Bizarro FictionLangeObjekteTiere

Der Weg der Zahlen

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Ich
habe lange mit mir gerungen, diesen Text zu veröffentlichen. Das hat zum einen
mit meinem Zweifel an der ganzen Sache zu tun, hat aber auch persönliche
Gründe. Abgesehen davon gibt es noch einen bestimmten Auslöser, den ich hier
nicht leugnen möchte. Ich hatte Angst. Habe sie immer noch. Vielleicht ist das
der einzige Grund, warum ich so lange gewartet habe.

Okay, tief einatmen und nochmal von vorne.
Ich bekam diesen Ordner durch das Testament eines Freundes, der vor zwei Wochen
verstorben ist. Er ist bei Nacht und Nebel einfach zu schnell auf der Autobahn
gefahren und hatte einen ziemlich schlimmen Unfall. Obwohl, nach all dem was
ich gesehen habe bin ich mir nicht sicher, ob es wirklich ein Unfall war.
Jedenfalls bekam ich dieses… Ding von ihm und… ich weiß echt nicht, was ich
noch davon halten soll.

„Der Weg der Zahlen“, steht mit rotem Edding
auf diesem verfluchten schwarzen Einband, darunter ist ein weißes Omega
gezeichnet. Es ist nicht seine Handschrift, das konnte ich schon sehen, als ich
das verdammte Dinge bekam. Ebenso wenig stammen die Seiten von ihm, die sich in
der Mappe befinden.

Das heißt, die, die ebenfalls per Hand
geschrieben sind, sind nicht seine. Bei den paar Zetteln, die aus der Schreibmaschine stammen, kann ich das nicht
beurteilen, aber es würde nicht ins Bild passen, wenn  irgendwelche von diesen… Berichten seine
eigenen wären. Ich glaube persönlich, dass er sie über Jahre gesammelt hat. Einige
Seiten sind vergilbter als andere.

Der Weg der Zahlen beginnt mit einem kurzen
Vorwort, das einzige Stück Papier, das aus dem Computer zu sein scheint. Dann
folgen zwölf… Kurzgeschichten, klingt das richtig? Ach, keine Ahnung. Es sind
jedenfalls Biografien oder die kurzen Schilderungen von Ereignissen, die
größtenteils in den letzten hundert Jahren stattgefunden haben sollen. Sie
handeln meistens von bizarren Todesfällen und das seltsame Verhalten von
Menschen oder Tieren. Leider bzw. zum Glück gibt es
zu keinem einzigen davon Bilder, sodass nur die Worte des Autors als
Beweis stehen. In den letzten Zeilen kommt dann noch ein ziemlich verstörendes
Schlusswort, wie der Weg der Zahlen gegründet wurde oder was auch immer das
sein soll. So wie ich das verstanden habe, sind sie eine Art Hackergemeinde
oder irgend eine Sekte, die sich gegen die Regierung verschworen hat, ich
könnte mich aber auch irren.

Glaub mir, ich habe jeden einzelnen dieser
zwölf Fälle im Internet gesucht, auch, wenn im Vorwort davon gewarnt wurde. Ich
fand nichts, nicht einmal Andeutungen, die auf ihren Wahrheitsgehalt schließen
lassen, also kam ich zu dem Schluss, dass sie fiktiv sind. Dafür gibt es noch
andere Anzeichen.

Es fiel mir erst beim dritten oder vierten
Durchlesen der Geschichten auf. Durch jeden Fall zieht sich eine bestimmte
Zahl, keine hohe, sie befinden sich alle im Bereich von 1 bis 30. Diese Nummern
können an verschiedensten Stellen auftauchen, meistens handelt es sich um die
Dauer der Jahre oder Monate von einem Ereignis oder auch nur um das Datum.
Vielleicht wäre es hilfreich, einige Berichte zweimal zu lesen.

Eigentlich können diese Muster nicht aus
Zufall entstehen, dachte ich. Sie waren ganz klar fiktiv, vielleicht die
Fragmentgedanken von einem gescheiterten Horrorautor oder so was ähnliches.
Aber… oh Scheiße, ich kann das nicht aufschreiben, ohne dass ich verrückt
klinge!

Entschuldigung. Ich bin in letzter Zeit
ziemlich reizbar. Mittlerweile bin ich auch davon überzeugt, dass ich paranoid
geworden bin. Immerhin schreibe ich das hier von einem Internetcafé aus, einige
Kilometer von meiner Wohnung entfernt. Mein Gesicht liegt im Schatten einer
Kapuze und meine Augen werden von einer Sonnenbrille geschützt. Alle paar
Minuten drehe ich mich um, da ich das Gefühl habe, dass mir jemand über die
Schulter guckt. Schätze, ich werde mir auch bald einen Alufolienhut bauen,
damit die Regierung meine Gedanken nicht lesen kann. Obwohl, nach alldem, was
ich in den letzten Wochen durchgemacht habe, hätte ich Grund dazu. Erst dieser
Einbruch, bei dem mein Zuhause auseinander genommen wurde, dann diese echt
seltsamen Drohanrufe und noch andere Sachen, die ich hier nicht erwähnen
möchte. Täglich rede ich mir ein, dass das nur Zufälle sind, aber… was, wenn nur
angenommen, es keine sind? Ich weiß nicht einmal, wann ich das letzte Mal ruhig
geschlafen habe!

Ich würde ja zur Polizei gehen, aber wenn
auch nur der Hauch einer Chance besteht, dass der Weg der Zahlen real ist,
würde mir das noch mehr Schwierigkeiten bereiten. Manchmal frage ich mich, ob
mein Freund das alles durchmachen musste. Ob dieser… Terror der Grund war,
warum er um zwei Uhr morgen mit über zweihundert Stundenkilometern über den
Highway gerast ist. Oder, was noch schlimmer ist, ob das der Grund war, warum
jemand dafür gesorgt hat, dass er nicht bremsen konnte.

Sorry, ich sollte endlich zum Punkt kommen.
Wenn ich aber noch eine Sache sagen möchte, bevor ich den Zetteln das Wort
überlasse, dann das: Ich habe nichts in diesem Bericht zensiert oder
hinzugefügt. Ich habe diesen schwierigen Schritt einer Veröffentlichung nur
gewagt, damit ich diesen verfickten Ordner ins Feuer werfen kann, ohne das
Vermächtnis an meinen Freund dabei zu schänden. Es ist mir auch scheißegal, ob
du diese Geschichten glaubst oder nicht. Und wenn du irgendwelche Informationen
zum Weg der Zahlen hast, schließe diese Seite so schnell wie möglich!

Vorwort

Auch wenn es dich zweifellos lockt, mein
Freund, Recherchen zu diesen Berichten anzustellen, kannst du dir die Mühe
getrost sparen. Viele kluge Männer haben sich die größte Mühe gegeben, das
Leben der Betroffenen aus den Geschichtsbüchern zu streichen. Die wenigen
Augenzeugen, die noch leben, werden entweder gut für ihr Schweigen bezahlt oder
sie gehören mittlerweile zu uns. So oder so, du wirst sie nicht finden.

Wer wir sind und woher wir kommen, das ist
eine Frage, die später angerissen werden soll. Fürs Erste genügt es, dass du
weißt, dass wir es als unsere Pflicht sehen, das Andenken der Opfer zu wahren,
indem wir das Wenige, was wir wissen, vor dem Feind beschützen. Jedes dieser
Worte, und die, die noch kommen werden, entsprechen der Wahrheit, nichts als
der Wahrheit und egal wie sehr sie als Lüge dargestellt werden; es wird nichts
daran ändern, dass sie sich zugetragen haben. Wir gehen natürlich ein gewisses
Risiko ein, die vertuschten, anormalen Fälle vom System zu stehlen, doch wäre
jedes andere Handeln feige. Mache aus diesen Begebenheiten, was du willst und
wer weiß, vielleicht erkennst du dadurch dein eigenes, persönliches Muster.

Wir sind niemand. Wir sind jeder. Unsere
Zahl ist Omega. Wir sind der Weg der Zahlen.          

Die aufgekratzte Haut der Mrs. Meyer

Am dreizehnten April 1913 fanden
Bauarbeiter die Leiche der sechsundzwanzig jährigen Elsa Meyer beim Abriss
eines Gebäudes in Toronto, Kanada. Der Körper lag mit geschlossenen Augen und
zurecht gelegten Armen auf dem Boden einer baufälligen Wohnung, ohne, dass
Spuren im fingerdicken Staub zu sehen waren. Mrs. Meyer war knapp zwei Wochen
davor verschwunden, als sie von einem Waldspaziergang nicht wieder kam. Ihre
Identität konnte aber erst Jahre später durch Zahnabdrücke bestätigt werden, da
die Polizei nur nach Einheimischen Vermissten Ausschau hielt. Das Waldstück, in
dem sie verschwand, lag allerdings nur wenige Meilen von ihrer Heimatstadt,
Edinburgh, Schottland, entfernt und Elsa hatte in ihrem Leben niemals Fuß auf
amerikanischen Boden gesetzt.

Die Arbeiter beschrieben die Tote als
unverwest und mit Ausnahme von stark blutenden Kratzern an Hals und Armen als
unverletzt. Die Anzahl der Wunden variiert, aber die meisten Männer schilderten
drei große Öffnungen in der Kehle und jeweils fünf an beiden Pulsschlagadern.

Meyers Verlobter, Patrick Marshall, hatte
den Tod seiner Geliebten nie verkraftet und blieb für den Rest seiner Tage
unverheiratet. Er verschwand 1926, ohne, dass jemals ein Körper gefunden wurde.

Die Revolte der Pferde auf Jim Bishops Ranch

Im Oktober 1890 wurde der Texaner Jim
Bishop von Behörden in eine örtliche Nervenheilanstalt eingeliefert, da er sein
Haus und das seines fünf Meilen entfernt lebenden Nachbarns in Brand gesetzt
hatte, wobei dieser starb.

Bis ans Ende seines Lebens sollte Jim jedoch
folgende Geschichte erzählen, wie es wirklich zum Tod des Mannes und zur
Zerstörung der beiden Wohnsitze kam: Zehn Tage zuvor begannen die Tiere auf der
Pferderanch, die Bishop führte, aufzuhören, ihr gewöhnliches Futter anzurühren.
Erst vermutete er, das mangelhafte Qualität dahintersteckte, aber auch der Wechsel
zu einem anderen Händler brachte keine Besserung. Zudem konnte er beobachten,
wie die Pferde anfingen, den Ratten, unter denen die Ranch litt, nachzustellen
und Stücke aus deren Fleisch abzubeißen. Auch 
verhielten sie sich sehr aggressiv gegenüber anderen Lebewesen, Bishop
eingeschlossen. Er kam zu dem Schluss, dass es das Beste wäre, die Tiere zu
erschießen.

In der Nacht, in der er diese Entscheidung
getroffen hatte, fing das Gebäude Feuer. Nur mit Not rettete er sich aus seinem
Schlafzimmer und konnte draußen beobachten, wie seine Pferde davon
galoppierten, an ihren Mäulern klebte „so etwas wie blutiger Schaum“. Er sagte
ebenfalls, dass es ihm vorkam, als würde der einzige Hengst der Herde voran
rennen, während die neun Stuten folgten. Jims geistige Gesundheit nahm in den
folgenden Jahren stark ab, so dass er in seinen letzten Monaten nur noch
wiehern konnte und sich wie ein verstörtes Tier benahm.

Er starb 1900 an einem Herzanfall.

Das abnormale Verhalten des grünäugigen Kindes

1956 fanden russische Fischer irgendwo an
der Nordküste Sibiriens einen nackten, etwa acht- bis zehnjährigen Jungen, der
stark verwundet zwischen ihren Netzen lag. Sie brachten das Kind in das
naheliegende Dorf, wo es von einer Familie versorgt und wieder aufgepäppelt
wurde. Da der Junge niemals das Reden lernte, gaben die Einheimischen ihm den
Namen „Sascha.“

Neben der Unfähigkeit zu reden legte das
Kind noch andere Sonderheiten an den Tag, die von mehreren Einwohnern bestätigt
wurden: Er weigerte sich stets, Fisch oder andere Meeresfrüchte anzufassen und
ernährte sich größtenteils von einer essbaren Algenart sowie Brot, das er mit
einer Unmenge an Salz würzte. Sascha ging dennoch oft mit seinem Pflegevater
fischen; wohl, um in die Nähe des Meeres zu kommen, das er über alles liebte.
Außerdem beschreiben Zeugen, dass seine Augen einen ungewöhnlich kräftigen
Grünton besaßen, wie sie es noch nie bei einem anderen Menschen gesehen hatten.
Auch fehlten ihm der kleine Finger an der linken Hand, ohne das Narben oder ähnliches
zu sehen waren. Es schien, als wäre er mit neun Fingern auf die Welt gekommen.
Eine Nachbarin der Familie konnte bestätigen, dass er eine normale Anzahl an
Zehen besaß, wenn diese auch stark deformiert waren, so dass seine Füße an
Flossen erinnerten.

Sascha blieb gut anderthalb Jahre bei der
Familie, ehe er am neunzehnten Februar 1958 verschwand. An diesem Tag wurde
zudem das komplette Vieh der Familie, bestehend aus zehn Hühner, sechs Gänsen,
zwei Schweinen und einem Maultier tot aufgefunden, ohne, dass sie äußeren
Schaden zeigten.

Die kleine Tochter des Fischers, Natascha,
widerfuhr ein ähnliches Schicksal, als sie später in selbem Jahr auf mysteriöse
Weise starb. Das Baby wurde tot in seiner Wiege gefunden, mit einem seltsamen
grünen Schleim an den Mundwinkeln und einer gräulichen Färbung des Gesichts.
Sie wurde nur neunzehn Monate alt.

Eine Autopsie ergab, dass Natascha ertrank.

Die missglückte Entdeckung der lemurischen Küste

Über diesen Fall ist nur wenig bekannt. Ein
spanischer Seefahrer, dessen Name nicht die Zeit überdauert hatte, fertigte
angeblich Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts nach einer zwölfjährigen Irrfahrt
eine Karte eines von ihm entdeckten Kontinents an, der zwischen Madagaskar und
Indien liegen sollte und die Größe von ganz Europa besäße. Er beschrieb das
Land als unwirklich und größtenteils aus Wüste bestehend, mit Ausnahme von
genau ein dutzend Inseln, auf denen ein großgewachsenes, asiatisch anmutendes
Indiovolk hauste, was hauptsächlich vom Walfang lebte. Interessanterweise kam
der Gedanke an eine solche Landmasse im neunzehnten Jahrhundert wieder auf, wo
der hypothetische Kontinent in Anlehnung auf die Halbaffen Madagaskars
„Lemuria“ getauft wurde.

Der Seefahrer jedenfalls wollte nach seiner
Rückkehr in Spanien noch ein zweites Mal zu seiner Entdeckung segeln, wohl um
Beweise zu sammeln, doch verschwand seine gesamte Crew in der Weite des Ozeans.
Lediglich sein Schiff wurde genau ein Jahr später an die Küste der
Shetlandinseln gespült, wo sich noch ein fast unangetasteter Vorrat an
unverdorbenem Proviant befand.

Über den Verbleib der Karte, die ebenfalls
an Bord gewesen sein soll, gibt es keine konkreten Aussagen, aber angeblich
wurde sie im Dezember 1612 im Auftrag von Papst Paul V. verbrannt.

Die plötzliche Levitation der kleinen Rosa

Maria Rosalina Avella, genannt Rosa, war die
siebenjährige Tochter einer wohlhabenden peruanischen Familie, die zwischen dem
ersten und achtzehnten Juni 1980 mit ihren Eltern Urlaub in Nordirland machte.
Am letzten Tag ihrer Reise beschloss die Familie, noch einen letzten Ausflug in
die Natur zu unternehmen. Mr. Avella, der in seinem Leben nur ein einziges
Interview zu diesem Thema führen sollte, sagte aus, dass Rosa während der Fahrt
zu einem Naturschutzgebiet ständig lachte und kicherte, ohne dass dazu ein
ersichtlicher Grund bestand. Auf seine Frage hin, antwortete Rosa, sie freue
sich darauf, „mit dem zwitschernden Mann zu spielen“.

Als sie ankamen lief Rosa schon einmal los,
während das Ehepaar Avella die Picknickdecke aus dem Kofferraum holte. Ein
Fehler, den beide bis ans Ende ihres Lebens bereuen sollten.

Kaum, dass sie ihre Sachen zusammengepackt
hatten, hörten sie auch schon, wie Rosa anfing zu schreien. Die Avellas ließen
selbstverständlich alles fallen und rannten in die Richtung, in der sie ihre
Tochter vermuteten. Darüber, was dann geschah, hat Mr. Avella nicht viel
geredet, aber er berichtete schließlich, er hätte gesehen, wie seine Tochter
von einem etwa zwei Meter großen, halb durchsichtigen Humanoid in die Luft
gehoben wurde, wobei sie lauthals lachte. Als Rosa die Höhe seines Kopfes
erreicht hatte, löste sich die Gestalt komplett auf, das Mädchen aber schwebte
immer schneller weiter in die Höhe, wo es irgendwann den Blicken der vor lauter
Schock erstarrten Eltern entkam. Eine mehrere Monate lange Suchaktion blieb
ohne Erfolg.

Trotz langer Therapiesitzungen gegen ihre
Depression beging Mrs. Avella am Jahrestag von Rosas Verschwinden Selbstmord,
indem sie von einem Hochhaus in Lima sprang. Ihr Ehemann verstarb kurze Zeit
später, nachdem er uns das erste und einzige Interview zum Verschwinden seiner
Tochter gegeben hat. Die letzte Überlebende Avella war damit seine Schwester
Cynthia, Rosas Tante.

Sämtliche folgenden Ereignisse wurden uns
von ihrem Nachbarn, der lieber nicht genannt werden möchte, geschildert: 1998,
um sechs Uhr abends am achtzehnten Jahrestag ihres Verschwindens lief ein
fröhliches siebenjähriges Mädchen durch die Straße, wo Cynthia Avella lebte und
klopfte an dessen Tür. Die alte Dame machte auf und wurde augenblicklich
kreidebleich. Es handelte sich tatsächlich um ihre totgeglaubte Nichte, die
keinen Tag gealtert war. Unser Zeuge konnte nur noch wenig aus ihrem weiteren
Gespräch entnehmen, da die beiden ums Haus gingen, doch hörte er noch, wie das
Mädchen sagte, sie wäre auf „der Insel der zwitschernden Männer“ gewesen.

Cynthia verschwand ebenfalls kurz nach
diesem Vorfall. Einige glauben, Rosa hätte sie mit an den Ort genommen, wo sie
fast zwei Jahrzehnte ohne die Einflüsse der Sterblichkeit gelebt hatte, aber eine Vertuschung durch die peruanische Regierung
scheint wahrscheinlicher.            

Der bizarre Tod von Anna Aumann

Anna Aumann war eine deutsche Studentin an
der Universität in Stuttgart, die am ersten Januar 2001 unter mysteriösen
Umständen ums Leben kam. Mehrere Zeugen konnten berichten, wie sie auf ihrem
Weg zu einer Freundin plötzlich ins Schwanken geriet und schließlich auf
offener Straße umfiel. Noch bevor der Wiederbelebungsversuch durch einen
Passanten eingeleitet werden konnte, stellte sie das Atmen ein und starb mit
weit geöffneten Augen.

Bei ihrer Autopsie fand der Pathologe, der
uns später einen genauen Bericht lieferte, mehrere Besonderheiten. Zum einen
befand sich in dem Magen der Toten ein noch nicht verdautes längliches Stück
rohes Fleisch, etwa 500 Gramm schwer, welches später einem gemeinem Rothirsch
zugeordnet werden konnte. Auch hatte Anna mit einem Filzstift mehrere nicht
leserliche Buchstaben auf ihren linken Unterarm gezeichnet, sowie den Satz „Er
riecht mich durch sein Auge“ unterhalb ihrer rechten Brust.

Das skurrilste war aber wohl die
Todesursache. Erst nach drei Tagen fanden die Ärzte eine einzige spitze Scherbe
aus einem Spiegel, die in ihrem Herzen steckte. Es gab keine anderen Verletzungen,
weder an ihrer Haut, noch an einer anderen Stelle. Es schien, als wäre der
Splitter in der Minute von Annas Tod in ihr gewachsen.

Tage später bekam der Pathologe einen
anonymen Anruf, wo er aufgefordert wurde, die offizielle Todesursache in eine
Rauschgiftüberdosis umzuändern. Die Stimme in der anderen Leitung sei so
bedrohlich, so mechanisch und so kalt gewesen, dass er ihrem Willen nachgab.
Erst 2014 brach er sein Schweigen und gab uns in Form von einer E-Mail Auskunft
über die Geschehnisse. Er starb im selben Jahr bei einem nicht ganz
aufgeklärten Haushaltsunfall.

Freunde von Anna, die wir ebenfalls
interviewten und die auch später an
Unfällen starben, vermuteten, dass die Studentin bei einem gescheiterten
„Spiel“ einen Dämon heraufbeschworen hatte, von dem sie Bilder gezeichnet
haben solle. Auf den Zeichnungen, die heute leider nicht mehr existieren, sei
eine Gestalt zu sehen, deren Kopf aus einem einzigen Augapfel besteht und
dessen Beine in Rehhufe enden.

Woran Anna Aumann aber tatsächlich am ersten
Tag des Jahres starb, wird wohl für immer ihr Geheimnis bleiben.      

Die galanten vietnamesischen Halbmenschen und ihre Mahlzeit

Dr. Howard Fisherman von der University of California (ein Name den man heute
vergeblich in dessen Chronik sucht), brach mit seinem internationalen Team aus
sieben Kollegen in einem Frühsommer der späten achtziger Jahre zu einer
Expedition in das tiefste Herz des Dschungels Vietnams auf, um ein heimisches
Mysterium zu lösen. Dr. Fisherman war regelrecht besessen davon, Beweise für
die Existenz des Nguoi Rung zu finden, einer
kryptiden humanoiden Affenart, die oft mit dem tibetischen Yeti oder dem
chinesischen Yeren gleichgestellt wird. Das Forscherteam war davon überzeugt,
dass es sich bei den angeblichen Sagengestalten um einen überlebenden Zweig der
Gattung Homo erectus handeln müsste. Neben professionellem Equipment zur Film-
und Tonaufnahme brachte der japanische Biologe Haru Miyazaki zudem die
Super-8-Kamera seiner kleinen Tochter mit, da er ihr Bildaufnahmen von wilden
Tieren versprochen hatte. Das Team trennte sich am dritten Tag von den
einheimischen Führern und versuchte sich auf der Suche nach den Affenwesen
selbst durchzuschlagen. Dies war das letzte Mal, dass man etwas von ihnen für
über ein halbes Jahr sehen sollte.

Erst acht Monate später fanden Bauern die
Leichen, nah des Ortes ihres ursprünglichen Reisebeginns. Alle acht Körper
lagen in flachen, aus Ästen gebauten Nestern und sie alle hatten die Hände
friedlich über der Brust gefaltet, was aber nicht  von den grauenhaften Wunden am Kopf ablenkte.
Jedem der Forscher wurden die  Augäpfel mit einer chirurgischen Präzision entfernt und durch die
Augenhöhle wurde das Gehirn entnommen. Sie waren alle bis auf die Unterwäsche
nackt und sämtliche Ausrüstung war verschwunden, mit Ausnahme von Dr. Miyazakis
Super-8-Kamera, die neben dessen Körper ruhte. An ihr klebte Blut und eine
andere nicht zuordbare Körperflüssigkeit, die anscheinend nicht menschlich war.
Die Aufnahmen zeigen größtenteils nur die Beobachtungen von harmlosen
Wildtieren mit einer simplen Erklärung auf japanisch, so dass es auch eine
Elfjährige verstehen konnte. Nur der letzte Film zeigt eine Teilnehmerin der
Expedition, wie sie für siebenundzwanzig Minuten in die Kamera starrt, dabei
kaum blinzelt und auch größere Atempausen macht.

Die Untersuchung aller drei weiblichen
Forscher zeigte zudem, dass diese starke Verletzungen in der Genitalregion
besaßen, die zwar nicht auf eine Vergewaltigung deuteten, dafür aber für eine
improvisatorische Geburt von einem ungewöhnlich großen Fötus sprachen. Keine
der Frauen war zum Zeitpunkt des Aufbruchs schwanger gewesen und auch eine
verfrühte Zwillingsgeburt hätte derartigen Schaden nicht zufügen können. Zudem
wurde nach einer kurzer Zeit klar, dass jede von ihnen unmittelbar vor ihrem
Tod gestillt hatte.

Der einzige Mann, der außergewöhnliche
Wunden aufwies, war Howard Fisherman selbst. In seinem Nacken war (anscheinend
mit einem Steinchen) das vietnamesische Wort für „Danke“ eingeritzt
worden.     

Der entstellte Kadaver der Elefantenkuh Ellie

Ein Wanderzirkus, der Anfang der 1900er
durch ganz Amerika fuhr, verlor beim Halt in einer kleinen Stadt in
Massachusetts ihren einzigen asiatischen Elefanten, eine fünfjährige Kuh, die
den Namen „Ellie“ getragen haben soll.

Der Pfleger des Tieres, ein zu dem Zeitpunkt
sechzehnjähriger Junge, sagte aus, das Tier hätte in der Nacht seines Todes so
schrecklich angefangen zu trompeten und zu brüllen, dass er schließlich dessen
Käfig aufschloss, um nach dem Rechten zu sehen. Diesen Moment nutzte Ellie,
riss sich von ihren Eisenketten los, die sonst auch den hysterischsten
Dickhäuter in Zaum gehalten hätte, und rannte in die Nacht davon. Ihr Wächter
stellte sich ihr, aus der verständlichen Angst zerquetscht zu werden, nicht in
den Weg und konnte nur noch sehen, wie sie verschwand. Angeblich sei der
Direktor des Zirkus so wütend gewesen, dass er dem Burschen später einen Finger
abschneiden ließ.

Seine Männer fanden Ellie jedenfalls, so um
die Abenddämmerung herum, an einem nahen See liegend. Das arme Tier sei so
entstellt gewesen, dass man es nur noch schwerlich als Elefanten klassifizieren
konnte. Der Kuh fehlte der komplette Rüssel und große Bereiche des
Mundnasenraumes. Ihre linke Seite war von riesigen, fünffingrigen
Krallenabdrücken geradezu zerfleischt worden, so dass Teile der Gedärme heraus
guckten. Ihre Vorderbeine seien zudem stark verbrannt gewesen, wodurch ein
ekelhafter, fast schon appetitlicher Geruch in der kühlen Luft aufstieg. Der
Direktor konnte den Kadaver später an eine Hundefutterfabrik in Boston
verkaufen. Die Kinder, die den Körper zerlegen mussten, sagten aus, dass dem
Tier die komplette Leber gefehlt habe. Dazu waren Ellies Knochen mehrfach
gebrochen, als wäre sie aus großer Höhe gefallen.

Noch in derselben Woche reiste der Zirkus
aus der Kleinstadt ab. Keiner seiner Bewohner schien der Vorfall zu
überraschen. Der Sheriff sagte zu einem der Spielleute im Vertrauen, dass es
bereits vier weitere Kadaver in diesem Jahr gegeben hätte, wobei der des
Elefanten natürlich der Größte sei. Der Spielmann fragte ihn dann, warum die
Stadt dann immer noch stehen würde. Der Bewohner lächelte und sagte dann, dass
die Kreatur, die sie „die Donnerechse aus den Wäldern“ nannten, das Dorf in
Frieden ließ, wenn man sie essen lassen würde. Noch nie sei ein Mensch getötet
worden und der Zirkus könne gerne ohne Bedenken bleiben, wenn er möchte. Der
Direktor war allerdings ein zu skeptischer Mann, um an gnädige Drachen zu
glauben und brach seine Zelte ab. Es wird gesagt, dass sie nie wieder in
Massachusetts gehalten haben sollen.

Ob die Taktik der Dorfbewohner funktioniert
hat? Nun, wahrscheinlich nicht. Der letzte Ansässige verschwand im Mai
1955.        

Die bedauernswerte Unsterblichkeit von Schwester Narzissa

Das heute verlassene Nonnenkloster der
heiligen Lucia, was einige Kilometer entfernt von Neapel stand, soll 1477 eine
florentinische Kurtisane mit griechischen Wurzeln namens Narzissa aufgenommen
haben. Angeblich sei sie eine ehemalige Geliebte von Lorenzo de Medici gewesen
und suche nun bei Gott Vergebung für ihr sündiges Leben.

Aufgrund ihrer Herkunft und ihrer orthodoxen
Abstammung hatte sie natürlich den Hass von mehreren Glaubensschwestern
geweckt; diese versuchten daraufhin stets, 
Narzissa in der Gunst der Mutter Oberin sinken zu lassen. Dies gelang
ihnen aber erst 1491, vierzehn Jahre nach ihrer Ankunft im Kloster, durch eine
angebliche, von Narzissa verübte Gräueltat, die nicht überliefert wurde. Die
ehemalige Hure nahm das Urteil, das daraufhin über ihr Haupt gelegt wurde,
schweigend hin. Den Rest ihres Lebens sollte sie in einer kleinen, fensterlosen
Kammer verbringen, wo man ihr einmal am Tag etwas Wasser und Schwarzbrot durch
eine Luke reichen sollte. So würde sie für ihre Sünden büßen und am jüngsten
Tag vom Herrn errettet werden. Die Schwestern, die die Intrigen ins Rollen
gebracht hatten, waren sich sicher, dass Narzissa nach wenigen Monaten in der
Dunkelheit ihren Verstand verlieren würde.

Nur dass es so nicht kam. Schwester Narzissa
sah zwar nie das Sonnenlicht wieder, doch verlor sie nie ihren Glauben an die
Gerechtigkeit. Sie bedankte sich stets, wenn man ihr Essen brachte und war auch
sonst durch die Tür zu ihrem Gefängnis vollkommen ansprechbar. Die Jahre
vergingen, Schwestern kamen und starben, aber 
die Gebete aus Narzissas Zelle hörten nicht auf.

Irgendwann, wohl Mitte des 16. Jahrhunderts,
als sie weit über hundert Jahre gewesen sein musste, bat sie darum, dass man
ihr keine weitere Nahrung mehr geben sollte, da sie diese nun nicht mehr
brauchen würde. Man sah das als Zeichen, dass sie bald sterben würde und suchte
schon den Schlüssel zu ihrer Kammer, um die Leiche herauszuholen. Doch sie
starb einfach nicht, auch nach Monaten ohne Wasser war sie immer noch zu
normalen Gesprächen im Stande. Irgendwann soll eine junge Ordensschwester
schließlich gefragt haben, wie sie ohne die geringste Hilfe an so einem Ort
überleben konnte. Narzissa antwortete, der Herr hätte sie ausgewählt, ein
„Wächter der Apokalypse“ zu sein und mit seiner Hilfe bräuchte sie weder Hunger
noch Durst noch den Tod zu fürchten.

Mit den Jahren wurden die Unterhaltungen mit
anderen Nonnen immer seltener, bis man sie als alte Legende abstempelte. Das
letzte Mal, dass Narzissa geredet haben soll, war 1914, an dem Tag, an dem der
erste Weltkrieg begann. Ihre letzten Worten waren angeblich: „Der erste der
drei großen Kriege beginnt und die Welt endet. Gott sei mit uns.“

Auch wenn das Gebäude heute verlassen ist,
die Tür zu Narzissas Zelle wurde nie geöffnet, da nie ein Schlüssel gefunden
wurde. Man sagt, wenn man sein Ohr an das Holz presst und sich lange
konzentriert, könne man immer noch hören, wie jemand leise betet.           

George Olsons Offenbarungen im Bezug auf die Unendlichkeit

Viele seiner (heute verschwundenen)
Professoren und Freunde bestätigten uns, dass George Olson einer der
begabtesten Physikstudenten war, die Oxford je gesehen hat. Einige von ihnen
vermuteten sogar, dass er der nächste Albert Einstein oder Stephen Hawking
geworden wäre, wenn…. nun, wenn er nicht mit anderen Dingen beschäftigt
gewesen wäre.

George war Gründer und einziges dauerhaftes
Mitglied einer kurzlebigen religiösen Bewegung namens „The Church of Light and Darkness“. Die Lehren Olsons bezogen sich teilweise auf Satanismus und
germanischer Mythologie, zeichneten sich aber in erster Linie durch ihren
extremen Dualismus aus. Laut seiner eigens verfassten Bibel „The seven Elements“ gäbe es in der sichtbaren Welt zwei Mächte: Die eines verbitterten
aber mächtigen Schöpfers und die einer gefallenen, gütigen Entität, die Olson
„der Äther“ taufte. Was ebenfalls im Zentrum des Glaubens stand, war die eigens
verfasste Lehre der sieben Elemente, die stark von den Gedanken westlicher und
östlicher Philosophen abweicht. So sei das Universum aus folgenden Stoffen
aufgebaut: die feste Materie, die flüssige Materie, die tiefe unbekannte
Materie, das vergängliche Fleisch, der bereits vergangene Staub, die erhabenen
Strömungen und das endlose Nichts. Von seinen Büchern gibt es nur noch zwei
Ausgaben, von denen eine stark beschädigt ist. Beide befinden sich in unserem
Besitz.

Der Hauptgrund, warum seine
„Glaubensgemeinde“, wie er es gerne meinte, wenig Anhänger hatte, lag wohl an
den grausamen Ritualen, die er im Namen der Sekte durchführte. Ehemalige
Mitglieder beschrieben, wie er Katzen am lebendigen Leib verbrannte oder
häutete, um ihre kosmische Energie zu sammeln. Allgemein hatte er eine große
Fixierung auf Katzen. Er sagte einmal, dass carnivorische Lebewesen eine
besonders starke Verbindung zum Äther hätten und Katzen nun einmal die
billigsten Raubtiere wären, die man für Geld kaufen konnte. Es wurde mehrfach
überlegt, ihn der Universität zu verweisen, doch hinterließ er nie genug
Beweise, damit dies eine Begründung gewesen wäre.   

Der Höhepunkt und gleichzeitig das Ende der Chruch of Light and Darkness ereignete sich am siebten Juli 1927 auf einem nahe
gelegenen Friedhof, wo George das Ultimative Ritual vollziehen wollte, um mit
der Kraft des Äthers einen Einblick vom siebten Element, dem endlosen Nichts,
zu erhaschen. Dazu wollte er sieben Katzen 
mit einem Skalpell die Kehle durchschneiden und ihre Körper in Form
eines von ihm bestimmten Musters anordnet. Hier verlor er auch den letzten
Freund, der sich mit den Ideen seiner Sekten angefreundet hatte. Aus diesem
Grund können wir nicht sagen, wie der Akt der Beschwörung verlaufen ist; wir
wissen nur, wie man Olson am Morgen fand.

Einige der Studenten, die ihn kauernd auf
dem Boden entdeckten, brauchten später eine Therapie aufgrund einer
posttraumatischen Belastungsstörung. Die sabbernden, schreienden Überreste von
George Olson ließen sich wohl schwerlich als noch menschlich beschreiben. Das
Ding, welches vielleicht einmal der größte Physiker aller Zeiten hätte werden
können, hatte sich das Trommelfell an beiden Ohren durchtrennt und sich
anschließend selbst geblendet. Im Sanatorium, wo es später hingebracht wurde,
gelang es ihm auch, sich seine Zunge abzubeißen und den Innenraum seiner Nase
mit einem Löffel zu beschädigen. Interessanterweise lag das Ding mit sieben
Katzen zusammen, die quicklebendig mit seinem Körper schmusten. Es waren zwar
die Blutspuren in einem seltsamen siebenzackigen Stern zu sehen und es handelte
sich auch um tierisches Blut, aber keine der sieben hatte irgendeine Wunde in
ihrem etwas schmutzigen Fell.

Das Ding, was mal George Olson gewesen war,
starb einige Jahre später an einem Schlaganfall, was wohl als große Gnade
betrachtet werden darf. Die Katzen kamen in ein Tierheim und wurden teilweise
vermittelt. Uns gelang es, die Spur von zwei Tieren zurückzuverfolgen. Ein
interessantes Detail ist wohl, dass beide ein extrem hohes Alter von 21 bzw. 28
Jahren erreichten. Dass sich diese zwei Zahlen gerade durch sieben teilen lassen,
sei eine Tatsache, die hier zumindest einmal angemerkt werden soll.         

Die introvertierte Rattenkönigin von Paris

Pierre Rothschild war ein eher unbegabter
österreichischer Photograf und Künstler, der im Paris der 60er Jahre sein
Unwesen trieb. Seine Versuche, die „wahre Schönheit des Alltags“ einzufangen,
stieß in keinem Studio auf große Begeisterung; was wohl nicht verwunderlich
ist, da er Schönheit z.b. als zwei Obdachlose definierte, die sich um eine
Flasche Bier stritten.

Neben diesen kläglichen Versuchen berühmt zu
werden lag sein privates Interesse in der Erkundung der berüchtigten Katakomben
von Paris, in denen immer noch die Gebeine von 6 Millionen Menschen ihre letzte
Ruhe gefunden haben. Da der Zutritt zu diesem unterirdischen Labyrinth aber
illegal ist, konnte er nie mit Bildern rechnen, die einen seriösen Käufer
finden würden.

Nach einer weiteren Absage am sechzehnten
Mai 1963 betrank sich Pierre in seinem Appartement, um sich von seinem Kummer
abzulenken. Dort muss er irgendwie auf die Idee gekommen sein, dass es ein
guter Plan wäre, sich am späten Abend Zutritt zu den Katakomben zu verschaffen
und nach passenden Motiven Ausschau zu halten.

Aufgrund seines Alkoholspiegels konnte er
uns nur noch vage beschreiben, wie der Rest der Nacht verlief. Was er aber noch
wußte ist, dass er sich verlaufen hatte und panisch durch die von Knochen
gesäumten Gänge rannte. Dort schoss er dann wohl  sein einziges Photo, was jemals einen zweiten
Blick wert gewesen wäre.

Nachdem er fast sechzehn Stunden durch die
Pariser Unterwelt geirrt war, fand er schließlich einen Ausweg ans Tageslicht.
Bedauernswerter Weise war er immer noch so geschockt, dass er seine Kamera nach
einem Blick auf das Photo in die Fluten der Seine warf und die Katakomben
niemals wieder betreten sollte.

In einem Interview, welches er uns 1970 gab
(Pierre lebte zu diesem Zeitpunkt schon lange auf der Straße) beschrieb er zum
ersten und wahrscheinlich letzten Mal die Geschehnisse in dieser Nacht.

Rothschild schoss das Bild, welches sein
Leben verändern sollte, anscheinend nur, damit er etwas mehr Licht in dem engen
Tunnel hatte. Im Blitz der Kamera konnte er die Kreatur erblicken, der er von
da an nur als die „Rattenkönigin“ bezeichnete.

Sofern seine Aussagen korrekt sind, stand
eine kleine, gekrümmte und offenbar blinde Frau vor ihm, die von einer Unzahl
von Ratten umringt war. Sie trug, wie er später auf dem Photo erkennen konnte,
ein Kleid, was an die Mode des Adels zur Zeit der französischen Revolution
erinnerte und eine Krone, anscheinend gefertigt aus Kleintierknochen. Auch
hatte die Erscheinung eine lange rote Wunde einmal quer um den Hals herum.
Rothschild schrie bei ihrem Anblick auf und konnte dann hören, wie  dutzende kleine Körper fielen. Anschließend fühlte
er, wie die Ratten seine Füße streiften, als sie die Flucht ergriffen. Es
schien, als hätte sich der Körper der Kreatur beim Anblick eines anderen
Menschen in noch mehr Nager aufgelöst. Pierre stellte aufgrund der markanten
Perücke und der Ähnlichkeit zu einigen Portraits die Vermutung auf, dass es
sich bei der Greisin um niemand geringeren als Königin Marie Antoinette handeln
müsste, deren Geist seit ihrer Hinrichtung am 16. Oktober 1793 an die Stadt
ihres Todes gebunden sein könnte. Die Theorie ist zwar unwahrscheinlich, aber
wir schließen sie nicht vollkommen aus.

Pierre Rothschild starb 1979 an irreparablen
Leberschäden; sein Alkoholkonsum scheint dafür eine plausiblere Erklärung zu
sein als ein Eingriff von übersinnlichen Mächten.           

Der außergewöhnliche Verstand des Thomas van Dyck

Die van Dycks waren eine reiche, wenn auch
oft von Krankheitsfällen heimgesuchte, Amsterdamer Familie von Geschäftsleuten,
deren Blütezeit die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren. Ihr wohl
reichstes Mitglied war der Kunsthändler Ruben van Dyck, der Anfang des
Jahrhunderts die Nichte eines Geschäftspartners namens Lotte Westervoord
heiratete. Mit ihr versuchte er über Jahre hin gesunde Kinder zu zeugen, doch
waren alle seine Nachkommen entweder Totgeburten oder sie starben innerhalb des
ersten Lebensjahres.

Erst 1923, fast zwanzig Jahre nach der
Hochzeit, gebar Lotte einen Sohn, der die Wiege überleben sollte, wenn man ihn
auch nicht als gesund beschreiben konnte. Thomas van Dyck, geboren in der Nacht
vom neunzehnten auf den zwanzigsten März, wies eine starke Deformierung des
Kopfes auf, die ihm unter seinen Verwandten den Spitznamen „Pinda“ (zu deutsch
„Erdnuss“) einbrachte und blieb Zeit seines Lebens geistig beeinträchtigt.
Obendrein verstarb Lotte van Dyck im Wochenbett, was wohl alle Beteiligten
überraschte, war sie doch dafür bekannt, schnell nach einer Geburt wieder auf
den Beinen zu sein. Ruben van Dyck, der seinen einzig lebenden Sohn für den Tod
seiner Frau verantwortlich machte, schickte das Kind zu seiner Mutter,
heiratete einige Jahre später erneut und bekam zwei vollkommen gesunde Kinder,
ein Junge und ein Mädchen.

Jedenfalls weiß man über Thomas, dass seine
Großmutter ihn relativ gut behandelte, dass das Personal aber eine gewisse
Angst vor dem Kind hatte. Eine ehemalige Putzfrau, die wir Anfang des neuen
Jahrtausends im Alter von 92 interviewten, erzählte uns, dass der Junge
mehrfach beobachtet wurde, wie er kleine Tiere (Mäuse, Frösche und ähnliches)
auf eine unbekannte Weise zu sich heran lockte und diese dann anfingen aus den
Schnauzen und Augen zu bluten, woraufhin sie 
eingingen, was Thomas stets große Freude bereitete. Ähnlich war er in
der Lage, die Dienerschaft seiner Großmutter zu beeinflussen. Dies geschah zum
Beispiel beim Essen. Thomas, der eine Vorliebe für Milch hatte, neigte dazu,
das Kindermädchen so lange anzustarren, bis diese Kopfschmerzen und Nasenbluten
bekam und gleichzeitig ungewohnt an unmissverständliche Bilder wie eine
grasende Kuh oder auch einfach nur an die Farbe weiß denken musste. Diese
Tortur endete erst, wenn der Junge seinen Willen bekommen hatte und sie ihm
nachschenkte. Einige Diener haben bereits im ersten Jahr nach seiner Ankunft
gekündigt; sie beschrieben, dass Thomas vor ihren Augen Bauklötze schweben ließ
und Insekten zum platzen brachte.

Auf die Frage, woher er diese Fähigkeiten
hatte, antwortete er stets, dass die „rote Fee hinter seinen Augenlidern“ es
ihm beigebracht hätte. Wer diese Fee war, wollte er nie so richtig sagen, er
erwähnte aber einmal, dass es nur eine Hand voll Wesen in der Schöpfung geben
würde, die die Lieder der Fee hören könnte. Nur zwei dieser Wesen würden auf
der Erde leben: Er selbst und der weiße Kanarienvogel einer britischen
Herzogin.

Was Thomas auch immer damit meinte, die
letzte Hoffnung, es herauszufinden, starb Mitte Dezember 1931. Der achtjährige
hatte im Laufe des Tages angefangen zu schreien und er beschwerte sich darüber,
dass „die Fee ihn aus seiner Hülle ziehen wollte“. Frau van Dyck, seine Großmutter,
verlor endgültig die Nerven und sperrte das Kind in sein Zimmer ein, woraufhin
das ganze Haus gebebt haben soll. Als man die Tür am übernächsten Tag wieder
aufmachte… war der Junge leer. Körperlich war er in Ordnung, er atmete, hatte
Herzschlag aber… sein Verstand war weg. Wie eine leere Puppe, die man mit
Brei füttern musste und die in Windeln machte. Es schien wirklich so, als hätte
die rote Fee ihn tatsächlich aus seiner Hülle gezogen. Auch wurden nie wieder
seltsame Dinge in seiner Umgebung gesehen.

Frau van Dyck konnte wohl mit der
Gesamtsituation nicht mehr umgehen und lieferte ihren Enkel in eine
Kinderpsychiatrie in Deutschland ein, was im Bezug auf den historischen Kontext
eine mehr als schlechte Wahl war. Ob Thomas den Krieg überlebte, ist unklar,
aber nicht wahrscheinlich. Seine Spur verliert sich 1943 in einem
Konzentrationslager. Er wurde nur zwanzig Jahre alt.                 

Das Muster

Wir fanden seinen Körper auf seinem Bett. Es
war sein einhundertster Geburtstag und die Rasierklinge hielt er noch in der
Hand. Die Wände seiner Wohnung… ein Anblick, den wir wohl nie vergessen
werden. Den ich nie vergessen werde. So viel Blut, das in kryptischen Zeichen
an die Tapete geschmiert wurde. Mehr als die mickrigen sechs Liter, die er in
seinem Körper hatte. Wie er das hinbekommen hat, weiß ich auch nicht.

Schnell wendeten wir uns von dem Bündel aus
Nerven, Sehnen und Muskeln ab und warfen unser Auge auf sein Vermächtnis.
Natürlich war es verschmiert, aber man konnte es immer noch lesen. Namen.
Koordinaten. Daten. Und dann begriffen wir. Er wollte, dass wir es vollenden.
Nach den Zeugen suchen, die nicht schweigen wollen. Die Botschaft verbreiten.
Dem Feind ins Gesicht schauen.

Suche nicht nach uns. Wenn wir eins gelernt
haben, dann ist es, im Hintergrund zu agieren. Aber trotzdem: Du kannst immer
noch Teil von uns werden. Halte Ausschau nach den Dingen, die dir aus dem Leben
gerissen werden. Nach dem Muster, dem keiner Beachtung schenkt. Nach dem
Verschwinden der Unwichtigen. Sehe weit genug, klettere hoch genug und grabe
tief genug und du wirst die Wahrheit finden, die kein Mensch verkraften kann.

Wir sind niemand. Wir sind jeder. Unsere
Zahl ist Omega. Wir sind der Weg der Zahlen.

Wir bedanken uns für deine Aufmerksamkeit.

Bewertung: 0 / 5. Anzahl Bewertungen: 0

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Überprüfen Sie auch
Schließen
Schaltfläche "Zurück zum Anfang"