Kosmischer HorrorLangLangeSchockierendes Ende

Berichte von Abramoczek

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Ich möchte hiermit meine Zurückhaltung aufgeben und öffentlich berichten, warum mir der Gedanke an mein Heimatdorf, an die Sterne und an den Herbst eine ungeheure Angst einjagt und warum mich der Artikel eines mexikanischen Bloggers seit Tagen in einen Zustand unüberwindbarer Sorge und kosmischen Grauens versetzt. Ich hoffe, dass meine Schilderungen dazu beitragen werden, der Öffentlichkeit einen alternativen Blick auf den „Fall Abramoczek“ zu ermöglichen und bitte die Leserinnen und Leser daher, meinen Ausführungen unvoreingenommen entgegenzutreten.

I.

Im Oktober vergangenen Jahres führte mich ein coronabedingter Todesfall in meiner Familie zurück in mein Heimatdorf. Nach dem monatelangen Genuss des großstädtischen Lebens und der intellektuellen Freiheit der Universität, war die Rückkehr in meine Heimat auch eine Rückkehr in die geistige Enge der Provinz. Eine mehrstündige Zugfahrt führte mich aus der belebten Landeshauptstadt über die immer kleiner werdenden Regionalbahnhöfe bis hin zu einer alten und halbverfallenen Endhaltestelle Mitten im Nirgendwo. Der Herbst nahte mit unübersehbarer Entschlossenheit und der kalte Wind brachte einen erdig-bitteren Geruch mit sich. Als der Zug hielt, sah ich bereits meine Eltern auf dem Parkplatz hinter dem Bahnhofsgebäude warten. Schweigend fuhren wir durch die aufbrausenden Herbststürme, die alten Straßen und Aleen entlang, über denen sich die dunklen Bäume wie erstarrte Riesen beugten. Nach etwa zwanzig Minuten sah ich in der Ferne die Lichter des Dorfes und gleich darauf begrüßte mich das Ortseingangsschild grell-reflektierend im Scheinwerferlicht unseres Autos. Eine Begrüßung, die in mir eine verwirrende Mischung aus Heimkehr, Nostalgie und einer kaum wahrnehmbaren Bedrohung auslöste.

Viel verändert hatte sich seit meinem Fortgehen nicht. Ein wenig verkommen war die Seele dieses, meines Dorfes schon immer. Der kleine Ort hatte schon vor langer Zeit begonnen, seinen zunehmenden Verfall zu akzeptieren. Während ein Großteil des spärlich gesähten Nachwuchs eilig versuchte, der allgemeinen Perspektivlosigkeit in Richtung der nächsten Großstadt zu entfliehen, blieb im biederen Dunst der Provinz ein eigenartiger Menschenschlag zurück. Misstrauisch gegenüber allem Neuen und Fremden stehen sie den großen Veränderungen und Abenteuern unserer Zeit, die mich so sehr in ihren Bann geschlagen hatten, mit Argwohn und Ablehnung gegenüber.

Wir fuhren an der Haltestelle Galgenberg vorbei, die früher ein Ort seltsamer Gerüchte und merkwürdiger Erzählungen gewesen ist. Der Ort, an dem sich heute die wenigen jungen Menschen des Dorfes über die Langeweile des Alltags hinwegsaufen, war bis in die 60er Jahre hinein Gegenstand beunruhigender Briefe an die SED-Kreisleitung, die sich über nächtliche Schreie, Wetterleuchten und sonstigem Aberglauben in Bezug auf den alten Hinrichtungsplatz beschwerten. Diese Briefe, für Außenstehende wenig mehr als ein amüsantes Lokalkolorit, können heute noch im historischen Archiv des Landkreises besichtigt werden.

Wir fuhren entlang der kleinen Hauptstraße des Dorfes, die links und rechts gesäumt ist von kleinen, zwei- bis dreistöckigen Häusern, welche allesamt eher zweckerfüllend als schön sind. Einige Male kamen wir an einer alten Bauruine oder einem der kleinen Läden vorbei, deren finanzielles Überleben in diesem Ort mir bis heute ein Rätsel ist. Die wenigen Querstraßen, die von der Hauptstraße abbiegen, führen nach nur wenigen weiteren Häuserreihen direkt auf die Schotterpisten und Feldwege, die an den Wiesen und Äckern rund um das Dorf enden. In den verstreuten und abgelegenen Gehöften jenseits des Ortskerns, schien die Zeit seit Jahrzehnten stillzustehen. Wortkarg und abweisend sind seine Bewohnern, halbverfallen und abgenutzt seine Gebäude. Selbst die Kirche im Dorfzentrum ist von dem allgemeinen Niedergang nicht verschont geblieben. Das Interesse an den himmlischen Gütern war unter der jahrzehntelangen Herrschaft der SED fast vollständig verschwunden.

Seit dem Fall der Mauer, der im uralten Gedächtnis unseres Dorfes nur ein Randnotiz gewesen sein kann, hatte sich hier kaum etwas verändert. Doch wer deshalb auf der Suche nach unberührtem, altmodischem Idyll, nach dem Zauber der Vergangenheit wäre – hier ist er fehl am Platz. Die schlichten Häuser und Gärten mit ihrer lieblosen Aneinanderreihung von landwirtschaftlichem Gerät, alten Autos und sonstigem Plunder spiegelt in ihrer kargen Stumpfheit und provinzieller Einfachheit den Geist ihrer Bewohner wieder.

Beim Abendessen im Haus meiner Eltern wurde ich bei Wurstbrötchen, Gewürzgurken und Nudelsalat über die neuesten Ereignisse seit meinem letzten Besuch vor einem halben Jahr unterrichtet. Wie üblich ging es dabei um die jüngst Verstorbenen im Dorf (darunter meine Großtante), um den allgemeinen Klatsch und Tratsch, die Nachbarschaftsstreitigkeiten, deren Ursprung niemand mehr genau zu bestimmen vermag und um den nachvollziehbaren Umzug der Jüngeren in lebenswertere Regionen. Auch die Themen der Politik ließen sich trotz meiner ablehnenden Haltung kaum vermeiden. Zwar ist mir der grundsätzliche Argwohn meines Dorfes gegenüber den großen Fragen unserer Zeit seit klein auf bekannt, doch in den letzten Jahren hatte diese abweisende und feindselige Haltung extreme Züge angenommen. Kaum jemand im Ort liest noch die Lokalzeitung, geschweige denn werden die großen Nachrichtensendungen des Landes als Informationsquelle noch ernstgenommen. Die meisten Bewohner meines Dorfes, so auch meine Eltern, verließen sich zunehmend auf obskure Quellen in den Tiefen des Internets, die wie ein finsterer, gebrochener Spiegel eine entstellte Wahrnehmung der Wirklichkeit in das Dorf einsickern ließen. Selbst die abwegigsten und fragwürdigsten Neuigkeiten aus den Weiten des digitalen Raumes wurden gierig aufgenommen, während auch die naheliegendsten und begründetsten Zusammenhänge und Fakten als eine einzige feindliche Verschwörung wahrgenommen wurden. Vor allem mein Vater berichtete mir, während wir gerade die etwas zu kurz gekochten Nudeln zerkauten, beinahe lustvoll von geradezu absurden Gerüchten über Regierungsexperimente am menschlichen Körper, von Fernsehmoderatoren, deren Augenlieder sich manchmal vertikal schlossen und von seltsamen Signalen, die Nachts in der Nähe von Radiostationen empfangen werden konnten. Genau erklären konnte ich mir das abgründige Verlangen nach diesen Geschichten nie. In ihnen steckte nicht nur eine Angst vor, sondern vielmehr auch eine Wut auf die Welt. Eine Wut, die genährt wurde von den Zeiten des wirtschaftlichen Niedergangs nach der Wende, von der Arbeitslosigkeit und der zunehmenden Vereinsamung des Dorfes. Eine Wut, eine Abgründigkeit, in deren Schwärze sich Ideen in die Köpfe der Menschen eingenistet hatten, die schon in den nächstgrößeren Orten für Abscheu und Entsetzen sorgen würden. Ich weiß nicht, ob es schon immer so gewesen ist. Ich weiß nicht, ob auch ich diesen Geist in mir trage und er eines Tages wie ein lange fettgefressener Parasit aus mir hervorbrechen wird. Aber ich weiß, dass ich ihn in jedem Winkel meines Dorfes spüren kann.

„Übrigens, in der Klause wohnt jetzt wieder einer“ riss mich mein Vater aus meinen müßigen Reflexionen. „N Echsenmensch?“ fragte ich sarkastisch. Offenbar war einige Monate vor meiner Ankunft ein Neuankömmling in das Dorf gezogen und hatte unter den Bewohnern für ein ungewöhnlich hohes Maß auf Aufmerksamkeit gesorgt. Der Mann, welcher auf den Namen Abramoczek hörte, war in ein leerstehendes Gasthaus auf den Hügeln hinter dem Dorf gezogen. Durch die schnelle Restauration des alten Gasthauses, welches auch nach über einem Jahrzehnt des Leerstands noch immer als die „Klause“ bezeichnet wurde, sowie seine offenbar umgängliche Art, hatte er sich eine gewisse Form des Respekts im Ort erarbeitet. Er arbeitete, neben seinen häuslichen Tätigkeiten, in der Autoreparatur, die etwas entfernt vom Dorf am Rande der Bundesstraße zu finden ist. Im Ort war er bekannt dafür, ein Gelehrter zu sein – was auch immer das hier in dieser Gegend zu bedeuten hatte. Mein Vater wusste natürlich, dass er mit dem Verweis auf die Gelehrsamkeit des Neulings meine Aufmerksamkeit erregt hatte und erzählte nicht ohne einen Hauch von Bewunderung von dessen angeblich übergroßem Wissensschatz. „Der hat halt Ahnung und weiß wie die Sachen funktionieren, hier auf der Welt und anderswo. Die Lügen, die sie uns tagtäglich im Fernsehen erzählen, die lassen ihn kalt, die machen ihn nicht mal mehr wütend, weil er ja die Wahrheit kennt.“ So einen Kerl hätte sie noch nie getroffen, mischte sich nun selbst meine Mutter ins Gespräch ein: „Dem musste auch mal zuhörn!“

Abramoczek, dessen einprägsamer Nachname mich eine osteuropäische Abstammung vermuten lies, erzählte offenbar in der hiesigen Dorfkneipe und beim Schrauben an Automotoren und Kupplungen von seiner fantasievollen Interpretation der Realität. Regierungen und ganze Staaten, die nur Marionetten geheimnisvoller Kräfte waren, fremdgesteuerte Medien und Wissenschaftler, die uns verheimlichten, was wir auf Erden und im Weltall nicht wissen dürfen und schließlich der kommende Tag X, an dem es endlich „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ für die Eliten dieser Welt heißen würde.

Für mich klangen viele der Motive, die meine Eltern vor mir ausbreiteten, nach altbekannten Verschwörungstheorien, weder besonders neu noch sonderlich gut erzählt. Allerdings nutzte mein Vater immer wieder Begrifflichkeiten in seinen Ausführungen, die durchaus meine Neugierde weckten. Er sprach von Sternen, die eines Tages verdunkeln, wenn sie ihren Brennstoff aufgebraucht haben, von schwarzen Löchern, die Strahlung abgeben (durchaus kein Allgemeinwissen) und einmal sogar von den „halbrichtigen“ Annahmen der Quantenphysik. Seine Andeutungen über den Kosmos und seine Geheimnisse waren teilweise abenteuerlich, teilweise völlig absurd und offensichtlich falsch, und dennoch faszinierte mich die Tatsache, dass solche Gedanken in meinem Dorf vorhanden waren. Wie konnte es sein, dass mein Vater, der normalerweise seine Freizeit mit dem Ansehen alter Fernsehwiederholungen verbrachte, mir nun von schwarzen Löchern und quantenphysikalischen Theorien erzählte? Meine Mutter räumte das Geschirr ab, Vater machte es sich wieder vor dem Fernseher bequem – und ich wusste, dass ich meiner alten Heimat morgen eine kleine Erkundungstour widmen würde.

II.

Ich verbrachte die erste Nacht im Hause meiner Kindheit in einem unruhigem Schlaf. Ich dachte zurück an die Universitätsstadt, an die Parks und Promenaden, die Bars und Cafés, die ich eigentlich erst vor wenigen Stunden verlassen hatte und die mir in diesem Moment trotzdem schon so unendlich weit entfernt schienen. Hier in meinem Dorf war ich Zuhause und fühlte mich doch fremd, ich gehörte hierher und sollte nicht hier sein. Wie ein Kind an der Brust einer dämonischen Mutter fühlte ich mich geborgen und gleichzeitig bedroht. Mit diesen seltsamen Gedanken im Kopf schritt ich über die nächtliche Pforte ins Reich der Träume.

Am nächsten Tag entschied ich mich frühmorgens zu einem kleinen Spaziergang. Die Beerdigung meiner Großtante würde erst am darauffolgenden Tag stattfinden, deshalb hatte ich genügend Zeit für eine Erkundungstour durch die Straßen meiner Jugend. Nach einem heißen, dampfenden Kaffee und mit einem Rest von Müdigkeit im Leib, lief ich ohne festen Plan die Dorfstraße entlang. Links und Rechts der Straße standen mittelgroße Häuser in allen farblichen Variationen von weiß-grau, über gelb-grau bis hin zu einem etwas exotischeren grün-grau. Viele besaßen einen kleinen Garten, der von alten, teils morschen Holzzäunen eingegrenzt war. Oft handelte es sich dabei um nicht viel mehr als ein bisschen Rasen, einem Blumen – oder Gemüsebeet und einem Geräteschuppen, in dem sich all der Krempel staute, der sich in solchen Gärten nun einmal zu sammeln pflegte. Die Häuser waren nicht alt genug, um den Charme der Vergangenheit in sich zu tragen, aber auch nicht so neu, als das wohlhabende Mittelschichtsfamilien hier ihre Ruhe vor dem „Trubel der Stadt“ finden würden. Nach dem Tod der jetzigen Bewohner würden sie leerstehen und es war zweifelhaft, ob sie je wieder neue Bewohner finden würden.

Weiter die Dorfstraße herunter lief ich an der kleinen Bushaltestelle vorbei, an der vielleicht alle Stunde ein Bus fuhr. Als ich mich der dort sitzenden Person näherte, erkannte ich in den erwachsen und bärtig gewordenen Zügen einen alten Jugendfreund von mir, über dessen Existenz ich seit Jahren nicht mehr nachgedacht hatte. „Hey“ sagte ich nickend, ein kurzes, irgendwie desinteressiertes Nicken kam zurück. Ich war hier ein Fremder geworden. Vage Erinnerungen an die Vergangenheit, in der dieser Ort und seine Bewohner für mich das Zentrum meiner gesamten Existenz waren, zogen an mir vorbei.

Ich lief einen kleinen Hügel hinauf und erreichte den Vorplatz der kleinen Dorfkirche, die vielleicht die einzige Sehenswürdigkeit unseres kleinen Örtchens war. Ich erinnerte mich an die Kirchenbesuche am heiligen Abend, als durch die steinernen Gewölben ein fröhlicher, weihnachtlicher Gesang hallte und eine Wärme und Festlichkeit aufgekommen war, an die ich heute noch zurückdenke. Die harten, groblackierten Kirchenbänke, die uralten, immer gleichen Sitzkissen und der eigenartige Kerzengeruch in der kühlen Luft hatten im Rückblick doch einen fernen Glanz an sich.

Ich schüttelte die Gedanken von mir ab und lief weiter den Kirchplatz entlang, bis ich, auf der gegenüberliegenden Seite des Gotteshauses, die kleine Dorfbibliothek erreichte. In ihr hatte ich einen großen Teil meiner Kindheit verbracht. Das kleine, fachwerkartige Gebäude konnte in Sachen Auswahl und Umfang mit keiner anderen Bibliothek mithalten, die ich seit meinem Auszug kennengelernt hatte, doch trug sie in dieser geistig so öden Gegend einen glänzenden Schatz in sich. Die Bücher waren ein Weg heraus aus der Enge, papierene Portale in unbekannte Sphären. Ein paar wenige Kinderbücher und Jugendromane, eine Ecke mit zweitklassischen, esoterischen Schriften und Gesundheitsratgebern sowie einige alte und verstaubte Ausgaben von den Klassikern der Literatur. Ob sie noch jemand Anderes außer mir gelesen hat, weiß ich nicht.

Die Bibliothekarin lächelte mich an als ich eintrat, trotz meiner langen Abwesenheit war ich seit Kindertagen hier bekannt. Seit unserer letzten Begegnung war sie noch etwas schrulliger geworden als sie es seit jeher gewesen ist, trotzdem begrüßte sie mich, wie ich glaube, mit ehrlicher Freude. Nach einer kurzen Frage nach meinem allgemeinen Befinden erzählte sie mir ohne, dass ich danach gefragt hätte, von ihrer aktuellen Lektüre astrologischer Literatur. Sie berichtete mir davon, wie die Sternzeichen am Herbsthimmel stehen und welche Bedeutung sie für unseren menschlichen Alltag hatten. Wie schon die antiken Hochkulturen ihre Sternenkunde betrieben haben und in welchen Konstellationen der Gestirne sich Tore zwischen Himmel und Erde öffnen können … Ich schweifte gedanklich ein wenig ab und blickte mich in der Bibliothek um. Neben dem Tresen standen zwei große Regale mit Romanen, die offenbar neu oder zumindest noch nicht sehr alt waren. Auf einem kleinen Tisch lagen Heimatzeitschriften aus und vor dem Tresen, hinter dem die fuchtelnden Arme der Bibliothekarin gerade den Weg der Gestirne nachzeichneten, stand das hölzerne Rückgabeschränkchen, in dem die spärlichen Haufen zurückgegebener Bücher darauf warteten, wieder in die Regale gestellt zu werden. Neben ein paar Groschenromanen lagen dort eine zurückgegebene Landeschronik vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit, eine Sammlung von Sagen und Ammenmärchen aus der Region, eine Monographie über die Hexenprozesse in der Donauregion und ein Buch mit den Kupferstichen eines bekannten sächsischen Orgelbauers. Ich spürte, wie ein Schub von Adrenalin durch meinen Körper fuhr, als ich auf dem Rückgabezettel den Namen „Abramoczek“ las.

„Interessant, kann ich mir die Bücher hier auch ausleihen?“ fragte ich die Bibliothekarin, die durch meine rüde Unterbrechung ihrer Ausführungen ein bisschen verärgert wirkte. Um mein Interesse an der Person hinter den Büchern nicht zu offensichtlich wirken zu lassen, lies ich die Kupferstiche des Orgelbauers im Schränkchen liegen und nahm nur die restlichen drei Bücher mit, zusammen mit Spenglers „Untergang des Abendlandes“, dass ich für mein Studium benötigte.

Zuhause angekommen stürzte ich mich direkt in die Lektüre dieser doch recht eigenartigen Büchersammlung. Ich las in der „Urkundliche Landeschronik vom Mittelalter bis zur Neuzeit“, die „Heimatlichen Sagen – und Märchensammlung“ sowie die nicht ganz ins Bild passenden Ausgabe über die Hexenprozesse an der Donau. In den Bücher waren Bleistiftmarkierungen eingezeichnet, die, wie ich vermute, erst von ihrem letzten Besitzer hinzugefügt wurden und mir somit eine grobe Orientierung ermöglichten, welche Abschnitte der Bücher dem vorherigen Leser bedeutsam waren. Den ganzen Nachmittag bis tief in die Abendstunden hinein brütete ich über den Büchern und tauchte ein in den faszinierenden Sog der Vergangenheit.

Von den nebelverhangenen Anfängen im Frühmittelalter, als die Slawen hier ihre ersten Weiler errichtet hatten, über die seltsame Abwesenheit jeglicher schriftlicher Quellen zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert, in denen die Gegend trotz des regen Handels in der Region in keinem einzigen Dokument auftauchte, bis hin zu den Hexenverfolgungen im Spätmittelalter, denen Abramoczek, seinen Markierungen nach zu urteilen, besondere Aufmerksamkeit widmete.

Nachdem Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest in vielen Regionen des Landes wütete, unser Dorf jedoch (Gott sei Dank) verschont blieb, kam es in den folgenden Jahren zu schrecklichen Krankheitsfällen, die in mehreren Episoden von geradezu hysterischen Hexenverfolgungen mündete. Ich sah auf den bedruckten Seiten der Chronik einige schauerliche mittelalterliche Darstellungen von vermeintlichen Hexen, den dunklen Gestalten, die in den Wäldern hausten und nichts als Unheil und Verdammnis über die Menschen brachten.

Am meisten beschäftigt hatte sich Abramoczek jedoch mit den bruckstückhaft abgedruckten Abschriften alter Hexenprotokolle, die von den meisten Experten als spätere Fälschung, von lokalen Historikern jedoch als sensationelle Zeugnisse mittelalterlichen Aberglaubens bezeichnet werden. „Von deyn Hexen und irem Werke“ heißt die Sammlung von insgesamt 17 eng beschriebenen Blättern, die mutmaßlich vom Gerichtsdiener Johannis Berg in den Prozessen von 1472 bis 1475 angefertigt wurden. Die Mägdin Latwina Wertzig soll hier über mehrere Jahre mit dem Teufel im Bunde gewesen sein, das Vieh verhext und an den Dorfbewohner „eyn gar schrekklich werk“ vollbracht haben. Sie soll schwarze Magie mit den Gesichtern von Toten betrieben und versucht haben, den „teuweln und daemoniae“ damit „eynen fleischlich leip“ zu geben. Versprochen wurde ihr dafür (von wem eigentlich?) unglaubliche Macht und sagenhafter Reichtum in einem neuen Reich, einer Art Gegenstück des „himmlischen Jerusalems“ der Bibel.

Ihr finsteres Treiben endete jedoch vorzeitig. Am 30. April 1474 starb sie, offenbar nicht durch die Hand des Henkers, auf den Feldern außerhalb des Dorfes. Ihre Leiche wurde von Berg als „grauzig hingerichtet“ beschrieben. In den nachfolgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten entspann sich ein eigener lokaler Aberglaube um die „böse Wertzig“, die in den verschiedensten Orten der Region immer wieder gesichtet wurde und noch bis zum Beginn des vergangenen Jahrhunderts als Schauermärchen bekannt war. Noch meine Großmutter erzählte mir an manchen stürmischen Herbstabenden (oder wenn ich unartig war) von der bösen Wertzig, die mit den Gespenstern reden konnte und die frechen Kinder in ihre Wälder schleppte.

In „Hexenwahn und Hexenprozesse an der Donau“ markierte Abramoczek einen Absatz über ein erst vor wenigen Jahren in Archiven entdecktes Dokument aus dem Erzbistum Regensburg, in den 1573 eine „Ladevina Wertig“ der Hexerei bezichtigt wurde. Die namentliche Übereinstimmung und einige schaurige Koinzidenzen bezüglich der ihr vorgeworfenen Praktiken und Verbrechen sind bemerkenswert, werden jedoch von fast allen namhaften Experten auf diesem Gebiet als Zufalls abgestempelt. Interessierte können die Protokollabschriften von Berg noch heute in der Dorfbibliothek sowie einigen ausgewählten Archiven des Landkreises begutachten, genauso wie es im letzten Jahr auch Abramoczek tat. Ich beendete spät Abends meine seltsame Lektüre und ging erst weit nach Mitternacht zu Bett. Was genau Abramoczek in diesem Dickicht aus historischen Schilderungen und lokaler Folklore zu finden hoffte, konnte ich mir nicht erklären. Ob meine seltsamen Träume von den okkulten Texten dieses Abends oder der morgigen Beerdigung kamen, wusste ich nicht.

Der nächste Tag begrüßte uns mit Nieselregen und einem bleigrauen Himmel. Nach dem Frühstück stiegen wir in den alten Golf meines Vaters und fuhren einige Kilometer weiter ins Nachbardorf, wo meine Großtante der heimatlichen Erde übergeben werden sollte. Es war ein kleiner Kreis, der hier zusammenkam. Mein Eltern, meine Großeltern, ich und zwei weitere Verwandte, deren genaue Beziehung zu unserer Familie mir nicht mehr bekannt war. Nach einem kurzen, würdevollen Zusammenkommen an der Kapelle, wo ein eher kleiner und schmächtiger Priester lustlos aber ausreichend sein protestantisches Liedchen sang, wurde der schwarze Eichensarg zu Grabe getragen. Die insgesamt sieben Versammelten, der engste Kreis unserer nur selten zusammenkommenden Familie, standen ernst, aber nicht übermäßig traurig am Rande des großen schwarzen Nichts und folgten mit den Augen der Reise, die wir einst alle antreten werden.

Ich genoss die Zigarette, die ich in eiligen Zügen an der Friedhofsmauer rauchte spürbar, was mir den missmutigen Blick meines Vaters einbrachte. Nach einem kurzen Gespräch mit dem Rest der „buckeligen Verwandtschaft“, wie er zu sagen pflegte, fuhren wir durch den stärker werdenden Herbstregen nach Hause. Beim Abendessen erzählte uns meine Mutter von unserer Großtante. Wie sie früher, in ihren Jugendtagen, ein lebensfrohes und offenherziges Mädchen gewesen ist und wie sie in den Jahren der Einsamkeit nach dem frühen Tod ihres Mannes immer mehr zu der wortkargen und grummeligen alten Dame wurde, als die ich sie kennengelernt habe.

Am Ende des Abendessens, als mein Vater nachdenklich die letzten Gewürzgurken mit der Gabel aus dem Glas fischte, eröffnete ich meinen Eltern, dass ich am nächsten Tag zurück in die Stadt fahren würde. Das neue Semester und der Beginn der Lehrveranstaltungen waren nicht mehr weit entfernt und mich lockte der Gedanke, in weniger als vierundzwanzig Stunden wieder in einem der Straßencafés oder meiner Stammkneipe in der Nähe des Campus zu sitzen. Nach dem Essen ging ich hinauf in mein Zimmer und packte meine Koffer für die Abreise. Als ich gerade fertig war und mich noch mit einem Bier in die Küche setzte, rief mir mein Vater aus dem Wohnzimmer zu: „Übrigens, morgen Abend ist der Abramoczek in der Jägerschenke! Komm ruhig mal mit, da kannste mehr lernen als bei deine Professors!“

III.

Mir war klar, dass der Zug Richtung Normalität morgen ohne mich abfahren würde. Auch wenn die Verlockung groß war, innerhalb weniger Stunden wieder die prächtigen Umrisse der barocken Altstadt, die von orange-braunen Blättern gesäumten, gepflegten Alleen und die stilvollen Cafés wiederzusehen, hielt mich doch eine gewisse Neugierde zurück. Einmal in meinem Leben einen dörflich-provinziellen Verschwörungstheoretiker zu erleben, der in seinem kreative Wahn über Chemtrails, mittelalterliche Hexen und Kaffeefahrten nach Aldebaran fabulierte – das konnte ich mir nicht entgehen lassen.

Als am nächsten Abend die Sonne hinter dem Horizont versank und in der einbrechenden Dunkelheit die ersten Stürme ihr Herannahen ankündigten, machten wir uns auf den Weg zum alten Kino. Das „alte Kino“ war kein Kino im herkömmlichen Sinne, sondern das leerstehende Obergeschoss der Dorfkneipe, in dem früher einmal auf einer einfachen Leinwand Filme gezeigt wurden. Vor einigen Jahrzehnten, als die Mauer noch eine unumstößliche Tatsache gewesen ist, gab es hier durchaus eine Art kulturelles Leben und regelmäßige Kinoabende, allerdings ist diese Tradition schon in meinen frühen Kindertagen ausgestorben. Während wir die Dorfstraße hinuntergingen und der Wind das nasse Laub durch die Nacht peitschte, erzählte mir mein Vater, dass Abramoczek bereits mehrfach öffentlich im Dorf gesprochen hatte. Im Rahmen seinen „Aufklärungsveranstaltungen“ hatte sich mittlerweile ein harter Kern von Anhängern um ihn gescharrt, der regelmäßig vorbeikam, um seinen „Wahrheiten“ zu lauschen. Auch mein Vater gehörte zu ihnen, wie er mir nicht ohne Stolz mitteilte. Meine Neugierde, welche Art von verkorkstem Prophet, Geisterseher oder Scharlatan ich bald zu Gesicht bekommen würde, wuchs von Minute zu Minute.

Vor dem Eingang des Gebäudes, das keineswegs die erwartungsfrohe Stimmung eines Kinobesuchs vermittelte, sondern eher die kalte Abschätzigkeit eines abgeranzten Bordells, rauchten einige mir vage bekannte Männer und sahen mich misstrauisch an. Wir betraten die Kneipe durch die schwingenden Holztüren und gingen an der Theke vorbei, wo ortsbekannten Säufer in ihre Biergläser starrten. Aus den Schwaden von Zigarettenqualm und schalem Biergeruch heraus stiegen wir die enge, schmale Holztreppe hinauf bis ins Obergeschoss. Wir betraten den kleinen, spärlich beleuchteten Raum und ich blickte mich um. An der Wand gegenüber vom Eingang hing tatsächlich die alte und schmutzige Leinwand, die ich noch aus Kindertagen kannte. Es standen etwa zwanzig Stühle im Raum, von denen gut die Hälfte schon besetzt waren. Weiter hinten stand ein Projektor, der ein blasses Testbild auf die Leinwand warf. Die Stühle füllten sich so schnell, dass ich mich damit zufrieden gab, mich unschlüssig an die Wand neben den Eingang zu lehnen und zu warten.

Fast schon unauffällig betrat ein kahlköpfiger, osteuropäisch aussehender Mann den Raum und schritt zu dem kleinen Pult, das vor der Leinwand stand. Seine eisblauen Augen und sein scharf geschnittenes Gesicht waren nicht unattraktiv und verrieten eine gewisse Intelligenz. Er wirkte einen Ticken jünger, als er vermutlich war. Nachdem er zwei alte Bücher und eine Handvoll Zettel auf dem Pult zurechtgerückt hatte, trat er nach vorn und blickte ins Publikum. Das Raunen und Flüstern im Publikum verstummte. Abramoczeks Grinsen war ein bisschen zu breit, er zeigte die Zähne etwas zu stark und sein Blick war ein wenig zu stechend für ein normales, freundlichen Lächeln. „Ich werde nun eine Aufklärungsveranstaltung durchführen“, beendete er den kurzen, beunruhigenden Moment und sah mit diesen knappen Worten die Einführung seiner Veranstaltung als erledigt an.

Was Abramoczek in der nächsten Dreiviertelstunde erklärte, ausführte und beschwor war derartig weit entfernt von den normalen, gewöhnlichen Vorstellungen über den Kosmos, die Naturwissenschaft und die menschlichen Existenz insgesamt, dass es mir heute noch schwerfällt, seine „Wahrheiten“, geschweige denn seine Implikationen und Andeutung in das rationale Licht der schriftlichen Form zu bringen. So wie der wirre Prediger Nick Land die dunkle Seite der Aufklärung im politische Sinne ausleuchtete, so vielfach tiefer stieg Abramoczek die dunklen Abgründe der Naturwissenschaft hinab.

Ich blickte gebannt auf die flimmernde Leinwand, auf deren Oberfläche sich Bilder von kosmischen Nebeln, Galaxienhäufen und sternenübersähten Nachthimmeln spiegelten, während Abramoczek in seiner teils wissenschaftlichen, teils fast schon poetische Ausdrucksweise über das Leben eines Universums sprach. Vom unerklärlichen Urknall am Ursprung allen Seins, über die wundersame Expansion und Abkühlung des Weltalls, in der nun Teilchen, Materie und schließlich sogar Sterne und Planeten entstehen konnten, bis hin zur Entstehung des Lebens, das kreucht und fleucht, fliegt und schwimmt und schließlich zu denken beginnt. Er beschrieb, wie die Menschen in der Morgendämmerung der Geschichte begannen, sich Gedanken über ihren Platz im großen Weltall zu machen, wie sie begannen, die Sterne und die Planeten zu beobachten und schließlich die gesamte Natur in ihrer Funktionsweise verstanden – zumindest glaubten sie das.

Nach seinem farbenfrohen Abriss der bisherigen Geschichte unseres Universum begann Abramoczek über die Zukunft zu sprechen und in eindrücklichen Bildern zu beschreiben, wie unsere heute so sternenglänzende Heimat, die voller Leben und Geheimnisse schwärt, eines Tages ihrem Ende entgegentreten wird. Das Universum, erklärte er, ist weder unendlich, noch wird es eines Tages in einem neuen Urknall implodieren, wie manche Wissenschaftler fälschlicherweise annehmen. Stattdessen werden zunächst die Sterne ihre Leuchtkraft verlieren. Weder das Helium noch der Wasserstoff in ihnen ist unbegrenzt, deshalb wird eines Tages auch der Letzte von ihnen langsam ausglühen. Die weiterhin ungebremste Expansion des Weltalls wird dazu führen, dass aufgrund der immer weiter anwachsenden Entfernung zwischen den sterbenden Sternen immer weniger Licht an die einzelnen belebten und unbelebten Orte im All gelangen kann, bis schließlich überall im Universum eine undurchdringbare Finsternis herrscht.

Doch auch dann wird unsere Welt kein gnädiges Ende finden, sondern in der lichtlosen Dunkelheit noch viel schrecklicheren Dingen begegnen: Die ausgebrannten Sterne werden unter ihrer eigenen Gravitationskraft kollabieren und zu schwarzen Löchern werden, die als lebende Tote des erkaltenden Alls eine weitere, viele Milliarden Jahre andauernde kosmische Ära einläuten. Und selbst diese letzten Entitäten der kosmischen Nacht sind nicht für die Ewigkeit geschaffen: Durch die Hawkings-Strahlung wird ihre Materie verdampfen, bis in der gesamten Fläche des Universums ein überall gleiches, kaum mehr messbares Energie – und Temperaturlevel herrscht. In diesem Zustand ist kein Leben mehr möglich. Letzte Teilchen werden in den endlosen Weiten umherjagen, über Milliarden von Jahren kein anderes Element antreffen bis schließlich auch sie sich auflösen. Kein zweiter Urknall. Kein Happy End. Nichts.

Soweit, so in Übereinstimmung mit der gegenwärtigen Astrophysik. Doch so interessant und umtriebig die Überlegungen der Naturwissenschaft auch sein mögen, erklärte Abramoczek, die Erkenntnis, dass die Sterne einst sterben werden, ist älter als Kopernikus und Galilei. Schon vor vielen Jahrhunderten gab es Menschen, denen diese Tatsache durchaus bekannt war. Er zitierte aus dem „Gesang der Nacht“ einem nur mündlich überlieferten, knapp zweihundert Jahre alten Text eines malaysianischen Stammes der Senoi:

„Der Garten des Hauses Erde, um den die Sterne blühen, er verdirbt im Abendrot, wenn aus den Sonnen tote Schatten werden. Im Welten-Acker reißen Löcher auf und unsichtbare Hände greifen darin Alles, selbst das Licht. Die Nacht bringt eine Kälte wie Eis und endet niemals mehr.“

Diese Worte sang ein Priester jenes Stammes einem britischen Forscher, der nach den Vorstellungen der Ureinwohner über das Weltenende fragte. Wie kann es sein, fragte Abramoczek, dass in solchen altasiatischen Gesängen, aber auch in mittelalterlichen Ketzerhandschriften und einigen Steintafeln der Tolteken exakte Beschreibungen vom (erst im letzten Jahrhundert wissenschaftlich erforschten) Ende des Universums zu finden sind? Diese Texte sind keine Ausgeburten der Fantasie, erklärte Abramoczek, sondern Tatsachenberichte. Doch von wem?

Die folgenden Andeutungen von ihm, die jegliches Maß an wissenschaftlicher Ernsthaftigkeit vermissen ließen, werde ich an dieser Stelle, um mein letztes Maß an Glaubwürdigkeit zu bewahren, nicht gänzlich ausführen. Seine Andeutungen, woher gewisse Priesterschaften und Zirkel sogenannter „Hexen“ schon vor Jahrhunderten über das erst in den letzten Dekaden erforschten Ende unseres Universums unterrichtet waren, wer sie darüber in Kenntnis setzte und wie diese Berichte zu ihnen gelangten, waren so abstrus, dass ich sie hier nicht weiter ausführen kann. Als er die Spekulationen der Quantenphysik über Paralleluniversen, die unserem strukturell ähnlich sind und sich mit ihm sogar räumlich überlagern könnten, zu einer geradezu lächerlichen kosmischen Theorie verbog, schüttelte ich entsetzt den Kopf. Er sprach von „ihnen“, die an manchen Orten unserer Welt besonders nah sind, von kosmischen Exilanten unnennbarer Herkunft, die von den schwarzen Sternen kommen. Davon, dass es im All Kräfte gibt, die auf Erden zu einer neuen Herrschaft des Lichts führen könnten, wenn wir sie nur hereinlassen würden. Die Unterdrückten und Ausgestoßenen dieser Welt, die von unseren Herrschern verraten wurden, könnten dann auf ein neues Reich, auf eine bessere Welt hoffen.

Er beschrieb in poetischen Formeln, wie es sich anfühlen musste, wenn Zivilisationen über Millionen von Jahren hinweg dem immer schwächer werdenden Licht ihrer Sterne zuschauen müssen, wie sich mit dem letzten erlöschenden Stern und der hereinbrechenden Dunkelheit eine unbeschreibliche Hysterie ausbreitet, wie sich in dieser Finsternis schließlich ein primordialer Wahnsinn über ganze Galaxien legt; wie Planetensysteme kollabieren und schließlich jegliche Form von individueller Existenz in dieser Dunkelheit in Wahnsinn und Dekadenz verfallen muss.

Als Abramoczek seinen Vortrag beendete hatte und schwieg, saßen die anderen Zuhörenden blass und gebannt auf ihren Stühlen und verließen nur langsam, beinahe zögerlich den Raum. Abramoczek schaltete den Projektor ab und packte seine Bücher, die auf seinem Pult lagen, in eine alte Tragetasche. Ich spürte plötzlich wie sich der Saal schon fast vollständig geleert hatte und selbst mein Vater bereits mit den Anderen nach draußen gegangen war.

Einen kurzen Moment fragte ich mich, ob ich Abramoczek ansprechen und ihn aufgrund seiner ungeheuerlichen Behauptungen konfrontieren sollte. Als ich aufstand und sich unsere Blicke kurz trafen, hielt mich jedoch eine seltsame Angst davor zurück. Ich verließ den Saal schnellen Schrittes.

Draußen zerstreuten sich die Männer und Frauen bereits und eilten in kleinen Gruppen in die Nacht. „Ich geh mal noch ´ne Runde“ sagte ich zu meinem Vater und schlug den Weg weg vom Dorfzentrum in Richtung der Felder ein.

Nach einigen Minuten erreichte ich den Rand des Dorfes und blickte auf die weitläufigen, dunklen Ackerflächen, die im schwachen Licht des Mondes und der Sterne lagen. Ich musste von all dem Irrsinn, den ich mir eben angehört hatte, den Kopf freikriegen. Die dunklen Wälder dräuten schweigend in der Ferne am Rand der Felder. Die Nacht war bitterkalt. Irgendwie fürchtete ich mich in diesem Moment, nach oben zu schauen. Die Sterne grinsten noch grimmiger und finsterer als sonst in dieser Gegend. Als ob sie das Unheil, das über uns hereinbrechen würde, schon längst geplant hätten.

Ich kam erst weit nach Mitternacht nach Hause und ging ins Bett. Meine Träume in dieser Nacht waren schlimmer als in den letzten Tagen. Ich sah vage, namenlose Dinge den Nachthimmel entlanggleiten, sah seltsame Zeremonien, die in den Wäldern abgehalten wurden, sah mich selbst wieder am Dorfrand unter den Sternen stehen, beobachtet von etwas so Schrecklichem, das ich mich selbst im Traum nicht überwinden konnte, mich umzudrehen.

IV.

Am nächsten Morgen brach ein bleigrauer Tag an und es wurde den ganzen Vormittag über nicht wirklich hell. Nur langsam schälte sich der Tag aus der Nacht, die Winde pfiffen kälter um die Häuser und die Wälder gaben noch lauter als vorher ihre dunklen, herbstlichen Flötentöne von sich. Am Mittag las ich in der DB-Regio-App die Nachricht, dass in der Nacht Bäume auf die Gleise gestürzt waren, wodurch Zugfahrten auf dieser Strecke für die nächsten Tage unmöglich waren. Mir blieb also nichts anderes übrig, als weiter im Haus meiner Eltern zu bleiben. Meine Stimmung, die schon durch den raschen Einfall des Herbstes, meinen schlechten Schlaf in den letzten Nächten und die finsteren Prophezeiungen Abramoczeks im Ungleichgewicht war, wurde dadurch noch beunruhigter als zuvor.

Ich befand mich im Zustand eines seltsamen, herbstlichen Schreckens, im Zugriff der Tage, die nie ganz hell und am Nachmittag schon wieder dunkel wurden. All die Fröhlichkeiten zwischen September und November, welche die Menschen sich ausgedacht hatten, die lächelnden Keramikkürbisse, die es in den Kaufhallen gibt, das Erntedankfest voller schiefem Gesang und gespieltem Frohsinn, die „Gemütlichkeit“, die unbedarfte Menschen in diesen Zeiten zu fühlen glaubten, sind nur eine Ablenkung von den tiefen und unauslotbaren Schrecken, die der Herbst mit sich bringt. Wenn ein Herbststurm schon um Vier Uhr nachmittags den Himmel verdunkelt, als wäre die Geisterstunde nur noch wenige Atemzüge entfernt, wenn die Wälder toben und donnern, als würden urzeitliche Gottheiten darin ihr Gelage feiern und wenn das Pfeifen des Windes klingt, als würde die sagenhafte Wilde Jagd ihr Kommen ankündigen, dann spüren wir, dass es etwas Dunkles und Bedrohliches in dieser Welt und außerhalb ihrer gibt, dessen Existenz wir zwar verdrängen, aber niemals vergessen können.

Auch in unseren beheizten und elektrisch beleuchteten Räumen, mit Bluetooth-Kopfhörern auf den Ohren, dem Fernsehbildschirm laufend und unseren Blicken aufs Smartphone geheftet, wissen wir, das es in Gestalt des Herbstes da draußen ist. In den unruhigen Nächten schlechter, herbstlicher Träume, können wir sein Flüstern an den Rändern unseres Verstandes erahnen. Das Böse und der Tod sind hier. Sie waren hier, bevor wir hier waren, und sie werden hier sein, wenn wir nicht mehr da sind. Diesen finsteren Gedanken folgend, starrte ich aus unserem Küchenfenster auf die regennassen Straßen und die fernen Wälder, die meine Einsichten wohlwollend zur Kenntnis genommen hatten.

Der Tag verging und die Lichtverhältnisse blieben selbst den Nachmittag über in einem metallischen, dunklen Grau gefangen. Als die Nacht schließlich hereinbrach, merkte ich es kaum. Nachdem ich die Augen schloss, kamen die Träume wieder. Ich stand im sturmtobenden Wald und eine ferne, schwarzverhüllte Gestalt auf dem regennassen Laub bedeutete mir, näherzukommen. Ich hatte schreckliche Angst vor ihr. Schwarze Wolken heizten mit irrer, fast schon übernatürlicher Geschwindigkeit über den Himmel. Grinsten die Sterne mich an? Ich sah bekannte Gesichter, Menschen aus meinem Dorf, Menschen aus der großen Stadt, Menschen, die mir schmerzhaft viel bedeuteten und Menschen, die wir schon lange in die heimatliche Erde hinabgesenkt hatten.

Doch ihre Gesichter wirkten wie Masken, deren eingefrorenes, mechanisches Lächeln die Künstlichkeit ihres Ausdrucks nur verstärkte. Die Gestalten winkten starr und viel zu langsam für normale, menschliche Verhältnisse. Für einige Millisekunden sah ich aus einer etwas schrägeren Perspektive sogar eindeutig, dass sich hinter ihren maskenhaften Gesichtern etwas Anderes verbirgt. Ich begann, ein tiefes Summen wie von Insektenschwärmen zu hören. Der Sternenhimmel grinste. Das Winken der Pseudo-Menschen. Wieder die Gestalt im Wald, diesmal näher. Viel zu nah. Ich erwachte schweigebadet aus dem ekelhaften Traum.

Es war 3.44 Uhr morgens, ich trank, die letzten Reste der Visionen von mir abschüttelnd, ein Glas eiskaltes Wasser und setzte mich ans Fenster. Draußen sah ich, im Dämmerlicht der Straßenlaterne, eine Gruppe von Männern die Straße entlanggehen. Sie hatten Lampen bei sich und liefen gezielt die alte Dorfstraße entlang. Ich konnte mir nicht erklären warum, aber ich wusste, dass sie zu Abramoczek gingen. Ich blickte über die Straße hinweg auf unser Nachbarhaus und erstarrte. Im Fenster stand eine weibliche Gestalt mit grauen, hochgebundenen Haaren im Nachthemd und starrte mich regungslos an. Unsere Blicke trafen sich. Ich erkannte vage unsere frühere Nachbarin, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Auf eine seltsame Art und Weise fühlte ich mich schuldig, das nächtliche Treiben des Dorfes beobachtet zu haben. Die Strenge in ihrem Blick gefiel mir ganz und gar nicht. Ich verließ das Fenster und legte mich wieder ins Bett.

Am nächsten Tag fühlte ich mich noch fremder und verlorener als in den Tagen zuvor. Ich wollte zwar erst meine Wanderung fortsetzen und die Wälder und Flure in der Umgebung erkunden, doch irgendwie traute ich mich nicht mehr aus dem Haus. Während meine Eltern unterwegs waren, blieb ich unruhig in meinem Zimmer zurück. Ich versuchte zu schreiben, doch mir gelang es nicht. Ich saß wieder am Fenster und beobachtete die Straße, die umliegenden Häuser, den grauen Himmel, die dichten, schwarzen Wälder in der Ferne, als ob ich irgendeine Antwort erwartete, die sie mir nicht zu geben bereit waren. Die Frage, die ich stellte, war mir zwar vage bekannt, doch mir gelang es nicht, sie in den bewussten Teil meines Verstandes zu zerren.

Immer wieder sah ich nun einzelne Menschen und teilweise ganze Gruppen die Dorfstraße hinuntergehen. Manche von ihnen kannte ich oder bildete mir zumindest ein, dass sie früher einmal Teil meines Lebens gewesen sein könnten. Ich hatte den unsinnigen Eindruck, als ob sie schneller laufen würden als sonst. Ich konnte mir keinen Reim daraus machen. Seit den kurzlebigen Anti-Asyl-Protesten vor knapp 10 Jahren (der Landrat wäre doch niemals auf die Idee gekommen, Flüchtlinge in dieses Dorf zu schicken), gab es kein gesellschaftliches, kein gemeinschaftliches Leben mehr hier. Was zum Teufel trieb die Menschen auf die Straße? Ich ging zurück in die Stube und versuchte, etwas aus dem „Untergang des Abendlands“ zu lesen, aber schon nach weniger Absätzen verlor ich die Konzentration und schweifte ab. Ich blickte aus dem Fenster und beobachtete die verstohlen über die Straße huschenden Gruppen von mir vage bekannten Männern und Frauen aus dem Dorf.

Sollte eines Tages die Finsternis aus den brüchig geteerten Straßen hervorbrechen und die Menschen in Scharen und fackelbewehrt zu neuen Hexenverbrennungen aufbrechen, es würde mich nicht wundern. Sollten eines Tages die Bewohner des Dorfes sich Uniformen anlegen und ihre Nachbarn mit unterwürfigem Stolz einer höheren, blutrünstigen Macht aus dem Abgrund unserer Vergangenheit ausliefern, ich wäre nicht überrascht. Die schwärende, abgründige Stimmung, die ich seit meiner Ankunft stärker denn je spürte, hing wie ein beständiger, matter Schleier über dem Ort, immer latent, immer bereit auszubrechen und Dinge aus dem Abgrund heraufzubeschwören, die wir nur aus den halbvergessenen Sagen des Mittelalters kennen kennen.

In der Nacht starrte ich ängstlich hinter den Gardinen hervor, nicht wissend, worauf ich eigentlich wartete. Ich sah Spaziergänger, manchmal ganze Kolonnen, die zielsicher durch die Straßen marschierten, ich weiß nicht wohin. Ich hatte schreckliche Angst, dass sie mich entdecken und fortschaffen würden. Meine Schlafstörungen nahmen weiter zu, so dass es mir kaum noch möglich war, in einen gesunden Tiefschlaf zu finden. Meist wachte ich nach wenigen Minuten wieder auf, wachgerüttelt durch schreckliche Albträume, in denen furchtbare Dinge durch das All walteten, verweste Hände durch den morschen Waldboden brachen und vage Schatten am Rande meines Bettes auf mich warteten.

In den Morgenstunden hörte ich Schreie, die durch das Dorf hallten, sah, wenn der Polarstern hoch am Himmel grinste, Gruppen von seltsam gekleideten Männern mit Fackeln bewaffnet durch die Straßen ziehen. Ob diese Bilder nur Produkte meiner fiebrigen Träume und Ängste waren, kann ich nicht genau sagen. Selbst als der Morgen aschfahl graute hatte ich immer noch das Gefühl, als ob jener seltsame Traum, in dem ich mich mittlerweile gefangen glaubte, noch nicht vorüber war. Ich sah, wie die Menschen draußen mit nervösen Blicken aneinander vorbeigingen, als ob jeder von ihnen das Gleiche ahnte, das Gleiche erwartete.

Fühlte ich mich seit meiner Ankunft im Dorf geduldet als der Sohn meines Vaters, spürte ich nun eine steigende Abscheu gegen mich aufsteigen, gegen mich als einen Eindringling, einen Außenseiter, der zwar hier geboren wurde, aber nicht hier geblieben ist. Hatte ich mein Dorf verraten? Blickten die Spaziergänger nicht ständig zu mir hoch? War ich zu weit gegangen, jemals wiederzukommen? Konnte nicht auch ich aufgehen in der Gemeinschaft des Schreckens, die das Dorf so erwartungsvoll und ehrfürchtig zusammenschloss?

Als der nächste Abend hereingebrochen war und die Nacht kurz vor ihrem endgültigen Sieg über den Tag stand, saß ich immer noch am Fenster und blickte nach draußen auf die im Wind schaukelnden Bäume und die finsteren Wolken, die langsam über den Himmel glitten. Auf den Straßen war es leer geworden. In diesem Moment stand ich auf und ging, ohne darüber nachzudenken, hinaus auf die Straße. Ich blickte mich um. Auf den Hügeln hinter dem Dorf sah ich die lodernden Flammen.

V.

Ohne darüber nachzudenken, lief ich, eilte ich, rannte ich die Dorfstraße hinunter, den Blick immer wieder auf die fernen Flammen über dem waldumkranzten Hügelkamm gerichtet. Ich rannte, als ob mein Leben davon abhing, Antworten auf Fragen zu bekommen, die ich selbst nicht in Worte fassen konnte. Das Dorf befand sich mittlerweile im Griff eines bitterbösen Herbststurmes, der die anbrechende Nacht, seine alte Schwester, mit heulenden Böen begrüßte. Ich eilte an den letzten Häusern des Ortes entlang, an einer leerstehenden Gartensparte vorbei und schließlich den Weg hinauf, der in einigen Windungen den bewaldeten Hügel hinaufführte. Der Wind donnerte im Zickzack durch den dichter werdenden Wald, die dunklen Äste wogen hin und her, als würden sie in meiner Anwesenheit noch zu verstecken versuchen, dass sie schon über ein Bewusstsein verfügen. Über der brennenden Klause lichteten sich die Wolken und ein glänzender Sternenhimmel war zu sehen. Ich hatte den Eindruck, dass eine gewisse, kaum wahrnehmbare elektrische Spannung in der Luft lag. Ich war nur noch etwa hundert Meter von Abramoczeks Haus entfernt, als ich das erste Mal eine drückende Angst spürte. Ich fühlte mich beobachtet. Ich blieb stehen und blickte auf das zweistöckige, fachwerkartige Gebäude auf dem Hügelkamm, umsäumt von den alten Eichen, die seit Jahrhunderten mein Dorf bewachten. Im Dachstuhl loderten Flammen, die allerdings noch nicht auf das ganze Haus übergegriffen hatten. Hinter den Fenstern im Obergeschoss war leichter Rauch zu sehen. Die Gefahr des Feuers schien kalkulierbar, doch ich hörte eine eindringliche Stimme in mir sagen: „Geh da nicht rein“.

Langsam lief ich, schlich ich über die Schotterfläche vor dem Haus, auf der früher einmal die Tische und Stühle der „Klause“ standen, und die Gäste über das Dorf blicken konnte. Ich spähte nach Rechts in Richtung der überdachten Terrasse und dahinter zu dem kleinen, völlig verfallenen ehemaligen Wohnhaus der früheren Besitzer. Links des Haupthauses erstrecke sich ein kleiner, notdürftig umzäunter Hof, mit einigen unbepflanzten Beeten, Bauschutt, Trümmern und Gerümpel. Vorsichtig ging ich auf die Eingangstür des Hauses zu und fragte mich, ob sie abgeschlossen war. Plötzlich hörte ich Schritte hinter dem Haus, die sich eilig über den knirschenden Herbstboden Richtung Wald entfernten. Nach kurzem Zögern öffnete ich die Tür und betrat das Haus. Der Geruch von Walpurgisfeuer lag in der Luft und Qualm waberte in dünnen Schwaden durch den verlassenen Hausflur.

Links von der Eingangstür führte eine Holztreppe nach oben, geradeaus am hinteren Ende des Flures befanden sich die zwei Türen zum alten Raucherzimmer und zur Küche der Gaststätte. Die Hintertür stand offen. Ich stieg vorsichtig die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Jeder meiner Schritte quietschte leicht auf dem alten Holz und jedes Geräusch, das ich hörte, nährte meine Angst, entdeckt zu werden. Als ich im Obergeschoss ankam war der Rauch teilweise so dicht, dass ich husten musste. Ich ging auf die halb offen stehende Zimmertür zu, öffnete sie vorsichtig und betrat den Raum, der im unnatürlichen Dämmerlicht der stetoskopisch flackernden Lampen lag.

Ein spinnenartiges Gewebe aus dutzenden verlöteten Prozessoren und manipulierten Computergrafikkarten hatte sich wie ein scheußlicher Pilz über die gesamte Wand gegenüber des Eingangs ausgebreitet. Die Anordnung war völlig unsymmetrisch und schien doch einer seltsamen Logik, einer Art eigener Geometrie zu folgen. An der Wand war ein gewaltiger Brandfleck, in dem die verkohlten und geschmolzenen Reste von Kabeln und technischen Bauteilen der gleichen Art zu sehen waren. Es roch nach verbranntem Plastik, ein spitzer Geruch von Rost und Metall lag in der Luft. Doch diese feurige Melange eines brennenden Computers mischte sich mit noch etwas viel Schrecklicherem: Dem Geruch von verbranntem Fleisch.

Abramoczek klebte, hing halb an der verbrannten Stelle im Mauerwerk, mit der rechten Schulter und Teilen seines Rückens war er regelrecht mit der Wand verschmolzen. Der Rest seines Körpers hing leblos herab, der Kopf lag auf der Brust. Ich betrat den Raum, ich schlich in ihn hinein, wie in eine unheilige Krypta, die zu betreten mir eigentlich verboten war. Ich betrachtete den unnatürlich von der Wand herabhängenden Leib und fragte mich, wie ein durchschnittlicher männlicher Körper an der Fläche einer Schulter so an der Wand hängen konnte, wenn diese zudem noch so verbrannt und übel zugerichtet war wie die seine. In diesem Moment hob er langsam den Kopf…

Ich weiß nicht, wie lange ich in Ohnmacht lag, wie lange es dauerte, bis die nacheilenden Feuerwehrleute mich aufweckten und mich wild stammelnd aus dem Haus brachten. Das einzige das ich weiß, und Gott behüte, nie vergessen werde, ist wie langsam sich sein Kopf aufrichtete, wie lange – Sekunden, Minuten, Stunden – ich auf seinen erlösenden Blickkontakt wartete, bis ich merkte, dass ich in die Leere starrte, wo sich hätten seine Augen befinden sollen. Wie ich auf die Worte der Erlösung, oder wenigstens einer Erklärung hoffte, aus seinem Mund, der keine Zähne mehr beheimatete. Ich blickte in eine Leere, die ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Als ich umringt von Feuerwehrleuten und Sanitätern wieder zu mir kam, wurde Abramoczek gerade aus dem Haus getragen. Im Obergeschoss des Hauses wurde noch drei weitere Leichen gefunden, allesamt von Mitglieder seines seltsamen Zirkels. Die Polizei erklärte mir, dass er schon seit dem Blitzeinschlag tot gewesen sein muss, aber ich glaube ihnen nicht.

VI.

Ich verließ das Dorf am Tag darauf. Niemand sprach offen über das, was geschehen war und in der Lokalzeitung, die wohl einzig an diesem Wochenende wieder in erhöhter Auflage im Dorf gekauft wurde, war von einem Blitz zu lesen, der in die selbstgebauten Gerätschaften eines Hobbybastlers einschlug, wodurch dieser zusammen mit drei weiteren Technikfreunden tragischerweise ums Leben kam. Dass es in dieser Nacht im gesamten Landkreis kein Gewitter gab und dass die Fußspuren, die vom Haus weg in den Wald führten, selbst von der Kriminalpolizei nicht zugeordnet werden können, war nirgendwo zu lesen. Ich ließ mich von meinen Eltern zum Bahnhof fahren, verabschiedete mich wortkarg und stieg in den nächsten Zug.

Nach meiner Rückkehr in die Großstadt verdrängte ich die Erinnerung an die vergangenen Tage, die im Nachhinein so wirr und falsch erschienen, dass sie in meinem Gedächnis zunehmend zur Fiktion wurden. Ich setzte mein Studium der Sozialwissenschaften fort und arbeitete zielstrebig an meiner Abschlussarbeit, einer ethnografischen Meta-Studie über die Kultur und Religion indigener Volksgruppen auf der Yucatán-Halbinsel, der meine Professoren sogar die Nominierung für ein kürzlich ausgeschriebenen, studentischen Forschungspreis vorhersagten.

Es war der kurze Bericht eines Bloggers über die Festnahme mehrerer Sektenmitglieder in einer Kleinstadt in Mexiko, der mich vor einigen Tagen aus meiner monatelangen Apathie riss. Neben einer kurzen Orts – und Zeitangabe (es war Anfang Dezember letzten Jahres in einer Vorort von Mérida gewesen) befand sich ein Foto den aufgegriffenen Personen kurz nach ihrer Festnahme. Ich bete bis heute zu allen mir bekannte Göttern, dass ich mich getäuscht habe – doch es waren die eisblauen Augen und das kalte Grinsen Abramoczeks, das mich aus dem Polizeifoto anstarrte.

Die insgesamt sieben Personen wurden in einer nächtlichen Polizeiaktion bei einem nicht näher beschriebenen „ritual horrible y pervertido“ (einem scheußlichen und perversen Ritual, Amn. d. Autors) aufgegriffen. Bei der Gruppe handelte es sich offenbar um Mitglieder einer Art esoterischen Sekte, die in Brauchtum, Symbolik und Glauben den Polizeibeamten und Experten völlig unbekannt ist. Ich glaube nicht, dass auch nur eine dieser Chimären, deren Grinsen mich noch jetzt in meinen Träumen verfolgt, auf natürlichem, gesundem Wege in diese Welt kam, geschweige denn, in ihr geboren wurde. Es ist beinahe überflüssig zu erwähnen, dass über den Verbleib der Gefangenen trotz intensiver Recherche niemand Auskunft geben konnte. Zuständige Behörden, die ich in meinem bruchstückhaften spanisch kontaktierte, bestreiten, dass das Verschwinden der Gefangenen mit dem mysteriösen Tod dreier Gefängniswärter zusammenhängt, deren von Hackern geleakter, geradezu unglaublicher Autopsiebericht in Mexiko für großes Aufsehen gesorgt hatte.

Ich weiß nicht, welche mir unverständlichen Möglichkeiten des Universums diese Geschehnisse ermöglicht haben. Seit Tagen wandere ich, tief in Gedanken versunken, durch die spätherbstlichen Straßen der Stadt und schaudere, wenn die aufbrechende Wolkendecke plötzlich einen glitzernden, geheimnisvollen und unergründlichen Sternenhimmel freigibt. Hin und wieder treffen sich meine Blicke mit anderen Passanten auf den nächtlichen Straßen und ich stelle mir Fragen über die Natur ihres Wesens, die mich später nicht mehr einschlafen lassen.

Ich weiß nicht, ob Abramoczek wusste, wem oder was er in dieser Nacht Einlass in unsere Welt gewährt hat. Ich weiß nicht, auf wie vielen anderen abgelegenen Dörfern meiner Heimat und an wie vielen fremden Küsten und Gestaden unseres Planeten solche Rituale ebenfalls praktiziert werden: Von Menschen, die sich in der Hoffnung auf Erlösung von den Übeln dieser Welt dunklen Kräften aus den ältesten Albträumen der Menschheit verschrieben haben.

Ich will nicht wissen, wie viele von ihnen schon unerkannt über unsere Erde wandeln, versteckt in den schattigen Gassen und tiefen Häuserschluchten der Metropolen, versteckt auf den abgelegenen, verschwiegenen Dörfern des Landes.

Und mir graut es bei der Frage nach der wahren Natur jener Wesen, die uns nun aus fremden Augen angrinsen; mit einer Leere und Abgründigkeit, die kein Teil des uns bekannten Universums sein kann.

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