
Die Uhr schlägt Mitternacht.
(Eine unheimliche Weihnachtsgeschichte aus Schweden)
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Es war der Heiligabend im Jahr 1893. Ich erinnere mich noch daran, als ob es gestern gewesen wäre. Doch alles liegt schon so viele Jahre zurück. Unser Dorf Skuggberga unweit von Mariannelund feierte das Weihnachtsfest auf ganz besondere Weise. Es war eigentlich ein schöner, sonniger, aber kalter Tag. Die Sonne ging nach 4 Stunden Tageslicht gerade unter, als sich Wolken am Himmel breit machten. Schnee begann bei Anbruch der Nacht, zu fallen. Die Luft roch nach Holzrauch, Julbord und Schnee. Jedes Geräusch – der Wind, der durch die Gassen pfiff, der Knall eines herabfallenden Eiszapfens oder das Quietschen von Türen – hallte durch die ruhigen Straßen unseres Dorfes.
Ich bin Magnus Sjöberg und war der Uhrmacher unseres Dorfes. Meine Werkstatt befand sich am Marktplatz. Ich habe mein Handwerk von meinem Vater erlernt und er von meinem Großvater. Die Uhrmacherwerkstatt befand sich somit in 3. Generation in Familienbesitz. Ich liebte die Stille und das monotone Ticken der Uhren. Es beruhigte mich. Egal ob ich eine neue Uhr am Bauen war oder eine alte reparierte, das Ticken versetzte mich in eine Art Meditation, bei der ich mich am besten konzentrieren konnte. Doch an diesem Abend fühlte sich das Ticken anders an. Es war 8 Uhr am Abend und, wie bereits erwähnt, der Heilige Abend. Die Dorfbewohner saßen in ihren Häusern und feierten das Weihnachtsfest. Nach dem Abendessen und der anschließenden Bescherung beschloss ich, mich noch in meine Werkstatt zurückzuziehen. Ich reparierte die Uhr meines Schwiegervaters. Da meine Frau Alma, unsere beiden Söhne Jonas und Matthias und ich jedes Jahr am 1. Weihnachtsfeiertag bei ihren Eltern verbrachten, wollte ich ihm seine Uhr auch gleich an diesem Tag zurückgeben.
Ich bemerkte gar nicht, wie schnell die Zeit verging, und war gerade mit der Reparatur fertig geworden, als die große alte Standuhr aus Mahagoniholz, die mein Großvater vor 80 Jahren gebaut hatte, bereits 11 abends schlug. Ich arbeite noch 30 Minuten weiter. Als ich mit der Reparatur der Uhr fertig war, stellte ich die Zeit ein. Behutsam legte ich die fertig reparierte Taschenuhr meines Schwiegervaters zur Seite und nahm meine eigene aus der Hosentasche.
Ich verglich unwillkürlich die Zeit und war innerlich zufrieden, dass die beiden Uhren exakt die gleiche Zeit anzeigten. Anschließend streckte ich mich und verließ das Hinterzimmer, in dem ich die Uhren reparierte. Ich schaute zum Schaufenster unseres kleinen Ladens hinaus. Dort sah ich meine Familie, die bereits draußen vor unserem Laden stand. Hinter ihnen sammelten sich bereits die ersten Dorfbewohner für den jährlichen Weihnachtsumzug, der seit über 200 Jahren am Heiligen Abend stattfand. Dieser wurde in Gedenken an 4 obdachlose Kinder unseres Dorfes abgehalten. Die armen Seelen waren im Jahr 1693 durch die Kälte des eisigen Winters, der damals über das Land zog, am Waldrand erfroren. Außerhalb des Dorfes leuchteten Fackeln, die am Wegrand standen, in die Dunkelheit hinein und sollten den Vieren Wärme und Trost spenden. Eigentlich eine schöne Geste und Tradition, auch wenn der Hintergrund der Geschichte sehr traurig war.
Ich ging in das Hinterzimmer und zog meine Jacke, den Schal und die Mütze an. Anschließend holte ich die Fackeln, die ich hier unten lagerte, löschte die Petroleumlampe und ging wieder in den Laden. Jonas stand an der Fensterscheibe und deutete mir an, mich zu beeilen. In seinem Gesicht und den Augen lag der Glanz eines glücklichen Kindes, das aufgeregt auf den Beginn des Umzuges wartete. Ich grinste ihn an und zog eine Grimasse dabei, die ihn zum Lachen brachte.
Ich trat hinaus und sperrte den Laden ab. Die Kälte war schneidend, mein Atem bildete kleine Wolken. Der Schnee, der vom Himmel fiel und auf dem Boden liegen blieb, glitzerte im Licht der Gaslaternen. Ich hörte das Knirschen meiner Stiefel, als ich losging.
„Papa, da bist du ja endlich!“, rief Matthias, als er mich aus dem Geschäft kommen sah. Ja, da bin ich endlich. Wart ihr in der Zwischenzeit brav und habt Mama nicht geärgert?
Ja, wir waren lieb. Mama hat uns die Geschichte von Nisser und die Reise der Nisse erzählt.“ Er gähnte einmal herzhaft. „Na, da ist aber einer müde!“, da hätte man ja fast mit einer Schubkarre reinfahren können!“, erwiderte ich und musste dabei aufpassen, nicht selbst zu gähnen.
Jonas stürmte auf mich zu und nahm mich bei der freien Hand und zog mich in Richtung meiner Frau. Matthias tat es ihm nun gleich und lief hinter mich und drückte mich nach vorne. Beide zerrten und schoben mich durch den Schnee. „Langsam, Jungs, sonst lasse ich noch die Fackeln fallen und sie werden nass und brennen anschließend nicht mehr.
Beide ließen von mir ab und ich lief zu meiner Frau, die sich gerade mit unserer Nachbarin unterhielt. „Guten Abend und God Jul, Frau Anderson!“, begrüßte ich Sie. „Danke, das wünsche ich Ihnen auch, Herr Sjöberg“, antwortete mir Frau Anderson und zog ihr weißes gestricktes Schultertuch enger um ihren Hals. Ihr Atem hing als kleine Nebelwolke in der Luft. Alma wandte sich mir zu und lächelte. Ihr Gesicht war von der Kälte gerötet, und kleine Schneeflocken hatten sich in ihren blonden Haaren verfangen.
„Magnus, schau nur, wie schön alles aussieht“, sprach sie zu mir. Ich nickte ihr zur Bestätigung zu. Im Hintergrund hörte man unser Kinderlachen. Jonas und Matthias warfen sich Schneebälle zu. Einer traf die Mauer neben der Tür des Krämerladens, und eine kleine Lawine fiel vom Dach herab, begleitet vom kichernden Quietschen der beiden.
„Wenn die beiden so weitermachen, bekommen sie noch Frostbeulen“, sagte Alma halb belustigt, halb mahnend. „Lasst sie ruhig spielen“, meinte Frau Anderson. „Sie sollen den Abend genießen. Wer weiß, ob sie beim nächsten Umzug noch so unbeschwert sind.“ Ich runzelte die Stirn. „Wie meinen Sie das?“ Frau Anderson sah mich an, und ein leichtes Lächeln huschte über ihr Gesicht, aber ihre Augen blieben dabei ernst. „Ach, es ist nur ein Gedanke, mehr nicht. Alte Bräuche … Sie haben ihre eigenen Wege, die Dinge zu verändern. Wer weiß, ob es in 100 Jahren noch solche Bräuche und Traditionen gibt?
Jonas und Matthias kamen nun angerannt, ihre Wangen glühten rot, der Schnee in ihren Haaren glitzerte im Fackelschein. „Mama, Papa, Frau Anderson! Warum machen wir eigentlich jedes Jahr diesen Umzug?“, fragte er mit dieser kindlichen Mischung aus Neugier und Unschuld. Matthias blieb dicht hinter ihm stehen und nickte eifrig. „Ja, warum, Mama? Wegen den Kindern von früher, oder?“, fragte er neugierig.
Frau Anderson ging in die Hocke und somit auf Augenhöhe mit den Jungen, und ihre Stimme senkte sich ein wenig, was jedoch in der klaren Winterluft etwas Beunruhigendes bekam.
„Ja … Es begann mit den Kindern“, sagte sie. „Vier Waisen, die niemand haben wollte. Sie zogen von Haus zu Haus, baten um Brot, Wasser und einen Schlafplatz. Aber es war ein harter Winter. Und niemand öffnete ihnen die Tür. Man erzählt sich noch heute, die Leute hätten Angst gehabt – Angst vor Krankheiten, die die Kinder gehabt haben könnten. In jener Nacht, am Heiligen Abend, fanden die Dorfbewohner sie am Waldrand. Sie saßen im Schnee und waren erfroren. Ihre kleinen Hände ineinander verschränkt, als hätten sie sich gegenseitig trösten wollen. Erst einen Tag später erfuhren die Dorfbewohner, dass das Haus, in dem die Kinder mit ihren Eltern lebten, in der Nacht zuvor abgebrannt war. Die Eltern starben dabei in den Flammen.“
Jonas’ Gesicht wurde ernst, aber man sah auch ein wenig Traurigkeit in seinem Blick. „Und … deshalb machen wir den Umzug?“ „Ja“, flüsterte Frau Anderson. „Man sagt, es soll den Kindern Licht bringen. Damit sie nie wieder in der Dunkelheit frieren müssen. Aber …“ Sie stockte. Ihr Blick glitt über die Straße, zu den aufgestellten Fackeln. „Aber was?“, fragte Alma leise.
Frau Anderson richtete sich langsam auf. Ihre Stimme war nun wieder etwas lauter, aber eine gewisse Ehrfurcht lag darin.
„Manche sagen, die Kinder sind nie wirklich fortgegangen. Dass ihre Seelen noch hier sind – gefangen zwischen den Stunden der Nacht. Wenn die Uhren auf Mitternacht zusteuern, öffnen sich die Schleier der Zeit. Und dann … ziehen sie wieder durch unser Dorf.“
Als sie den Satz vollendet hatte, fuhr ein Windstoß durch die Gasse. Die Flammen der Fackeln anderer Teilnehmer flackerten auf, warfen lange Schatten an die Hauswände.
Für einen Moment schwor ich, in den Schaufenstern des Krämerladens vier Gestalten zu sehen – klein, gebückt, von Frost und Schnee bedeckt. Ihre Gesichter waren bleich wie Kalk, ihre Augen schwarz, tief und leer. Ich blinzelte, und sie waren wieder verschwunden.
Frau Anderson stand nun dicht neben mir. „Das Feuer soll sie aber auch fernhalten. Aber … wenn der Wind aus dem Norden kommt, hilft kein Licht. Dann wandeln sie unter uns. Man sagt, sie sammeln verlorene Zeit – Minuten, die wir verschwenden, Stunden, die wir vergessen. Denn Zeit ist das, was ihnen fehlte. Magnus, Sie müssen es am besten wissen. „Eine Uhr ist nicht Zeit, sie ist Ziffern und Federn.“ Verlorene Zeit kann man nicht wieder zurückholen.“
Ich sah, dass Jonas sich instinktiv an Almas Mantel geklammert hatte, und Matthias starrte auf den Schnee. Ich hingegen bekam das Gefühl, dass ich die Worte schon einmal gehört hatte. Hatte ich ein Déjà-vu?
„Das ist doch nur eine Geschichte, oder, Frau Anderson?“, fragte Alma, schaute sie dabei an und versuchte, zu lächeln. Mit ihren Worten riss sie mich gleichzeitig aus meinen Gedanken.
Frau Anderson erwiderte den Blick nicht. Sie drehte sich zum Umzug, wo die ersten Trommeln erklangen – dumpf, langsam, wie Herzschläge. „Vielleicht“, sagte sie. Vielleicht auch nicht. Aber wir sollten nun gehen. Es ist fast Mitternacht, und man sagt, die Kinder mögen es nicht, wenn man sie zu lange warten lässt.“
Ich sah zum Himmel. Der Schnee fiel nun dichter, schwerer, als wollte er das Dorf unter sich begraben. Jonas zog an meiner Hand. „Papa“, flüsterte er, „ich glaub, ich hab da hinten jemanden gesehen …“ Ich folgte seinem Blick – doch da war nichts. Nur das Licht der Fackeln, das sich im Schnee bewegte. Doch ich war mir nicht sicher. Ich blickte auf den Boden, wo sich plötzlich, so kam es mir vor, ein paar winzige Kinderfußspuren abzeichneten. Sie entstanden aus dem Nichts und verschwanden wenige Sekunden später im Nichts. Ich schüttelte mich und spürte, wie mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. Das Gefühl, das Ganze schon einmal erlebt zu haben, keimte erneut in mir auf. Ich schaute nochmal auf die Stelle, wo ich die Fußspuren gesehen hatte. Doch es waren keine mehr zu sehen.
Aus der Ferne hörte ich die Glocken der Kirche und den Nachtwächter rufen. „Hört her, ihr Leut, und lasst euch sagen: Die Kirchturmuhr hat Mitternacht geschlagen.“
Als ich mich wieder umdrehte, sah ich, dass meine Familie und Frau Anderson bereits losgelaufen waren, und ich ging ihnen eiligen Schrittes hinterher. Wir kamen gemeinsam an der großen Feuerstelle an, die extra für den Umzug aufgebaut und entzündet worden war. Ich hielt unsere Fackeln in die Flamme und die petroleumgetränkten Lappen entzündeten sich sofort. Der Umzug setzte sich in Bewegung. Die Menschen liefen schweigend durch die Gassen des Dorfes. Die älteren Kinder trugen Holzmasken von Engeln. In der Dunkelheit wirkten ihre Augenhöhlen gespenstisch leer. Die Dorfältesten zogen Schlitten mit Figuren: Engel, Tiere und eine riesige Uhrscheibe aus Eisen, die mein Urgroßvater hergestellt hatte, durch den Schnee. Frauen hielten Fackeln und Laternen, deren Flammen tanzten. Wir folgten ihnen. Ein seltsames Gefühl zog mich dabei vorwärts, wie ein unsichtbares Band.
Dann hörte ich die Musik.
Leise Trommeln, ein Flötenlied, das irgendwo zwischen einem Wiegenlied und einem Marsch schwebte. Keiner der Teilnehmer sprach ein Wort. Wir liefen schweigend aus dem Dorf in Richtung Wald.
Als die Glocke Viertel nach schlug, hielten wir plötzlich alle an.
Die Trommeln und die Flöten verstummten, der Wind erstarrte. Das Feuer der Fackeln hing wie eingefroren in der Luft. Die Menschen standen wie Statuen – jeder Atemzug eingefroren. Der Dunst ihres ausgeatmeten Atems hing wie kleine Wölkchen in der Luft.
Der Klang des Glockenschlags hallte für kurze Zeit nach, als würde er nicht verklingen wollen.
Dann trat plötzlich Stille ein. Keine natürliche Stille, wie sie nachts in einem verschneiten Wald herrschte, sondern eine andere Art von Stille – dichter und schwerer.
Ich stand da, die Fackel in der Hand, und spürte, wie die Kälte in meine Finger kroch. Ich wollte sprechen – Alma etwas fragen, um diese absurde Stille und die Starre zu brechen –, doch meine Lippen bewegten sich nicht. Sie waren wie eingefroren. Alles um mich herum hatte aufgehört, zu funktionieren. Aus meinem peripheren Blickfeld sah ich, dass die Flamme meiner Fackel starr in der Luft hing. Ich sah keinen Rauch mehr aufsteigen. Der Schnee fiel nicht mehr. Er hing einfach in der Luft. Ich richtete meinen Blick auf Alma.
Ihr Gesicht war dem Wald zugewandt, das Feuer der Fackel in ihrer linken Hand war ebenfalls eingefroren. Ich sah eine Hälfte ihres Gesichts. Ihre Augen waren geöffnet, doch sie waren seltsam leer. Der Ausdruck darauf war friedlich, fast selig, aber nicht lebendig. Jonas stand neben mir, den Mund halb geöffnet, als wollte er gerade lachen oder etwas in den Wald rufen. Matthias stand neben Alma und hielt die rechte Hand seiner Mutter. Frau Anderson stand einige Meter vor mir und drehte sich zu mir um. Sie war ebenfalls in ihrer Bewegung erstarrt und schaute mich an. Ihre Augen wirkten ebenfalls leer und friedlich. Eine kleine Atemwolke verließ dabei Ihren Mund.
Ein Schrei bildete sich in meinem Hals. Doch ich konnte ihn nicht einfach herauslassen. Meine Stimmbänder waren wie gelähmt. Ich spürte, dass die Kälte weiter in mir aufstieg. Meine Hände waren fast taub und meine Füße begannen ebenfalls, eiskalt zu werden. Ich blickte hektisch hin und her und hoffte, dass sich jemand anderes bewegte. Das Einzige, was ich sah, waren Menschen, die wie Salzsäulen vor und neben mir standen.
Mein Herz begann zu rasen. Dann fiel mir etwas auf. Ein Ticken, das von irgendwoher kam. Ich versuchte, zu lokalisieren, woher es stammte. Dann bemerkte ich es. Es kam aus dem Wald. Ich blickte zum Waldrand. Ein langsames, mahlendes Geräusch, als ob tausend kleine Zahnräder irgendwo tief zwischen den Bäumen ineinandergriffen, ertönte und drang an meine Ohren.
Das Licht der Fackeln erleuchtete die Bäume. Und dort, zwischen den Stämmen, begann sich etwas zu bewegen. Zuerst dachte ich, es sei der Wind, der wieder einsetzte und die Fackeln zum Flackern brachte. Doch ich spürte ihn nicht. Nicht auf meinen Händen, nicht im Gesicht. Wieder überkam mich das überwältigende Gefühl, das Ganze schon einmal erlebt zu haben. Doch war es nicht so präsent wie eben. Irgendein Detail fehlte und ich wusste nicht welches. Ich wusste nur, dass ich schon mal hier gestanden hatte und mich nach einer Weile wie ausgelaugt fühlte. Nicht nur ich alleine. Auch allen anderen Dorfbewohnern erging es so.
Und dann, dann kamen sie.
Aus dem Wald traten kleine Gestalten hervor. Vier Kinder.
Sie trugen schmutzige, viel zu dünne Kleidung und zerrissene Mäntel, deren Stoff in der Luft flatterte, obwohl kein Wind wehte. Ihre Füße waren nackt. Ihre Haut war bläulich weiß. Ihre Augen waren schwarz wie Kohle, die Lippen tiefblau, so dass man meinen konnte, sie hätten diese mit Tinte bemalt. Sie bewegten sich in einer unnatürlichen Gleichzeitigkeit, als wären es nicht vier Körper, sondern ein einziger Körper mit vier Schatten.
Ich wollte zurückweichen, doch meine Füße gehorchten mir nicht. Eine unsichtbare Macht hielt mich fest an Ort und Stelle. Die 4 Kinder bewegten sich langsam auf uns zu. Ihre kleinen nackten Füße hinterließen für einen kurzen Augenblick Spuren im frisch gefallenen Schnee. Diese verschwanden allerdings wenige Sekunden später. Als die Kinder die ersten Bewohner erreichten, konnte ich die Kälte spüren, die von ihnen ausging. Ich sah, wie eines der Kinder die Hand erhob. Die Finger waren dünn, fast durchsichtig. Es machte eine Faust und ich sah, dass plötzlich Sand aus der Faust rieselte – feiner goldener Sand. Ein Leuchten umgab dabei die kleine Faust. Sie leuchtete fast so hell wie das Licht der eingefrorenen Fackeln.
Sie liefen durch die Reihen der Dorfbewohner. Langsam und mit Bedacht. Sie schauten sie mit ihren großen schwarzen Augen an, als ob sie jeden einzeln lesen könnten. Jede einzelne Person wurde von oben bis unten betrachtet. Vor manchen ließen die Kinder ein kleines Häufchen goldenen Sand vor den Füßen liegen. Sie markierten sie. Ich wollte erneut schreien, doch ich konnte nicht. Ich konnte nur zusehen.
Als die vier bei mir und meiner Familie ankamen, versuchte ich, meine Augen so starr zu halten, wie es nur ging. Ich richtete meinen Blick stur auf den dunklen Wald. Die Kälte, die sie von sich gaben, begann mir in den Augen zu brennen, und ich hoffte inständig, dass diese nicht zu tränen begannen.
Alma, Jonas und Matthias wurden zwar beäugt und gelesen, aber es wurde ihnen kein Sand in die Augen gestreut. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Dann kamen die 4 zu mir. Ich spürte Ihre Blicke, die sich in mich bohrten. Es war fast so, als ob sie in mich hineindrängen und mich von innen betrachteten. Sie schauten mich länger an als die anderen Dorfbewohner. Eines der Kinder hob die Hand und ließ den Sand vor mir auf den schneebedeckten Boden rieseln. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. In meinem Kopf bildete sich eine Frage. „Warum ich?“
Ich sah, wie die vier weitergingen und sich vor der nächsten Person aufstellten. Langsam bewegte ich meine Augen, um zu sehen, was sie nun taten. Blitzschnell drehte eines der Kinder seinen Kopf zu mir und ich blickte augenblicklich wieder in Richtung Wald. Das Kind kam erneut auf mich zu und schaute direkt in mein Gesicht. In diesem Moment blieb mir fast das Herz stehen.
Das Kind wandte sich wieder um und ging zurück zu den anderen. Es drehte noch einmal seinen Kopf und schaute mich an. Dann tat es, was die anderen drei taten. Es las die nächste Person. Als sie sich entfernten, wagte ich einen erneuten Blick und versuchte, mich zu bewegen. Doch es klappte nicht. Ich war weiterhin bis auf meine Augäpfel eingefroren.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Als die 4 die letzte Person begutachtet hatten, liefen sie wieder in den Wald und ich sah sie hinter den Bäumen verschwinden.
Plötzlich spürte ich Bewegung in meinen Fingern. Ich konnte wieder atmen. Ich konnte wieder blinzeln. Eilig schaute ich auf den Waldrand und dann wieder auf meine Hände hinab. Meine Finger zuckten erneut. Die Fackel in meiner rechten Hand bewegte sich ebenfalls und ich versuchte, diese nicht fallen zu lassen. Ich erwachte aus der Starre. Ich blickte eilig auf andere Dorfbewohner und sah, dass diese weiterhin in ihrer Starre verharrten. Noch bevor ich wieder die volle Kontrolle über meinen Körper hatte, erregte eine erneute Bewegung am Waldrand meine Aufmerksamkeit.
Aus dem Schwarz zwischen den Bäumen trat etwas hervor. Nicht mehr die Kinder, die eben noch im Wald verschwanden. Nicht mehr das, was Sie eben noch gewesen waren. Die vier, die eben noch wie verlorene Seelen wirkten, verzerrten sich, dehnten sich aus – als wäre die Dunkelheit selbst in ihre Körper gekrochen. Ich hörte ein Geräusch, das ich nur schwer beschreiben kann. Es klang wie eine Art Rauschen eines weit entfernten Flusses, ein Summen wie von einem Schwarm Bienen. Aber auch wie ein gleichmäßiges Ticken einer Uhr, die zu laut tickte, zu nah an meinen Ohren.
Ihre Körper verlängerten sich, die Gliedmaßen wurden dünn und schienen zu zerfließen wie das Wachs im Kerzenlicht. Der Schnee unter ihnen verdampfte, wo ihre Füße ihn berührten. Was ich für Kinder gehalten hatte, war nur die Hülle. Aus diesen Hüllen stiegen sie hervor – vier Gestalten aus Schatten und Frost. Ihre Gesichter waren glatt. Die Körper durchsichtig, als bestünden sie aus Glas. Gezeichnet von Linien, die wie Sprünge im Glas wirkten. In ihren Brustkörben schwebten kleine Sanduhren, deren goldener Sand unaufhörlich floss.
Da, wo einst Augen gewesen waren, bewegten sich nun dunkle, kreisende Uhrwerke, Zahnräder, die in rhythmischen Abständen klickten. Ihre Münder waren keine Münder mehr, sondern schmale Schlitze, aus denen silbrig-grauer Dampf quoll. Dampf, so alt wie die Zeit selbst. Sie bewegten sich lautlos in völliger Synchronität zwischen den stillstehenden Dorfbewohnern. Ich sah, dass diese Wesen mit ihren grotesk langen Fingern goldene Lichtfäden aus den Bewohnern zogen.
Mit jeder Person, aus der sie die Lichtfäden zogen, füllten sich die Sanduhren in ihren Körpern. Mir wurde klar, dass diese Wesen die Sekunden und Minuten aus den Körpern der Menschen rissen. Mein Herz schlug mittlerweile so laut, dass ich glaubte, die Geister würden es hören. Eines wusste ich in diesem Moment ganz genau: „Ich musste weg, bevor sie auch mich erreichten!“ und gab mir alle Mühe, mich endlich zu bewegen.
Ich zwang mich, meinen Kopf zu heben, doch der Rest von meinem Körper gehorchte mir nicht. Es war, als läge eine unsichtbare Schicht aus Eis über mir. Ich wollte nur einen Schritt machen, aber meine Beine waren schwer wie Blei. Etwas zog an mir, tief aus dem Inneren der Erde heraus, als würde jemand an den Fäden meiner Sehnen zerren.
Dann begann mein rechter Arm, sich zu bewegen – langsam und widerwillig, als ob er nicht zu mir gehörte. Ich spürte das Reißen meiner Muskeln und hörte das Knacken in meinen Gelenken. Der Schmerz, der dabei aufkeimte, war brennend und es fühlte sich an, als ob man mir mit Nadeln in die Gelenke stechen würde.
Ich versuchte, Luft zu holen, doch jeder Atemzug brannte in meinen Lungen. Mein Herz verkrampfte sich für einen kurzen Moment und ich spürte ein Herzstolpern. Ich fühlte, wie sich mein linker Fuß vom Boden hob. Ein schmerzhafter Ruck ging durch meinen Körper und meine Muskeln zuckten. Das Gefühl war unerträglich. Ich sah, wie meine Hände sich verkrampften. Wie sich die Haut über den Knöcheln spannte und meine Finger in unkontrollierten Stößen zu beben begannen. Die Fackel in meiner Hand begann zu wackeln. Nach einem erneuten Ruck, der durch meinen Körper ging und so heftig war, dass ich glaubte, meine Knochen würden brechen, fiel ich keuchend nach vorne. Ich ließ die Fackel fallen. Ein Schrei löste sich aus meiner Kehle, der so rau war, als hätte ich ihn jahrelang zurückgehalten. Mir wurde für einen Moment schwarz vor Augen.
Ich konnte wieder meine Finger spüren. Meinen kompletten Körper. Ich konnte mich endlich wieder bewegen. Während ich zitternd aufstand, sah ich, wie die vier Wesen langsam ihre Köpfe zu mir drehten. Sie wussten nun, dass ich mich wieder bewegen konnte, und ich wusste, dass sie mich jetzt sahen. Die vier erstarrten für einen Moment in ihrer Bewegung. Es war fast so, als hätte jemand die Zeit erneut angehalten. Nur diesmal für die Wesen. Ihre Köpfe kippten gleichzeitig zur Seite. Es wirkte wie ein grotesker, unheimlicher und widernatürlicher Gleichklang. Ich verstand nicht, was diese Bewegung sein sollte, aber eines verstand ich. Sie versuchten, mich zu begreifen, mich zu sehen auf eine Art und Weise, die über das bloße Sehen und Gesehenwerden hinausging.
Ihre Augenhöhlen begannen zu leuchten. Ein bläuliches Glimmen, das flackerte wie eine kleine tanzende Flamme. Die Zahnräder darin waren verschwunden. Dann öffnete eines der Wesen den Mund. Doch es kam kein Laut heraus, kein Schrei, kein Flüstern. Nur ein Ticken, das sich in meinen Gehörgängen festsetzte. Plötzlich und unerwartet spürte ich einen eiskalten Windstoß. Dieser kam ebenfalls aus der Leere des Rachens von diesem Wesen und ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Es roch nach altem Metall, nach Staub, nach Schnee, nach etwas Uraltem, das es bereits vor der Zeit gegeben haben musste.
Sie begannen, sich zu bewegen. So langsam, dass es unnatürlich wirkte. Doch mit jedem ihrer Schritte nahm die Welt um mich herum einen anderen Rhythmus an. Das Ticken in meinen Ohren beschleunigte sich.
Ein Wesen schritt an einer Frau vorbei. Seine durchscheinende Hand fuhr durch ihren Körper, und ich sah, wie ein goldenes Leuchten in seiner Brust kurz heller aufflammte. Aus dem Mund der Frau entwich ein Hauch von goldenem Nebel. Auch auf die Entfernung hin erkannte ich, was es war. Es waren winzige, funkelnde Sandkörner, die in das Wesen hineinströmten, wo sie sich in der gläsernen Sanduhr in der Brust sammelten.
Mir fielen die Worte von Frau Anderson wieder ein und hallten plötzlich in meinem Kopf wider. „Sie ernährten sich von Zeit. „Man sagt, sie sammeln verlorene Zeit – Minuten, die wir verschwenden, Stunden, die wir vergessen. Denn Zeit ist das, was ihnen fehlt. Magnus, Sie müssen es am besten wissen. Eine Uhr ist nicht Zeit, sie ist Ziffern und Federn. Verlorene Zeit kann man nicht wieder zurückholen.“
Ich begriff, was die Worte bedeuteten. Ich begriff, was Frau Anderson war. Sie war ein Medium, eine Seherin.
Das kleinste Wesen blieb plötzlich stehen und drehte sich ruckartig zu den anderen um. Seine Bewegung war unnatürlich schnell, aber auch brüchig. Es neigte seinen Kopf und ein dünnes, klirrendes Geräusch drang aus dem Inneren seines Körpers. Es klang wie das Geräusch von zerspringendem Glas, gemischt mit dem Ticken, das unaufhörlich anschwoll, je näher sie mir kamen. Dann kam ein weiteres Geräusch hinzu. Nicht laut, aber schneidend. Ein Kinderlachen.
Ich wich zurück. Der Schnee unter meinen Füßen knirschte. Alle vier bewegten sich nun in diesem unnatürlichen synchronen Gang auf mich zu.
Ihre Körper schimmerten und verzogen sich. Das blaue Licht in den Augen flackerte auf. Mit jedem Schritt, den sie auf mich zukamen, schmolz der Schnee um sie herum. Überall, wo sie vorbeigingen, zogen sie goldene Lichtfäden aus den Personen heraus. Einige der älteren Dorfbewohner sackten dabei zusammen und blieben reglos liegen.
Ich spürte, wie der Boden unter mir zu vibrieren begann, und ich taumelte zurück, stolperte dabei über einen Stein, der aus dem Schnee herausragte. Ich konnte mich gerade noch abfangen und balancierte mich aus. Dabei drehte ich mich um und rannte los. Hinter mir hörte ich keine Geräusche, keine Schritte. Nur das monotone, unbarmherzige Ticken, das immer lauter wurde. Und dann setzte ein Flüstern ein, das sich in meinem Kopf festsetzte, ohne dass ich es hören musste, um es zu verstehen:
„Du bewegst dich, weil du zu uns gehörst.
Ich stolperte weiter durch den Schnee, während mein Herz wild in meiner Brust raste. Und zum ersten Mal begriff ich, was wirkliche Angst bedeutete: Nicht das Ende der Zeit. Sondern zu wissen, dass sie weiterläuft – für dich allein und für sonst niemanden. Doch im tiefsten Inneren wusste ich, dass meine Familie, meine Frau und Kinder, dort eingefroren in der Zeit, sicher waren. Sicherer, als ich es war.
Ich rannte durch den Schnee und erreichte das Dorf. Rannte durch die Gassen von Skuggberga. Die Häuser schienen sich zu dehnen, als wären sie groteske Bauten. Die Straßen zogen sich in die Länge und schienen länger, als sie eigentlich waren.
Ich spurtete in Richtung unseres Hauses und im eingefrorenen Licht der Laternen sah ich ihn. Mich. Ich sah mich im Schaufenster unseres Ladens. Mein Gesicht von Angst, Panik und Verzweiflung gezeichnet. Ich wandte mich zur Tür und dann bemerkte ich es. Die Tür war nicht verschlossen, sondern sie stand offen. Ich wusste genau, dass ich die Tür abgesperrt hatte, bevor wir losgingen. Warum war diese nun offen? „Was in aller Welt geht hier nur vor?“, entfuhr es mir.
Das Ticken hinter mir wurde lauter und lauter. Die Worte: „Ein Uhr ist nicht Zeit, sie ist Ziffern und Federn!“ hallten wieder durch meine Gedanken. Die Worte mischten sich unter dieses unnatürliche Ticken, das hinter mir wie eine Lawine über mich hereinbrach. Tränen stiegen mir in die Augen und rannen mein Gesicht hinab. Ohne mich umzudrehen, stürmte ich in den Laden hinein. Die Tür schlug ohne mein Zutun hinter mir zu und das Schloss sperrte sich von selbst ab. Mir standen förmlich die Haare am ganzen Körper zu Berge. Ich schaute durch das Schaufenster und erkannte, dass die Wesen bereits am Haus angekommen waren. Das Ticken, das von ihnen ausging, überdeckte das Ticken der Uhren im Laden.
Ich hielt mir die Ohren zu und rannte in die Werkstatt hinein. Dabei stürzte ich beinahe zu Boden. Ich stolperte in die Werkstatt und versteckte mich unter dem Werktisch. Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Überall hörte ich das Ticken. Es war, als hätten sich alle Uhren der Welt gegen mich verschworen. Ich lehnte mich gegen den Werktisch, rang nach Atem.
Dann plötzlich … Stille.
Kein Ticken mehr. Nur das Pochen meines Herzens und das Rauschen meines Blutes waren in meinen Ohren zu hören.
Langsam hob ich den Kopf und schaute über den Tisch. Ich erwartete, dass jemand mit mir im Raum war und vor mir stand. Doch was ich sah, ließ mir schlagartig den Mund trocken werden. Erst jetzt fiel es mir auf. Alle Uhren, die ich in der Werkstatt hatte, waren stehen geblieben. Ich nahm all meinen Mut zusammen, öffnete die Tür zum Verkaufsraum und schaute hinein. Auch hier waren alle Uhren stehen geblieben. Jede einzelne. Die Zeiger zeigten exakt 0:15 Uhr an. Ich spürte, wie mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.
„Es ist vorbei“, flüsterte ich heiser. „Gott sei Dank ist es vorbei …“
Doch kaum hatte ich die Worte ausgesprochen, ertönte ein leises, metallisches Klicken. Eine Uhr nach der anderen begann wieder zu ticken. Die Zeiger bewegten sich. Aber nicht im Uhrzeigersinn. – Nein, sie bewegten sich rückwärts. Erst nur langsam. Dann immer schneller und schneller.
Das Ticken verwandelte sich in ein Rattern, in ein kreischendes Kreisen aus tausend von Zahnrädern, die sich aufbäumten, als hätten sie sich gegen die Zeit verschworen.
Ich schlug die Werkstatttür wieder zu und presste erneut die Hände gegen meine Ohren, aber das half nichts. Der Lärm drang durch meine Hände hindurch und erreichte meinen Gehörgang. Ich sah, wie sich die Zeiger selbst bei den kaputten Uhren immer schneller rückwärts bewegten. Und dann fiel mein Blick auf die große Standuhr meines Großvaters.
Die Tür des Uhrenkastens stand offen. Das Pendel war verschwunden, aber dennoch bewegte sich etwas darin. Etwas Dunkles, Schimmerndes, wie Rauch, der eine Form annahm. Vier Hände pressten sich gegen das Glas, das das Zifferblatt vor Staub schützte. Sie waren fast durchsichtig. Ich sah, wie das Glas zersprang und winzige Scherben zu Boden fielen. Hastig wich ich zurück. Mein Rücken stieß gegen ein Regal.
„Nein … nein, das ist nicht möglich“, brüllte ich lauthals gegen den Lärm um mich herum an.
Ein kalter Windstoß fuhr durch den Raum. Die Luft roch schlagartig nach Eisen und altem Öl. Aus dem Uhrenkasten stiegen die 4 Wesen. Ich weiß nicht, wie Sie in das Haus gelangen konnten, aber Sie standen nun vor mir. Ich versuchte, ihnen auszuweichen. Dabei stieß ich erneut an das Regal und einige Uhren, die sich darin befanden, fielen zu Boden und zersprangen in tausend Einzelteile.
„Bleibt weg von mir!“
Mein Herz raste immer schneller und die blanke Panik stieg in mir auf. Ich versuchte weiterhin, auszuweichen, doch mittlerweile war ich in der Ecke des Raumes angelangt und die Wesen kamen von 3 Seiten auf mich zu. Ihre Gesichter waren glatt, ohne jede Menschlichkeit darin. Je näher sie auf mich zukamen, desto mehr verzogen sich langsam ihre Gesichter, als wollten sie lächeln. Doch das, was sich da in ihren Gesichtern bewegte, war kein Lächeln. Es war ein grotesker Versuch, zu lächeln.
Ich hob die Arme vor mein Gesicht und ich versuchte, tiefer in die Ecke zu kriechen. Die Angst in mir wuchs und wuchs. Tränen liefen meine Wangen hinab.
„Warum ich?“, schrie ich. Doch ich erhielt keine Antwort. Eine unsichtbare Kraft zog ruckartig an meinem rechten Arm. Er wurde von meinem Gesicht weggezogen und blieb mitten in der Luft stehen. Ich sah, wie das kleinste Wesen auf mich zukam. Es hob die Hand, und kurz bevor es meine Hand berührte, sah ich, dass sich zwischen unseren Fingern goldener Staub bildete. Sekunden, Minuten – meine Zeit. Ich spürte, wie mir etwas aus dem Körper wich. Mein Herz setzte kurz aus, mein Blick verschwamm. Ich fühlte mich, als würde mich jemand von innen heraus leer schöpfen.
„Nein …“, brülle ich. Der Raum verzerrt sich. Die Wände schienen sich aufzublähen, nur um im nächsten Moment in sich zusammenzufallen. Dunkelheit trat ein und meine Haut begann zu reißen.
Winzige Linien erschienen, als würde ich von innen heraus austrocknen. Ein Licht kam aus meinem Inneren und erleuchtete meinen Körper. Ich sah, wie goldener Sand aus den Rissen rieselte. Ich schrie erneut, doch kein Ton kam heraus. Das Letzte, was ich sah, bevor ich das Bewusstsein verlor, war ein Pendel, das in der Luft hing und zu schwingen begann. Links, rechts, links, rechts.
Mir entglitte die Sinne. Einer nach dem anderen, als wären es nur noch lockere Zahnräder, die aus einem Uhrwerk fallen. Dann war da nur noch das Pochen meines Herzens. Ich spürte, wie sich etwas unter mir auftat. Ich fiel in die Tiefe.
Doch es war kein Sturz wie in einem Traum, sondern ein endloses Gleiten durch eine Spirale aus Licht, Schatten, Raum und Zeit. Die Zeit selbst schien sich in endlosen Bahnen um mich zu winden. Ich sah Gesichter in diesen Strudeln aus längst vergessener Zeit. Schemen von Menschen, deren Augen leer waren. Sie blickten mich durch ihre schwarzen Augenhöhlen an. Einige hatten statt der Schwärze leere Sanduhren als Augen. Ihre Münder bewegten sich, aber ihre Stimmen wurden augenblicklich vom Wind der Zeit geschluckt, ehe ich sie auch nur hören konnte.
Unter mir tat sich etwas auf – ein Kreis aus wirbelndem Schnee. Ich erkannte den Marktplatz von Skuggberga, doch er war anders. Es gab keine Gaslichter, keine Menschen, die herumliefen. Nur das Mondlicht erhellte ihn. Ich spürte den Wind und sah den Schnee, der den Marktplatz bedeckte. In der Ferne erkannte ich ein flackerndes, rötlich oranges Licht am Horizont. Kurz bevor ich auf dem Marktplatz aufzuschlagen drohte, spürte ich, wie ich mit einem Ruck in Richtung des rötlichen Flackerns gezogen wurde.
Plötzlich stand ich auf dem gefrorenen und verschneiten Boden und erkannte, was da flackerte. Ein Holzhaus brannte lichterloh … die Flammen schlugen in den Himmel. Vor dem Haus standen vier Kinder. Die spärliche Kleidung, die sie trugen, war rußverschmiert. Ihre Schatten flackerten im Licht der Flammen auf dem Schnee.
Ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt, versuchte, in die Flammen zu laufen. Doch die beiden kleineren Mädchen hielten ihn zurück, während das vierte Kind – das kleinste – schrie. Ein Schrei, den ich nicht hörte, aber sah. Ich sah den Nebel, der aus seinem Mund entwich. Der Rauch des Feuers stieg in den Nachthimmel auf und in diesem Rauch glaubte ich für einen Moment, zwei Gesichter zu sehen – die Gesichter der Eltern, die in den Flammen starben.
Ich wollte meine Augen schließen, aber ich konnte nicht. Ich musste zusehen, um zu verstehen.
Schneefall setzte ein und fiel so dicht, dass ich Mühe hatte, etwas zu erkennen. Die Kinder drängten sich dicht aneinander. Ihre nackten Füße versanken im tiefen Schnee, als sie, ohne Notiz von mir zu nehmen, an mir vorbeiliefen. Plötzlich änderte sich die Szene wie von Geisterhand und ich stand auf dem Marktplatz. Ich sah, wie die vier von Tür zu Tür liefen. Sie klopften an die Türen, flehten und weinten bitterlich. Hinter den Fenstern bewegten sich Schatten. Schatten von Menschen, die sie sahen, aber nicht öffneten. Ich sah, wie eine Frau den Vorhang zuzog. Einen Mann, der die Laterne im Inneren des Hauses löschte. Ich hörte, wie eine Tür verriegelt wurde. Das Geräusch des Riegels hallte wie ein Schuss durch die Nacht.
„Bitte …“, sah ich die Lippen des ältesten Mädchens formen und hörte ihre Worte in meinem Kopf hallen, „nur ein Stück Brot, Wasser und Obdach für die Nacht. Unser Haus ist abgebrannt und unsere Eltern sind in den Flammen gestorben. Bitte nur ein Stückchen Brot …“
Doch keine Antwort kam. Nur das Pfeifen des Windes, der über den Marktplatz wehte, war zu hören. Weinend schauten die vier sich an und mir brach bei diesem Anblick das Herz. Nicht nur weil ich selbst Vater bin, sondern weil mir das Schicksal der 4 unendlich leidtat. Ich begann zu weinen und lief auf die vier Kinder zu, um sie zu trösten. Doch sie sahen mich nicht und liefen durch mich hindurch, als sei ich nur Luft.
Sie gingen weiter. Ihre Körper wurden immer kleiner, als sie am Horizont verschwanden. Erneut wechselte blitzschnell die Szene und ich sah, wie sich die Körper der Kinder unter der Last der Kälte krümmten. Ihr Atem gefror zu kleinen weißen Wolken, die vor ihren Gesichtern schwebten. Der Wind peitschte durch die Äste der Bäume, an denen sie vorbeiliefen. Über allem lag ein langsames, unaufhörliches Ticken – als ob irgendwo eine riesige Uhr die Zeit messen würde. Die vier kamen am Waldrand an. Sie schlotterten vor Kälte. Ihre Lippen waren bereits blau … Erfrierungen an den Füßen und den Händen. Der Mond beleuchtete die surreale Szene.
Die Kinder sanken nieder, eines nach dem anderen. Der kleinste Junge weinte nicht mehr.
Der älteste Junge legte den Arm um ihn. Zog ihn näher an sich heran und tröstete ihn. Ich sah, wie sie sich gegenseitig festhielten. Ihre Lippen bewegten sich – ich konnte keine Worte hören, aber tief im Inneren wusste ich, dass sie sich versprachen, zusammenzubleiben.
Ein letzter Atemzug, der in der Luft gefror, ehe Stille und Dunkelheit einsetzten. Eine Wolke zwischen Mond und Erde. Als diese verschwand, sah ich, dass sich Schnee über die 4 erfrorenen Leiber gelegt hatte. Ich schluchzte und wischte mir die Tränen aus den Augen. Eine unnatürliche Stille setzte ein, als die Zeit erneut für einen Moment stillstand. Aus dieser Stille erhob sich etwas. Ein kaum hörbares Summen setzte ein. Es war spürbar tief in meinem Brustkorb.
Ich blickte in Richtung der Kinder und sah, dass der Schnee über den Körpern sich leicht zu bewegen begann. Und dann sah ich sie: vier bläuliche Schatten, die aus dem Schnee emporstiegen. Ihre Augen waren leer, in ihren Brustkörben glomm etwas Goldenes. Eine Sanduhr. Doch kein Sand war darin zu sehen. Das goldene Licht ihrer Brust sandte feine Strahlen in alle Richtungen. Und dort, wo sie den Schnee mit ihren Geisterfüßen berührten, entstanden kleine Fußabdrücke, die nach wenigen Sekunden wieder verschwanden. Ich sah, wie Ihre Geister in den Wald gingen. Zurück blieben nur die seelenlosen Körper, die unter dem Schnee begraben lagen. Ich verstand: Die Kinder, besser gesagt ihre Seelen, waren nicht gegangen. Sie waren geblieben, gefangen in der Stunde ihres Todes. Ich ging ihnen in den Wald nach.
Ich sah, wie die Kinder zum Himmel blickten, und schaute selbst hinauf. Über ihnen öffnete sich der Himmel, schwarz und ohne Sterne. Es war fast so, als hätte jemand die Nacht von einem auf den anderen Moment ausgeschlachtet und ihr das Licht der Sterne und des Mondes entrissen.
Über den Wipfeln der Tannen glimmte plötzlich etwas auf. Erst ein schwaches blaues, flackerndes Leuchten, dann vier kleine Lichter, die in der Luft schwebten wie Irrlichter. Sie tanzten am Himmel und bewegten sich langsam herab. Die Lichter kamen näher, bis sie über den Körpern der Kinder schwebten. Dabei begannen sie, heller zu leuchten. Und dann … änderten sie sich.
Sie flackerten und zitterten, als hätten sie eine Form angenommen, ein Bewusstsein, das erwachte. Ihre Leuchtkraft pulsierend wie ein Herzschlag. Aus dem Flimmern heraus tauchten Gesichter auf, die nicht menschlich waren. Verzerrte Masken aus Licht und Schatten, mit leeren Augen.
Die vier hoben langsam ihre Köpfe, als würden sie einem Befehl folgen, den nur sie hören konnten. Ihre Lippen bebten, und ihre körperlosen Münder öffneten sich. Ein Dampf, weißbläulich schimmernd, stieg aus ihnen heraus. Die Lichter senkten sich auf sie herab. Ich beobachtete, wie das erste Licht in den Mund des kleinsten Kindes glitt. Der kleine, fast durchsichtige Körper zuckte. Ein Laut, halb Schrei, halb Seufzer, brach aus ihm hervor. Sein Rücken bog sich und aus seinen Augen rann ein feiner, goldener Staub.
Das Licht verschwand vollständig in ihm – und in diesem Moment veränderte sich etwas. Sein Blick wurde starr, das Zittern hörte auf. Dann begann er zu lächeln. Aber es war kein Kinderlächeln mehr – es war kalt und nüchtern. Die anderen drei Lichter folgten, glitten sanft in die Körper der restlichen 3 … Als das übrige Licht in die drei anderen eingedrungen war, sah ich, wie sich Schatten entwickelten. Sie dehnten sich über den Boden aus. Wurden länger, dunkler, Die Augen der Kinder begannen zu glühen – ein tiefes, frostiges Blau, das durch die Dunkelheit schnitt.
Dann begannen sie, zu gehen. Sie liefen nicht ziellos, sondern zielgerichtet tiefer in den Wald hinein. Es war fast so, als würden die 4 einem Ruf folgen, den nur sie hörten. Hinter ihnen verwandelten sich ihre Fußspuren, die golden funkelten, bevor sie zu Staub zerfielen und verschwanden. Das Einzige, was blieb, war das Ticken einer Uhr, das in meinem Trommelfell vibrierte. Es war langsam, stetig und unaufhörlich zu hören.
Ich realisierte: Die Lichter waren die Zeitgeister. Sie hatten ihre Kinderseelen verschlungen und ihre Körper als Hüllen behalten. Ein eisiger Windstoß wehte über den Boden in Richtung des Waldes. In der Finsternis, tief aus der Dunkelheit, hörte ich ein Flüstern, das sich tief in mein Bewusstsein grub. Die Worte klangen mechanisch und emotionslos. „Zeit ist das, was Menschen vergeuden.“ Nach diesen Worten kehrte wieder Stille ein. Eine ohrenbetäubende Stille.
Ich wollte schreien, doch kein Ton kam heraus. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen: Es war kein Traum, den ich gerade erlebte. Ich war ein Beobachter in einem Albtraum, der nicht meiner war. Gefangen in den eigentlich schon längst vergessenen Träumen und Erinnerungen der erfrorenen Kinder. Es war ihre Erinnerung, die nun mir meine Zeit nahm.
Tränen liefen mir über mein Gesicht. Warm in der Kälte der Vergangenheit. Für einen Moment war ich nur ein Häufchen Elend, während die unsichtbaren Sekunden in der Luft um mich herum knisterten wie brennendes Holz. Ich lief zum Waldrand zurück.
Dann hörte ich es wieder. Ein leises Ticken, das aus der Ferne erklang und stetig anschwoll, als würde eine gigantische Uhr irgendwo unter der Erde zum Leben erwachen. Jedes Ticken, das erklang, saugte etwas aus der Welt: Licht, Geräusch, Kälte, die Zeit des Vergangenen und nicht mehr Umkehrbaren.
Ich spürte, wie der Boden unter mir zu vibrieren begann. Auf einmal fiel Schnee vom Himmel. Erst langsam und nur ein wenig, dann immer stärker und stärker. Die Sicht auf den Wald verschwand. Ein eiskalter Wind stieß von unten nach oben. Ich wollte wegrennen, doch das Vibrieren brachte mich zu Fall. Der Boden unter mir begann, sich zu heben. Ich begann zu rutschen und versuchte, mich am gefrorenen Boden festzukrallen, aber meine Finger rutschten ab. Ich spürte eine glatte Oberfläche, die sich wie Glas anfühlte. Risse bildeten sich um mich herum, aus denen goldenes Licht strahlte. Das Beben wurde immer stärker und ich sah, wie sich etwas aus dem Boden erhob. Eine Sanduhr. Überall stiegen Sanduhren aus dem gefrorenen Boden. Hunderte, wenn nicht sogar Tausende.
Sie wuchsen aus dem Boden wie gläserne Pilze, straff und klar, jede gefüllt mit goldenem Sand, der in unmenschlicher Geschwindigkeit rieselte. Er floss nach oben, nicht nach unten. Es war Zeit, die rückwärts lief. Nein, vorwärts. „Nein … nein, bitte nicht …“, brachte ich hervor, doch meine Stimme war nur ein Krächzen. Ich kroch rückwärts und versuchte, mich an irgendetwas festzukrallen, doch der Boden unter mir gab nach und ich rutschte, nein, ich fiel hinein. Der Zeitstrudel öffnete sich erneut unter mir.
Ich schrie wie am Spieß, als die Welt sich um mich herum in Fetzen riss. Die Farben verzogen sich und die Geräusche wurden zu langen, dünnen Fäden, die sich wie lautes Getöse anhörten, das immer dünner wurde. Es war fast so, als wollte jemand oder etwas das Geschrei und Gejammer voneinander lösen. Den Ton und das Licht auseinanderziehen und trennen. Ich stürzte durch Zeittunnel aus flackernden Bildern: Ich sah Menschen, die ich kannte. Menschen, die längst tot waren. Ich rase durch die Zeit. Dabei fühlte ich alles, jeden Zeitraum. Jeder Atemzug, den ich nahm, brannte in meiner Lunge. Selbst auf meiner Haut brannte die Zeit wie glühende Nadeln.
Der Strudel kehrte sich um und ich fiel nicht mehr nach unten, sondern wurde nach oben gezogen. Von einem auf den anderen Moment verlor ich jedes Gefühl dafür, wer ich war, was ich war und wer ich überhaupt bin. Ich verlor mein Alter, meinen Namen, meine Existenz. Ich war nur noch ein Funken Bewusstsein, der durch die Zeit geschleudert wurde. Sich überall und doch im Nirgendwo befand. Ich weiß nicht, wie lange ich fiel. Waren es nur Sekunden oder doch Stunden oder sogar ein ganzes Leben? Im nächsten Moment ertönte ein Glockenschlag und ich prallte auf etwas Hartem auf. Ich riss meine Augen auf und erkannte, dass ich in meiner Werkstatt lag.
Es war unnatürlich dunkel und ich wusste sofort: Das war nicht die Dunkelheit der Nacht, nicht die Dunkelheit von Skuggberga. Es war eine andere Art der Dunkelheit. Eine, die einen ängstigt und gleichzeitig fasziniert. Ich setzte mich auf und mein Körper fühlte sich nicht wie mein Körper an. Er war zu leicht. Ich hob meine Hand und erkannte, dass mein Körper keine feste, lichtundurchlässige Masse mehr war, sondern transparent. Ein leichtes Licht begann, um mich herum zu leuchten. Es flimmerte. Ich blickte mich im Raum um und dann sah ich sie.
Die 4 Kinder, die keine Kinder waren. Sie standen in der Ecke der Werkstatt. Ihre Körper waren so groß wie die von Kindern in verschiedenen Altersstufen, aber gleichzeitig waren ihre Körper irgendwie überlang. Ihre Gelenke waren unförmig, die Arme zu dünn. Ihre Gesichter und die Schädel waren zu glatt, als hätte jemand ihre Köpfe aus Glas geblasen. In ihren Brustkörben, dort, wo ihre Herzen hätten sein müssen, sah ich wieder die Sanduhr, deren Sand langsam rieselte.
Sie lächelte nicht und schaute auch nicht ernst. Sie blickten starr auf mich herab. Das Größte von ihnen begann zu sprechen. „Du bist zurück“, kratzte es aus heißerer Kehle, und seine Stimme klang schabend und kratzend, als hätte er jahrhundertelang nicht mehr gesprochen.
Die vier kamen näher, und die Kälte, die von ihnen ausging, war nicht von dieser Welt. Ich vermutete, es war die Kälte des Todes, die sie mit sich brachten. Das kleinste Wesen beugte sich zu mir herab und flüsterte in mein Ohr. „Nun gehörst du uns!“ Seine Worte hallten in meinen Ohren nach. Ich schüttelte verzweifelt den Kopf und versuchte, das Hallen der Worte daraus zu vertreiben. Das Wesen trat zurück und das größte beugte sich zu mir herab. Er reichte mir seine groteske Hand und half mir beim Aufstehen. Erst verweigerte ich die angebotene Hilfe, doch ein mahnender Blick belehrte mich, das Angebot besser anzunehmen. Als ich es berührte, spürte ich die eisige Kälte, die von seinem gläsernen Körper ausging. Dann begann es zu sprechen:
„Du wirst wie wir zwischen den Sekunden wandeln“, flüsterte es. „Du wirst ein Zeuge sein. Ein Beobachter. Ein Schatten im Sand.“ Ich sah, wie die Sanduhr in seiner Brust dabei zu pulsieren begann. Der Sand darin rieselte schneller, als er sollte.
Als es diese Worte gesprochen hatte, richtete sich das Wesen zu seiner vollen Größe auf. Noch bevor ich etwas sagen konnte, hob es seine linke Hand. Seine Finger waren länger als die eines Menschen. Es tippte mir einmal gegen die Stirn. Nur eine sanfte Berührung.
Doch diese reichte aus, um mich beinahe wieder zu Boden gehen zu lassen. Noch bevor ich mich versah, konnte ich sehen, wie die 4 Wesen in die Richtung der Standuhr meines Großvaters gingen. Sie schritten durch die geöffnete Tür und verschwanden einer nach dem anderen in der Standuhr. Mir wurde schwarz vor Augen. In meinen Ohren dröhnte es und plötzlich spürte ich, wie etwas an mir zerrte, mich zurückriss und ich erneut in den Zeitstrudel fiel, schneller, tiefer, bis ich im Schnee vor den erstarrten Bewohnern unseres Dorfes am Waldrand landete. Der Aufprall war so heftig, dass ich bewusstlos wurde.
Als ich wieder zu mir kam, schlug die Kirchenglocke erneut 0:15 Uhr. Ein einziger Glockenschlag hallte von Suggberga hinüber zum Wald.
Die Dorfbewohner begannen, sich wieder zu bewegen, zu lachen. Sie sangen sogar Weihnachtslieder, aber keiner von ihnen bemerkte, dass ich fehlte. Nicht einmal meine Frau und Kinder bemerkten es. Es war, als ob ich aus ihren Gedächtnissen gelöscht worden wäre. Ich stand auf und stellte mich vor meine Frau. Ich redete mit ihr, doch sie bemerkte mich nicht. Ihr Blick ging einfach durch mich durch. Das Gleiche galt für meine Kinder. Sie schauten ebenfalls durch mich hindurch. In welcher Zeit war ich gelandet? Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Frau verweinte Augen hatte und meine Kinder ebenfalls traurig wirkten.
Für einen kurzen Augenblick sah ich an mir herab und bemerkte, dass ich immer noch durchsichtig war. Entsetzt stolperte ich ein paar Schritte zurück. Ich sah in Richtung des Waldes und erkannte einen der Zeitgeister, der mich beobachtete. Er hatte wieder die Form eines der Kinder angenommen. Mit einem mahnenden Blick sah er mich an und verschwand hinter einer dicken Eiche.
In dem Moment, als er verschwand, begann der Wind, von Norden her zu wehen. Der leichte Schneefall von eben wurde stärker. Ein Blitz durchzog die Nacht und ein lauter Donnerschlag folgte. Schlagartig setzte ein Schneesturm ein, der mit jeder Sekunde stärker wurde. Der Wind blies einige Fackeln aus, riss an den Ästen der Bäume. Schneeverwehungen entstanden von einem auf den anderen Moment.
Meine Frau und Kinder, die Nachbarn und die restlichen Dorfbewohner, alle liefen in Richtung des Dorfes, eilten über den Marktplatz, hasteten in ihre Häuser, die Schultern hochgezogen, die Köpfe gesenkt. Einige schrien nach ihren Kindern.
Aber niemand sah zu meinem Laden. Niemand suchte nach mir. Niemand fragte nach mir. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in mir aus. Ein kalter, langsamer, quälender Schmerz, der nichts mit dem Winter zu tun hatte. Ich sah, wie ein Licht in meinem Laden entzündet wurde und ihn erhellte. Schnellen Schrittes eilte ich zu unserem Haus und blieb vor dem Schaufenster stehen. Meine Frau Alma stand an dem Verkaufstresen und weinte. Ich klopfte gegen die Scheibe. Meine Stimme begann zu beben und überschlug sich. „Hier bin ich!“, „Hier bin ich, verdammt nochmal!“
Keine Reaktion. Keine Regung. Alma wischt sich nur mit einem Taschentuch die Tränen vom Gesicht. Dabei hielt sie die andere Hand an ihre Brust gedrückt. Ich erkannte, dass sie etwas in der Hand hielt. Eine Kette baumelte vor ihrer Brust hinab und bebte mit jedem Atemzug, den sie nahm. Sie nahm die Hand vor ihrer Brust weg und schaute in sie hinein. Jetzt erkannte ich es. Es war meine Taschenuhr, die Alma in ihrer Hand hielt.
Wie konnte das sein? Ich trug meine Taschenuhr immer bei mir, sobald ich das Haus verließ. Ich hatte sie heute Abend in meine Jackentasche gesteckt, bevor wir zum Umzug aufgebrochen sind. Ich griff in die Jackentasche hinein und überprüfte, ob sich die Uhr darin befand. Die Tasche war leer. Keine Uhr darin.
Wie konnte das sein? Ich zog die Hand aus der Tasche und hämmerte gegen das Glas der Fensterscheibe. Meine Knöchel wurden weiß. „Bitte, Alma, ich bin hier! Ich bin doch hier!“, schluchzte ich herzzerreißend. Doch nichts geschah. Keine Reaktion. Meine Worte wurden vom Wind verschluckt, kaum kamen sie über meine Lippen, schon waren sie verloren. Ich rief lauter, schrie, brüllte – aber selbst ich hörte mich kaum noch.
Die letzten Leute liefen an mir vorbei, huschten in ihre Häuser wie flüchtige Schatten. Ich stellte mich direkt vor einen Mann, packte seinen Mantel, doch meine Finger glitten einfach durch den Stoff hindurch. Ich schnappte nach Luft. Der Mann ging durch mich hindurch. Als wäre ich Nebel. Als wäre ich einfach ein Nichts. Ich taumelte zurück, fiel in den Schnee, der sich sofort unter meinem Körper zusammenzog.
„Nein … nein, das kann nicht … sein.“
Ich rappelte mich wieder hoch und rannte quer über den Platz, packte nach den wenigen Menschen, die noch an mir vorbeirannten. Meine Hände glitten einfach durch sie hindurch. Niemand reagierte. Oder sah mich. Niemand hörte mich. Ein Schwindel erfasste mich. Ich sah zum Himmel – der Sturm war inzwischen so dicht, dass man kaum mehr noch die Dächer erkennen konnte. Ich sank auf die Knie. Der Sturm war nun ein heulendes Biest, das die Welt um mich herum verschluckte. Ich presste die Hände gegen mein Gesicht, und die Tränen brannten heiß in der eisigen Luft.
„Bitte … irgendjemand … irgendwer …“
Nichts. Nur Wind. Nur Schnee. Nur Kälte. Dann wurde es seltsam still in meinem Kopf – wie ein Moment, bevor eine Uhr stehenbleibt. Dann hörte ich es wieder. Dieses Ticken
Tick., Tick., Tick.
Es kam von hinter mir. Direkt aus dem Sturm. Ich drehte mich langsam um. Ich weiß nicht warum, aber das Ticken zog mich magisch an. Ich lief Richtung Norden, aus der es kam. Der Wind und der Schnee peitschten mir entgegen. Ich spürte die Kälte nicht. Ich fühlte die Schneeflocken nicht mehr. Ich lief einfach auf das Ticken zu. Dann standen dort, wo der Wald begann und wo der Umzug geendet hatte, die vier kleinen, dünnen Schatten. Ich sah sie. Und sie sahen mich. Ihre Augen glühten schwach blau. Ihre Silhouetten flackerten. Sie hoben gleichzeitig eine Hand, als wollten sie mir zuwinken. Oder mich zu ihnen heranwinken.
Ich war erschöpft und spürte meine Beine kaum noch. Wie mechanisch lief ich Schritt für Schritt in ihre Richtung. „Ist das … der Preis, den ich zahlen muss?“, schrie ich gegen den Wind an. „Die vergessene Zeit?“ Die Schattenkinder neigten perfekt synchron ihre Köpfe. Der Sturm heulte erneut laut auf, und für einen Moment glaubte ich, ich hörte eine Stimme darin. Alt. Trocken. Knirschend. „Du bewegst dich, weil du niemand mehr bist.“ Ich blieb stehen. Verstand nicht die Bedeutung der Worte, die ich hörte. Ich verstand nicht den Unterschied zwischen dem Leben und dem Zustand, in dem ich mich jetzt befand, bzw. was jetzt auf mich wartete. Ich wusste nicht, wohin ich gehörte. Wusste nur, dass die Zeit weiterlief. Doch für wen? Für wen lief die Zeit weiter? Ich spürte, dass etwas im Wald auf mich wartete. Etwas, das mich kannte und das mich nicht vergessen hatte. Ich atmete tief ein, schloss die Augen … Dann machte ich den nächsten Schritt und den nächsten und übernächsten. Meine Beine waren schwer wie Blei. Als ob ich Gewichte in meine Hosen eingenäht bekommen hätte.
Und dann, dann verschluckte mich der Sturm. Die Umgebung um mich herum verzerrte sich und im nächsten Augenblick wehte kein Wind mehr. Es fiel kein Schnee mehr. Es war etwas anderes. Etwas, das meinen Körper umschloss. Es fühlte sich wie nasser, gefrorener Stoff an. Doch es war kein Stoff, der mich umhüllte. Es war etwas, das roch wie altes Metall und altes Papier. Etwas, das nicht in meine Realität gehörte. Genau im gleichen Moment wusste ich, dass ich nicht mehr im Wald war. Und auch nicht mehr im Dorf.
Ich war irgendwo dazwischen. An einem Ort, an dem die Zeit buchstäblich für immer stillstand. Wo es vielleicht nie Zeit gab, die man messen konnte. Ich war im Nirgendwo und trotzdem irgendwo. Plötzlich stand ich vor einer großen hölzernen Tür. Sie öffnete sich langsam und schwerfällig. Als ich durch den Eingang hindurchschritt, sah ich gigantische Zahnräder aus Licht, die in der Dunkelheit im Raum schwebten. Sie drehten sich in unmöglichen Richtungen. Manche bewegten sich normal, andere wiederum rückwärts und andere standen einfach nur still und pulsierten wie schlagende Herzen.
Ich stand auf etwas, das wie ein Fußboden wirkte. Manchmal war er da, manchmal nicht. „Wo bin ich …?“, flüsterte ich.
„Im Zwischenraum.“
Ich fuhr vor Schreck herum – und da standen sie. Die vier vergessenen Kinder. Die Zeitgeister. Doch sie wirkten wieder anders. Sie hatten zwar die Form der Kinder. Allerdings waren Ihre Gesichter stark verzogen. Ihre Haut hing nun in dünnen Fetzen herab, manche Stellen waren von Frostblumen überzogen. Ihre Augen waren schwarz wie Kohle und hatten nun Risse, aus denen blaues Licht leuchtete. Sie lächelten. Nicht wie Kinder. Sondern wie etwas, das nie ein Kind gewesen war. Etwas, was lange vor den Menschen existierte und doch nicht existiert hatte.
Eines der Wesen trat näher an mich heran. Sein Körper knackte und klirrte dabei leicht, als würde sich etwas durch die Bewegung verbiegen.
„Du hattest viel Zeit in dir“, krächzte es. Dabei klang seine Stimme nicht wie eine einzelne Stimme, sondern wie vier Stimmen, die übereinanderlagen und nicht ganz im selben Takt sprachen. „Du, Magnus, repräsentierst Jahre … die noch warm sind …“
Ich wich ein Stück zurück, doch der Boden löste sich unter mir auf. Ich fiel rückwärts, nur um plötzlich im nächsten Moment wieder zu stehen.
„Warum … Bin ich hier?“
Ein anderes Wesen neigte den Kopf so ruckartig zur Seite, dass ich ein trockenes Knacken hörte.
Ein Lächeln war in seinem sonst emotionslosen Gesicht zu erkennen. Es lächelte unnatürlich und viel zu breit. „Du wurdest zu nichts!“
Der Satz traf mich härter als jede Kälte. Ich schluckte schwer und antwortete: „Meine Familie … sie kann mich noch fühlen. Sie wird mich suchen.“ Die Wesen begannen zu lachen. Das vierstimmige Lachen ließ mich frösteln.
Das dritte Wesen, kam näher. Sein Schatten wuchs und wuchs, wurde immer größer und reichte bis ins Unendliche. Es begann zu sprechen.
„Sie werden dich nicht Suchen, Magnus. Sie werden dich nur noch an deinem Grab besuchen.“
„Für sie bist du am Abend des 20. Dezember auf dem Weg zum Wald von ihnen gegangen. Sie fanden dich einen Tag später tot im Schnee liegend. Der herbeigerufene Mediziner vermutete einen Herzstillstand. Traurig, weil du erst 36 Jahre alt warst. Doch unvermeidlich. Jedes Leben endet. Sie begruben dich heute Morgen in der Erde hinter der Kirche. Wir sahen zu. Alles, was du heute erlebt und gesehen hast, waren Erinnerungen, die du im Laufe der Jahre gesammelt hattest. Wir zeigten dir, was wirklich mit unseren Formgebern geschehen ist. Dass du begreifst, was Zeit wirklich ist. Zeit ist unendlich. Wir existieren seit Anbeginn des Universums. Du, Magnus, bist nun ein Teil davon. Unendliche Zeit.
Ich spürte, wie sich etwas in mir zusammenzog. Wie sich der Zwischenraum für einen Moment drehte und die Luft dünn wurde.
„Nein … nein, ich bin nicht tot. Ich bin hier. Ich stehe hier! Ich stehe vor euch.
Das erste Wesen streckte seine kleine Hand aus und berührte meine Brust.
Seine Finger glitten hindurch, als wäre ich aus Dampf. „Du bist kein Leben mehr“, flüsterte es. Du bist wie wir. Nur noch Zeit. „Unendlich Zeit“ Ich stolperte erneut zurück – und hinter mir öffnete sich ein Abgrund. Die Welt kippte. Und ich fiel den Abgrund hinab.
Dann sah ich es.
Mein eigenes Gesicht. Ich lag im Schnee vor dem Waldrand. Eine Hand an die Brust gedrückt. Die Fackeln, die ich für die Umzugsvorbereitungen mitgenommen hatte, lagen neben mir. Ich sah, wie sich meine Brust ein letztes Mal hob und senkte und mir der letzte Atemzug dampfend entwich. Meine Augen wurden starr und blickten in den Himmel. Im nächsten Moment sah ich, wie ich blass und reglos wie eingefroren war. Auf einer hölzernen Bahre lag. Meine Augen waren geschlossen. Alma stand mit verweinten Augen neben mir. Sie hielt Jonas an der Hand. Matthias stand neben den beiden. Er weinte ebenfalls. Ich versuchte, zu schreien – aber kein Geräusch verließ meine Lippen.
Ich war nur ein Beobachter der Szene. Ein Schatten, der zwar da war, aber von niemandem wahrgenommen wird … Eine letzte Erinnerung.
Ohne Vorwarnung riss mich etwas wieder hoch – in den Zwischenraum, in das ewige Nichts. Die vier Kinder standen erneut vor mir, und ihre Augen flackerten dabei hellblau. Ich sank auf die Knie. Ich weinte Rotz und Wasser. Ich war tot. „Was passiert nun mit mir?“, brach ich schluchzend hervor.
Ein langer Moment verstrich, bevor das älteste Kind zu lächeln begann. Du gehörst jetzt zu uns. Sagte es liebevoll und doch nicht liebevoll. Ich schloss meine Augen und eine Träne, kalt wie Eis, lief meine Wange hinab. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, dass die 4 Wesen verschwunden waren. Der Raum begann, sich zu drehen. Die Zahnräder um mich herum drehten sich immer schneller. Der Raum wurde zu langen Lichtstreifen.
Und im nächsten Augenblick stand ich in der Stube meines eigenen Hauses. Alma saß am Tisch. Der Tee in der Tasse vor ihr war kalt. Sie starrte ins Nichts. Auf der anderen Tischseite, wo einst mein Platz gewesen war, stand ein Gedeck, bestehend aus Teller, Besteck und einem Glas. Ich sah mich im Raum um. Ich sah unseren Weihnachtsbaum, den ich vor wenigen Tagen erst aufgestellt und den Alma und die Kinder liebevoll dekoriert hatten. Die Kerzen daran brannten nicht. Jonas saß auf dem Sofa und spielte mit dem Holzpferd, das mein Bruder für ihn geschnitzt hatte.
Matthias saß am Boden und malte. Ich schaute auf das Bild und erkannte auf der unbeholfenen Kinderzeichnung die Standuhr meines Großvaters und mich daneben stehend.
„Alma … ich bin hier“, flüsterte ich leise. Sie reagierte nicht. Niemand reagierte.
Ein leises Klopfen an der Fensterscheibe war zu hören. Doch weder Alma noch meine Söhne hörten es. Ich drehte mich zum Fenster um und im schwachen Licht der Gaslaterne, das in unsere Stube hineinleuchtete, sah ich sie:
Das kleine Mädchen der 4 Geschwister. Doch diesmal erschien es nicht in der Form eines Zeitgeistes.
Ihr Kopf konnte gerade so durch das Fenster in die Wohnstube schauen. Ihre Augen leuchteten eisblau. Sie hob die Hand und deutete nach draußen.
Ich drehte mich um und ging zur Tür. Ich griff nach der Klinke, doch meine Hand ging durch sie hindurch. Ich begriff im nächsten Moment, dass ich nicht mehr an physische Dinge gebunden war, und lief einfach durch die geschlossene Tür hindurch. Das Mädchen kam auf mich zu und nahm meine Hand. „Magnus, sei nicht traurig. Du wirst nicht vergessen werden. Wir sind dank euch allen auch nicht vergessen worden. „Komm, es ist an der Zeit, zu gehen!“, sprach sie mit einer liebevollen Stimme. Ich nickte nur und schaute nochmal durch das Fenster in die Stube hinein. Tränen füllten meine Augen. Dann drehte ich mich langsam um und nahm ihre Hand in meine. Es begann zu schneien. Der Schnee fiel dicht. Die Nacht verschluckte das Dorf.
Und irgendwo, weit entfernt, hörte ich eine Glocke, die Mitternacht schlug.
Ende.

