Echos
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
„Mommy! Mommy, guck mal, was ich kann!“
Die laute, aufgedrehte Kinderstimme bringt mich dazu, den Blick von meinem Magazin zu lösen und ihn dem alten Apfelbaum zuzuwenden, an dessen Ästen gerade meine Tochter Amy hinaufklettert, mir dabei fröhlich zuwinkend.
Ich winke zurück, lächelnd.
„Toll, Süße! Pass aber auf, dass du nicht runter fällst!“
„Klar doch!“
Ich wende mich wieder meinem Magazin zu, beobachte Amy noch zeitweise aus den Augenwinkeln, doch wirklich Sorgen mache ich mir nicht.
Sie ist eine gute Kletterin. Fast schon wie eine Katze, mit dem Unterschied, dass ich noch nie die Feuerwehr rufen musste, um sie von einem Baum herunter zu bekommen.
Sie wird schon aufpassen.
Tief einatmend schließe ich die Augen, genieße die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut und die leichte, angenehme Brise, die den Duft frischer Blüten zu mir trägt…Es ist so ein wundervoller Tag.
Die Vögel zwitschern, die Blätter der Bäume rauschen beruhigend im Wind…irgendwo summt eine Biene…herrlich.
Ich will mich auf die Seite drehen, ein wenig vor mich hin dösen; diese Idylle lädt ja geradezu dazu ein…
Doch noch während ich dabei bin, in einen angenehmen Halbschlaf zu sinken; ins Reich der Träume, höre ich etwas.
Etwas abseits von Vogelgezwitscher, Bienensummen und Blätterrauschen. Eine…Art Stimme. Zu dumpf und zu weit entfernt, als dass ich die Worte ausmachen könnte, die sie sagt, und zudem seltsam verzerrt…hallend.
Fast wie ein Echo.
Ich öffne die Augen, blinzele. Hebe die Hand, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.
Die Stimme verstummt nicht. Ist noch immer da, noch genau so unverständlich. Und dennoch glaube ich beinah, sie zu kennen…
Sie scheint lauter zu werden. Energischer, näherzukommen, ohne jedoch deutlicher zu werden; verwirrt schüttele ich den Kopf, fasse mir an die Stirn…Vielleicht hätte ich mich doch nicht in die pralle Sonne legen sollen. Vielleicht habe ich mir einen Sonnenstich…
Und in diesem Augenblick durchbricht ein grauenhaftes, lautes Knacken meine Gedanken; durchschneidet sie wie die Klinge eines Fleischermessers ein weiches Stück Butter.
Gefolgt von einem markerschütternden Schrei.
Ich springe von meiner Liege, hetze los, stolpere und stürze beinah, doch es gelingt mir doch, das Gleichgewicht zu halten; renne weiter, zu dem Apfelbaum…Knie mich neben den Körper meiner Tochter, der zu seinen Wurzeln liegt, neben dem dicken, abgebrochenen Ast, auf dem sie wohl bis vor wenigen Sekunden noch gestanden hatte.
„Amy! Amy!“ Ich packe sie an der Schulter. Schüttele sie. „Hörst du mich, Liebling? Rede mit mir!“
Keine Reaktion.
Vollkommen reglos liegt sie da, nicht das geringste Lebenszeichen von sich gebend…und als mein Blick schließlich auf ihr Gesicht fällt, auf ihre helle Haut mit den Sommersprossen, umrahmt von hellbraunen, im Licht der goldenen Nachtmittagssonne schimmernden Haaren, spüre ich, wie heftige, kaum zu kontrollierende Übelkeit in mir aufsteigt.
Ihr Kopf ist in einem mir unmöglich erscheinenden Winkel verdreht, und wie in Trance, als wäre ich gar nicht wirklich da, fast wie durch milchiges Glas hindurch, beobachte ich, wie sich unter ihr langsam eine dunkelrote Blutlache bildet.
Das schlimmste jedoch ist ihr Blick.
Ihre strahlenden, blauen Augen, die mich direkt anstarren; leer, ausdruckslos.
Tot.
Nein…nein, das kann nicht…nicht meine Amy! Nicht meine kleine Tochter!
Ich merke, wie Schwindel von meinem Körper Besitz ergreift. Schwanke, kippe nach hinten und schlage auf dem weichen Grasboden auf, ohne, dass ich auch nur den Versuch unternommen hätte, mich irgendwie abzufangen.
Alles dreht sich, ich atme schnell und flach, schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen, die Welt um mich herum verschwimmt und ein schrilles, unfassbar lautes Piepen beginnt, sich aus den Tiefen meines Schädels heraus den Weg an mein Gehör zu bahnen.
Doch selbst dieses ohrenbetäubende Geräusch, welches mir durch Mark und Bein dringt und das Blut in meinen Adern gefrieren lässt,kann nicht die Stimme übertönen, die viel, viel lauter geworden ist, als stünde ihr Besitzer nun direkt neben mir.
Und jetzt kann ich verstehen, was sie sagt.
Es ist mein Name.
Mein Name.
Jemand packt mich an der Schulter. Und als hätte diese Berührung irgendeinen Schalter umgelegt, beginnt alles um mich herum, sich zu verändern.
All die zuvor so strahlenden und bunten Farben wandeln sich in ein monochromes, schmutziges Grau, und der Boden, der Apfelbaum, der abgebrochene Ast, und selbst Amys kleiner, lebloser Körper fängt an, zu einer zähflüssigen Masse zu zerfließen.
Panik überkommt mich; unfassbare Panik, was zur Hölle passiert hier?!
Als würde ich in einem fahrenden Zug sitzen zieht alles an mir vorbei; schneller und immer schneller; ich schreie, laut, schrill, kneife fest die Augen zusammen, das Piepen in meinem Kopf ist mittlerweile unerträglich geworden; lässt meinen gesamten Körper vibrieren…
Und dann, von einer Sekunde auf die andere, ist alles totenstill.
„Mrs. Baker, können Sie mich hören?“
Diese Stimme…diese verdammte Stimme!
Noch immer ist sie da; doch nun nicht mehr undeutlich, sondern vollkommen klar…
Langsam, ganz langsam, öffne ich meine Augen. Sehe mich um.
Der Raum, in dem ich mich befinde, wirkt hell und freundlich; ist ausgestattet mit hellbraunen Möbeln aus Eichenholz und zitronengelb gestrichenen Wänden, an denen mehrere Bilder hängen.
So…vertraut…
„Mrs. Baker, sind Sie da?“
Ich drehe den Kopf. Mustere die junge Frau, die neben mir steht, eine Hand auf meiner Schulter und mich besorgt ansehend…Und als mein Blick auf den strahlend weißen Kittel fällt, den sie trägt; auf die großen, roten Buchstaben, die auf ihrer Brusttasche eingestickt sind, wird mir auf einen Schlag klar, wo ich mich befinde.
Und mit dieser Erkenntnis steigt ein nicht zu unterdrückendes Schluchzen in meiner Kehle auf und ich merke, wie Tränen beginnen, mir übers Gesicht zu laufen.
„Mrs. Baker, beruhigen Sie sich! Es ist alles in Ordnung…“
Nein. Nichts ist in Ordnung. Schon lange nicht mehr, und das wird es auch nie wieder sein.
Sie haben mir immer wieder gesagt, dass es aufhören wird; irgendwann, doch glaube ich schon seit Jahren nicht mehr daran.
Immer wieder werde ich in diese Situation zurückgeworfen, an den Tag, an dem ich meine Tochter verlor, und jedes Mal fühlt es sich so real an, als würde es wirklich erneut passieren.
Doch das tut es nicht.
In meinem klaren Momenten wie diesem ist mir das nur allzu gut bewusst; dass weiß ich, wo ich bin: In meinem kleinen Zimmer im obersten Stock des Red Hill Asylums, in das man mich vor fünf Jahren eingewiesen hat, sechs Monate, nach dem Amy starb.
Ich weiß, dass es nicht real ist, nichts als eine Wahnvorstellung, eine immer wieder kehrende Erinnerung, die mich nicht loslässt; mich heimsucht, weil ich mir immer noch die Schuld an ihrem Tod gebe.
Nichts weiter als ein Echo aus meiner Vergangenheit.