Eine brilliante Imitation
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Man kennt das als Jugendlicher: Man will alles ausprobieren, alles machen – oder man muss alles machen – und hat nicht genügend Zeit dafür. Man wünschte sich am liebsten Doppelgänger, deren Erfahrungen man gleichzeitig selber erlebt. Einer geht in die Schule, einer trifft sich mit Freunden, einer sitzt am Computer und man selber kann bequem im Bett auf der faulen Haut liegen, man bekommt ja alles mit, was die anderen machen.
Klingt wie ein Traum.
Noch.
Kommt Zeit…
„Mist! Schon wieder zu spät!“, ärgerte ich mich, als ich den Schulkorridor entlang hetzte. Es war bereits zwanzig nach Acht, und gerade heute steht die Geschichtsklausur an. Ich würde Ärger bekommen, und das nicht zu knapp. Als ich in den Klassenraum lief, schaute mich mein Lehrer an.
„Alex, du bist bereits das fünfte Mal in dieser Woche zu spät. Weißt du, was das heißt?“, fragte er mich. Ich überlegte kurz und sagte dann: „Es ist Freitag…“ Ein paar meiner Klassenkameraden kicherten leise, während mein Lehrer nur den Kopf schüttelte. „Ich befürchte…“, fing er an, als er mir meine Arbeit gab. „…solltest du von der Schule fliegen, werden wir deine Sprüche vermissen. Schade eigentlich, du kannst was. Wenn ich mir deine Noten angucke, dann ist das alles im Bereich gut bis sehr gut. Wenn du nicht immer so oft fehlen oder zu spät kommen würdest.“
Ich nahm wortlos die Arbeit, setzte mich und dachte: „Ist ja nicht so, dass ich mit Absicht die Bahn verpassen würde. Klar, ich verscheuch sie. Kusch, kusch, ich will nicht in die Schule!“
Die gestellten Aufgaben waren das gleiche wie in den letzten Klausuren auch. Fasse zusammen, schreibe heraus, interpretiere. Bis auf Mathe und IT war jede Klausur so. Als gäbe es eine Vorlage, die dann dem Fach entsprechend kopiert und abgeändert wird.
…kommt Rat…
Am Abend las ich in der Zeitung eine interessante Stellenanzeige.
Zu viele Sachen auf einmal zu erledigen und zu wenig Zeit?
Frankfurter Wissenschaftler suchen ein Versuchsobjekt für die Lösung dieser Probleme.
Gute Bezahlung, bei Interesse bitte melden.
Logischerweise hatte ich Interesse, vor allem der Punkt „Gute Bezahlung“ hat mich erwischt. Ich war – wie für Jugendliche üblich – ständig knapp bei Kasse. Ich meldete mich also unter der angegebenen Nummer und bekam gleich einen Termin für eine Untersuchung. Frankfurt war auch nicht so weit weg, da konnte ich in zwanzig Minuten mit der Bahn hinfahren. Ich kam am ausgemachten Tag zu der Adresse, die mir die Frau am Telefon genannt hatte. Von außen sah das Gebäude wie ein normales Uni-Gebäude aus, auf der Tür stand „Deutsches Zentrum zur Zell- und Genforschung“. Ich wusste nicht ganz, wie Genmanipulation mehr Zeit erschaffen sollte, aber das würde ich bald erfahren.
Ich war nicht der einzige Bewerber. Mit mir saßen noch ein Geschäftsmann und drei oder vier Max Mustermänner. Die Tests waren aus allen möglichen Bereichen zusammengestellt, es ging um Wissen, körperliche und psychische Gesundheit.
Der Wissenstest war der erste. Wir alle wurden in einen Raum gebracht, welcher bis auf eine Uhr, Tische, Stühle und geradezu ekelhaft weißen Lampen nicht die geringste Einrichtung aufwies. Die Fragen kamen von überall her. Die Schuhgröße der Freiheitsstatue, das Erbauungsjahr der chinesischen Mauer, Fremdsprachenkenntnisse und einfaches Schulwissen. Die Uhr tickte sehr laut, was durch die Akustik des Raumes nicht gerade ein Vorteil war. Ich hatte so eine Ahnung, dass dieses Ticken Absicht war, um uns Teilnehmer unter Zeitdruck zu setzen und zu gucken, wie wir das aushalten würden. Also kein Problem.
Als zweites kam der Körpertest dran. Erst ein simpler ärztlicher Check, dann Ausdauer und Kraft. Mit Elektroden versehen ging es aufs Laufband. Auch hier wieder Störfaktoren, diesmal in Form von ständig wiederkehrenden, unerträglich hohen Pfeiftönen. Auf Nachfrage sagte man mir, dies sei die Alarmanlage und man würde sich daran gewöhnen. Ich sah allerdings, wie dem Geschäftsmann dieses Pfeifen zu viel wurde und er schließlich aufgab.
Jetzt kamen die psychischen Tests. Darauf hatte ich mich schon gefreut, die konnte ich immer gut manipulieren. Diesmal gab es keine Behinderungen, jedenfalls konnte ich nichts derartiges ausmachen. Während ich die Fragen beantwortete – „An was denkst du bei diesen Bildern“, „Glaubst du, dass…“ und sowas – dachte ich immer wieder an die Melodie von Scarborough Fair.
Ein paar Tage später kam Post vom dem Institut. Ich wurde angenommen, auch wenn bei den Psychotests kleine Unstimmigkeiten herausgefunden wurden. Psychopathie und Größenwahn fasste es ziemlich gut zusammen. Aber, wie ich dem Brief entnehmen konnte, war gerade das gut, weil man so auch die Nebenwirkungen an psychisch Kranken testen könnte. Also machte ich mich auf den Weg nach Frankfurt, wieder zum Institut für Genforschung und wurde gleich empfangen und in einen Raum mit etwas, was mich entfernt an einen Fahrstuhl erinnerte, gebracht. Mir wurde auch eine „00“ auf die Schulter tätowiert, den Grund verriet man mir allerdings nicht. Mir wurde eine Betäubungsspritze verabreicht und ich schlief ein.
Ich träumte von fliegenden Schweinen und sprechenden Äpfeln. Als ich wieder aufwachte, konnte ich nicht viel erkennen. Nur ein paar weitere Schultern, auf denen der Reihe nach die Zahlen von „01“ bis „99“ tätowiert wurden. Ich schlief kurz darauf wieder ein und wachte später erneut auf, diesmal alleine. Als ich aufstand, kam gleich ein Wissenschaftler ins Zimmer.
„Ich darf ihnen mitteilen, dass die Tests erfolgreich waren. SIe sind die erste Person, die Zeuge von Projekt „Mane mane“ werden durfte.“, sagte er. Er gab mir noch eine Kugel auf einem Stativ, welche von so etwas wie Synapsen durchzogen war. „Dies ist eine Art Andenken an diesen Tag. Bewahren sie es immer gut auf und achten sie drauf, dass nichts damit passiert.“
Mit diesen Worten und der Kugel wurde ich wieder heimgeschickt. Als ich die Kugel zuhause untersuche, stellte ich fest, dass sie eine Stromanbindung hat. Ich stöpselte die Kugel ein und sogleich kamen in mir Erinnerungen hoch. Erinnerungen an gesehenes, gefühltes und gehörtes. 99 mal die gleichen Erinnerungen, jedoch waren alle in einem winzigen Detail unterschiedlich. Irgendwann sah ich mich selber auf meinem Stuhl sitzen, aus verschiedenen Richtungen. Zeitgleich sah ich auch die andern Räume im Keller meiner Mutter, den ich praktisch alleine bewohnte. Als ich aufstand und mich umdrehte, konnte ich es nicht fassen. Vor mir, neben mir, fast schon über mir, standen Leute. 99 an der Zahl. 198 Augen, die mich ansahen. Eigentlich 200 Augen, denn meine Augen sahen: Mich. Das waren Klone. 99 Stück. Ich existierte ins hundertfache, und die Kugel verband unsere Gedanken. Im Keller war genügend Platz für uns alle, zum Glück. Langsam begann ich zu verstehen, „Mane mane“ bedeutet im deutschen soviel wie „Imitation“ oder „Fälschung“.
Am nächsten Morgen wachte ich auf. Und ich wachte auf. Und ich wachte erneut auf. Insgesamt 100 Mal. Ich gab den drei nächsten Doppelgängern, 02, 03 und 04, jeweils die Sachen für ein Fach in der Schule und schickte sie los. Gleichzeitig machte ich mir eine Notiz:
*02 – Musik
*03 – Mathe
*04 – Physik
Diese Doppelgänger würden jetzt immer für dieses Fach zuständig sein. Währenddessen kam 01 in mein Zimmer und schaute mich an. Ich sah mich selber, durch seine Augen. Das war als Spiegel ziemlich praktisch.
…kommt Attentat!
Ich/Wir lebten so einige Zeit ganz gut. 01 bis 99 machten meine Pflichtaufgaben und ein paar wenige lustige Sachen, und ich saß den ganzen Tag am PC oder hab gelesen oder was Jugendliche halt so machen. Durch das Außenhirn, wie ich die Kugel unterdessen nannte, erlebte ich alles selber mit. Doch irgendwann sah ich auf der Schulter von einer meiner Klone eine große, rote „00“. Das war doch meine Nummer, dachte ich. Als ich auf meiner Schulter nachschaute, konnte ich dort eine „27“ erkennen. Aus einem Reflex heraus schrie ich – und wachte auf. Es war nur ein Alptraum. Zum Glück.
Aber eine Sache war doch anders: Ich fühlte mich nicht als ich. Ich fühlte mich nicht vollständig. Mit der Zeit verlor ich meine Identität. Ich wusste nicht mehr, wer ich war. „Ich“, das waren hundert Leute, die aussahen wie ich und das selbe dachten wie ich. Irgendwann ging das Außenhirn kaputt, so war auch die mentale Synchronität dahin. Einer von uns fasste irgendwann einen Entschluss: Um wieder Ich zu sein, mussten alle anderen verschwinden. Und das ließ sich nur auf eine Weise anstellen: Mord und Totschlag.
In der nächsten Woche wurden 99 Leichen gefunden, alle aufs grausamste entstellt. An der Wand war ein blutiger Schriftzug zu sehen: „Ich bin der einzige!“ Der Täter wurde nie gefasst, den Medien blieb der Fall ein Rätsel. Nur ich weiß die Wahrheit. Ich bin endlich wieder ich. Nummer 88.