich.“

Er sagt nichts, setzt sich bloß wieder zu mir. Irgendwann in der Stille überzeugt mich die Verlegenheit, dass ich ihm eine Rechtfertigung schulde. So atme ich tief durch und stütze die Ellbogen auf die Knie.

„Ich hab so viel Scheiße hinter mir,“ sage ich langsam und bemüht, meine Stimme stabil zu halten. „Und ich sollte damit klarkommen— bis jetzt konnte ich das immer— aber in letzter Zeit— Ich tue mein Bestes. Aber… gottverdammt, ich war ein Kind.“

Frustriert seufze ich und raufe mir durch die Haare, obwohl mir Joyce gesagt hat, ich sollte das nicht machen. „Wird es nie besser? Muss ich mich immer mit diesem blöden Scheiß herumschlagen? Und warum wird es schlechter? Warum jetzt, wenn ich endlich meine Freunde, meine Familie wiederhabe?“

„Es wird besser,“ versucht Val mich zu beruhigen.

„Es ist schlechter geworden,“ beharre ich, und spüre wieder heiße Tränen, die sich in meinen Augen sammeln.

Val öffnet wortlos seine Arme. Mein Stolz schreit, dass ich das nicht akzeptieren kann, aber der verletzte Teil in mir schreit lauter. Ich falle ihm in die Arme.

„Woran hast du täglich gedacht, während du auf der Straße warst?“ fragt er.

„Was?“ Ich ziehe verwirrt die Augenbrauen zusammen.

„Wann du etwas zu Essen bekommst? Wann du Wasser hast? Einen Schlafplatz? Geld?“

Ich zögere, dann nicke ich.

„Du warst bis jetzt abgelenkt,“ erklärt er langsam. „Aufs Überleben konzentriert, und nichts anderes. Jetzt hast du endlich die Möglichkeit, darüber nachzudenken. Du bist sicher und versorgt genug, um es zu verarbeiten.“

„Was für ein Scheiß“, murmle ich mürrisch. „Ich sollte mein Leben genießen können.“

Er lacht leicht. „Ja, das solltest du.“

Obwohl ich es verneinen will, muss ich Val recht geben. Als ich in Gefangenschaft war, selbst bevor sich Doktor Senger in den Kopf gesetzt hat, mich so viel wie möglich zu reizen, hatte ich ständig kleine Anfälle— Panikattacken, Flashbacks, Alpträume, Wutausbrüche. Manchmal bin ich tagelang im Bett gelegen. Ja, ich habe ständig über die Flucht nachgedacht, doch es hat gereicht, dass ich zu Essen, zu Trinken und ein Dach über dem Kopf hatte.

„Also muss ich das für den Rest meines Lebens ertragen?“, frage ich.

„Leider.“
„Ich will nicht.“ Ich schnaube und vergrabe mein Gesicht in Vals Pyjama-Shirt. „Ich geh mit einem Toaster baden. Oder ich erhäng mich.“

Plötzlich wickelt Val seine Arme enger um mich. „Sag das nicht.“

Seine Stimme ist seltsam rau und belegt. Ich versinke ins Schweigen.

„Ich weiß, dass es so scheint, als könnte nie irgendetwas besser werden.“ Val wählt seine Worte langsam und vorsichtig, als wäre ich eine Bombe, die er entschärfen muss. „Aber du bist gerade sehr überwältigt. So abweisend es auch klingt, du wirst dich morgen besser fühlen. Ich schwöre es.“

Es hört sich tatsächlich sehr abweisend an. Hier und jetzt, stehend vor der riesigen Welle meiner vergangenen Erfahrungen, die jederzeit auf mich einbrechen könnte, will ich ihm schlichtweg einfach nicht glauben, dass etwas Schlaf es besser machen kann.

„Ich weiß, was du durchmachst,“ sagt er sanft, doch mein Mund schmeckt immer noch bitter. „Niemand erwartet von dir, dass du so etwas fröhlich und einfach überstehst. Es ist okay, dass du—“

„Ich weiß, dass es okay ist!“ unterbreche ich ihn laut, „Das heißt nicht, dass es nicht immer noch wehtut! Ich brauch deine Erlaubnis nicht, mich scheiße zu fühlen— Ich will, dass es aufhört!“

Er starrt mich mit weiten Augen an. Selbst sein ewiges Lächeln wirkt steinern.

Scheinbar bin ich wirklich eine Bombe, und Val hat den falschen Knopf erwischt.

Schweigend sinke ich zurück an seine Brust, kneife die Augen zu und knirsche mit den Zähnen. Scham schnürt mir die Kehle zu.

Wir schweigen uns an. Zwar bin ich mir nicht sicher, wie lange, aber es fühlt sich an wie Stunden. Langsam aber sicher gleicht sich mein Atem dem von Val an. Schließlich schlucke ich abermals meinen Stolz und murmle, „Tut mir Leid. Das hast du nicht verdient.“

Er streicht über meinen Rücken. „Schon gut.“

Langsam atme ich durch, fühle mein Zwerchfell und jede einzelne Rippe, die sich dehnt und knackt.

„Was mach ich jetzt?“, frage ich schließlich leise. „Eigentlich sollte ich dankbar sein, oder? Ist ja gut, dass ich nicht mehr jeden Tag nur überleben muss, aber—“

Ich beiße mir auf die Zunge und verschlucke mich an meinen eigenen Wörtern.

„Verdammt, Val,“ krächze ich leise, „Ich hab Angst.“

„Und du hast uns.“

Ich schnaube. „Das ist so kitschig.“

„Ich mein’s ernst,“ sagt er und streicht über meine Haare. „Red und Elias. Quinn und Thana. Nick, Soren und Glitzer. Joyce. …mich. Wir alle sind da, falls du uns brauchst.“

„Glaub ich dir nicht,“ sage ich schwach, weil mir nichts lustigeres einfällt.

„Nur, wenn du uns lässt.“

Das fährt mir so heftig über die Fresse, dass ich mir einen weiteren dummen Kommentar verkneife. Stattdessen presse ich mein Ohr an Vals Brust, die sich langsam hebt und senkt, und höre seinem Atmen und seinem Herzschlag zu. Genau so bleibe ich auch, bis sich mein Puls beruhigt und die Erschöpfung mich einholt.

Teil 7.15

Geistig kaue ich alles noch einmal durch, was vor zwei Tagen passiert ist. Vielleicht bemerke ich deshalb nicht, dass Soren mir eine Zigarette anbietet, bis er mir in die Seite schlägt.

„Hä?“

„Wo bist du gerade mit den Gedanken?“, fragt er und schnippt gegen meine Stirn.

„Du willst es nicht wissen“, murre ich und nehme die Zigarette, die er mir immer noch hinhält. Außer ihm ist niemand am Stützpunkt, deshalb bin ich mit nach draußen gegangen; langsam bereue ich es. Die Kälte beißt sich in meiner Haut fest, insbesondere in den Narben, und hat sich schon vor langem unter meinen Mantel geschlichen.

„Will ich das nicht?“, fragt er mit neckendem Unterton. Ich verdrehe die Augen.

„Weißt du…“ fange ich an. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie er plötzlich aufmerksam zuhört. „…meine Mutter hat mich vor sowas gewarnt,“ vollende ich und halte die Zigarette hoch.

Soren seufzt offensichtlich enttäuscht. „Jeder hat so eine Warnung bekommen. Jonas hat eine Zigarette geraucht, dann ist er gestorben. Sei nicht wie Jonas.“

„Nein, das mein ich nicht,“ sage ich. Endlich formt sich die Erinnerung in etwas Greifbares um und meine Vergangenheit findet ihren Platz in meinem Kopf wieder. „Sie hat gesagt, bei uns läuft Sucht in der Familie. Als Nebenwirkung vom Feuer.“

„Was, echt?“, fragt Soren und hält seine Zigarette aus. Ich zünde sie an und nicke.

„Irgendwas mit Impulskontrolle, das bei uns nicht funktioniert. Sie hat als Jugendliche ziemlich viel geraucht, ihre Mutter auch. Ihre Mutter davor war Alkoholikerin. Alle hatten das Feuer.“

Kurzerhand klaut Soren seine Zigarette wieder zurück.

„Hey,“ schnaube ich beleidigt.

„Nick bringt mich um, wenn er herausfindet, dass ich dich damit angesteckt habe. Er will mich schon seit Monaten zwingen, selbst aufzuhören.“

„Nick ist nicht hier,“ sage ich und halte die Hand aus.

„Erst sagst du mir, was ich hören will.“

Genervt seufze ich und verschränke die Arme. „Vergiss es.“

Er hebt die Augenbrauen, zieht demonstrativ genüsslich an seinem Suchtstängel und pustet mir den Rauch ins Gesicht. Ich schicke ihn zurück und bringe Soren zum Husten.

Ich stampfe mit den Füßen auf, um die Taubheit aus meinen Beinen zu verbannen, drücke die Hände an den Mund und puste Flammen hinein. Sorens Zigarette ist bereits ein Stummel, als ich endlich klein beigebe und sage, „Es ist nichts passiert.“

Soren sieht mich erwartend an. Als ich nicht weiterrede, wackelt er mit den Augenbrauen. Ich lache.

„Ich schwör’s“, sage ich und hebe die Schultern. „Wir sind in seine Wohnung gegangen und haben geschlafen. Am nächsten Morgen hat er mich zurück zum Stützpunkt gebracht. Das war’s.“

„Details, meine Liebe, Details,“ beharrt Soren.

„Ich hab auf der Couch geschlafen. Sie war braun. Die Kissen waren gelb.“

„Er hat dich auf der Couch schlafen lassen?“, fragt er ungläubig.

Ich hebe abwehrend die Hände. „Hör mal, ich hab’ ordentlich mit ihm geflirtet. Er hat gesagt, er nimmt mich nicht am ersten Date mit ins Bett.“

„Dann mach dir ein zweites aus und hol ihn dir. Ich will wissen, ob das mit dem Piercing stimmt.“

Während Soren mich verschmitzt angrinst, seufze ich tief. „Es wird kein zweites Date geben.“

Soren deutet anklagend mit seinem Zigarettenstummel auf mich. „Wenn du noch ein Mal behauptest, dass Val dich nicht mag, strangulier ich dich.“

Für einige Sekunden beiße ich mir auf die Zunge. Dann, „Okay, aber—“

„Halt doch dein Maul,“ stöhnt Soren genervt.

„Okay, wenn er mich irgendwie gemocht hat, ist das jetzt weg,“ beharre ich.

„Was hast du gemacht? Seinen Hund erschossen oder so?“

„Er hat keinen Hund,“ sage ich ausweichend.

Soren sieht mich weiter erwartend an.

„Ich hatte einen Albtraum,“ gebe ich schließlich zu, „Er hat mich beruhigt.“

Im Endeffekt hatte Val sogar recht. Zwar habe ich mich am nächsten Morgen ziemlich ausgelaugt gefühlt, aber nicht annähernd so miserabel wie davor. Jetzt wo ich darüber nachdenke, was ich während meiner Episode alles gedacht habe, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.

„Und? Nona, wir sind hier alle traumatisiert, das ist jedem schon Mal passiert.“

„Ich bin auf ihm eingeschlafen,“ sage ich und spüre trotz der Kälte, wie mein Gesicht glüht.

Soren pfeift. „Und hast du auch mit ihm—“

„Klappe.“

Während er lachend seinen Zigarettenstummel in einen Aschenbecher wirft, fährt ein mir mittlerweile bekanntes Auto die Einfahrt hoch. Es bleibt vor dem Garagentor stehen und drei Leute steigen aus: Nick, Glitzer, und ein weiterer Mann, den ich nach einem Moment als Malik erkenne.

„Wie hast du eben so richtig gesagt?“, flöte ich Soren schadenfroh und leise entgegen, „Mach dir ein Date aus und hol ihn dir.“

„Schnauze,“ murrt er.

„Nona, richtig?“, fragt Malik und hält eine Behandschuhte Hand aus.

„Schuldig wie angeklagt. Malik, oder? Dich kenn ich schon von Sorens Portraits.“

Für die Aussage schnappt Soren sich eine Handvoll Schnee und schleudert sie gegen meinen Hinterkopf. Ich lache trotz der unangenehmen Kälte, die unter meinen Kragen rutscht.

„Ich hab nicht gewusst, dass es mehr als eines gibt,“ sagt Malik and Soren gewendet. Dieser lacht und räuspert sich.

„Naja, es sind eher… Skizzen, sie sind nicht wirklich gut—“

Zeit für Rache. Ich forme einen Schneeball und ziele, aber mein fehlendes Auge macht sich bemerkbar, der Ball fliegt an Soren vorbei und trifft stattdessen Glitzer ins Gesicht, der in eine Unterhaltung mit Nick vertieft war.

Soren dreht sich um und bricht in Gelächter aus. Als Antwort schnappt sich Glitzer eine Menge Schnee, hastet auf Soren zu und wirft sein gesamtes Gewicht gegen ihn, Hände gegen sein Gesicht gedrückt.

„Wieso ich?! Sie hat doch—“, ruft Soren.

„Weil du hässlich bist!“, unterbricht ihn Glitzer.

Ich lache auf. Im nächsten Moment trifft mich ein Schneeball an der Stirn. Nick funkelt mich über die Entfernung hinweg an.

Malik macht einen Schritt zurück und geht aus der Bahn. „Ich halt mich da raus.“

Es ist eine weise Entscheidung, weil die kleine Grünfläche vor der Lagerhalle sofort zum Schlachtfeld wird. Unsere einzelnen Schlachten lösen sich zu einer großen auf. Es gibt keine Bündnisse, keine Feinde, nur Schnee und Niedertracht. Glitzer lässt von Soren ab, als ein Schneeball von Nick, der mich treffen hätte sollen, stattdessen seinen Rücken trifft. Glitzer rast daraufhin auf Nick zu, was Soren daran erinnert, dass ich der Grund bin, wieso Glitzer überhaupt auf ihn losgegangen bin.

Die Kälte ist vergessen. Ich weiß nicht, wie es mir etwas ausmachen könnte, zu frieren, wenn ich mir Sorgen machen muss, dass Soren mich vom anderen Ende des Schlachtfelds aus sniped, oder dass ich Nick davon abhalten muss, mir so fest Schnee ins Gesicht zu werfen, dass ich Sterne sehe, oder wenn Glitzer buchstäblich in Sekundenschnelle über das Schlachtfeld rasen könnte, um sich an mich zu klammern und mir Schnee ins Hemd zu stecken.

Während ich mit Nick ringe, bemerke ich, dass mich immer weniger gezielte Schneebälle am Kopf treffen. Kurz denke ich, dass Glitzer Soren beschäftigt hält, aber als ich zu ihm sehe, formt er gerade eine Kugel aus Schnee und schleudert sie auf Malik. So wie seine Jacke aussieht, war das nicht das erste Mal.

„Oh, tut mir Leid,“ seufzt Soren theatralisch, „Ich kann ja kaum zielen, ist der daneben gegangen?“

Malik, der bis jetzt ziemlich zahm und ruhig ausgesehen hat, beginnt ohne weiteren Kommentar auf Soren zuzugehen. Dieser versteht sofort, was los ist, und rennt so schnell er kann, doch Malik ist schneller, packt ihn und drückt ihn zu Boden.

„Nicht vor dem ersten Date!“, ruft Soren durch ständiges Gelächter, bis sein Gesicht im Schnee verschwindet.

Nick und ich amüsieren uns köstlich auf seine Kosten— so köstlich, dass ich Glitzer nicht bemerke, bis ich am Boden liege und er mit einem gewaltigen Brocken Schnee über mir steht.

„Letzte Worte?“, fragt er theatralisch.

Ich setze ein lächerlich ernstes Gesicht auf. „Sag meiner Frau, dass ich sie liebe.“

Er hebt den Brocken. Ich schließe die Augen.

Der Kälteschock kommt nie, nur das dumpfe Geräusch eines Schneeballs, der aufschlägt. Als ich die Augen wieder öffne, hat Glitzer Schnee an der Schläfe und lässt sich schlaff auf den Boden fallen. Ich sehe mich um, doch Soren und Malik sind beschäftigt und Nick verschnauft.

„Gern geschehen,“ sagt eine Stimme plötzlich hinter mir.

„Selbst im Schnee hört man dich nicht“, sage ich grinsend zu Joyce und nehme ihre Hand, um mir aufhelfen zu lassen.

„Ich bin schon seit einer Weile hier. Nur bemerkt hast du mich nicht,“ sagt sie und zwinkert.

„Lebensretterin.“

„Nicht ganz.“ Sie nimmt ihre Hand, gefüllt mit Schnee, von hinter ihrem Rücken hervor, hält mein Handgelenk gepackt. „Die Quintieris richten ihre Grüße aus,“ sagt sie und pfeffert mir den kalten Haufen ins Gesicht.

Ich lasse mich neben Glitzer dramatisch auf den Boden fallen. Er blinzelt Schnee von seinen Wimpern und schielt zu mir herüber. „Bist du auch tot?“

„Mause,“ sage ich.

„Cool.“

Neben uns niest Soren und stört unsere gegenseitige Grabrede. Malik lässt ihn los und hilft ihm mit einem Lachen auf die Beine. „Du solltest reingehen, bevor du dich erkältest.“

„Die beiden sind so ineinander verschossen, dass es nervt,“ murrt Glitzer.

Soren definitiv. Aber Malik?

„Ich seh’s nicht,“ flüstere ich zurück. Auf mich wirkt es so, als wären die Beiden einfach nur befreundet. Malik ist freundlich, ja, aber nicht mehr zu Soren als zu allen anderen. Außerdem wirkt er für einen Verliebten etwas zu ruppig und genervt.

Dann klopft Malik Soren etwas Schnee von der Jacke, streicht ihm etwas davon aus dem Haar. Sein Blick wird weich, zuwendungsvoll. „Wie wärs mit Kakao?“, fragt er. Seine Augen bleiben dabei auf Sorens Mund und seine Finger verweilen einen Moment zu lang an seiner Wange.

„Oh, nein, definitiv,“ korrigiere ich mich.

„Du bemerkst es also bei anderen. Wieso kriegst du es bei dir selbst nicht auf die Reihe?“, fragt mich Glitzer.

„Maul,“ murre ich und drücke prompt sein Gesicht zurück in den Schnee.

Teil 7.16

Sterne funkeln scheu im Schwarz des Nachthimmels. Zwar ist es erst kurz vor sechs, doch durch die späte Jahreszeit könnte es genauso gut Mitternacht sein.

Die Straßen sollten genauso schwarz sein wie der Himmel, doch auf den Straßenlaternen und kahlen Bäumen um mich herum hängen über und über Lichterketten und Dekorationen, die den Gehweg mit warmen, goldenem Schein fluten. Er schafft es beinahe, die eisige, unnachgiebige Kälte des Schnees schön wirken zu lassen.

Es knirscht mit jedem Schritt unter meinen Schuhen. Die Fußabdrücke, die ich dabei im Weiß hinterlasse, halten nicht lange und werden von großen Flocken gefüllt.

Ich werfe zum gefühlt tausendsten Mal einen Blick auf mein Telefon. Erst auf die Uhrzeit, die mich dafür auslacht, zehn Minuten zu früh dran zu sein, und dann die Nachrichten, die Val und ich hin- und hergeschickt haben: Erst gegenseitiger Dank für den Tanzabend, dann eine Entschuldigung von ihm, dass wir uns seitdem nicht oft gesehen haben— Ich weiß, es ist keine Rechtfertigung, aber ich war beschäftigt. Beschwichtigung von mir. Ein Bild von ihm, das Werbung für einen Weihnachtsmarkt zeigt, mit der Frage, Morgen um 6?

Jetzt gehe ich die Straße entlang, auf der Suche nach dem Platz, an dem wir uns ausgemacht haben, uns zu treffen.

Eigentlich habe ich mir geschworen, nicht mehr herauszugehen, bis sich die Kälte verpisst hat, außer es ist unbedingt nötig, doch es liegt nur einen kleinen Fußweg von der Basis entfernt und ich konnte niemanden zwingen, für mich Chauffeur zu spielen.

Meine Hände stecken tief in den Taschen meines Mantels, teils für Wärme, teils dass ich nicht die schmerzende Narbe an meiner Wange massiere— für die an meinen Händen habe ich die Druckhandschuhe an— teils damit ich nicht daran kratze. Joyce hat ganze Arbeit geleistet. Nun ist die Narbe verschwunden, verdeckt unter Schichten von Make-Up; noch dazu hat Joyce ein paar subtile Akzente hingemalt, die ihrer Meinung nach mein natürliches Gesicht verschönern. Jetzt habe ich schwarze Linien an den Augen und Farbe auf den Lippen.

Immerhin spüre ich die Augenprothese kaum.

Nachdem ich wieder vom Telefon aufsehe, grinse ich unwillkürlich. Nicht weit die Straße herunter steht Val mit dem Rücken zu mir gedreht, eingewickelt in einen schwarzen Mantel und einen gelben Schal. Der Menge an Schneeflocken in seinen Haaren zufolge wartet er seit einer Weile.

Ich gehe auf ihn zu, gehe auf die Zehenspitzen und puste heiße Luft in seinen Nacken. Er erschaudert, dann dreht er sich mit einem breiten Lächeln zu mir. Sein Atem bildet Wolken in der Luft. „Hey.“

Automatisch grinse ich zurück. „Selbst hey.“

„Ich hab was für dich“, sagt er, nimmt etwas rosarotes aus der Innentasche seines Mantels und legt es um meine Schultern— ein Schal.

„Danke“, sage ich, überrascht dass er überhaupt gewusst hat, dass ich gar keinen habe.

Val bindet ihn elegant um meinen Hals, lehnt sich dabei näher zu mir. „Ich kenne nicht viele Leute, die im Mittwinter mit offener Jacke und ohne Schal auf die Straße gehen“, murmelt er.

Ich sehe an mir herab, während er meinen Mantel zuknöpft.

„Ich weiß, du kannst dich mit deinem Feuer warm halten, aber das ist wahrscheinlich weniger anstrengend“, sagt er.

Lächelnd lege ich meine Hand auf seine. Der Engel auf seinem Handrücken funkelt mich verschmitzt durch meine Finger an. „Hast ja Recht. Aber ich weiß in meinem Alter schon, wie ich mich anziehe.“

Er streicht geistesabwesend mit dem Daumen über den Schal. Seine Augen wandern von meinen Augen zu meinen Lippen. „Du siehst umwerfend aus.“

Eine seltsame Wärme, die nichts mit meinem Feuer zu tun hat, windet sich in meiner Brust und steigt in mein Gesicht. „Charmeur.“

Val zwinkert mir zu.

Wir gehen nebeneinander durch eine kleine Seitenstraße und kommen auf einem bunt beleuchteten Platz wieder heraus. Hier stehen Reihen um Reihen von Ständen, kleinen Buden, ihre Dächer mit Schnee bedeckt, als wären sie gezuckert. Über alles ragt ein großer Weihnachtsbaum heraus, behangen mit bunten Kugeln, elektrischen Kerzen und einem riesigen goldenen Stern auf der Spitze. Ein stetiges Murmeln erfüllt die Luft, gemacht aus hunderten Gesprächen von den Menschen um uns herum.

Einige Sekunden lang sehe ich mich nur mit großen Augen um. Alles funkelt und glitzert, selbst die Menschen um uns scheinen zu leuchten.

Val kichert neben mir. „Magst du’s?“

„Ich glaube, ich war noch nie auf einem Wintermarkt,“ sage ich ehrlich.

„Wirklich?“

„Mhm“, mache ich. „Heilige Scheiße, ist das hübsch.“

Er lacht laut. „Warte, bis du was von dem Essen probierst.“

Ich atme aufgeregt auf. Er deutet zu dem ersten Stand, an dem wir vorbeigehen. Ich nicke enthusiastisch.

Die Karte ist mit Kreide auf eine mit Rentieren verzierte Tafel gemalt. Ich murmle, „Wenn ich könnte, würde ich von allem etwas probieren.“

„Kann ich einrichten“, sagt Val schulterzuckend.

„Ich glaube, dann reihere ich in einen Busch.“

„Spezifisch in einen Busch? Zu der Jahreszeit?“

„Hohe Ansprüche, ich weiß.“

Er lacht.

Ich bestelle Orangen-Punsch mit Schuss, er alkoholfreien Honigpunsch. Als ich nach meiner Geldbörse taste, schüttelt Val den Kopf.

„Ich fühl mich schon wegen dem Schal schuldig“, murre ich.

„Bitte, nicht.“ Val legt Geld auf den Tresen und nimmt die beiden Becher, hält einen davon für mich aus. Er lächelt sanft. In seinen Wimpern hängen Schneeflocken.

Unwillkürlich muss ich lächeln, wieder brennen meine Wangen. Als ich ihm die Tasse abnehme, streichen meine Finger über seine— sie bleiben dort für einen Moment, angenehme Wärme von der Tasse und seiner Haut.

Plötzlich springen die blinkenden Lichter, die unter dem Dach des Punschstandes hängen, auf rot um. Aus der Anlage, die bis jetzt Last Christmas gespielt hat, dröhnt Careless Whisper.

Val und ich zucken zusammen. Instinktiv suchen wir nach einer Überwachungskamera und finden eine direkt auf der Straßenlaterne rechts von uns.

„Red,“ murrt Val und wirft einen giftigen Blick darauf. Die Überwachungskamera reagiert nicht, aber ich bin mir sicher, dass sich Red daheim gerade köstlich amüsiert.

Ich lache. Während der Verkäufer hastig versucht, gleichzeitig die Lichter und die Musik unter Kontrolle zu bringen, nehme ich Val’s freie Hand, sage leise, „Komm schon. Hauen wir ab, bevor das noch zu unserer Schuld wird.“

Der Punsch ist köstlich. Er ist heiß, süß, und brennt den ganzen Weg nach unten. Ich lasse die Wärme weiterfließen, in meine Fingerspitzen und von dort vorsichtig über Vals Haut. Nicht, dass ihm kalt wird.

„Ich hätte Red vorher mit einer Pizza bestechen sollen“, seufzt Val und sieht sich nach anderen Kameras um.

Ich hebe die Augenbrauen. „Ihr beide seid echt gut befreundet, was?“

Red war noch nie der soziale Typ. Wie er und Val zu Kollegen, geschweige denn Freunden geworden sind…

„Wir sind Brüder“, sagt er.

Ich verschlucke mich an meinem Punsch. „Hä?“

Val beschmunzelt meine Reaktion. Wir bleiben unter einem der kahlen Bäume stehen. Die Lichterketten in den Ästen werfen goldenes Licht auf ihn, als wäre er ein Engel. Aus irgendeinem Grund will ich seine Lippen berühren.

„Joyce‘ und meine Mutter…“, beginnt er zögerlich zu erklären. Wahrscheinlich will er es mir wirklich erzählen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es einfach ist, für so etwas die richtigen Worte zu finden— oder zumindest keine angebrachten und höflichen.

„Joyce hat mir schon einiges erzählt. Das mit dem Zwillinge einsetzen lassen und so“, sage ich und wickle meine Hände um meinen Becher. Sobald meine Hand Vals loslässt, durchfährt ihn ein Schauer.

Er nickt. „Derselbe Mann hat eine Frau geschwängert, die das Baby dann anonym im Heim abgegeben hat, und das Baby war Red.“

Mein Mund steht leicht offen und ich vergesse zu trinken. Val lacht sanft, legt einen Finger an mein Unterkiefer und klappt ihn wieder zu. Meine Haut kribbelt, wo er mich berührt hat.

„Ich sagte doch, dass ihr euch ähnlich seht!“ schnaube ich empört.

„Ehrlich gesagt dachte ich, dass Red dir das schon verraten hat.“

Ich schüttle den Kopf. „Er ist nicht sehr gesprächig.“

„Das kannst du laut sagen.“ Er seufzt. „Ich hab Jahre gebraucht, bis ich irgendwas aus ihm herausgekriegt habe. Hat eine Ewigkeit gedauert, bevor wir herausgefunden haben, dass wir miteinander verwandt sind. Selbst dann war’s nur blöder Zufall.“

Ich werfe ihm einen skeptischen Blick zu. „Als wärst du so viel besser.“

Er schmunzelt verschmitzt. „Bin ich wirklich so geheimnistuerisch?“

Ich hebe bloß die Augenbrauen.

Er seufzt theatralisch. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Meine Familie war perfekt, meine Eltern haben mich jeden Schritt meines Lebens unterstützt, und durch harte Arbeit habe ich meine Ausbildung vollendet und bin Anwalt geworden.“

Ich verdrehe die Augen. Val grinst mich an wie ein Schuljunge.

„Vielleicht war das ein bisschen gelogen“, gibt er zu. Er leert seinen Becher und stellt ihn auf den Rand eines Mülleimers, der bereits mit ähnlichen Papiertassen übergeht. „Vielleicht war unsere Mutter schrecklich.“

Ich werfe meinen eigenen Becher weg, lehne mich neben ihn an den kahlen Baum und warte schweigend ab.

„Joyce war immer das Glaskind,“ sagt er langsam. Ich hake meinen Arm in seinen und lasse Wärme in ihn hochkriechen. „Ich immer der Sündenbock. Sie hat sich trotzdem immer um mich gekümmert, auch wenn sie nur ein paar Minuten älter ist.“

Mein Daumen fährt über seinen Handrücken, streicht über das Gesicht des tätowierten Engels. Die Haut darunter ist uneben, Krater und Hügel.

Eigentlich passen die Tattoos gar nicht zu Val; sein ganzes Image beruht darauf, dass Leute ihn für harmlos halten, dass er immer lächelt und nickt und höflich ist. Ja, das Piercing passt auch nicht dazu, aber es scheint nicht wie etwas, das er sich mit einem klaren Kopf zugelegt hat, und außerdem ist es nicht auf den ersten Blick sichtbar. Aber die Tattoos? Er hat gesagt, Joyce hat sie gestochen. Die waren keine Rauschentscheidung, und jeder kann sie sehen.

Dann, während ich den Rand einer der Erhebungen befühle, erinnere ich mich, woher ich weiß, dass meine Familie Suchtprobleme hatte.

Die Erinnerung ist nicht vollständig. Ich habe keine Ahnung, wie alt ich war, oder was wir gerade gemacht haben, aber ich war mit Mama in der Küche. Und ich habe ihren Unterarm berührt und genau so eine Unebenheit gefunden. Als ich sie danach gefragt habe, hat sie sich zu mir herunter gehockt und auf einmal in dieser ernsten Stimme gesprochen.

Du wirst irgendwann dort draußen sein, hat sie gesagt, Wenn du älter bist und das Feuer unterdrücken kannst. Weißt du, was eine Zigarette ist?

Ich habe bejaht. Zwar durfte ich nicht raus, aber im Internet war ich schon in jungen Jahren viel, und auch von Filmen habe ich einiges gelernt.

Die sind süchtig machend, hat sie mir erklärt, Bei uns ist es sehr schlimm. Bei mir, und bei meiner Mutter, und meiner Mutter’s Mutter. Bei mir haben zwei Zigaretten gereicht, dann war ich süchtig.

Dann wollte ich natürlich wissen, was das mit dem Mal auf ihrem Arm zu tun hatte. Sie hat gezögert. Deine Oma hat herausgefunden, dass ich mein Taschengeld für Zigaretten ausgegeben habe, und hat eine auf meinem Arm ausgedrückt. Danach habe ich nie wieder eine angerührt. Versprich mir, dass du von sowas fernbleibst.

Es sind Brandnarben, verursacht durch Zigaretten— dutzende davon, kreisrund auf seinen Handrücken, verdeckt von seinen Tattoos.

„Wir sind weggelaufen“, sagt Val, zögert, schüttelt den Kopf. „Ich bin weggelaufen. Joyce hat nach mir gesucht. Wir wurden getrennt, haben jahrelang nacheinander gesucht…“

„Ich weiß, wie das ist.“ Ich lehne meinen Kopf gegen seine Schulter. „Es ist Scheiße.“

Val lacht leichtherzig und neigt den Kopf in meine Richtung. Kurz legt er sein Kinn auf meinen Scheitel, dann schließt er die Augen und atmet tief durch die Nase ein.

„Unsere Mutter haben wir beide nie wieder gesehen“, murmelt er gegen meine Haare. „Wahrscheinlich trinkt und raucht sie sich immer noch zu Tode. Oder ihre Leber ist eingegangen.“

Ich lache. „So einen gnädigen Tod hat sie nicht verdient. Soll ich Red fragen, ob er—“

„Nein.“ Er schüttelt seinen Kopf. „Ich wollte vor Jahren einmal zu ihr zurück und sie konfrontieren. Aber ganz ehrlich? Sie ist die Mühe nicht wert.“

„Amen“, sage ich.

Val zögert, dann grinst er. „Ich bin froh, dass ich Joyce habe. Ohne sie… ich glaube, ich hätte nie aufgehört, Rache zu wollen, und wäre daran zerschmettert. Ich kann mir keine bessere Schwester vorstellen.“

„Ich sag ihr das“, sage ich und grinse ihn frech an.

„Wehe dir!“

Ich strecke ihm die Zunge heraus.

Wir gehen weiter entlang des Weges zwischen den Verkaufsständen. Es riecht alle paar Schritte anders, und immer gut. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

Unbewusst streiche ich wieder über seinen Handrücken. Mein Daumen fährt Slalom zwischen den Narben. Soll ich überhaupt etwas sagen? Wenn er wollte, dass ich weiß, was unter seinen Tattoos ist, hätte er es mir selbst verraten.

Anstatt eines Kommentars hebe ich seine Hand und hauche einen Kuss auf den Engel, der auf seinem Handrücken sitzt.

Val grinst breit und wird dunkel um die Wangen. „Wofür war das?“

„Blöder Grund.“

Er hebt fragend seine Augenbrauen in meine Richtung.

„Ich wollte einfach.“

Wir gehen an einem besonders bunten Stand vorbei. Ein durchlöcherter Styroporblock hält mehrere Stäbchen, an denen riesige Wolken Zuckerwatte haften. Ich kann mir ein freudiges Aufatmen nicht verkneifen. Val fragt nicht einmal nach, meine Antwort ist offensichtlich.

Mein Blick wandert, während der Angestellte hinter dem Tresen rosaroten und gelben Zucker auf einen Stab dreht. Ich lasse Val kurz los und durchstöbere das Inventar eines anderen Standes, auf einer wichtigen Mission.

Als ich zurück zu Val komme, reiche ich ihm eine Papiertüte im Austausch für die Zuckerwatte. Er hebt verwirrt die Augenbrauen und zieht das heraus, was ich für ihn gekauft habe— eine Decke, die er neugierig entfaltet. Dann verdreht er die Augen und seufzt. Das Muster aus Wölfen und Schneeflocken auf grellblauem Hintergrund ist absolut grässlich.

„Als Ersatz für die, die ich verbrannt habe“, flöte ich und beiße von der Zuckerwatte ab.

„Danke“, seufzt er und stopft sie zurück in die Tüte.

„Die können wir uns heute Abend teilen, wenn du willst“, schnurre ich ihm zu.

„Das würde wahrscheinlich besser ankommen, wenn sie nicht so hässlich wäre.“

Wir bleiben ein weiteres Mal stehen, um Maroni zu probieren, und dann ein weiteres Mal für Lebkuchen. Wir teilen immer Hälfte-Hälfte, und ich bemerke erst beim letzten Stück Lebkuchen, dass Val mich beim Essen beobachtet.

„Hab ich was im Gesicht?“, frage ich und wische über meine Mundwinkel.

„Nein.“ Er schmunzelt. „Du bist nur süß.“

Ich rümpfe die Nase. Val lacht auf.

„Schleimer“, nuschle ich.

„Ich mein’s ernst“, beharrt er. „Man sieht dir alles an. Deine Gefühle springen von deinem Kopf gleich auf dein Gesicht.“

„Ich dachte, das macht mich zu einer schrecklichen Lügnerin. Ist das nicht etwas Schlechtes?“

„Manchmal“, stimmt er zu. „Manchmal heißt es, das so etwas kleines wie Zuckerwatte dir Sterne in die Augen zaubert.“

Mir bleiben jegliche Antworten in der Kehle stecken.

„Heute mag ich es besonders. Wie du die ganzen Lichter angestaunt hast war so verdammt niedlich“, redet Val weiter, „Selbst die einfachsten Sachen machen dich glücklich, und du lächelst so, als wäre es der beste Tag deines Lebens. Wenn ich könnte, würde ich nie damit aufhören, dir Dinge zu schenken.“

Meine Wangen werden brennheiß. Ich vergrabe mein Gesicht bis zur Nase in dem rosaroten Schal. Es hilft nicht, dass er nach Vals Cologne riecht.

„Süß“, sagt er kurz angebunden.

„Klappe.“

„Lass mich dich noch ein Mal verwöhnen. Dann schwöre ich, dass ich für dich heute kein Geld mehr ausgebe“, sagt er beschwichtigend.

Ich gehe ihm nur schweigend nach, während er zu einem der Stände geht. Es sind dutzende Holzfiguren, Anhänger und Schmuckstücke ausgelegt, kleine bemalte Figuren, Gold, Silber, Holz und Leder, Ringe, Armbänder, einige Uhren. Vier Schnitzereien davon fallen mir sofort ins Auge, von denen ich sofort weiß, dass sie das Trio und Joyce lieben würden; ein Frettchen für Glitzer, ein Hund mit wütenden kleinen Augenbrauen für Soren, ein Bär für Nick, eine Maus für Joyce. Ich bin verleitet, für Val einen Wolf zu kaufen, doch während es viele Hunde gibt, ist kein einziger dabei. Stattdessen suche ich etwas anderes aus.

„Hier.“

Ich stecke das Wechselgeld ein und wende mich wieder zu Val. Er streicht meine Haare hinter meine Schultern und legt mir eine feine goldene Kette um den Hals. Kurz rasten seine Handgelenke an meinen Schlagadern, während er sie schließt, und ich bin mir sicher, er kann mein Herz rasen spüren. Vielleicht ist es seines. Es ist schwer zu bestimmen.

Als die Kette geschlossen ist, streicht Val meine Haare wieder zurück und hebt leicht mein Gesicht an. Er richtet den Anhänger gerade; es ist eine kleine goldene Sonne.

„Ich hab’s gesehen und musste sofort an dich denken“, sagt er sanft.

Ich hebe die Augenbrauen und schnaube amüsiert. „Eher bin ich eine brennende Mülltonne. Oder ein Waldbrand. Vielleicht ein Hausfeuer.“

Sein Blick und seine Finger ruhen noch immer auf dem Anhänger. er lächelt träumerisch. „So zerstörerisch? Ich fühle mich immer nur wohl und warm, wenn ich bei dir bin, mon petit soleil.“

Schon wieder steigt mir die Hitze ins Gesicht. Ich nehme sanft Vals Hand von der Kette in meine. Er will unsere Finger verschränken, doch ich halte ihn davon ab und stecke einen Ring auf seinen Mittelfinger. Silber, elegant, mit allen Phasen des Mondes im Band und einem Sichelmond als Motiv.

Ein breites Lächeln schleicht sich auf Vals Gesicht. „Danke.“

„Danke zurück“, sage ich und verschränke unsere Finger.

Das warme Gefühl in meinem Bauch verglüht nicht, egal wie lange wir durch die Kälte gehen. Je länger wir unterwegs sind, desto offensichtlicher wird Vals humpeln; anfangs ist es bloß ein leichtes Zögern, bevor er mit dem linken Fuß auftritt, doch es wird immer offensichtlicher. Zeitgleich werden die Schmerzen an meiner Wange und meinen Händen immer schlimmer, doch ich sage nichts.

Wir kommen eventuell am großen Baum in der Mitte an. Er ist von oben bis unten bunt beleuchtet und mit goldenen Girlanden dekoriert. Ich recke meinen Kopf, damit ich bis nach ganz oben sehen kann. Das ganze Geglitzer lässt mich die Schmerzen kurz vergessen.

„Ich bin zwar nicht gläubig, aber…“, murmelt Val.

„Ja.“ Ich lehne mich gegen seine Schulter. „Warst du als Kind oft auf Weihnachtsmärkten?“

Er schüttelt den Kopf. „Nur ein Mal. Unsere Mutter hat mich und Joyce vergessen. Wir sind auf einer Bank eingeschlafen, während sie sich mit Freunden betrunken hat.“

Ich rümpfe die Nase.

„Du gar nicht?“, fragt Val nach.

„Überhaupt nichts“, sage ich. „Meine Mutter hat mich versteckt, damit die ZEFHA mich nicht kriegt. Ich glaube, ich war nie draußen.“

Es wird still. Ich beiße mir auf die Zunge und verfluche mich innerlich dafür, so die Stimmung abzuwürgen.

„Stell dir vor, wir hätten gewusst, was mit uns passiert“, witzelt Val. „Wir hätten das nie geglaubt.“

„Realistisch müsste ich entweder ich wäre in einer Zelle sein, oder noch immer daheim eingeschlossen, oder tot. Wenn ich Glück gehabt hätte, vielleicht hätte ich das Feuer unterdrücken können und hätte den Rest meines Lebens mit der Angst verbracht, erwischt und weggesperrt zu werden.“

„Ich hätte Anwalt sein sollen“, sagt Val und hebt die Brauen. „Mein ganzes Leben Kriminelle verteidigen oder bestrafen.“

„Also das, was du heutzutage auch machst?“, necke ich ihn.

„Dafür musste ich nie Jura studieren.“

Ich lache leicht. „Was wolltest du wirklich machen?“

Er überlegt kurz. „Dirigent.“

Überrascht sehe ich zu ihm auf. Er grinst verträumt. „Ich hab eine formelle musikalische Ausbildung in Geige“, erklärt er, „Aber ich wollte immer dirigieren.“

„Kann ich mir gut vorstellen.“

Er schnaubt. „Wirklich?“

„Musiker oder eine Gang leiten kann doch nicht so unterschiedlich sein, oder?“

Val lacht. „Ich wünschte, diese Chaoten würden sich so einfach anleiten lassen wie ein Orchester.“

„Ich finde, du machst es gut, Maestro“, schnurre ich ihm zu.

Seine Wangen werden dunkel. Er sieht mit einem unlesbaren Gesichtsausdruck auf mich herunter und beißt sich auf die Lippe, dann legt er seine Hand an meine Wange. Für einen schwindligen Moment glaube ich, dass er mich küssen möchte, doch sein Daumen streicht über meine Haut und er sagt, „Deine Narbe.“

Ich greife auf meine Wange, ziehe mein Telefon, überprüfe mein Gesicht mit der Rückkamera. Der Schnee, die Feuchtigkeit meines Atems und das Reiben des Schals haben die untere Hälfte des Make-Ups weggewischt.

„Der schöne Schal“, murmle ich traurig.

„Den kann man waschen. Aber vielleicht sollten wir das verstecken.“

Wir gehen aus dem Lichtkreis des Weihnachtsbaumes und setzen uns auf eine Bank, die glücklicherweise überdacht und somit nicht mit Schnee bedeckt ist. Val löst den eleganten Knoten im Schal, bauscht ihn um meine Wangen auf, steckt ihn in den Kragen. Ich versuche, nicht die ganze Zeit seinen Mund anzustarren. Schlussendlich zupft er die rechte Seite zurecht, bis alles verdeckt ist. Währenddessen, trotz seines überzeugenden, perfekten Lächelns, werden seine Augen immer trauriger.

„Was ist?“, frage ich, lege meine Hand auf seine und drücke meine Wange gegen seine Handfläche.

Er zögert. „Es tut mir Leid, dass wir dich zu Nicht-Ich geschickt haben.“

„So weit waren wir schon einmal,“ witzle ich.

„Ich mein’s ernst.“ Er streicht mit dem Daumen unter meinem Auge. „Joyce macht das Ganze wahnsinnig. Mich auch.“

„Ich hab die Kontrolle verloren,“ sage ich.

„Und warst wegen uns überhaupt dort.“ Er nimmt meine Hand und drückt sie leicht. „Bitte, versuch nicht, das auch noch zu deiner Schuld zu machen. Du hast wegen uns ein Auge verloren.“

„Ich war vorher schon halb blind und vernarbt. Nicht-Ich hat nur eine Narbe gegen eine andere ausgetauscht.“

„Die Schmerzen hättest du trotzdem nicht ertragen müssen.“

„Ich hab schlimmeres überlebt“, sage ich. Als Val widersprechen will, lege ich ihm zwei Finger auf den Mund. „Shh. Vergeben und vergessen.“

Er lächelt sanft. Ich nehme meine Finger von seinen Lippen. Einen irren Moment lang will ich meine eigenen auf dieselbe Stelle legen.

„Wie geht’s dir mit den Schmerzen?“, fragt er.

„Erträglich“, sage ich kurz angebunden. „Wie geht’s dir mit deinen?“

Val sagt nichts. Sein Gesichtsausdruck ist undurchschaubar wie immer.

„Tu gar nicht so“, sage ich.

Er lehnt sich zurück und streckt sein Bein aus. Sein Knie knackt dabei hörbar. „Erträglich“, echot er, dann seufzt er. „Schusswunde“, erklärt er.

„Fuck“, murre ich.

„Mhm“, stimmt er wortlos zu. „Als ich jünger war, hab ich mich mit jemandem aus einer feindlichen Gang angelegt. Er hat mich zusammengeschlagen und mir ins Knie geschlossen.“

„Heilige Scheiße.“

Val grinst frech. „Ich hab später Handschuhe aus ihm gemacht.“

Ich sollte nicht, doch ich lache trotzdem. Hin und wieder vergesse ich, wie gefährlich Valentin wirklich ist, weil er zu mir doch so höflich ist. Er kann doch keiner Fliege was zuleide tun.

„Komm her“, sage ich und rutsche näher zu ihm.

Er sieht mich nur erwartend an. Ich reibe die Hände zusammen, wärme sie, bis sie heiß sind, und lege dann eine davon auf sein Knie.

Die Reaktion passiert sofort und himmlisch. Val seufzt. Seine Schultern entspannen sich, sein Kopf fällt zurück, er schließt seine Augen. Ein wohliges Geräusch kommt aus seiner Kehle. Mir läuft ein angenehmer Schauder den Rücken hinunter.

„Gut?“, frage ich. Mein Mund ist plötzlich trocken.

„Sehr.“

Langsam schiebe ich meine Hand ein Stück nach oben und drücke leicht. Vals Atem stockt. Er beißt sich auf die Lippe, macht wieder dieses Geräusch. „Wenn es nicht so kalt wäre, würde ich dir sagen, du sollst weitermachen.“

Ich lache verdutzt auf und lasse stattdessen Wärme in sein Knie einfließen. Mich juckt es danach, meine andere Hand auf meine Wange zu legen, um die mittlerweile pochenden Schmerzen aus meinem Gesicht zu vertreiben, aber ich möchte das Make-Up nicht verwischen.

„Bei dir wird es auch schlimmer, wenn es kalt wird, hm?“, frage ich.

Val nickt. Er scheint komplett geistesabwesend.

„Tut dir das Gehen nicht weh?“, fahre ich mit zusammengezogenen Brauen fort.

„Ja.“

„Wieso bist du dann hier?“

Er öffnet die Augen wieder und setzt sich auf, auf seine Hände gestützt. Einen Moment ist er still, dann legt er den Kopf leicht schief und fragt, „Willst du nach Hause?“

„Bitte, ja, meine Wange bringt mich um.“

„Gehen wir.“

Wir stehen auf, ich helfe ihm dabei. Wir verlassen den Platz mit verhakten Armen.

„Weißt du, anfangs dachte ich, dass das ein echt seltsamer Ort ist, um Fische zu treffen“, stichle ich.

„Fische“, wiederholt Val.

„Du hast mich zum Ball auch nur mitgenommen, weil dort wichtige Leute waren.“

Ich kann nicht leugnen, dass es eine nachtragende Bemerkung ist. Trotzdem muss ich zufrieden grinsen, als Val schuldig dreinschaut.

„Ich wollte mit dir tanzen“, gibt er zu.

Ehrlich bereue ich es, dass wir nicht dazu gekommen sind. „Ich auch.“
„Nächste Saison“, versichert er mir. „Und ich schwöre, ich hatte heute keine Fische geplant.“

„Wirklich?“

„Wirklich“, stimmt er zu. „Außer, du willst Leidinger unbedingt so schnell wie möglich finden. Dann rufe ich noch schnell jemanden an.“

Es ist bloß ein Witz, aber…

Geistesabwesend kaue ich auf der Innenseite meiner Wange herum. Ich habe mir selbst immer wieder gesagt, dass ich es später machen könnte. Nachdem ich Red wieder habe, nachdem Elias wieder da ist, nachdem ich mir sicher war, dass es Thana und Quinn gut geht, nachdem ich all mein Geld für Erna gespendet habe. Wie lange schiebe ich es schon vor mir her?

„Ich verstehe, was dir durch den Kopf geht“, sagt Val beruhigend, als er mein Zögern bemerkt. „Ich war in einer ähnlichen Situation. Vertrau mir, wir werden Leidinger so schnell wie möglich finden, damit du es hinter dich bringen kannst. Danach kannst du es einfach vergessen und musst nie wieder daran denken.“

„Ich glaube“, sage ich langsam, „Ich will nicht mehr.“

Val bleibt verdutzt stehen. Ich tue es ihm gleich.

Als das Heim abgebrannt ist und ich herausgefunden habe, dass ich jemanden für alles verantwortlich machen kann, habe ich mich an Rache geklammert, bis meine Finger darum festgefroren sind, weil es alles war, was ich noch hatte. Sie war das Einzige, das mich noch angetrieben hat. Hätte ich mich mit sechzehn Jahren nicht mit Leib und Seele der Idee vermacht, Leidinger zu töten, wäre ich gestorben, bevor ich aus dem Wald gekommen wäre.

Jetzt brauche ich sie nicht mehr. Es gibt andere Gründe zu leben, und die habe ich mir ständig verboten, weil die Suche nach Leidinger immer Vorrang hatte.

Und ich weiß, ich sollte mich schuldig fühlen. Schulde ich es nicht meinen Eltern, meinem Bruder? Macht es einen Unterschied, was ich will, oder muss ich das tun, was richtig ist? Doch überraschend ist, dass ich nicht die geringste Menge Schuld fühle. Meine Familie hätte nie gewollt, dass ich mich dafür so aufgebe.

Es würde mir so viel abverlangen. Sie alle zurückzulassen, mein Leben zu riskieren. Ich kann es nicht mehr. Ich kann nicht mehr auf ein Ziel zuarbeiten, das ich nicht mehr will— und nicht mehr brauche.

Aber kann ich es? Ich habe mich so lange von Rache und Hass leiten lassen. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich ohne sie leben kann.

Bin ich stark genug um weiterzumachen, oder mutig genug aufzuhören?

„Du würdest uns wirklich nichts schulden“, versichert mir Val mit einem dringlichen Ton in seiner Stimme. „Ich will genauso wie du, dass du endlich deine Rache bekommst. Ich will dich damit nicht in meine Schuld stellen.“

Ich blinzle überrascht. „Glaubst du, das ist mein Problem?“

Er sagt nichts.

„Ich hab dir schon beim ersten Mal geglaubt“, beschwichtige ich ihn.

„Du warst in letzter Zeit nicht sehr enthusiastisch. Ich dachte, du hättest immer noch Angst, wir würden dich damit festhalten wollen.“

Ich schnaube. „Ich hab vor gar nichts Angst.“

Die Aussage bringt Val zum kichern. Mir gefällt das Geräusch.

„Ich kann einfach nicht mehr“, seufze ich. „Nicht weiter einem Geist hinterherrennen, alles andere vernachlässigen. Ist mal an der Zeit, dass ich was mache, was ich will. Die Jahre nachholen, in denen Red und Elias und ich getrennt waren. Mit Quinn und Thana einmal ausgehen. Fuck, einfach mal einen Tag lang nichts tun und schlafen.“

Val sagt nichts. Es ist wieder einer dieser Momente, in denen ich sein stures, undurchsichtiges Lächeln verfluche. Wer weiß, was er von all dem Scheiß hält?

Kurz kämpfe ich darum, dann bringe ich schließlich ein, „Es tut mir Leid“ zustande.

„Nein.“ Er lächelt sanft. „Nein, ich finde es gut. Ich habe zu oft zusehen müssen, wie Leute sich für Rache in Stücke gerissen haben.“ Er nimmt meine Hand und drückt sie sanft. „Du hättest beinahe dazugezählt.“

„Danke.“ Ich drücke zurück. „Für alles.“

Wir verlassen den Wintermarkt. Die Straßen sind sanft von den Lichterketten beleuchtet, weicher Schein vergoldet den Schnee. Große Flocken fallen wieder vom Himmel, streichen über mein Gesicht.

„Du musst nicht bleiben“, sagt Val plötzlich.

Ich sehe zu ihm hoch. Da ist etwas in seinen Augen, ein Konflikt, den ich so noch nie bei ihm gesehen habe. Seine Lippen sind geöffnet, doch er braucht einen Moment, um weiterzusprechen. „Du hast mir gegenüber— mir und Joyce gegenüber keine Verpflichtung.“

„Das weiß ich.“

„Du kannst gehen, wenn du willst“, sagt Val. „…willst du?“

„Willst du?“ Mir läuft es am ganzen Körper heiß auf. Mein Herz rast in meinen Ohren. Selbst mein Atem scheint plötzlich zu kochen. „Willst du, dass ich gehe?“

„Es steht dir frei“, sagt Val ausweichend.

„Das war nicht meine Frage.“

„Gott, nein“, sagt er hastig. „Nein. Ich will, dass du bleibst.“

„Als taktischer Vorteil?“, necke ich ihn.

„Weil ich dich bei mir haben will. Bitte.“

Unwillkürlich lächle ich, schubse ihn mit der Schulter und gehe weiter, werfe ihm dabei einen Blick zu. „Kein Grund zu flehen, heb dir das für’s Schlafzimmer auf. Ich hab dir doch gesagt, ich mach jetzt nur das, was ich will. Und ich will bleiben.“

Val holt zu mir auf und schenkt mir ein sanftes Lächeln. Etwas ähnliches wie Erleichterung liegt in seinem Blick. „Gibt es sonst noch etwas, das du willst?“

Kurz überlege ich. Dann stelle ich mich direkt vor ihm in den Weg, gehe auf die Zehenspitzen, lege meine Hände an sein Gesicht, ziehe ihn sanft zu mir und küsse ihn.

Sein Mund ist überraschend warm. Für einen Augenblick kann ich die Zuckerwatte schmecken, die wir uns geteilt haben, dann löse ich mich von ihm.

Ich sollte etwas sagen. Mir fällt nichts ein.

„Ich…“, stottere ich heraus.

„Fuck, ich auch“, seufzt er.

Dann sind seine Lippen wieder auf meinen. Eine seiner Hände liegt auf meinem unteren Rücken, die andere an meiner Wange. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und versinke in dem Kuss. Wieder glüht diese unglaubliche Wärme in meiner Brust, als hätte ich ein Stück Sonne geschluckt. Ein Kribbeln geht durch mich, von meinem Scheitel bis in meine Zehenspitzen.

Ich verweile, bis mir der Atem ausgeht und mir schwindelig wird.

Nur widerwillig lasse ich von ihm ab. Heiße Wolken steigen zwischen uns auf, während wir beide versuchen, wieder Luft zu bekommen. Ein duseliges Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus, und auch Val sieht ein wenig aus, als wäre er betrunken. Die Lichterketten um uns beleuchten ihn himmlisch, und für einige lange Sekunden kann ich einfach nicht wegsehen.

„Wir sollten weitergehen“, murmle ich, ohne mich zu bewegen.

„Wir sind gleich da“, sagt er.

„Mhm.“

Erst als eine besonders fiese Windböe meine Haare in mein Gesicht wirft, lasse ich los. Val lacht, streicht sie aus meinem Gesicht. Seine Fingerspitzen bleiben kurz an meiner vernarbten Wange hängen.

Der Rest des Weges scheint bloß wenige Sekunden zu dauern, auch wenn das nicht stimmen kann. Unsere Finger sind verschränkt, ich stelle sicher, dass keinem von uns beiden kalt wird. Dann sind wir im Wohngebäude, dann im Aufzug. Wir werfen uns aus dem Augenwinkel einen Blick zu und brechen gleichzeitig in Gelächter aus.

So habe ich mich seit einer Ewigkeit nicht mehr gefühlt— als wäre ich ein Teenager. Taumelig, schwindelig, kindisch. Val und ich lehnen uns aneinander, damit wir nicht umfallen.

Der Aufzug hält, öffnet sich. Wir gehen auf den Flur und in seine Wohnung. Ich habe seit dem Kuss nicht aufgehört zu lächeln.

Val und ich ziehen unsere Stiefel an der Tür aus. Als ich zum Schal greifen will, kommt er mir zuvor.

„Muss ich überhaupt noch etwas sagen?“, frage ich.

„Zwei funktionierende Arme“, sagt er, löst die Knöpfe meines Mantels als nächstes und hilft mir beim ausziehen. Ich summe zustimmend und wickle seinen Schal ab.

„Es ist spät. Du kannst bei mir übernachten“, sagt er, während ich seine Jacke abnehme. „Willst du schlafen?“

Er möchte sich abwenden, aber ich bin nicht fertig.

Sachte drücke ich meine Handflächen gegen seine Schlüsselbeine. Er folgt dem Druck ohne Widerstand, prallt gegen die Wand und sieht mich mit großen Augen und geweiteten Pupillen an.

Ich streiche entlang seiner Brust, bis ich den obersten Knopf seines Hemds aufmachen kann. Sein Blick trifft meinen. Der winzige Abstand zwischen uns knistert.

„Nicht alleine“, murmle ich.

Sein Atem stockt. Innerhalb eines Blinzelns legen seine Hände auf meinen Hüften. Ich komme ihm zuvor und küsse ihn.

Irgendwie, durch viel Gestolper und an Wänden Entlangfühlen, finden wir unseren Weg ins Schlafzimmer. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss.

Teil 7.17

In der Nacht finde ich heraus, wie Vals Piercing aussieht.

Teil 7.18

Joyce wirft einen einzigen Blick auf mich, verdreht ihre Augen und seufzt, „Na endlich.“

Ich grinse sie verschmitzt an. „Hast du so auf uns gewettet?“

„Nein“, schnaubt sie, „Aber wenn ich Val noch ein Mal hätte zuhören müssen, wie er über dich schwärmt, hätte ich mir eine Kugel zwischen die Augen gesetzt.“

„Mein tiefstes Beileid. Es wird nur schlimmer werden.“

Sie klatscht sich die Hand an die Stirn. „Ob das möglich ist…“

Ich kichere. Joyce nimmt meine Hand und legt zwei Schachteln hinein. Als ich sie fragend ansehe, zuckt sie mit den Schultern. „Du hast gesagt, du möchtest die. Ich persönlich hätte mir coolere bestellt. Mit Sternen oder Punkten oder so.“

Ich öffne die erste Schachtel. Eine Augenprothese im selben Blau wie die Augen meines Vaters liegt darin. In der zweiten ebenfalls eine, im Braun der Augen meiner Mutter.

Unwillkürlich grinse ich. „Danke.“

Joyce lächelt zurück. Dann greift sie an mein Kinn, lehnt meinen Kopf zur Seite und pfeift anerkennend. „Ich nehme an, euer Date war erfolgreich?“

„Und wie“, schnurre ich mit zweideutigem Unterton.

Joyce verzieht das Gesicht. „Ich brauche keine Details.“

„Würde ich dir nie antun.“

Sobald sie mich wieder loslasst, stelle ich mich vor den dreckigen kleinen Spiegel, der im Hinterraum der Basis neben dem Sofa hängt. Mein Blick wandert ein Stück nach unten, wo einige ansehnliche Knutschflecken an meinem Hals prangern. Wieder muss ich grinsen.

„Während du Sex-Flashbacks hat, nehme ich mal die Gelegenheit und verziehe mich“, murrt Joyce hinter mir.

„Warte.“

Sie bleibt im Türrahmen stehen und wirft mir einen fragenden Blick zu.

Kurz hängt meine Hand unentschieden über den beiden Schachteln, dann nehme ich die blaue Prothese und setze sie ein. Ich sehe ohnehin aus wie ein Klon meiner Mutter. So kann ich wenigstens einen Teil meines Vaters mit mir tragen. „Von einer Skala von eins bis zehn, wie beschäftigt bist du?“

Sie schürzt die Lippen. „So um eine gute zwei.“

„Wenn ich dir schwöre, kein Wort über das Date zu verlieren, kannst du mich schnell wo hinbringen?“

Joyce nickt.

Mein Zuhause ist nichts mehr als eine verrußte, ausgehöhlte Ruine. Der Grundriss steht noch, trotzig gegen Wind und Wetter gerichtet, und versucht mich zu überzeugen, dass es ehemals das Haus war, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin.

„Soll ich mitgehen?“, fragt Joyce sanft.

Ich schüttle den Kopf. Das muss ich alleine machen.

Ich öffne die Wagentür und steige aus. Und genau dort bleibe ich wie angewurzelt stehen.

Die Asche und der Dreck wurden immer wieder von Regen und Schnee in das Material gewaschen und von der Sonne getrocknet. Nun ist alles, was davon bedeckt war, dunkel gefärbt und gleichzeitig verblasst, ein schwarz-weiß Bild, als hätten meine abwesenden Erinnerungen es langsam aus der Realität geschrubbt.

Der Kontrast zwischen den Häusern auf der Straße ist surreal. Zu der Linken und Rechten der Hausleiche stehen perfekte, saubere kleine Häuschen, frisch angemalt, ihre Gärten gepflegt und von Schnee bedeckt. Im Vergleich dazu scheint mein Zuhause wie ein Loch, in das man nur hineinstolpern kann, eine Zahnlücke in einem perfekten Lächeln.

Verwittertes Polizei-Absperrband umrandet das Gelände. Ich habe nicht den leisesten Zweifel dass, wäre dies das Haus irgendeiner anderen Familie, es bereits abgerissen wäre— das Gelände aus meinem Eigentum entmündigt, verkauft, die letzte und einzige Stätte meiner vergangenen Erinnerungen von der Welt entfernt und von einem lieben, sauberen, intakten Haus ersetzt.

Aber es ist nicht das Haus irgendeiner anderen Familie. Es ist meines. So wird die ZEFHA es so lange hier behalten, bis sie sich sicher sind, dass sie mich damit nicht mehr anlocken noch erpressen können.

Zeig uns dein Feuer. Wir lassen dich wieder aus deiner Zelle, und du darfst einen Spaziergang in der Leiche deines verlorenen Lebens machen.

Es vergeht zu viel Zeit, bevor ich mich wieder bewegen kann. Joyce’ Blick brennt in meinem Nacken.

Erst knirscht Schnee unter meinen Füßen, dann Trümmer. Ich versuche mir vorzustellen, wie das Haus vorher ausgesehen hat, und betrete es dort, wo früher die Eingangstür war.

Die Erinnerungen kommen langsam und sanft wieder zu mir zurück. Es geht kein Ventil in meinem Kopf auf, durch das plötzlich alles hineinflutet, keine plötzlichen Bilder, die vor meinem inneren Auge aufflackern— eher ist es ein sanftes Auffrischen dessen, was ich ohnehin schon wusste. Keine Überraschung, nur… Bestätigung.

Die Eingangshalle war früher babyblau gestrichen. Es war die Lieblingsfarbe meines Vaters. Ich strecke meine Hand aus und streiche über Jacken und Mäntel, die dort nicht mehr hängen können, weil es keine Wand mehr gibt, die die Garderobe halten könnte. Ich stolpere nicht über mehrere Paar Schuhe, wie ich es sollte. Stattdessen gehe ich ungehindert in das Wohnzimmer.

Es war früher mit warmen Farben gefüllt. Es war hell gestrichen, die Möbel waren aus dunklem Holz und mit Rot-, Orange- und Gelbtönen gepolstert. Papa’s Zimmerpflanzen waren hier, manche von ihnen meterhoch. Außer den Scherben der Töpfe ist nichts mehr da.

Ein runder Tisch aus Holz wäre in der Mitte gestanden, immer vollgeräumt mit den Spielzeugen meines Bruders, oder mit Besteck und Essen, oder mit Zetteln von Mama’s Arbeit. Nun ist davon nur ein Bruchteil einer vom Feuer zerfressenen Tischplatte übrig.

Dort, wo das Sofa war, ist nun ein Haufen Schaumstoff, teils mit dem Boden verschmolzen. Von der Polsterung, die über und über geflickt war, ist nur noch ein kleiner Fetzen übrig, der im Schaumstoff steckt. Ich streiche mit den Fingern über den Faden, orange auf rot. Mama und Papa sind hier öfter eingeschlafen, Arm in Arm, während der kleine Fernseher noch gelaufen ist.

Erst dann erinnere ich mich, wieso das Sofa überhaupt geflickt werden musste; zu meinem Geburtstag vor dem Unfall haben mir meine Eltern ein Kätzchen geschenkt, damit ich weniger einsam bin. Ich hab es Puchki benannt. Sie hat das Sofa als Kratzbaum verwendet.

Jetzt hat es mehr Farben, hat Mama gesagt, während sie die Krallenspuren zugenäht hat, Sieht doch lustig aus.

Ich beiße mir auf die Zunge und sehe mich um. Wenn ich raten müsste, ist Puchki genau so wie der Rest meiner Familie weg.

Widerwillig reiße ich mich von dem, was von dem Sofa noch übrig ist, weg. Daneben wäre der gemütliche Ohrensessel gestanden, in dem Papa immer gelesen hat. Mein Bruder und ich haben immer gemeinsam darin Platz gehabt. Ich kann gerade noch so einige Fetzen Leder im Gerümpel erkennen.

Mein Bruder und ich haben früher Stundenlang am Boden davor gespielt. Die Vorhänge waren dabei stets zugezogen, aber es hat uns nicht gestört. Besonders nicht wenn Mama und Papa mitgespielt haben.
Die Regale an der Wand stehen überraschenderweise noch, doch angeschwärzt, und die Bücher darin sind bloß noch Asche. Von Papa hatten wir welche in Englisch, von Mama einige in Hindi, von beiden und für uns einige in Deutsch.

Um vom Wohnzimmer in die Küche zu kommen, muss ich über einen gefallenen Deckenbalken klettern. Asche klammert sich an meine Hände.

Hier hat mehr überlebt. Der Ofen muss unter der Hitze entweder explodiert sein, oder wurde absichtlich so manipuliert, dass er hochgeht, denn vier Linien von Brandspuren ziehen sich über den Boden, die Theken und über die Wand wie eine Verhöhnung eines Sterns, der Licht schluckt, anstatt es herzugeben.

Die Scheibe des Fensters, das auf die Straße hinaussieht, ist zu winzigen Scherben zerschmettert, die in der Asche funkeln und unter meinen Schuhen knirschen und knacken. Dafür haben die Küchentheken, der Kühlschrank und das Waschbecken ziemlich gut überlebt.

Ich hab meinen Eltern öfter beim Kochen geholfen. Als ich gerade mal groß genug war, um über die Theken herauszuragen, hatte Papa mal einen Topf Nudeln am Ofen. Die blauen Flammen darunter waren so schön— sie haben mich gerufen. Ich habe danach gegriffen, und plötzlich waren es keine gezähmten kleinen Flämmchen mehr, die fröhlich vor sich hingeflackert haben, sondern gewaltige Stichflammen. Meine ganze Hand war verbrannt. Ich weiß noch, dass Mama und Papa mich danach beide im Arm hatten, während ich meine Hand unters kalte Wasser gehalten habe.

Asche und Ruß verschmieren sich über meine Hose und Schuhe, als ich zurück über den Balken hüpfe. Vom Wohnzimmer aus gehen Treppen nach oben. Es stehen bloß noch die Ränder der Stufen, doch ich klettere trotzdem nach oben. Der Boden ächzt und biegt sich drohend unter meinem Gewicht.

Der Flur, dessen Boden großteils eingebrochen ist, führt zum Badezimmer, zu Mama und Papas, und Ishans Schlafzimmer, sowie einem Gästezimmer. Kaum etwas steht noch, nur die Umrisse der Wände.

Zögerlich mache ich einen Schritt, dann den nächsten. Beim dritten gibt der Boden nach und zerbröckelt under meiner Sohle. Mein Bein sinkt bis zum Knie ein, das Hosenbein wird hochgezogen und meine Haut von scharfen Kanten aufgeritzt. Ich fluche und klammere mich an einen der Wandvorsprünge, hebe mich so aus dem Loch.

Ishans Schlafzimmer ist komplett eingebrochen. Das, was vielleicht einmal sein Bett oder seine Kommode war, liegt unter den zusammengesackten Treppen.

Mama und Papas Zimmer ist irgendwie noch schlimmer. Es sieht nicht so aus, als wäre es normal verbrannt worden, eher als hätte sich jemand Zeit genommen, jeden Teil, jedes Möbelstück, jede Erinnerung zu verbrennen.

Meine Augen brennen. Plötzlich stinkt es höllisch nach Asche und Rauch und meine Kehle wird eng. Ich blinzle, bis die Tränen vergehen, setze meine Schritte vorsichtig entlang des Flurs und klettere wieder die Treppen hinunter, bleibe an ihrem Fuß stehen. Dort angekommen reibe ich meine Hände zusammen, die plötzlich taub sind.

Was suche ich hier eigentlich? Wieso bin ich hier?

Etwas hat mich hergerufen, und etwas hält mich fest. Ich drehe mich auf der Stelle im Kreis, starre in Richtung des Wohnzimmers.

Mama steht dort, das warme Licht der Lampe hinter ihr beleuchtet sie, macht ihre Locken zum Heiligenschein. Ich kann ihr Gesicht nicht sehen, aber ich weiß, dass sie abgelenkt und beschäftigt ist— das ist sie immer, wenn sie so spät nachts noch arbeitet.

Das Telefon läutet. Mama nimmt es ab und legt es auf dem Rücken auf den Tisch. Und die Stimme ist nicht sonderlich laut, aber klar genug, dass Mama ihn versteht, und gerade laut genug, dass ich es mit anhören konnte: Ich bin so froh, dass ich dich wieder gefunden habe, Priya.

So verängstigt habe ich Mama noch nie gesehen. Ihre Augen weit, ihr Mund leicht offen. Sie knallt das Telefon zurück auf die Gabel. Ihre Hände zittern, dann presst sie beide gegen ihren Mund.

Dann war Papa da, und sie hat ihm schnell und klar gesagt, Wir müssen weg. Sofort.

Er war verwirrt, und besorgt, War er das? Sollten wir nicht vorher packen?

Keine Zeit. Setz die Kinder ins Auto.

Mama hat geweint.

Ich drücke meine Hand gegen meine Lippen. Mir ist speiübel. Kurz muss ich mich hinhocken und langsam durch die Nase atmen. Schwindel reißt mich and den Haaren herum und will mich auf die Knie zwingen.

Ich kneife meine Augen zu, bis sich die Welt aufhört, zu drehen. Dann stehe ich auf und drehe mich um, zurück zu den Treppen— zu dem, was darunter ist. Hier hat das gefallene Zimmer meines Bruders den Weg versperrt.

Versperrt. Wohin versperrt?

Es ist bloß Gerümpel am Boden, aber irgendetwas stimmt nicht. Ich will aus irgendeinem Grund wissen, was darunter ist.

Ich fange an, Stücke von verrußtem, gesplitterten Holz aus dem Weg zu zerren. Die meisten zerfallen in meinem Griff. Meine Hände und meine Ärmel werden Dreckig. Mein Atem bildet vor meinen Lippen rapide Wolken. Nachdem ich mindestens die halbe Decke weggezerrt habe, kommt ein Loch im Boden zum Vorschein.

Ich klettere über den Rest des Gerümpels und lasse mich hineinfallen.

Meine Füße treffen unebenen Untergrund. Erst denke ich, dass ich auf noch mehr Trümmer gelandet bin, doch meine Füße stehen auf zwei verschiedenen Stufen einer steinernen Treppe, die nach unten führt.

Erst scheint die Wand an ihrem Fuß komplett schwarz, bis ich eine Flamme ins Leben rufe und näher hinsehe. Nachdem ich meine freie Hand vollständig verdreckt habe, indem ich den Ruß von der metallenen Kellertür gewischt habe, kommt eine ehemalig vielleicht weiße Tür zum Vorschein.

Ich drücke die Klinke. Überraschenderweise öffnet sich die Tür.

Sobald die kleine Flamme in meiner Hand das Zimmer dahinter beleuchtet, überwältigt mich eine schreckliche, gewaltige Menge Nostalgie. Von der Wandfarbe, den hunderten von aufgehängten Zeichnungen, zu den Möbeln, dem Teppich, dem Boden, sogar der Geruch— alles ist plötzlich mehr als bekannt. Es ist Zuhause.

Es ist alles perfekt intakt. Von dem schrecklichen Feuer hat keine einzige Flamme dieses Zimmer berühren können.

Mein Zimmer.

Ein bekanntes, hohles Gefühl kratzt an meiner Kehle. Das Zimmer verschwimmt.

Ehrfürchtig sehe ich mich um, ohne etwas zu berühren, als wäre ich in einem Museum. Zu meiner Linken steht ein Schreibtisch, angeräumt mit Papieren— Zeichnungen, Basteleien— Büchern, Stiften, Pinseln, Farbe. Eine unfertige Zeichnung von einer rosaroten Katze liegt erwartend da, die Wasserfarben ausgetrocknet.

Ein Computer steht ebenfalls da, seit Ewigkeiten außer Betrieb. Ich streiche mit der Hand darüber und hinterlasse dunkle Striche im Staub.

Regale links und rechts von dem Tisch halten Bücher; einige über das Zeichnen, viele Romane. Unter anderem auch Brettspiele, ein Deck Karten, einige Action-Figuren.

In der Wand gegenüber der Tür ist ein Belüftungsschacht eingebaut, der scheinbar die Abwesenheit jeglicher Fenster hinsichtlich Frischluft ausgleichen sollte. Darunter steht eine Kommode. Ein Haufen Steine liegt an einem Ende— ich weiß noch, dass Ishan sie mir immer mitgebracht hat. Genauso wie die Kastanien daneben, und die getrockneten Blumen, die in einer Vase stecken.

Als ich eine der Schubladen öffne, finde ich nur von Motten zerfressene Unterwäsche. Ich schließe die Lade wieder.

Der Schrank daneben wird genauso aussehen. Ich vermeide ihn für den Moment und gehe zum Bett weiter. Auf dem Nachtschrank liegt ein Buch, eine Lavalampe und mehrere Dosen von Vitamin-D-Supplementen. Irgendjemand hat auf zwei von ihnen lächelnde Gesichter gekritzelt, den Namen durchgestrichen und stattdessen „Sonnenlicht-Pillen“ darauf geschrieben.

Das Bett ist nicht gemacht, die Decke am Fuß zusammengebauscht und das Kissen eingedrückt. Das Bettzeug ist genauso von Motten zerfressen, wie es der Zustand der Kommode vermuten lässt. Trotzdem streiche ich andächtig mit der Hand darüber, setze, dann lege mich hin.

Die Decke ist genauso wie die Wände mit Malereien behangen. Blaue Himmel, Heißluftballone, Vögel, Flugzeuge, mehrere Sonnen.

Ich schließe die Augen.

Als Kind war mir es ziemlich egal, dass ich nur Nachts oder bei zugezogenen Vorhängen aus dem Keller durfte, und nie aus dem Haus. Die Vitamin-D-Pillen mochte ich nicht, aber auch an die habe ich mich gewöhnt. Je älter ich wurde, desto wütender hat mich das ganze gemacht. Ich stecke hier drin fest und verpasse die besten Jahre meines Lebens, während alle anderen in die Schule gehen, anstatt von ihren Eltern unterrichtet zu werden, auf Partys gehen, ihren ersten Kuss haben, Freunde schließen, Abenteuer erleben.

Ich seufze und schlage wieder die Augen auf, strecke mich. Mein Fuß stößt gegen etwas, das in die Decke eingewickelt ist.

Ein Plüschdrache.

Vage erinnere ich mich an einen Traum, den ich einmal hatte.

Ich drücke das Stofftier gegen meine Brust. Es ist so viel kleiner, so viel fragiler, als ich es in Erinnerung hatte. Ich drücke meine Nase dagegen und atme ein, und tue so, als würde es nicht bloß nach Keller und Rauch riechen.

Widerwillig stehe ich vom Bett auf. Wenn ich könnte, würde ich einfach liegen bleiben. Vielleicht auf ewig.

Erst beim zweiten Blick auf den Nachtschrank fällt mir auf, dass zwischen den Seiten des Buches etwas eingeklemmt ist. Ich nehme und öffne es.

Es ist Papas Taschenuhr. Ich nehme sie und zögere, bevor ich sie öffne, doch es sprühen keine Funken daraus. Ein ganz normales Zifferblatt.

Ich stecke sie ein.

Ishans Drachen, der, soweit ich mich erinnern kann, Laal heißt, behalte ich in der Hand. Etwas sagt mir, dass ich den Schrank öffnen muss. Zögerlich gehe ich darauf zu und ergreife die Griffe, bereite mich auf eine Schar Motten vor. Doch als ich den Schrank öffne, ist alles darin blitzblank und intakt, wenn etwas staubig.

Mir bleibt der Atem in der Kehle hängen. Alltagskleidung hängt von links nach rechts gereiht im Schrank, doch quer darüber hängt ein rosaroter Sari. Direkt darüber, am Regal oben, steht eine schwarze Schachtel. Ich weiß, was darin ist.

Ich lege Papas Taschenuhr kurz neben die Schachtel und setze Laal darauf, um sie zu bewachen. Vorsichtig streiche ich über den Stoff des Saris, betrachte die Muster im Stoff, die kleinen Details.

Als ich so alt war wie du, hat meine Mutter mir den geschenkt, hat Mama damals gesagt, als sie mir gezeigt hat, wie man das Tuch richtig wickelt und über die Schulter legt. Und jetzt gehört er dir.

Ich greife hoch zu der Schachtel und öffne sie. Zwei goldene Ohrringe liegen darin, einer davon zweiteilig, von der Ohrmuschel zum Ohrläppchen, und mit einer Kette an einen Nasenring verbunden.

Auch das Schmuckstück findet seinen Platz in meinen Erinnerungen. Das hat mir dein Papa zur Hochzeit geschenkt, hat Mama gesagt, eine lange Zeit nachdem ich den Sari bekommen habe.

Instinktiv ziehe ich das Foto aus der Tasche.

Ich erkenne das Zimmer jetzt— die weißen Wände können nur in die Küche gehören. Der Sari, den mein jüngeres Ich im Bild trägt, ist derselbe wie der, der im Schrank hängt, und das Schmuckstück, das meine Mutter trägt, halte ich in meiner anderen Hand.

Meine Augen fliegen über die Gesichter meiner Familie, bleiben an dem albernen Grinsen meines kleinen Bruders hängen.

Ich kneife die Augen zu, falle auf die Knie und vergrabe mein Gesicht im Stoff des Saris, bis ich nicht mehr das Gefühl habe, ich müsste schreiend und weinend zusammenbrechen.

Ich verbringe eine Ewigkeit im Zimmer. Stück für Stück gehe ich die Besitztümer durch und lerne das Mädchen kennen, das vor so und so vielen Jahren in einem Autounfall gestorben ist.

Sie hat Gitarre gespielt, hat anscheinend sehr viel Zeit am Computer verbracht. Sie wurde daheim unterrichtet und hatte schon mit sechzehn Jahren eine schreckliche Sauklaue. Sie hat es geliebt zu zeichnen, auch wenn sie nicht gut darin war. Sie hat versucht, ihre eigene Musik zu schreiben. Sie hat hunderte von Blumen gepresst.

Gleichsam finde ich Brandspuren auf so ziemlich jeder Oberfläche dieses Raumes, und finde somit eine Erklärung, wieso das Zimmer den Brand überlebt hat: Es wurde feuersicher gebaut, aber nicht um die Flammen abzuschirmen, sondern um sie einzuschließen.

Ich will alles mitnehmen, aber ich habe nur zwei Hände. Den Drachen, die Uhr, den Sari und das Schmuckstück kann ich einfach nicht loslassen, und so nehme ich es mit, als ich widerwillig die Treppen hochsteige und schwerfällig über die Trümmer klettere.

Schwärze und Ruß krallen sich von allen Seiten an mich. Ich wickle meine Arme um die Schätze, die ich gefunden habe, als könnte ich sie davor beschützen.

Mit jedem Schritt durch das Haus fühlt sich mein Körper schwerer und träger an. Die Atmosphäre dieser Ruine ist zäh und dick wie Honig, krallt sich an mich, will mich zurückziehen und in die Asche zerren. Ich schaffe es kaum zu dem verbrannten, eingesackten Rahmen, der früher die Hintertür war. Ein Schritt weiter und Schnee knirscht unter meinen Füßen.

Vor mir liegt der Garten, dem Winter zum Opfer gefallen, kahle Erde besprenkelt von Flecken von Schnee. Und mir wird wirklich, ehrlich bewusst, dass meine Familie tot ist, dass sie alle weg sind, und nichts, was ich tue, sie wieder zurückbringen kann.

Ich falle auf die Knie und weine.

Jeder Gedanke an sie— Ishans Lachen, Mama’s Umarmungen, Papa’s Späße, unsere Spiele, jedes liebe Wort und jeder Kuss auf die Stirn. Es ist alles weg, für immer.

Ich bin wieder sechzehn Jahre alt, zusammengekrümmt unter dem Gewicht des Verlusts. Schluchzer bringen meinen Körper zum beben, bis ich keine Luft mehr bekomme und bloß noch wimmern kann.

Ich werde sie nie wieder sehen.

Warum hätte ich nicht einfach mit ihnen sterben können? Es war mir so offensichtlich bestimmt. Ich hätte bei ihnen sein können. Nie hätte ich so lange überleben sollen. Alles, was darauf gefolgt ist, wollte mich tot sehen, und sie hatten recht.

Minuten streichen vorbei. Irgendwann lasse ich mich gegen die Wand sinken, ziehe meine Beine an die Brust und schließe meine Augen. Die kühle, bleiche Wintersonne prickelt auf meinem Gesicht, während ich versuche, meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen.

Ich höre ihre Schritte nicht einmal— Joyce ist einfach plötzlich da, sitzt neben mir und nimmt eine meiner Hände. Sie legt sie auf ihre Brust. Langsam atmet sie ein, damit ich spüren kann, wie sich ihr Brustkorb hebt und senkt.

Ich nehme einer ihrer Hände und spiegle die Bewegung. So versuche ich, ihren Atem zu imitieren.

„Anscheinend hab ich immer noch nicht ganz verstanden, dass sie tot sind“, krächze ich.

„Das braucht Zeit“, beruhigt mich Joyce.

„Wie lange denn noch?“

„So lange, wie es dauert“, sagt sie. „Hier.“

Sie reicht mir eine Packung Taschentücher und wendet sich dann ab.

Verlegen wische ich mir über die Nase; mir ist es immer noch unangenehm, wenn mich jemand beim Weinen erwischt.

Eiskalte Luft streicht meine Kehle entlang und füllt meine Lungen ins letzte Eck. Langsam atme ich sie wieder aus, beobachte, wie er in einer Wolke aufsteigt und verschwindet.

Ich lege meinen Kopf auf Joyce’s Schulter. Sie lehnt ihren Kopf gegen meinen.

„Es war bei mir nicht dasselbe“, sagt sie langsam, „Aber ich weiß, wie schwer es sein kann, zurück nach Hause zu gehen. Besonders dann, wenn plötzlich alles… anders ist.“

Ich nicke. „Nicht alles hat sich verändert, weißt du.“

„Hm? Was meinst du?“

„Im Keller“, sage ich. „Dort unten war mein Zimmer. Es hat den Brand überlebt.“

Ich schlucke schwer. Mein Mund fühlt sich trocken an. „Ich— Ich kann nichts hier lassen“, stottere ich, meine Stimme immer noch von Tränen belegt und kehlig. „Wir müssen alles mitnehmen. Joyce, ich—“

„Hey,“ sagt sie sanft, „Ich hab ein paar Taschen und Kisten im Kofferraum. Wir holen dann alles, was du mitnehmen möchtest, und bringen es ins Auto, ja?“

Ein Miauen unterbricht mein hastiges Gerede. Joyce und ich sehen beide gleichzeitig auf, zu der anderen Seite des Gartens, wo gerade eine orangene Katze aus den Gebüsch springt. Eines ihrer Augen ist ausgekratzt und ihr Fell ist verfilzt. Sie schleicht vorsichtig auf uns zu.

Die Überraschung hat die verzweifelte Trauer kurz verdrängt. Ich halte meine Hand aus. Das Kätzchen schnuppert daran, presst seinen Kopf gegen meine Handfläche, dann meine Beine. Schlussendlich klettert es in meinen Schoß, streckt sich und beginnt lauthals zu schnurren.

„Süß“, sagt Joyce.

„Puchki“, flüstere ich. Ich beginne zu lachen, und währenddessen laufen mir wieder die Tränen über die Wangen. „Puchki“, sage ich noch mal, weil mir sonst nichts einfällt, und vergrabe mein Gesicht in ihrem verfilzten Fell.

„Puchki?“, wiederholt Joyce.

„Sie hat mal mir gehört“, krächze ich, immer noch lachend, weil ich einfach nicht aufhören kann. „Oh, Süße, dir geht’s gut…“

„Geht’s dir gut?“, fragt Joyce vorsichtig.

„Ja“, schiefe ich und drücke meine Nase wieder gegen Puchki’s Fell. „Mir ist’s noch nie besser gegangen.“

Puchki schnurrt lauthals und knetet an meiner Jacke herum. Ich kraule sie zwischen den Ohren, so wie sie es schon damals gemocht hat.

Wir sitzen, bis meine Tränen versickern, und bis Puchki sich entschieden hat, dass sie genug hat. Sie hüpft von meinem Schoß, streckt sich ausgiebig und beginnt dann, sich zu säubern.

„Jetzt müssen wir sie mitnehmen“, sagt Joyce mit einem sanften Lächeln.

Ich nicke. Ohne Puchki suchen sich meine Hände das Nächstbeste, an denen sie sich festhalten können: Die schwarze Schmuckschachtel. Ich reiche sie zu Joyce herüber. „Kannst du mir solche Piercings stechen?“

Joyce öffnet die Box. Ein sanftes Lächeln zupft an ihren Mundwinkeln. „Ja. Aber nachher musst du meinen Vortrag über Piercinghygiene anhören.“

Ich lache. „Mit Genuss.“

„Das sagst du jetzt.“

„Joyce?“, sage ich mit belegter Stimme.

Sie sieht mich fragend an. Ich ziehe sie in eine Umarmung.

Kurz scheint sie überrascht, dann wickelt sie ihre Arme um mich, streicht mir über die Haare.

„Danke,“ flüstere ich.

Joyce presst ihr Gesicht in meine Halsbeuge. So hält sie mich, bis ich loslasse. Als ich es tue, wischt sie mit einem verlegenen Grinsen über ihre Augen. „Mann, ich wollte für dich stark bleiben.“

„Das ist lieb“, lache ich, „Und unnötig. Ist schön, beim Heulen Gesellschaft zu haben.“

Joyce kichert und drückt mich einfach fester. Ich drücke sie zurück.

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