EigenartigesGeisteskrankheitKlassische PastaLangeMicroPsychologischer Horror

Der Wassertrinker

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Wir waren inzwischen seit über sieben Jahren verheiratet und kannten einander in- und auswendig. Mein Mann Frape, das war die Kurzform für Franz Peter, befand sich in seinen besten Jahren. Er war Bürovorsteher in einer großen Firma. Ich war Hausfrau, half allerdings an zwei Tagen der Woche in der Buchhaltung bei einem lokalen Autohändler aus. Vor ein paar Jahren hatten wir uns ein gemeinsames Haus gekauft. Es lag in einer ruhigen Vorstadtgegend mit kleinem Garten, ruhigen Nachbarn und dem idealen Ort für ein gesetteltes Eheleben. Frape hatte ein Auto, ich brauchte keins. Der Supermarkt war fußläufig zu erreichen und ansonsten gab es Bus und Bahn. Wir kannten uns inzwischen wie unsere eigenen Westentaschen. Jedenfalls hätte ich das bis vor kurzem noch behauptet. Der alles entscheidende Tag, der alles verändern sollte, kam nämlich früher als gedacht. Aber ich greife vor. Meine Geschichte beginnt im späten April. Es war ein relativ milder Frühling gewesen und allmählich kündigte sich ein warmer Sommer an. Ich hatte seit einiger Zeit das Gefühl, dass Frape zu viel arbeitete. Wenn er von der Arbeit heimkam, wirkte er abgeschlagen und müde. Er hatte oft schlechte Laune, ging früh ins Bett und am Wochenende schlief er sehr lange. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er, es sei nur eine Phase und ich soll mir doch keine Gedanken machen. Anfangs tat ich das auch nicht und tatsächlich ging die Phase irgendwann vorbei. Zumindest augenscheinlich. Ich hatte das Gefühl, dass Frape in letzter Zeit etwas abweisender und kühler war als sonst. Wenn man die meiste Zeit allein daheim verbringt, tendiert man allerdings dazu, die Dinge überzubewerten. Ich hatte kaum Kontakt zu anderen. Die Nachbarn waren nett, natürlich, aber viel mehr als banale Gespräche über das Wetter oder die neuesten Befindlichkeiten gab es nicht. Das Verhältnis zu meinen Eltern war auch etwas abgekühlt, denn sie waren gegen die Heirat mit Frape gewesen, weil er zehn Jahre älter war als ich. Als ich ihn dann dennoch geheiratet hatte, kamen sie zwar zur Hochzeit, aber seither war unser Verhältnis nie mehr dasselbe wie vorher. Freundinnen, nun ja. Ich hatte ein oder zwei Schulfreundinnen, mit denen ich alle Jubeljahre mal telefonierte, aber das zählte nicht. Nein, meine besten Freundinnen waren meine illustrierten Zeitschriften, meine Nachmittagsgerichtshows und meine Kriminalromane. Und ich war vollends zufrieden damit. Nicht, dass man mich falsch versteht. Ich bin keineswegs der Meinung, dass eine Frau, auch nicht eine moderne, unbedingt arbeiten muss, wenn es nicht aus finanzieller Not geboten ist. Eine gestandene Frau kann sich auch durchaus damit begnügen, den Haushalt zu schmeißen und die Kinder zu erziehen. Bloß, dass ich und Frape keine Kinder hatten. Inzwischen war ich 43 und ich glaubte nicht, dass wir bald noch Kinder bekommen würden. Außerdem schliefen wir schon einige Zeit nicht mehr miteinander. Jedenfalls nicht mehr, seitdem Frape so seltsam war. Ich drängte ihn auch nicht, denn er brauchte sicherlich seine Zeit.

Unser Haus hatte zwei Etagen. Direkt wenn man zur Haustür hineinkam, stand man in einem kleinen offenen Flur, der an das Wohnzimmer angrenzte. Direkt daneben war die Küche, durch einen offenen Durchgang vom Wohnzimmer getrennt. Aus dem Flur führte eine Treppe nach unten in den Keller und eine nach oben, wo Schlafzimmer, Bad und Arbeitszimmer waren. Im Keller gab es die Waschküche und den Heizungsraum. Letzterer war meistens zugesperrt. Warum ich das erwähne? Nun, es wird im späteren Verlauf noch wichtig. Ebenfalls erwähnen sollte ich, dass es nur einen Schlüssel für den Heizungsraum gab. Bei unserem Einzug hatten wir es versäumt, einen Nachschlüssel machen zu lassen. Wozu auch? Im Heizungsraum lagerten nur ein paar leere Umzugskartons und allerhand Krimskrams, den man aussortiert hatte, von dem man aber noch nicht bereit war, sich zu trennen. Dementsprechend war der Bedarf, den Heizungsraum zu öffnen und hineinzugehen, meistens sehr selten. Frape hatte den Schlüssel zum Heizungsraum und wenn ich ihn brauchte, konnte ich ihn jederzeit fragen. Das Arbeitszimmer war mehr oder weniger ein Gerümpelzimmer. Dort lagerten unsere Bücher, allerhand Krimskrams und ein Schreibtisch, der so vollgemüllt war, dass man darauf vermutlich nicht mehr hätte arbeiten können, selbst wenn man es gewollt hätte. Wir nutzten diesen Raum nicht oft, da Frape sehr selten von zu Hause arbeitete und ich zum Arbeiten sowieso immer zu dem Autohändler musste.

Der erste Tag, an dem ich wirklich anfing, mir Sorgen zu machen, war ein Dienstag Anfang Mai. Frape hatte mir seit einigen Tagen Sorgen bereitet, da er wenig aß und recht blass um die Nase wirkte. Als ich ihn fragte, was los sei, sagte er nur, er habe etwas Stress auf der Arbeit und würde nicht so gut schlafen. Wir gingen also an diesem Abend früh ins Bett, so früh, dass ich selbst noch gar nicht müde war. Dennoch zog ich meine Schlafmaske über die Augen, die ich immer tragen musste, da ich relativ lichtempfindlich war, und versuchte, ein bisschen zu ruhen. Frape schlief schnell ein, und ich hörte sein gleichmäßiges Atmen. Irgendwann dann, in der Nacht, wurde ich wach. Ich hatte es in dieser Nacht versäumt, meine Ohrstöpsel reinzuziehen, die ich immer dann trug, denn auch meine Geräuschempfindlichkeit war leider recht hoch und ich hatte einen leichten Schlaf. Ich wurde dadurch geweckt, dass Frape neben mir aufstand. Natürlich dachte ich mir anfänglich nichts dabei, vielleicht musste er nur zur Toilette. Aber als ich ihn dann die Treppe heruntergehen hörte und er auch nach einigen Minuten nicht zurückgekommen war, dachte ich schon darüber nach, was denn sein könnte. Bevor ich allerdings zu einer befriedigenden Antwort kam, war ich eingeschlafen.

Nun wird man mir zu Recht entgegenhalten, dass es ein völlig normaler Vorgang sei, dass der Ehemann in der Nacht einmal aufsteht und nach unten geht. Man würde mich ebenso zu Recht als hysterisches, garstiges Eheweib bezeichnen, das ihrem Mann misstraut, wenn ich aus dieser Sache nun eine große Angelegenheit gemacht hätte. Aber ich muss zu Ende erzählen. Denn auch ich habe anfänglich nichts dabei gedacht. Und es am Morgen eigentlich schon wieder fast vergessen. Beim Frühstück, es war ein Samstag und ich hatte frische Brötchen besorgt, fragte ich Frape allerdings beiläufig, ob er gestern Nacht nicht schlafen konnte, denn ich hätte ihn gehört, wie er aufgestanden wäre. Er sah mich relativ stutzig an und sagte dann: „Das musst du geträumt haben, mein Schatz. Ich habe gestern Nacht hervorragend geschlafen.“ – „Aber nein, Frape, ich habe dich doch genau gehört. Du bist aufgestanden und nach unten gegangen.“ Er sah mich eine Weile mit einem Blick an, den ich nicht zu deuten vermochte. Dann beteuerte er abermals, er habe die Nacht durchgeschlafen und sei sicherlich nicht nach unten gegangen.

Ich weiß nicht warum, aber dies war der Beginn meines Misstrauens ihm gegenüber. Hätte er einfach gesagt, er sei aufgestanden, weil er nicht schlafen konnte, habe sich unten eine Tasse Tee gemacht oder so etwas – oh, wie anders hätte diese Geschichte laufen können.

Inzwischen hatten wir Mitte Mai. Frape hatte sich noch einige weitere Male nach unten geschlichen. Insgesamt viermal. Ich war jedesmal wach geworden, denn ich hatte es mir angewöhnt, nur noch mit einem Ohrenstöpsel zu schlafen. Warum? Nun, irgendetwas in meinem Inneren hatte mir gesagt, dass Frapes Aussage von damals etwas faul gewesen ist. Anfangs hasste ich mich noch dafür, schimpfte mich selbst ein misstrauisches, garstiges Weib und redete mir ein, zu viele Kriminalromane gelesen zu haben. Aber als Frape dann abermals heimlich davonschlich und auf meine morgendliche Frage, wo er denn gewesen sei, keine ausweichende Antwort gab, fühlte ich mich in meinem Tun bestätigt.

Mir war aufgefallen, dass er in letzter Zeit enorm viel Wasser trank. Kaum waren unsere Mineralwasserflaschen neu gekauft, waren sie schon wieder leer. Die Einkäufe besorgte ich, sodass es mir natürlich auffiel, dass ich mehr Flaschen kaufen musste als üblich. Zugegeben, es war ein relativ warmer Mai, aber auch ich trank nicht so viel, und wir hatten immer mindestens vier oder fünf Kästen Wasser im Haus, die oftmals auch für mehrere Wochen gereicht hatten, manchmal auch drei. Jetzt aber musste ich fast wöchentlich neue Kästen kaufen.

Frape schien immer abwesender zu sein. Er hatte mir schon lange nicht mehr gesagt, dass er mich liebte. Seine Haut war blass und unter seinen Augen hingen tiefe Ringe. Auf meine Fragen reagierte er zunehmend gereizt oder ausweichend. Und die innere Stimme in mir überlegte fieberhaft, woran es liegen könnte. Vielleicht hat er eine Affäre, war mein erster Gedanke. Aber das würde nicht erklären, warum er nach unten ging in der Nacht oder warum er mehr Wasser trank als sonst. Außerdem war er ja die meiste Zeit zu Hause oder auf der Arbeit. Wo hätte da noch Zeit für eine Affäre sein sollen? Vielleicht wird er krank und möchte es mir nicht sagen. Das schien schon plausibler zu sein. Ich wusste von einer entfernten Tante, dass Menschen mit Diabetes oft viel Wasser trinken und schlecht schlafen. Aber das hätte er mir doch sicherlich gesagt. Schließlich war Diabetes keine derart schlimme Krankheit, dass man nicht über sie reden könnte. Außerdem hätte ich das doch sicherlich gemerkt. Oder etwa doch nicht? Ich behaupte nicht, ein Genie zu sein, was medizinische Vorgänge betrifft. Aber wenn er plötzlich Diabetes bekommen hätte und Probleme mit Essen und Verdauung hätte, wäre mir das doch sicher aufgefallen. Vielleicht macht er auch einfach nur eine stressige Phase durch. Diese Antwort war zwar nicht befriedigend, schien mir aber im Moment am plausibelsten.

Trotzdem ließ mir irgendetwas in meinem Inneren keine Ruhe. Eines Nachts, als ich ihn abermals die Treppe herunterschleichen hörte, beschloss ich, ihm auf die Spur zu kommen. Als er unten war, stand ich auf und stellte mich ans Schlafzimmerfenster. Von dort konnte man in den Garten blicken, an dem die große Glasscheibe der Küche anschloss. Vielleicht konnte ich vom Schlafzimmerfenster aus sehen, was er in der Küche oder was er unten trieb. Tatsächlich konnte ich sehen, wie er irgendwann in die Küche geschlurft kam. Seltsam fand ich, dass er kein Licht anmachte. Dass er es oben ausließ, war klar, er wollte mich ja nicht wecken. Aber warum er es unten in der Küche nicht anmachte, wunderte mich. Ich konnte ihn auch nur erkennen, weil der Mond in dieser Nacht relativ hell schien und somit die Küche ein Stück weit ausleuchtete. Hätten wir Mondfinsternis gehabt, dann wäre die Küche so schwarz gewesen wie das Schlafzimmer hinter mir.

Ich konnte sehen, wie er sich an die Spüle stellte, ein Glas hervornahm und Wasser einfüllte. Dann trank er das Glas in einem Zug. Kurz darauf füllte er sich ein zweites Glas, trank es ebenfalls gierig aus und befüllte sofort ein drittes. Er wiederholte diesen Vorgang insgesamt sechsmal. Mir war es unerklärlich, wie jemand so großen Durst haben konnte, zumal es in dieser Nacht durchaus etwas kühler war als sonst. Aber selbst wenn es warm gewesen wäre, hätte ich es niemals geschafft, sechs Gläser Wasser so schnell hintereinander zu trinken.

Ich beobachtete ihn weiter. Er stand leicht gebeugt, den Kopf über der Spüle, das Glas neben sich abgestellt. Er stand mit dem Rücken zu mir, aber trotzdem – aus irgendeinem Grund – verbarg ich mich halb hinter dem Vorhang des Schlafzimmerfensters, um nicht gesehen zu werden. Auch wenn er mich bei dieser Dunkelheit, die im Schlafzimmer herrschte, vermutlich sowieso nicht gesehen hätte. So beobachtete ich ihn gut zehn Minuten lang, bevor mir die Sache lästig wurde und ich mich ins Bett legte. Ich weiß nicht, wann er zurückkam, aber als ich am Morgen erwachte, lag er wieder neben mir.

Eine Weile lang passierte dann nichts. Und fast hatte ich diesen seltsamen Spuk schon wieder vergessen, als sich Frape endgültig veränderte.

Ich hatte beschlossen, ihn ein wenig aufzumuntern. Und nachdem ich einige meiner Illustrierten konsultiert hatte, war ich auf die Idee gekommen, dass ein wenig Schwung im Ehebett uns gut täte. Wir hatten seit mehreren Monaten nicht miteinander geschlafen, und ich hatte das Gefühl, dass ein wenig Stressabbau Frape guttun würde. Dem Rat aus einer meiner Zeitschriften folgend, war ich also mit dem Bus in die Stadt gefahren und hatte dort einen Erotikshop aufgesucht. Erst hatte ich mich wahnsinnig geschämt. Schließlich kam ich aus gutem bürgerlichem Haus und solche Läden waren doch nur für Schmutzfinken und kleine Flittchen. Also schaute ich mich nervös um, als ich den Laden betrat, ob mir auch ja keiner folgte oder mich irgendjemand vom Fenster aus beobachtete. Der Laden war klein und dunkel eingerichtet und sofort fühlte ich mich fehl am Platze. Instinktiv wollte ich sofort wieder rausgehen, aber schon stand vor mir eine spindeldürre Frau mit einer Brust, auf der man Nüsse hätte knacken können, und fragte mich mit verrauchter Stimme: „Kann ich Ihnen helfen?“ Ich schaute das blonde Ding an, musterte ihren viel zu kurzen Rock und das lederne Oberteil. „Ich suche etwas zum Anziehen“, brachte ich dann mit einiger Mühe hervor und bemühte mich, so souverän wie möglich zu klingen, was mir aber wahrscheinlich nicht gelang. Die junge Frau nickte wissend und entweder ignorierte sie meinen nervösen Unterton, weil sie Profi genug war, verzweifelte Hausfrauen auf der Suche nach etwas mehr Schwung im Eheleben nicht zu verurteilen, oder aber sie bemerkte es tatsächlich nicht.

Sie führte mich in eine Abteilung, wo einige Schaufensterpuppen standen, die erstaunlich wenig Stoff trugen, und kramte an einem Kleiderständer, bis sie mir ein paar Fetzen in die Hand drückte. Ich sah sie durch und hatte offensichtlich keinen Erfolg damit, die Abscheu in meinem Gesicht zu verbergen. „Wir haben auch noch was mit etwas weniger Leder“, sagte die Frau, die meinen Gesichtsausdruck bemerkt hatte. Schließlich überredete sie mich dazu, ein schwarzes Spitzenunterhöschen mit dem passenden Spitzen-BH zu kaufen. Beides war so durchscheinend, dass man alles darunter erahnen konnte. Und dazu auch noch sündhaft teuer. 40 Euro musste ich hinblättern. Aber das war es mir wert. Für Frape – und um diesen schrecklichen Laden endlich verlassen zu können.

Wieder daheim zog ich den fürchterlichen Fummel an. Ich kam mir so albern darin vor, dass ich ihn am liebsten sofort wieder ausgezogen und heimlich in einer Mülltonne entsorgt hätte. Aber dann dachte ich an Frape, an sein seltsames Verhalten, und daran, dass unser Eheleben in letzter Zeit hauptsächlich aus banalen Konversationen, schlaflosen Nächten und gegenseitiger Entfremdung bestand. Ich fasste also meinen ganzen Mut zusammen und bereitete das Bett vor für eine romantische Nacht. Ich zündete sogar ein paar Kerzen an und weil wir keine Teelichter mehr hatten, musste ich Mückenkerzen nehmen. Also stank das ganze Schlafzimmer schnell nach einem süßlichen Mix aus Vanille und Orangenaroma, das angeblich die Mücken vertreibt, aber in mir auch jeden letzten Rest von Erotik abtötete.

Als Frape nach Hause kam, machte ich mich auf dem Bett breit und wollte sogar ein bisschen die Beine spreizen, aber das kam mir dann doch zu extrem vor. Er betrat das Schlafzimmer, sah mich – und als ich seinen Blick sah, schämte ich mich so sehr, wie ich mich in meinem Leben noch nie geschämt hatte. Denn in seinem Blick lag nicht ein Funken Begierde, es lag nicht einmal Mitleid darin, sondern bloß Verachtung. Es waren nicht einmal Worte nötig. Er drehte sich einfach um und ging nach unten. Beschämt zog ich mich aus, löschte die Kerzen und versteckte den schrecklichen Fummel in der tiefsten Ecke meines Kleiderschrankes.

Seit jenem Vorfall war auch noch die letzte Spur von Liebe und Zuneigung, die noch in Frape übrig geblieben war, verschwunden. Er fasste mich nicht mehr an, er machte mir keine Komplimente mehr, er bedachte mich meistens nicht einmal eines Blickes. Anfangs war ich verletzt, dann wütend, aber schließlich wurde ich verängstigt von diesem Verhalten. Frape schien von Tag zu Tag ausgezehrter. Immer öfter schlich er sich nachts davon, und jedes Mal stellte ich mich ans Fenster und beobachtete ihn. Wenn der Mond hell genug schien, konnte ich ihn in der Küche sehen, wie er Unmengen von Wasser in sich hineinkippte. Dann stand er dort, reglos über die Spüle gebeugt oder in die Ecke versunken, minutenlang, manchmal stundenlang. Einmal hatte ich den Versuch unternommen, ihn darauf anzusprechen, aber der Blick, den er mir zugeworfen hatte, hatte so von Verachtung gesprüht, dass ich es mit der Angst bekam.

Inzwischen hatten wir Juni. Der Sommer war warm, die Nächte schwül. Daher hatte ich einen noch leichteren Schlaf als sonst und hörte, wie sich Frape nunmehr fast jede Nacht davon schlich. Ich hatte das Gefühl, dass er sich gar keine Mühe mehr gab, leise herunterzugehen, aber vielleicht war das auch nur Einbildung. Ich beobachtete ihn immer öfter und immer öfter bekam ich es dabei mit der Angst zu tun, denn die Gesten, die er in der dunklen Küche machte, waren so völlig fremd von dem, was ich kannte. Ich hatte das Gefühl, dass in der Küche nicht der Mann stand, den ich geheiratet hatte, den ich liebte und mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Dort unten in der Küche war er ein anderer.

In einer besagten Nacht hatte ich ihn mal wieder beobachtet, wie er die große Karaffe, die wir manchmal für Eistee oder Limonaden benutzen, vom Regal nahm, sie komplett mit Wasser füllte und sie sich dann in den nach hinten gelegten Kopf mit weit aufgerissenem Mund kippte. Er tat das Ganze zweimal. Und ich war entsetzt, denn in die Karaffe passen dreieinhalb Liter. Sieben Liter Wasser in wenigen Minuten zu sich zu nehmen – das konnte doch nicht gesund sein. Als ich noch über diese Frage nachdachte, zog eine Wolke vor den Mond und kurzzeitig wurde die Küche in Dunkelheit gehüllt. Ich beugte mich etwas weiter vor, weil ich hoffte, doch noch etwas sehen zu können. Da kam der Mond zurück. Das erste, was ich sah, waren Frapes Füße, direkt vor der Glasscheibe. Das zweite war sein Körper, der stocksteif vor dem Fenster stand. Die Hände hingen, die Arme hingen am Körper herab, die Hände zu Fäusten geballt. Das letzte war sein Blick. Stark, starr und von Hass erfüllt, war er nach oben gerichtet, genau auf das Schlafzimmerfenster. Ich hatte das Gefühl, als starr er mir direkt in die Seele. Dabei bin ich mir rückblickend gar nicht sicher, ob er mich überhaupt gesehen hat. Jedenfalls erschrak ich so sehr, wie ich noch nie erschrocken bin, und ich glaubte den Mann, der mir da entgegenstarrte, gar nicht zu kennen.

Sofort prallte ich vom Fenster zurück, hastete ins Bett, legte die Augenmaske wieder an und presste die Augen dahinter so fest zusammen, als könnte ich ungesehen machen, was ich gerade erblickt hatte. Ich lauschte, lauschte angestrengt, aber ich hörte nur das Pochen des Blutes in meinen Schläfen und meinen rasant gehenden Atem. Es sollte eine gute Stunde dauern, bis Frape zurückkam. Er legte sich einfach neben mich ins Bett. Die ganze Nacht lag ich wach neben ihm und wagte es nicht, unter der Augenmaske hervorzuspähen, ob er schlief oder mich anstarrte.

Erst als ich am Morgen den Vögelgesang hörte und die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster scheinen sah, stand ich auf und ging nach unten. Frape schlief, als ich runterging. Jedenfalls waren seine Augen geschlossen. Es war Montag, also würde er bald zur Arbeit fahren. Und ich war tatsächlich heilfroh darüber. Nie in meinem Eheleben hatte ich so etwas wie Erleichterung verspürt, wenn Frape zur Arbeit musste. Im Gegenteil, oft hatte ich ihn direkt vermisst, hatte ihn anfangs sogar gebettelt, doch krank zu machen und bei mir zu bleiben. Jetzt aber konnte ich mir nichts Sehnlicheres vorstellen, als ihn in sein Auto setzen und davonfahren zu sehen.

Ich schmierte ihm also ein Pausenbrot und kochte mir eine Tasse Tee. Als Frape herunterkam, gab ich ihm das Pausenbrot. Er bedankte sich knapp, aber gab mir keinen Abschiedskuss. Er wünschte mir einen schönen Tag. Er ging einfach und fuhr davon. Nie hatte ich mich so erleichtert gefühlt. Nie war mir der Mann, dem ich gerade eben noch ein Butterbrot geschmiert hatte, so fremd vorgekommen.

Ich nutzte diesen Tag, um die Wohnung zu durchsuchen. In Frapes Kleiderschrank, den ich sonst eigentlich nie öffnete, denn er räumte seine Wäsche in der Regel selber weg, standen vier Plastikflaschen mit Mineralwasser. Ansonsten war alles wie immer. Auch der Schreibtisch im Arbeitszimmer wies nichts Besonderes auf. Ich kramte ein wenig in den herumliegenden Ordnern, aber es war hauptsächlich Versicherungszeug, Strom- und Gasrechnungen. Alles Sachen, mit denen Frape sich beschäftigte und von denen ich kaum eine Ahnung hatte. Der Heizungskeller war abgeschlossen. Das war wie gesagt nichts Ungewöhnliches. Aber irgendwie hatte ich in meinem Inneren die Gewissheit, dass sich die Lösung für meine Fragen hinter dieser Tür befand.

Ich hatte Angst. Ich hatte Angst vor meinem eigenen Mann. Nachts konnte ich nicht mehr schlafen, da ich die ganze Zeit Angst haben musste, aufzuwachen und in diese hasserfüllte Fratze zu starren, die ich damals am Küchenfenster hatte stehen sehen. Frape ging nun fast jede Nacht nach unten und meistens blieb er dort, bis die Sonne aufging. Und obwohl er nicht bei mir im Schlafzimmer war, hatte ich panische Angst vor ihm. Irgendetwas stimmte nicht. Das war nicht er. Ich war mir sicher. Und gleichzeitig war ich mir sicher, dass es verrückt klang und dass ich es niemandem sagen konnte. Man hätte mich ausgelacht, für eine Spinnerin erklärt. Aber irgendetwas stimmte nicht, da war ich mir ganz sicher.

Frape hatte angefangen, sich über meine Kochkünste zu beschweren. Das hatte er vorher nie getan. Immer wieder warf er mir vor, das Essen sei übersalzen. Dabei versuchte ich, salzarm zu kochen. Das hatte ich mir einmal angewöhnt, nachdem ich einen Bericht in einer Illustrierten gelesen hatte, dass zu viel Salz die Gefäße verkalkt. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, war es gar nicht so schwer, auf Salz zu verzichten. Trotzdem klagte Frape, und manchmal verweigerte er sogar jede Essensaufnahme, da es ihm zu salzig war. Ich probierte das besagte Essen, befand es aber teilweise sogar für relativ fad und ungewürzt.

Am Samstag sagte ich ihm, ich müsse noch einkaufen. Das war nur eine Ausrede. Tatsächlich wollte ich ein wenig Zeit für mich haben, außerhalb des Hauses, weg von ihm. Ich ging also in den lokalen Supermarkt, der in etwa fünf Minuten zu Fuß erreichbar war. Dort angekommen kaufte ich ein paar Lebensmittel und kaufte auch etwas Salz. Ich weiß nicht warum, ich glaube, ich folgte einer spontanen Eingebung. Aber aus irgendeinem Grund schien Frape nervös zu sein, wenn es um Salz ging. Denn wann immer er sich beschwerte, dass das Essen versalzen war, sagte er es nicht mit Verachtung ob meiner Kochkünste oder mit Ekel – er sagte es mit einer regelrechten Furcht.

Als ich kurz vor den Kassen in einem Regal noch nach Backhefe suchte, erblickte ich auf einmal durch das Regal im gegenüberliegenden Gang einen Mann, der mir den Rücken zukehrte, aber ich erkannte ihn trotzdem. Das grüne Flanellhemd und die typische Kopfform samt Frisur – das war Frape. Ich war so verdattert, dass ich um ein Haar meinen Einkauf fallen ließ. Er war mir gefolgt. Er wollte sehen, ob ich wirklich einkaufen ging. Er beobachtete mich. Ich spürte die Panik in mir aufsteigen. Dann die Wut. Was fällt ihm eigentlich ein? Und wer bin ich, dass ich es mir gefallen lasse?, hörte ich eine innere Trotzstimme in mir sagen.

Entschlossen ging ich in den Gang, bereit ihn zu konfrontieren. Wir waren schließlich hier in der Öffentlichkeit, und hier würde er doch nicht… Mein Gedanke brach ab. Was würde er nicht? Mir eine Szene machen? Mir etwas antun? Nein. Ich schob den Gedanken weit beiseite. Frape würde mir doch nie etwas antun. Ich wollte gedanklich ein Ausrufezeichen hinter dieser Aussage stellen, aber es gelang mir nicht. Stattdessen wurde ein Fragezeichen daraus.

Der Gang, in dem ich Frape gesehen hatte, war leer, bis auf ein älteres Ehepaar und ein junges Mädchen. Keiner von ihnen trug die Farbe Grün. Und keiner von ihnen hatte auch nur annähernd die Statur von Frape. Sah ich jetzt schon Gespenster? Oder war er unbemerkt in einen anderen Gang geschlüpft? Ich beendete den Einkauf jedenfalls erstaunlich schnell und sah oft um mich herum, ob mir jemand folgte. Aber sehen konnte ich niemanden.

Als ich wieder zu Hause war, kochte ich das Essen und achtete diesmal darauf, nur ganz wenig Salz hineinzutun, genau genommen nur eine einzige Prise. Ich machte eine Gemüsesuppe mit Würstchen und tat nur eine Fingerspitze Salz hinein. Das war deutlich weniger, als das Rezept vorschrieb, und es war auch deutlich weniger, als mein Geschmack mir diktierte. Aber ich wollte Frape eine Freude machen und ihn ein wenig testen.

Kaum hatte er den ersten Löffel genommen, verzog er schon wieder das Gesicht, und der leicht nervöse Ausdruck stieg in seine Augen. Er ließ den Löffel sinken und sagte mir, die Suppe sei versalzen. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, denn für mich schmeckte sie so fad, dass es schon fast eklig war. Ich sagte ihm also, ich hätte nicht viel gesalzen, ich hätte extra achtgegeben. Er bedachte mich wieder mit diesem hasserfüllten Blick, den ich damals bereits vom Fenster aus gesehen hatte, und sofort stieg die Angst in mir hoch. Denn ich kannte diesen Mann nicht, der da vor mir saß und der aussah wie mein Ehemann, der seine Kleider trug, so roch wie er, so sprach wie er. Es war nicht mein Mann. Es war etwas anderes.

Ich entschuldigte mich mit der Ausrede, aufs Klo gehen zu müssen. Oben im Bad sperrte ich mich ein und versuchte, mich zu beruhigen. Ich muss in diesen Keller, sagte die Stimme in meinem Kopf. Dort werde ich Antworten finden.

An den Kellerschlüssel zu kommen, war gar nicht so einfach. Aber meine Entschlossenheit, ihn in die Finger zu bekommen und diesen Raum zu öffnen, war ins Unermessliche gestiegen. Wir hatten Juli, und die Vorkommnisse waren inzwischen völlig aus dem Ruder gelaufen. Frape hatte das Salz aus der Küche genommen und versteckt oder fortgeworfen – jedenfalls konnte ich es nicht mehr finden. Und auch als ich im Supermarkt neues gekauft hatte, verschwand es innerhalb von wenigen Tagen. Er ging nachts gar nicht mehr zu Bett, sondern blieb einfach unten und trank. Er trank so laut, dass ich ihn selbst im Bett hören konnte. Ein gieriges Schlürfen und Gurgeln, als er Unmengen von Wasser in sich hineinkippte. Manchmal hing er kopfüber unter dem Wasserhahn der Spüle und ließ sich minutenlang das Wasser in den Rachen kippen. Wenn er doch mal oben war, dann trank er von Wasserflaschen, die er im Schrank oder unter dem Bett versteckt hatte. Und ich war zu verängstigt, um etwas zu sagen oder mich bemerkbar zu machen. Stattdessen presste ich immer die Augen zusammen und stellte mich schlafend. Wir redeten inzwischen gar nicht mehr miteinander. Ich hatte zu große Angst, und er schien meine Anwesenheit ohnehin kaum noch zu bemerken. Oder wenn, dann so, wie man eine Fliege an der Wand bemerkt.

Ich hatte vor, den Kellerschlüssel von seinem Schlüsselbund zu stehlen und den Keller zu öffnen, aber das konnte ich nicht machen, wenn er da war. Nachts war er unten und hätte mich gesehen, und tagsüber hatte er den Schlüssel immer bei sich. Ich musste also vielleicht einen Nachschlüssel anfertigen lassen. Aber dazu müsste ich das Original für einige Zeit an mich bringen. Frape danach fragen kam gar nicht in Frage. Er hätte ihn mir mit Sicherheit verweigert, und selbst wenn nicht, wäre er hellhörig geworden, und ich konnte es nicht riskieren, seinen Zorn auf mich zu ziehen.

Übrigens nannte ich ihn immer noch Frape, obwohl ich mir inzwischen sicher war, dass er es nicht war. Dieses Ding – ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben soll – es war nicht Frape. Ich zweifelte sogar daran, dass es ein Mensch war. Es erinnerte mich zunehmend an einen fetten Salamander, der außerhalb von Wasser nicht lange überleben kann und es darum in sich hineinsaugt, wie wir die Luft. Oder an eine fette Gartenschnecke, die bei Kontakt mit Salz zu schmelzen beginnt und es deshalb meidet wie die Pest. Der kalte, durchdringende Blick, mit dem er mich von Zeit zu Zeit bedachte, erinnerte an Haifischaugen. Kalt und tot, ohne jede Gnade und Wärme.

Eines Tages ergriff ich meine Chance. Frape war gegen Abend zurückgekommen, hatte seinen Schlüssel auf der Kommode im Flur abgelegt und war direkt nach oben ins Schlafzimmer gegangen. Seit neuestem machte er sich gar nicht mehr die Mühe, das zu probieren, was ich ihm gekocht hatte. Stattdessen verschwand er immer im Schlafzimmer und trank dort sein Wasser. Er hortete seine großen Kanister inzwischen völlig schamlos vor dem Schrank und neben dem Bett. Die großen 5-Liter-Kanister, die man im Supermarkt kaufen konnte. Und die destilliertes Wasser enthielten, das man eigentlich zum Bügeln verwendet.

Ich nutzte also diese Chance und schnappte mir den Schlüssel. Dann hechtete ich hinunter in den Keller. Ich weiß nicht, was ich zu sehen erhoffte. Ich hatte mich auf die schrecklichsten Dinge vorbereitet, auf Erleichterung und Erlösung ebenso wie auf den größten Horror. Aber nichts hätte mich darauf vorbereiten können, was ich vorfand, als ich die Tür aufgeschlossen und zur Seite geschlagen hatte und aufgewuchtet hatte.

Der Heizungsraum war warm und feucht. Das war nichts Ungewöhnliches. Schließlich befand sich dort der große Warmwasserboiler und der Öltank für die Heizung. Aber was tatsächlich grauenerregend war und was mein Herz für einen Augenblick aussetzen ließ, war der Anblick des riesigen Eis, das sich in der Mitte des Raumes befand. Es war mindestens so groß wie ein Kleinkind, hatte eine weiße, schleimige Schale und stand an den Warmwasserboiler gelehnt. Ich wagte es kaum, meinen Augen zu trauen.

Und dann geschah das Schrecklichste. Ich sah, wie etwas im Inneren des Eis sich bewegte. Das Ei wackelte leicht, und ich konnte sehen, wie die weiche Schale sich leicht wölbte. So, als würde sich darin irgendein grauenerregendes Wesen strecken.

Das war der Augenblick, als ich meine Beherrschung verlor. Ich erinnere mich noch, dass ich geschrien habe, aber dass es in meinen Ohren gar nicht so laut klang. Ich erinnere mich, wie ich die Treppe heraufgehechtet war, wie ich die Haustüre aufgerissen und davongelaufen war. Ich erinnere mich an den hasserfüllten, bohrenden Blick, den Frape mir nachgeworfen hatte. Ich erinnere mich daran, wie ich die Straße entlang gerannt bin, voller Verzweiflung und Panik. Ich erinnere mich, dass mich ein junges Ehepaar aufgegriffen hatte, die am Straßenrand vorbeigefahren sind.

Nun liege ich hier in meinem Krankenbett und lausche mit klopfendem Herzen. Das Krankenhaus in unserer kleinen Stadt ist ruhig, und es gibt wenige Patienten. Daher ist auch niemand bei mir im Zimmer. Niemand, dem ich meine Geschichte hätte erzählen können.  Niemand, der mir glauben würde. Der Arzt hatte etwas von „Capgras“ gesagt, was er damit meinte weiß ich nicht.

Aber ich glaube, es ist sowieso egal.

Denn in der Ferne höre ich ein Geräusch, das langsam näher kommt: schlurfende Schritte und das gluckernde Geräusch von Schlucken.

Bewertung: 0 / 5. Anzahl Bewertungen: 0

Bisher keine Bewertungen! Sei der Erste, der diesen Beitrag bewertet.

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Überprüfen Sie auch
Schließen
Schaltfläche "Zurück zum Anfang"