Der seltsame Vorfall im Hause Garcia
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Schon alleine durch die Tatsache, dass ich seit fast 20 Minuten Fahrt kein einziges Haus mehr gesehen habe, hatte ich das Gefühl, dass dies kein schöner Besuch werden würde, aber als ich den von braunen Laub übersäten Feldweg verließ und in die schmutzige, eher abschreckende als einladende Einfahrt einbog, verwandelte sich meine böse Vorahnung augenblicklich in eine grauenerregende Gewissheit.
Das gewaltige Anwesen tauchte wie ein Geist vor mir aus dem Nebel auf und ich spürte, wie sich meine Nackenhaare aufzurichten begannen. Ein kalter Schauer überkam mich bei dem Anblick jenes Gebäudes, in welchem ich meine frühe Kindheit verbracht hatte. Es sah so unglaublich verändert aus; so düster und bedrohlich. Als kleines Mädchen habe ich jedes Wochenende bei Großmutter verbracht, und ich kann mich genau daran erinnern, dass es jedes Mal ein unbeschreiblich schönes Erlebnis war.
Doch von all der Schönheit, die einst dieses großartige Anwesen erfüllte, war nun nichts mehr vorhanden. Es war, als wäre sowohl das Gebäude als auch seine umliegende Umgebung von einer dicken Staubschicht überzogen worden, die den einstigen Glanz hatte verblassen lassen. Mir war ganz komisch zumute, und mich überkam ein wachsendes Unwohlsein, als ich an der großen Eingangstür, die mehr einem Scheunentor als einer Haustür ähnelte, klopfte und ein alter, grimmig dreinblickender Mann mir öffnete.
,,Guten Abend, Mademoiselle.“
,,Guten Abend, Monsieur,“ entgegnete ich schüchtern, ,,Mein Name ist Bella Garcia. Ich bin hier, um meiner Großmutter einen Besuch abzustatten.“
,,Die Herrin des Hauses befindet sich im oberen Schlafgemach. Ich nehme an, sie wurden über das Geschehene bereits aufgeklärt?“
Der fast schon auf die Knochen abgemagerte und leichenblasse Mann verzog keine Miene. Völlig ausdruckslos schien er mit seinen glasigen Augen an mir vorbeizustarren und keinen einzigen seiner Muskeln zu rühren. Er trug eine schwarze Butleruniform und balancierte eine große Hornbrille auf seiner unnatürlich großen Nase. Seine grauen Haare waren fast vollständig ausgefallen, und die, die sich noch auf seinem ansonsten kahlen Haupt befanden, waren unordentlich zur Seite gekämmt worden.
,,Selbstverständlich wurde ich informiert. Eben aus diesem Grund suche ich sie auf.“
Der Grund für meinen Besuch lag in einem plötzlichen und völlig überraschenden Koma begründet, in welches meine Großmutter vor kurzem gefallen war. Ich habe sie nicht mehr besucht, seit ich und meine Mutter das Land im Jahre 1975 verlassen hatten, da sie sich irgendwann schrecklich mit meiner Großmutter gestritten hatte. Ich selbst habe nie erfahren, worum es in jenem Streit ging, aber jetzt, da ich das Elternhaus verlassen und zudem auch noch einen Platz an der Pariser Ballettschule ergattert hatte, konnte ich meiner geliebten Großmutter endlich wieder einen Besuch abstatten – auch wenn sie von meinem Abstecher vermutlich wenig mitbekommen würde.
,,Bitte folgen Sie mir. Ich werde Sie zu der Herrin hinaufgeleiten.“
Meine Großmutter war wahrlich eine Dame der alten Schule. Dieses Gemäuer schrie förmlich das Wort Adel aus allen Ritzen, und das trotz seines hohen Alters. Wo ich gerade über hohes Alter nachdachte – wie alt war Großmutter eigentlich? Erst jetzt fiel mir auf, dass Mutter in meiner Gegenwart nie einen Geburtstag oder ähnliches erwähnte. Keinen Anhaltspunkt, dem ich hätte entnehmen können, wie viele Jahre meine Großmutter auf dem Buckel trug.
Die Tür zum Schlafgemach öffnete sich mit einem grässlichen Knarren, und ich kam mir vor wie in einem Geisterfilm. Im hinteren Teil des Raumes konnte ich nur ein einziges, verdrecktes Fenster erkennen. Kein einziger Lichtstrahl schien durch das Glas. Der Raum war beinahe vollkommen in eine unheimliche Düsternis gehüllt. Weiter mittig im Raum stand ein großes, von Staub überzogenes Himmelbett. Lange, graue Gardinen umhüllten die Stelle, an welcher meine Großmutter liegen musste. Als ich näher kam, hörte ich schwere Atemgeräusche, welche vermutlich von einem Sauerstoffgerät stammten.
Vorsichtig zog ich eine der Gardinen zur Seite und musste plötzlich einen Schrei zurückhalten. Die Frau, die dort vor mir lag, hatte rein gar nichts mehr mit der Frau gemeinsam, die mir damals solch eine wundervolle Kindheit beschert hatte. Nein; die Frau, die dort vor mir lag, war mehr tot als lebendig, ein mit Haut überzogenes Skelett, wenn man so will. Ihre grauen Haare war teilweise ausgefallen, ihre Falten glichen vielmehr tiefen Rissen und sie war so sehr abgemagert, dass es so wirkte, als wären ihre hervorstehenden Knochen kurz davor, die dünne und aschfahle Haut zu durchbohren.
,,W-wie lange b-befindet sie sich schon in diesem Z-z-zustand?“ fragte ich mit einem deutlichen Stottern in der Stimme.
,,Die Herrin begann bereits vier Monate vor ihrem Koma damit, drastisch an Gewicht zu verlieren. Die Ärzte versuchten sie künstlich zu ernähren, doch die Prozedur blieb wirkungslos. Vor genau drei Tagen schwanden ihr dann die Sinne, und seitdem ist sie das traurige Häufchen Elend, das nun vor ihnen liegt. Der Arzt hat versucht, sie weiterhin künstlich zu ernähren, doch auch in diesem Zustand zeugte das Vorhaben nicht von Erfolg. Ich muss ihnen leider mitteilen, dass wir alle nur noch darauf warten, dass Gevatter Tod die Schwelle dieses Hauses überschreitet und die Herrin von ihrem schrecklichen Leid erlöst. Laut des Arztes könnte dies bereits heute Nacht geschehen.“
Vorsichtig strich ich meiner Großmutter über die knochige Wange, und ich konnte eine heiße Träne nicht zurückhalten.
,,In diesem Fall werde ich heute Nacht bei ihr bleiben. Morgen werde ich wieder abreisen müssen, und wenn es wahr ist, was sie sagen, so wird dies mein letzter Besuch sein und ich möchte jede Sekunde davon mit meiner geliebten Großmutter verbringen.“
,,Ich bin sicher, sie würde sich freuen, diese Worte von ihnen zu hören. Wünschen sie vielleicht etwas, Mademoiselle? Einen Tee oder ein Glas Wasser? Wir haben auch frisches Gebäck im Hause, wenn ihnen der Sinn danach stehen sollte.“
Dankend lehnte ich ab und setzte mich auf einen kleinen Hocker, der sich direkt neben dem Bett befand. Die schweren Zeiger der großen Wanduhr waren abgebrochen, doch ein kurz darauf folgendes Läuten von dieser kündigte mir an, dass es bereits neun Uhr war. Von draußen drangen die unheimlichen Rufe von Eulen an mein Ohr, und ein geisterhafter Wind rüttelte an den Fensterläden und zog wie ein eiskalter Hauch durch die schmalen Ritzen im Gestein, wodurch der ohnehin schon von Kälte erfüllte Raum noch eisigeren Temperaturen ausgesetzt war.
Um mich ein wenig von der Kälte abzulenken, ließ ich meinen Blick an all den zahlreichen Gemälden und Bildern entlanggleiten, die an den Wänden aufgehangen waren. Die meisten von ihnen waren schwarz-weiß, was aber daran hätte liegen können, dass sie in all den Jahren wie meine einst so wunderschöne Großmutter ausgeblichen waren und wie das Anwesen ihren einstigen Glanz verloren haben. Abgebildet waren hauptsächlich das Anwesen und im Vordergrund mehrere Familienmitglieder. Ich konnte die Gesichter in der Dunkelheit nur schwer erkennen, aber ich meinte unter all den Gesichtern meine Mutter zu erkennen. Sie trug jenes Kleid, dass ich später zu meinem Abschlussball getragen hatte.
Ich fand es immer so schön. Um den Hals trug Mutter zudem eine güldene Kette, an deren Ende ein blutroter Rubin hing. Auf dem Bild konnte man die Farbe natürlich nicht erkennen, doch ich erkannte die Form wieder, da ich früher immer Mutters alte Schmuckschatulle durchstöbert und mir all die feinen Klunker umgehängt habe, um wie eine Prinzessin auszusehen. Hinter meiner Mutter stand Großmutter; edel und glamourös, wie ich sie in Erinnerung hatte. Auf ihren Lippen zeichnete sich ein fröhliches Lächeln ab und ihre Armen umschlangen glücklich den Oberkörper von Mutter, welche auch überglücklich in die Kamera blickte.
Plötzlich schlug ich die Augen auf. Verwundert sah ich mich um und erkannte, dass ich wieder auf genau dem Hocker saß, welchen ich neben dem Bett platziert hatte. Wann bitte war ich denn eingeschlafen? Selbstverständlich verspürte ich nach der langen Anreise eine gewisse Müdigkeit, doch diese war weiß gott nicht so groß, dass ich einfach so in solch einen tiefen Schlummer gesunken wäre. Etwas irritiert sah ich hinüber zu der großen Wanduhr, doch noch im selben Moment erinnerte ich mich an die abgebrochenen Zeiger. Großmutters schweres Atmen war das einzige, was die bedrohliche Stille durchbrach und mir das Gefühl gab, nicht völlig alleine in diesem grässlichen Gemäuer zu sein.
Seichtes Mondlicht fiel nun durch das dreckige Glas des Fensters und erhellte den ansonsten pechschwarzen Raum zumindest ein kleines bisschen. Mein Blick fiel wieder auf die Fotografien an der Wand und erst jetzt fiel mir auf, dass die Bilder chronologisch geordnet waren. Jenes Bild, welches ich betrachtete, bevor mich überraschend der Schlaf übermannte, war von 1967, zwei Jahre, bevor ich geboren wurde. Das nächste Bild stammte aus dem Jahre 1970, und nun war auch ich auf dem Foto zu sehen. Mutter hatte zwar diesmal ein anderes Kleid an, doch den roten Rubin trug sie noch immer um den Hals. Großmutter hielt mich mit einem breiten Lächeln im Gesicht auf dem Arm, und ich gluckste fröhlich und lachte herzensfroh in die Kamera.
Das folgende Bild war von 1972 und zeigte Großmutter, Mutter, mich und Vater. Erst erschien es mir merkwürdig, dass er erst hier auf einem der Bilder zu sehen war, doch Mutter erzählte mir einst, dass Großmutter ihn zu Anfang nicht sehr gemocht hatte. Nein; eigentlich waren ihre Worte: Wenn ich sagen würde, sie hätte ihn gehasst, so wäre dies im höchsten Maße untertrieben.
Auch stand er ganz rechts und sie ganz links im Bild, aber immerhin schienen sie ihre Differenzen zumindest für dieses Foto aus der Welt geschafft zu haben, denn auch hier lächelten sie alle über das ganze Gesicht und ich konnte mittlerweile schon alleine stehen und sah lachend zu Großmutter empor, die meinen Blick fröhlich erwiderte. Ich wollte das nächste Bild ansehen, doch als ich es von der Wand nahm, entglitt es meinen von der Kälte ganz zittrigen Händen und fiel zu Boden.
Plötzlich fuhr ich hoch und starrte erschrocken in die glasigen Augen des Butlers, der vor mir stand, immer noch seine Dienstkleidung trug und fragend seinen Kopf geneigt hielt.
,,Geht es ihnen nicht gut, Mademoiselle?“
Wie…? Ich war schon wieder eingeschlafen, doch wie um alles in der Welt war dies in solch einer schnellen Zeit möglich, wo ich doch wahrlich nicht sehr müde war. Andererseits – inzwischen fühlte ich mich doch etwas schläfrig.
,,J-ja, danke mir geht es gut. Ich hatte wohl nur einen Albtraum.“
Der ausdruckslose Blick des Mannes wurde plötzlich bitter ernst.
,,Seien sie auf der Hut, Mademoiselle. Nicht, dass sie so enden wie ihre arme Mutter.“
,,Wie bitte? Wovon sprechen sie?“
,,Sie können sich vielleicht nicht mehr entsinnen, doch ich war bereits in diesem Anwesen tätig, als sie und ihre Frau Mutter uns jedes Wochenende mit ihrer Anwesenheit beehrten. Die Herrin war immer ganz aufgeregt, wenn sie kamen, und auch sie waren als kleines Mädchen immer ganz erpicht darauf, ihre Großmutter wiederzusehen, doch ihre Mutter wurde, einige Zeit, bevor sie dieses Land verließ, von schrecklichen Alpträumen heimgesucht. Ich konnte es mir nie erklären, doch irgendwie hatte ich in den Monaten vor ihrem letzten Besuch das Gefühl, dass sie sich geradezu davor fürchtete, dieses Gebäude zu betreten. Irgendetwas muss ihr furchtbare Angst eingejagt haben…“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ er den Raum, und als er sich ein letztes Mal zu mir umdrehte und mit seinen glasigen Augen an mir vorbeistarrte, erkannte ich, dass er keine Brille mehr trug.
Schweigend sah ich mich um und erblickte plötzlich wieder jenes Bild, das mir vor meinem plötzlichen Schlaf hinuntergefallen war. Ein langer Riss zog sich von einer Seite zur anderen hinüber, doch dem schenkte ich kaum Beachtung. Viel erschreckender war das, was sich auf diesem Bild von 1974 abbildete. Großmutter trug noch immer ein breites Lächeln auf den Lippen. Mutter hingegen sah matt und müde aus. Ihre Haut war blass, ihr Haar umgekämmt und spröde, und unter den Augen trug sie tiefblaue Ringe, die sie beinahe wie eine Untote aussehen ließen. Ich sah wie immer fröhlich aus und sah abermals zu Großmutter hinauf, die mich diesmal noch fröhlicher ansah als auf den Bildern zuvor, doch ich merkte, dass die Harmonie, die auf den vorherigen Fotografien geherrscht hatte, hier nicht mehr vorhanden zu sein schien.
Eine Sache fiel mir jedoch besonders auf. Etwas, das mich nun nicht mehr nur verwunderte, sondern beinahe schon ängstigte. Statt des roten Rubins, der laut Mutter immer ihr liebstes Schmuckstück gewesen war, hing nun ein silbrig glänzendes Kruzifix um ihren Hals…
Vorsichtig hängte ich das Bild zurück an die Wand. als mir plötzlich etwas höchst Beunruhigendes auffiel. Es herrschte auf einmal absolute Stille. Großmutters schweres Atmen hatte gestoppt! In großer Angst davor, dass sie, während ich schlief, gestorben war, wandte ich mich um – und sah voller Entsetzen den knochigen Schatten meiner Großmutter aufrecht im Bett sitzen!
Mit einem lauten Schrei wachte ich plötzlich auf. Ein schwacher Strahl der aufgehenden Sonne fiel durch das nun geöffnete Fenster, und als ich mich umsah, erkannte ich voller Schrecken, dass ich mich in genau dem Bett befand, in welchem vor einigen Stunden noch meine Großmutter gelegen hatte! Ruckartig sprang ich auf und fühlte plötzlich eine starke Benommenheit, die meinen Körper zu durchströmen schien und mich dazu zwang, mich wieder hinzusetzen. Mein Blick fiel auf das Kopfkissen, auf welchem mein nun unglaublich schwerer Kopf gelegen hatte, und erkannte vertrocknete Blutreste auf dem weißen Stoff.
Was war letzte Nacht geschehen? Habe ich das nur geträumt, oder war meine Großmutter tatsächlich wie durch ein Wunder aus einem Koma erwacht, aus dem sie laut der Ärzte nie wieder hätte erwachen können? Einige Minuten saß ich still da und versuchte, mich wieder zu sammeln, bis ich ein weiteres Mal versuchte, meinen schweren Körper vom Bett zu erheben. Es gelang mir. Schwerfällig schlurfte ich über die hölzernen Bodendielen, und gerade als ich einen letzten Blick auf das Bett warf, bevor ich das Zimmer verließ, schweiften meine Augen hinüber zu dem letzten Bild, welches an der Wand hing. Nun ja, es war so gesehen nicht das Letzte, aber auf allen darauf folgenden Bilder war lediglich meine Großmutter zu sehen.
Nicht so auf jenem Bild, welches 1975 geschossen worden war. Mutter sah aus wie der wandelnde Tod, und ihre Augen waren fast geschlossen, so geschwächt sah sie aus. Großmutter war hingegen an Glamour nicht mehr zu überbieten, doch viel erschreckender war, dass nun auch ich einiges an Farbe im Gesicht eingebüßt zu haben schien und das Lächeln, welches vorher stets auf meinem Gesicht zu sehen war, hatte sich scheinbar in Luft aufgelöst. Mutter hielt mich fest, fast schon besorgt, umklammert und ich erkannte, dass nun auch ich ein glänzendes Kruzifix um meinen kleinen Mädchenhals trug, den meine Großmutter, die unmittelbar hinter mir stand, lächelnd und beinahe gierig beäugte.
,,Mademoiselle?“
Ich fuhr erschrocken herum und erblickte den Butler, der sich im Türrahmen platziert hatte und wie immer ein wenig an mir vorbeisah.
,,Die Herrin erwartet sie bereits unten. Ich sagte ihr, dass sie heute wieder abreisen wollen, und sie wollte sich zumindest gebührend von ihnen verabschieden.“
Nervös ging ich auf ihn zu. Diesmal trug er wieder seine Brille auf der Nase.
,,Darf ich sie etwas fragen, Monsieur?“
,,Zögern sie bitte nicht, Mademoiselle.“
,,Warum tragen sie denn eine Brille? Sie sind doch blind oder nicht? Bitte verzeihen sie mir vielmals, falls ich mich irren sollte.“
Die Gesichtszüge des Mannes formten abermals eine überaus ernste Miene.
,,Sie irren durchaus nicht, Mademoiselle. Es ist nur so, dass ich seit meiner frühesten Kindheit eine Brille trug und mich seit meiner Erblindung vor vier Monaten noch nicht daran gewöhnt habe, dass ich sie nicht mehr aufsetzen muss. Es mag lächerlich klingen, doch es hat sich so sehr in meine alltägliche Routine eingebrannt, dass es mir nur selten auffällt.“
Ich wurde hörbar nervöser, und dies bemerkte der Mann auch, als ich ihn fragte:
,,Wie kam es denn zu ihrer Erblindung?“
,,Ich habe zu lange in die Sonne gesehen. Nach ungefähr vier Minuten war mein Augenlicht auf ewig verloren.“
,,A-aber warum in Gottes Namen haben sie so etwas getan?!“
Seine Miene verfinsterte sich zunehmend, und er begann so leise zu reden, dass ich ein Stück näher an ihn heran musste.
,,Weil sie einem nichts anhaben kann, wenn sie ihnen nicht in die Augen sieht.“
Schweigend verließ der Butler den Raum und verschwand. Auf meiner vor Schreck ganz blass gewordenen Haut begann sich eine Gänsehaut auszubreiten und mein Blick fiel auf die Wanduhr, die von einer gläsernen Scheibe geschützt wurde, in der sich mein Spiegelbild abbildete. Auf meinem zarten, blassen Hals zeichneten sich zwei spitze Einstiche in der Haut ab, und plötzlich verstand ich, warum Mutter mich all die Jahre von Großmutter fernhalten wollte.
Als ich unten im Flur angelangte, wurde ich bereits von Großmutter erwartet. Von der knochigen Scheintoten war nichts mehr zu sehen. Stattdessen sah sie so lebendig und frisch wie nie zuvor in ihrem Leben aus. Ihr Haar war blond und voll, ihre Haut beinahe vollständig von den tiefen Falten befreit, und sie sah auch nicht mehr wie ein wandelndes Gerippe aus.
,,Bella! Chérie, wie ist es schön, dich nach all den Jahren wiederzusehen!“
Ihr Blick traf mich wie ein Messerstich in die Brust. Dieser gierige, geifernde Blick jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken und ich verdeckte unauffällig die noch leicht blutende Wunde an meinem Hals, als sie die Treppe hinaufkam und mich umarmte. Ich war mir nicht sicher, doch es fühlte sich fast so an, als würde sie an meinem Hals riechen, während sie mich fest umschlungen hielt. Verzweifelt versuchte ich mich von ihr zu lösen und so schnell wie möglich aus diesem Haus zu entkommen.
,,I-ich freue mich auch wahnsinnig, dich wiederzusehen, Großmutter. Leider muss ich dir mitteilen, dass ich sogleich wieder abreisen muss.“
Sie ließ von mir ab und lächelte mich an.
,,Aber ja, Chérie. Robert hat mir bereits alles berichtet, aber jetzt, da du nicht mehr so weit von mir entfernt wohnst, können wir uns ja wieder wie in alten Zeit an den Wochenenden treffen, was meinst du?“
In meinem Hals bildete sich ein großer Kloß, den ich nur schwerlich hinunterschlucken konnte. Verzweifelt versuchte ich mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen, doch ich fürchtete, dass mich spätestens der beunruhigte Klang meiner Stimme verraten würde.
,,Gerne,“ brachte ich gerade noch so heraus, bevor ich meine Jacke anzog und beinahe fluchtartig diesen schaurigen Ort verließ.
Ich stieg in mein Auto, winkte meiner Großmutter, die sich mitten vor der großen Eingangstür hingestellt hatte, startete den Motor und während ich jenes unheimliche Anwesen verließ, welches mir bis letzte Nacht so wundervoll in Erinnerung geblieben war, warf ich einen letzten Blick in den Rückspiegel. Ich erinnerte mich, dass, wenn ich Großmutter damals mit Mutter besuchte, sie bei unserer Abreise stets im Türrahmen stand und uns solange hinterherwinkte, bis unser Auto vollends hinter der nächsten Kurve verschwunden war, doch als ich in den Spiegel blickte, sah ich nur die offen stehende Tür. Von Großmutter hingegen fehlte jede Spur.
Ich kam nie wieder zurück.