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Fjord

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Das dunkle Wasser schwappte träge ans Ufer. Der bewölkte
Himmel tauchte die ländliche Idylle in einen aschfahlen Schein. Die klare
Flüssigkeit zog sich langsam vom kiesigen Strand zurück, nur um sofort als
Welle wieder einzufallen. So lief das hier den ganzen Tag. Jeden Tag. Jede
Nacht. Seit Tagen. Monaten. Jahren. Vermutlich seit Millennien. Doch sonst
geschah hier nichts Spannenderes. Kjedelump war ein durchschnittliches Dorf an
einem durchschnittlichen Fjord. Völlig normal an der Küste Norwegens. Bloß eine
Ansammlung verschiedener Holzhütten hier am Rand des Eismeeres. Hier passierten
schon seit langer Zeit keine interessanten Dinge mehr, abgesehen von einer
Handvoll Touristen jedes Jahr schien sich wirklich niemand um den Ort zu
scheren. Wieso denn auch?

Mürrisch öffnete Erik seine Augen. Die Sonne schien ihm
genau ins Gesicht, was für ein Pech. Er wendete und drehte sich, doch er konnte
dem hellen Licht einfach nicht entkommen. Wie überaus großartig. Schwerfällig
schwang er seine Beine aus dem Bett und setzte sich anschließend langsam auf.
Verschlafen blinzelte er seinem eigenen Spiegelbild entgegen und fuhr sich
durch das zerzauste braune Haar. Auf in einen Tag des normalen erdrückenden
Alltags. Eigentlich wollte er hier gar nicht sein, hatte keine Lust in diesem
verschlafenen Kuhkaff zu sitzen, aber sein geehrter Herr Vater musste ja
unbedingt aus Forschungszwecken hierhin reisen. Und er musste weg. Raus aus
Oslo, weg von seinen Freunden, seinem Leben und der weltoffenen Großstadt,
hinein in das verschlafene, so bedrückend unspektakuläre Dörfchen. Schon von
Anfang an hatte er keine Lust gehabt. Aber leider eben auch keine Wahl. Was
hätte er denn tun sollen? Zu seiner Mutter gehen? Bei diesem Gedanken entfuhr ihm ein verächtliches Schnauben. Nein
danke. In der Entzugsklinik konnte sie schön allein versauern. Obwohl es da
sicherlich interessanter gewesen wäre.

Entmutigt stand er auf. Sein Blick schweifte durch sein
Zimmer, doch es war genau so eintönig wie alles hier. Was für eine
Überraschung. Schnell huschte er über das knarzende Parkett ins Badezimmer.
Nachdem er sich fertig gemacht und angezogen hatte stieg er die ächzende
Holztreppe hinunter, um in der Küche das mittlerweile kalte Frühstück und eine
kleine Notiz zu finden, dass sein Vater wohl etwas „Superspannendes“
entdeckt hätte und erst spät nach Hause käme. Lustlos stocherte er in seinen
Pfannkuchen herum, bis er sie dann doch widerwillig aß. Nicht weil sie nicht
schmeckten, nein, es war einfach diese Atmosphäre hier, die einem die Lust an so
ziemlich allem vergehen ließ. In den ersten Tagen seines Aufenthalts war er
noch durch die leeren Gassen Kjedelumps gestreift, hatte sich dabei gefühlt wie
ein Fremder im eigenen Land, wie ein Lebender im Reich der Toten. Somit hatte
er sich dann doch lieber darauf beschränkt, zu Hause zu bleiben und mit
allerlei hirnzerstörenden Fernsehprogrammen irgendwie durch den Tag zu kommen.
Nichts anderes heute.

Die Stunden schlichen nahezu dahin, es war fast als würde
sogar die Zeit an diesem Ort vor Lethargie ermüden. Irgendwann, im Fernsehen stritt sich grad
eine arbeitslose Mutter mit ihrer schwangeren Teenagertochter, hatte es zu
allem Überfluss auch noch zu regnen begonnen. Das klare Wasser bemühte sich,
den Staub der Jahrhunderte aus dem Ort zu spülen, doch es würde versagen.
Regelmäßig hämmerten die Tropfen gegen die Fenster des Hauses, prallten wie
kleine Geschosse dagegen, um dann entmutigt ihre Reise gen Boden anzutreten. Plitsch Platsch. Plitsch Platsch Bumm. Plitsch Platsch. Moment mal? Hatte es grade irgendwo geknallt. Oder hatte
sein Geist nur Geräusche in die Monotonie interpretiert? Bumm Bumm. Da war es wieder. Unverkennbar. Es hörte sich mehr wie
ein Klopfen an. Schnell sah er sich um. Klopfte womöglich jemand gegen ein
Fenster? Nein, alle zeigten bloß die Straße, an der das Haus lag, sogar die
selbe Tristesse spiegelten sie wieder. Bumm
Bumm. Die Tür! Wie blöd war er denn eigentlich, dass er da nicht sofort
dran gedacht hatte. Also erhob er sich vom kuschligen Sofa und tapste über die
alten Holzdielen. Das schützende Licht wich immer mehr einer alles
überstrahlenden Dunkelheit, die ihn wie eine überfürsorgliche Mutter in den Arm
nahm, ohne erkennbare Absicht ihn je weder gehen zu lassen. Er hatte gar nicht
bemerkt, dass es schon Abend war. Bumm Bumm Bumm. Da war es wieder. Diesmal eindringlicher. Ein flaues Gefühl
machte sich in seinem Magen breit, es war eine Mischung aus wohligem Schauder
und ergreifender Angst. Langsam hatten sich seine Augen an die Finsternis
gewöhnt, er konnte schon die Konturen der Tür ausmachen. Sie war zum großen
Teil aus einer Art milchigem Glas gemacht, wodurch ein wenig des bläulichen
Dämmerlichts in den Flur schien. Sie ließ ihn alles im Raum erkennen, die
Treppe, das alte Klavier, ein paar Schränke. Doch viel interessanter war der
andere Blick, den sie freigab. Den auf die Umrisse der Straße. Und auf die
dunkle Silhouette, die direkt vor der Tür stand. Bumm Bumm Bumm.

Er war wie erstarrt. Was sollte er tun? Noch nie hatte in
dieser gottverlassenen Einöde jemand an die Tür geklopft. Es war ja generell
wenig Besuch hier gewesen, aber die paar Gäste, die sie gehabt hatten, hatten
geklingelt. So rückständig war Kjedelump dann doch nicht. Noch während Erik
überlegte, was er zu tun hatte, ertönte ein neues Geräusch. Wummwummwumm. Was war das denn? Wummwummwumm. Erst beim zweiten Mal
erkannte er es. Jemand rüttelte an der Tür! Wo vorher noch Angst und Schauder
eine friedliche Doppelherrschaft führten, herrschte nun die Tyrannei der Panik.
Wummwummwumm. Unweigerlich trat er
einen Schritt zurück. Was sollte er tun? Wirklich viel zu erkennen war ja
nicht: Er konnte eine dunkle Gestalt auf der anderen Seite der Tür ausmachen,
von der Statur her wahrscheinlich ein Mann. Das war alles. Er wagte es kaum zu
atmen, denn das Echo seines Atems kam immer wieder wie ein Hauchen aus einer
anderen Welt zu ihm zurück. Er stand kurz da, die Silhouette vor der Tür
fixierend, bis er bemerkte, dass Ruhe eingekehrt war. Was war eigentlich grad
geschehen? Er hatte auf dem Sofa gesessen, das Klopfen gehört, dann war
er…ein Geräusch riss ihn aus den Gedanken. Knack. Die Tür ging auf. Der Mensch, das Wesen, was immer es auch
war, jetzt war es im Haus.

Far!“,
schrie Erik in dem Moment, als helles Licht den Raum flutete. „Kannst du
nicht aufmachen?“, fragte eine Stimme, mehr belustigt als verärgert. Kurz
rieb Erik sich die Augen, dann blickte er in das lächelnde Gesicht eines
bärtigen Mannes, die Augen durchdringend und so dunkel wie das Haar, die Haut
vom Wetter gegerbt. Er sah direkt in das Gesicht seines Vaters. „Hast du
keine Schlüssel?“, schrie Erik durch den Raum, noch völlig aufgebracht,
die Panik sich nur langsam von ihrem Thron verkriechend. „Doch klar.“
Er schien etwas irritiert. „Aber es hat geregnet und als ich sie nicht
gleich gefunden habe dachte ich, mein liebenswürdiger Sohn könnte vielleicht
eine Tür öffnen.“ Natürlich hatte er sie nicht gefunden. Eriks Vater,
Björn Leifson, der erfolgreiche Archäologe, war gemeinhin dafür bekannt,
unheilbar chaotisch zu sein. Erik atmete lautstark aus. Sofort nutzte sein
Vater die kleine Pause, um den bevorstehenden Streit abzuwenden. Ein Grinsen
stahl sich auf sein Gesicht. „Ich habe tolle Neuigkeiten. Wir haben etwas
entdeckt.“ Oh super. Sie hatten etwas entdeckt. Mit den Jahren hatte sich
Erik an derlei Aussagen gewöhnt. Am Anfang hatte er die Euphorie seines Vater
noch geteilt, bis er gemerkt hatte, dass es sich meistens nur um einen Zinken
aus dem Kamm von Gräfin Lure oder sonst wem handelte. „Ach, und
was?“, fragte er, ohne sein Desinteresse sonderlich zu verbergen. Nun nahm
der Blick seines Vaters etwas verschlagenes an. Vielsagend deutete er auf den
Raum und flüsterte: „Nicht hier.“ Großartig, jetzt kam auch noch sein
Verfolgungswahn durch. Doch diesmal war es anders. Irgendetwas an seiner Art
weckte nun doch Eriks Neugier. Bei all der Langeweile hier hätte er sich
wahrscheinlich eh auch über einen Kamm gefreut. Doch er hatte ein Gefühl, als
wäre das hier was größeres. Dieses wurde auch prompt bestätigt, als sein alter
Herr verschwörerisch raunte: “ Es ist quasi ein Geheimnis.“

Millionenfach brach sich das Scheinwerferlicht im feinen
Sprühregen. Das dazugehörige Auto humpelte über die Straße, die eher den
Charakter eines besseren Trampelpfads hatte. Mittlerweile war es schon wieder
eine Stunde her, dass der begeisterte Forscher Erik ins Auto gescheucht hatte,
um dann, aufgeregt wie ein Kind an Weihnachten, loszufahren. Sie hatten sich
kurz angeschwiegen und der Melodie des aufgezogenen Sturms gelauscht. Dann
hatte Erik gefragt, wohin sie denn überhaupt fuhren. „Erinnerst du dich
noch, warum wir hergekommen sind?“, hatte sein Vater gefragt. Rein
rhetorisch, denn er wartete gar nicht auf die Antwort. „Ein guter Kollege
von mir hat hier, im Nordland, Ruinen einer Siedlung gefunden, die viel älter
ist, als sie, nun ja, sein dürfte. Schon immer haben wir uns gefragt, warum
speziell diese Region während des Zeitalters der Wikinger so gemieden wurde.
Dies könnte die finale Antwort sein. Wir stehen so kurz vor dem
Durchbruch.“ „Aber wenn er Ruinen gefunden habt, bedeutet das dann
nicht eigentlich, dass die Wikinger einfach auch hier waren und ihr es bloß
nicht wusstet?“ „Das haben wir am Anfang auch gedacht.“ „Und
warum jetzt nicht mehr?“ Daraufhin hatte ihn sein Vater kurz angesehen,
wieder mit diesem abenteuerlustigen, wissenden Blick. „Wie gesagt. Wir
haben da was entdeckt.“

Nach einigen weiteren Minuten des Schweigens tauchte
inmitten des grellen Scheinwerferlichts plötzlich ein Zaun auf. Plötzlich
standen sie direkt vor einem Tor mit kleinem Führerhäuschen davor. Erik war verwundert.
Diese ganze Situation hier wirkte so surreal, mitten in der nordischen Idylle,
in diesem unberührten Wald in den Bergen, kaum einen Steinwurf vom Fjord
entfernt, hier wirkte diese Anlage mehr wie ein Ufo aus einer anderen Welt.
Während er die Umgebung noch auf sich wirken ließ, hatte sein Vater schon sein
Fenster hinuntergelassen und reichte seinen Ausweis hinüber in das kleine
Häuschen. Der dortige Beamte musterte ihn kurz, dann gab er ihm das Papier
zurück. Erik konnte einen kurzen Blick auf das Schildchen an seinem Revers
erhaschen. Departementet for forskning og
høyere utdanning. Das Forschungsministerium hatte hier alles abgeriegelt?
Es war anscheinend wirklich was Wichtiges. Langsam rumpelten sie über den
unebenen Boden zu einer hastig planierten Freifläche, die anscheinend als
Parkplatz dienen sollte. Mit einem Ruck kamen sie zum Stehen und stiegen aus
dem Wagen aus. Eriks Schuhe schmatzten, als er über den schlammigen Boden lief,
seinem Vater hinterher, hinein ins Ungewisse. Sie mussten nicht besonders weit
gehen, schon standen sie vor einem Container, der, wie Björn es erklärte, eine
Art Behelfshauptquartier darstellen sollte. Mit der Anweisung, Erik solle doch
bitte kurz warten, verschwand er in die Zentrale. Noch bevor er sich wirklich
Gedanken machen konnte, was sein Vater vorhatte, hörte er schon ein
mechanisches Quietschen, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Was war da passiert?
Was ging denn da vor sich? Noch während ihm diese Fragen durch den Geist
schwirrten, wusste er, was passiert war. Ein Hebel war umgelegt worden. Denn
plötzlich erhellten gefühlt tausende, bis kurz vorher in der Schwärze der Nacht
verborgene, Scheinwerfer das gesamte Areal.

Der Anblick, der sich ihm bot, war atemberaubend. Binnen
Sekundenbruchteilen war die düstere Nacht zum hellen Tag gemacht worden. Aus
unzähligen kleinen Lampen flutete Licht und erstrahlte alles auf eine Weise,
die selbst die Sonne neidisch machen würde. Es war faszinierend. So sehr, dass
er gar nicht bemerkte wie sein Vater wieder neben ihn trat, selbst gebannt von
der Situation. Denn was sie nun sehen konnten war ungleich atemberaubender als
die technische Leistung, die ihnen ebendies ermöglichte. Vor ihnen erstreckte
sich eine gigantische Ausgrabungsstätte, aus dem Boden ragten die Ruinen längst
verlassener Häuser. Einige bestanden nur noch aus den nackten Grundmauern,
andere sahen aus, als wäre ihr Besitzer grade erst gegangen. Auffällig war,
dass sich das gesamte Dorf, oder was immer es gewesen war, in Kreisform um
einen freien Platz in der Mitte erstreckte. Es schien fast, als wären diese
kleinen Holzhütten Planeten, kreisend um die große Leere in der Mitte.
Womöglich hatte sich dort einst auch ein Gebäude befunden, vielleicht der
Palast eines Jarls, der vorchristlichen Herrscher Norwegens. „Was ist mit
der Freifläche dort passiert?“, fragte Erik, gar nicht wirklich im
Bewusstsein, dass seine eigene Stimme sprach. „Was soll da passiert
sein?“ Er sah seinen Vater an. In dessen Augen blitzte dieser Ausdruck
auf, der zeigte, dass es genau so lief wie er es wollte. Sein mächtiger Bart
wölbte sich über seinem breiten Grinsen. „Naja, der ist doch leer?“
Das Grinsen wurde nun so breit, dass es schon fast schmerzhaft aussah.
„Sieh genauer hin, mein Sohn.“

Er hatte sich angestrengt, hatte wirklich versucht etwas zu
erkennen, war näher rangegangen, hatte seine Augen zusammengekniffen, doch es
hatte nicht geholfen. Das Lächeln seines Vaters war noch einmal um ein kleines
Stück größer geworden, dann waren sie zu dem Platz gegangen. Wenn man direkt
davor stand, wirkte die Geisterstadt noch eindrucksvoller. Wenn man durch ihre
Gassen ging war es fast, als würde sie einen verschlingen und in einer anderen
Zeit absetzen wollen. Wenn man sie betrat merkte man, wie klein die eigene
Existenz doch war. Wie ein Staubkorn im Universum. Das alles traf auf ihn ein,
als sie sich durch den Ort bahnten. Man konnte richtig spüren, wie hier einst
das Leben pulsiert hatte. Und grade in dem Moment, in dem er schon befürchtete
sie hätten sich verlaufen, da war plötzlich alles hinter ihnen. Der Platz war
sogar noch größer, als er aus der Ferne gewirkt hatte. Es war eine geebnete
Erdfläche, völlig unbebaut, doch keineswegs leer. Denn erst jetzt, als er schon
fast davor stand, erkannte er, dass mitten im Zentrum ein Stein stand. Nun ja,
eher ein Megalith, gut 1,50m groß und über und über mit Runen beschrieben.
„Ist es das, was ihr gefunden habt?“, fragte Erik, auch wenn er die
Antwort eigentlich schon kannte. „Ja, das ist unsere Entdeckung.“ Die
Augen seines Vaters glitzerten. „Komm, wir sehen ihn uns genauer an.“
Daraufhin gingen sie die noch verbliebenen Schritte, bis das Relikt direkt vor
ihnen aufragte. Der aufgeregte Forscher kniete sich nieder und sein Sohn tat es
ihm gleich. So konnte man jede Zeile der feinsäuberlich in den harten Fels
geritzten Schriftzeichen erkennen. Es war beeindruckend, aber so großartig nun
auch wieder nicht. Noch vor ein paar Jahrzehnten hatte die Runen in manchen
Teilen Skandinaviens zum Alltagsleben gehört und ständig fand man irgendwelche
neuen Schriften. „Aber Papa, was daran ist jetzt so unglaublich
besonders?“ „Nun ja.“ Björn machte eine Kunstpause, als würde er
jedes folgende Wort sorgfältig wählen. Doch weiter kam er mit seiner Erklärung
gar nicht. Denn grade, als er wieder ansetzen wollte, schallte ein gellender,
unerträglich schmerzerfüllter Schrei über die gesamte Anlage.

Stille. Sie legte sich über den Platz wie das Kissen eines
Mörders über das Gesicht seines Opfers. Sie war erdrückend, drohte die Luft zu
nehmen und hatte etwas vollkommen Irreales. Sie war wie ein Betrüger, als wolle
sie vortäuschen, dass nichts passiert war. Für einen kurzen Moment hätte man
wahrscheinlich eine Feder zu Boden fallen hören können. Nicht einmal das
gleichmäßige Geräusch des menschlichen Atems war zu vernehmen, niemand wagte
auch nur die kleinste Bewegung. Wie ein grausames Königspaar regierten kalte
Angst und trügerische Ruhe. Dann brach die Hölle los.

Die gesamte Anlage befand sich plötzlich in Aufruhr. Niemand
wusste wirklich was passiert war, aber alle wussten, was sie wollten: bloß weg.
Einige wenige Mutige rannten in die Richtung, aus sehr die den Schrei
vermuteten, doch der Großteil verlor sich schon bald im unübersehbaren Gewirr
der Gänge. Andere wieder wollten helfen, wurden aber von der aufgeschreckten
Masse einfach mitgerissen. Viele der Anwohner hier, die man als Arbeiter
rekrutiert hatte, waren noch enorm abergläubisch. Als solche hatten sie
generell Vorbehalte gegenüber dem Vorhaben gehabt, sie sahen darin eine
‚Beleidigung der Ahnen‘. Einige hatten sich von guten Argumenten und vor allem
Geld doch davon überzeugen lassen, jedoch nicht ohne ein flaues Gefühl im
Magen. In dieser Lage war auch ein einfacher Schrei nicht das Anzeichen eines
Unfalls, es war ein böses Omen. Und mitten in diesem heillosen Durcheinander
stand Erik. Am liebsten hätte er sich von dem Strom mitreißen lassen, der wie
eine Welle gegen die Ausgänge brandete, doch sein Vater war verschwunden und
würde garantiert nicht einfach so das Gelände verlassen. Doch was sollte er
jetzt tun? Einfach rumstehen konnte er nicht, so viel stand fest. Irgendjemand
würde ihn in Panik umhauen, und würde er erst mal auf dem Boden liegen gäbe es
kein Entkommen mehr. Gehen konnte er auch nicht, denn selbst wenn er sich dazu
entscheiden würde, ohne seinen Vater käme er nicht von hier weg. Denn der hatte
ja den Autoschlüssel. Also gab es nur eine Option. Musste das wirklich sein?
Widerwillig setzte er sich in Bewegung, bahnte sich seinen Weg durch die nicht
abebben wollende Masse an Arbeitern und fand sich kurz darauf in einem relativ
leeren Gang wieder. Ein Einheimischer, das Gesicht vor Angst nahezu verzerrt,
stürzte noch an ihm vorbei, dann schien all der Lärm wie ein dumpfes Geräusch
aus einer anderen Welt. Was machten all diese Leute eigentlich hier?
Mittlerweile musste es schon Nacht sein, Erik schätzte so zwischen neun und
zehn Uhr abends. Er würde seinen Vater fragen müssen wenn er ihn gefunden
hatte. Dann ging er los, hinein in das Gewirr aus schmalen Gassen und breiten
Straßen, ohne auch nur zu ahnen was heute Nacht noch alles passieren würde.

Mittlerweile war von all dem Aufruhr nichts mehr zu spüren.
Er lief schon ein paar Minuten und stapfte wie eine verlorene Seele über die
jahrhundertelang unbenutzten Wege. Die Hütten schienen sich, sofern sie keine
völligen Ruinen waren, alle bis aufs Detail zu gleichen, und so dauerte es
nicht lang bis er sich völlig verlaufen hatte. Hätte er doch einfach stehen
bleiben sollen? Sein Vater suchte doch bestimmt schon nach ihm. War das
vielleicht doch eine dumme Idee gewesen? Gedankenverloren, ja fast mechanisch.
setzte er einen Fuß vor den anderen. Es interessierte ihn nicht mal mehr, warum
er überhaupt lief, er tat es einfach. Er lief und lief. Mitten in eine Wand
hinein. Der dumpfe Aufprall holte ihn, im wahrsten Sinne des Wortes,
schlagartig zurück in die reale Welt. Schmerz durchfuhr seinen Kopf. Schnell
tastete er nach der Stelle, an der er sich gestoßen hatte. Das würde eine dicke
Beule werden, doch was ihn viel mehr beunruhigte, war, dass seine Hand in etwas
Nasses gegriffen hatte. Langsam, fast zögerlich, hielt er sie vor seine Augen.
Er blickte mitten in die hellrote Flüssigkeit, den Saft des Lebens, sah das
Blut. Ihm wurde schwindelig. Er taumelte ein paar Schritte zurück. Moment mal,
da war ja auch was an der Wand! So stark hatte er sich nicht verletzt. Sein
Blick wurde wieder klar, nicht unbedingt zu seinem Vorteil. „Scheiße!“, entfuhr es ihm. Die
ganze Wand war über und über besudelt mit der klebrigen Flüssigkeit. Das konnte
definitiv nicht von ihm kommen, an einigen Stellen hatte es schon die Schwärze
des erloschenen Lebens angenommen. Aber wo kam es dann her. Es musste von
irgendwo weiter oben kommen, doch wollte er das wirklich sehen? Nein,
eigentlich nicht. Trotzdem hob sich sein Blick langsam. Sein gesamter Geist
sträubte sich davor, er wollte es nicht, er wollte umdrehen und rennen. Aber er
konnte es nicht stoppen. Was war hier los? In einem Ausbruch von Verzweiflung
schloss er seine Augen, sein Kopf hob sich noch ein wenig, dann stand er still.
Alles war plötzlich so still. Er stand zwar noch keine Minute hier, aber es kam
ihm vor wie mehrere Stunden. Konnte er es wagen? Vielleicht war es auch nur
Farbe. Ja, wahrscheinlich waren die Häuser einst bemalt und sollten in ihren
Originalzustand zurückversetzt werden. Klang einleuchtend. Das musste es
sein.  Er atmete geräuschvoll aus, dann
schlug er seine Lider auf. Und blickte direkt in das schmerzverzerrte Gesicht
einer Frau.

Er wollte schreien. Er wollte, dass alle ihn hören würden.
Er wollte, dass sie kämen. Er wollte hier nicht allein sein. Aber er konnte
nicht. Sein Mund war geöffnet, sein Gesicht verzerrt, doch kein Geräusch
erklang. Es war, als hätte jemand einen merkwürdigen Spiegel durch die
Landschaft gezogen, sie beide mit den grässlichsten Fratzen, erfüllt von Angst.
Zwar war sie eine Frau, doch das machte keinen Unterschied aus. Es war etwas
anderes. Denn er besaß einen Körper, ganz im Gegensatz zu ihr. Der Kopf der
einst hübschen Frau hing einsam und allein an einem Balken des Hauses, dort wo
ihr Hals hätte sein sollen sah man nur einen Stummel. Die Luft- und Speiseröhre
ragten heraus wie zwei gefräßige Würmer aus einem Apfel, und das Blut war
anscheinend wie ein Wasserfall herausgeflossen. Nun bildete es verkrustet eine
Art Lack, der dem Ganzen eine noch merkwürdigere Atmosphäre gab. Erik musste
würgen. Er beugte sich vornüber und wollte grad seinen Mageninhalt über den
Boden ergießen. Aber plötzlich war seine Kehle wie zugeschnürt. Es war nur ein
winziger Gedanke. Ein kleines Wort das plötzlich durch seinen Kopf schwirrte. Wer? Wer hatte das getan? Und viel
wichtiger noch: Wo war er jetzt? Hektisch sah er sich um. Nichts. Was für ein
Glück. Er wollte grad erleichtert aufatmen, als sich ein Arm um seine Schulter
legte.

„Faszinierend nicht wahr?“, fragte eine kratzende
Männerstimme neben ihm. Es war irgendein Akzent, irgendetwas südländisches.
Aber das war ihm in dem Moment auch völlig egal. Könnte das der Mörder sein?
Wenn ja, dann war es ihm egal. „Ein alter nordischer Brauch, es war normal
die abgeschlagenen Köpfe seiner Feinde aufzuhängen. Ziemlich
beeindruckend.“ Erik begann zu schwitzen. Was war hier los? Eine
unangenehme Stille entstand und obwohl er es nicht wagte sich zu bewegen,
spürte er richtig wie sein Gesprächspartner ihn fordernd ansah. „Ja, äh,
sehr interessant auf jeden Fall, Mr…“ “ Illiricos. Scotos Illiricos.
Wie auch immer, wir sollten vielleicht der Polizei Bescheid geben. Danach bring
ich dich dann zu deinem Vater.“ Moment Mal. Der wollte zur Polizei? Und
dann wollte er Erik zu seinem Vater bringen? Mr Illiricos war schon einige
Schritte gegangen, bis Erik langsam begann hinter ihm her zu trotten. Jetzt, da
er ihn ansah, bemerkte er auch, dass er in einen weißen Kittel gekleidet war,
wie es bei Ärzten oft der Fall war. Das alles wurde echt merkwürdiger und
merkwürdiger.

Gierig stürzte er den warmen Kaffee herunter. Sein
Oberkörper war immer noch in die orangene Decke gehüllt, die man ihm bei der
Polizei gegeben hatte. Jetzt saß er hier in der ‚Zentrale‘, diesem besser
ausgebauten Container. Eilig hatte man ein paar Tische zusammengerückt, um
genug Platz für alle Anwesenden zu schaffen. Im Moment hingen alle schweigend
ihren Gedanken nach: Björn war dabei, irgendwelche wirren Notizen auf Papier
niederzuschreiben, der für die Aufklärung des Mordes verantwortliche Kommissar
starrte nur in die Leere und schien geistig an einem ganz anderen Ort zu sein.
Der griechische Wissenschaftler, welcher sich als Experte für antike Schrift
vorgestellt hatte, blickte fasziniert auf sein Smartphone, als sei es die
neuste Erfindung der Welt. Generell war nichts mehr von dem komischen
Verhalten, das er vorhin gezeigt hatte, zu spüren gewesen. Sie waren schweigend
zur Polizei gegangen, dort hatte er sachlich, aber auch mit völlig neutraler
Stimme, den gesamten Vorfall geschildert. Nichts, was einen jetzt bei einem
weltfremden Wissenschaftler überraschen würde. Nachdem Erik alle im Raum
gemustert hatte, blickte auch er gedankenverloren in die Ferne. Sein Vater war
überglücklich gewesen, als er ihn gesehen hatte. Solche Gefühlsausbrühe war er
gar nicht gewohnt. Klar, der Schock über die Entdeckung der Leiche saß tief bei
Erik, aber er kam überraschend gut damit klar. Sein Vater machte sich viel mehr
Sorgen als nötig. Doch ein Stuhl in dem kleinen Raum war auch noch frei. Wer
dort wohl Platz nehmen würde? Wie um sofort seine Frage zu beantworten, schwang
die Tür auf und zwei breite, ganz in schwarz gekleidete Bodyguards betraten den
Raum. Sie flankierten die Tür und machten somit Platz für einen hünenhaften
Anzugträger, mit kräftigem blonden Haar, tiefblauen Augen und einem so weißen
Zahnpastalächeln, dass er das Licht der behelfsmäßigen Neonröhren fast
vollständig zu reflektieren schien. „Guten Abend meine Herren. Wenn ich
mich vorstellen darf, Thor Aasfeld, meines Zeichens Forschungsminister.“

Was ging denn hier ab? Erst gibt es eine mysteriöse
Entdeckung, dann wird eine Frau umgebracht und schlussendlich taucht der
norwegische Minister für Forschung und Hochschulwesen hier auf? Irgendetwas lief
hier gewaltig schief und er war mittendrin. In der nächsten Stunde stellten
sich alle kurz vor, dann trug der Polizist, Kommissar Lysstråle, die ersten Ergebnisse der Untersuchungen vor. Anscheinend
handelte es sich bei dem Opfer um eine der einheimischen Arbeiter, sie starb
durch das gewaltsame Abtrennen des Kopfes vom Rest des Körpers. Anscheinend
entstand dies aber nicht durch einen Schnitt oder ähnliches, dem Pathologen
zufolge wurde sie regelrecht auseinandergerissen. Wie genau das möglich sein sollte,
da tappten sie bis jetzt noch im Dunkeln. Er wurde allerdings nicht müde zu
betonen, dass man einen erneuten ‚Anschlag‘, wie er formulierte, nicht
ausschließen konnte und er dementsprechend wenig davon hielte, Zivilisten am
laufenden Verfahren zu beteiligen. Er war in dieser Gegend aufgewachsen und
gab, wie so viele auch, den Wissenschaftlern die Schuld an dem Unglück. Doch
das behielt er lieber für sich. Danach musste Erik seine Erlebnisse Revue
passieren lassen. „…und dann bin ich, nun ja, gegen diese Wand gelaufen.
Ich hab mir den Kopf gestoßen und natürlich gleich hin gefasst, so aus Reflex.
Da hatte ich dann plötzlich Blut an der Hand, fand ich halt erschreckend und
bin dann erst mal ein bisschen zurückgetaumelt. Und in dem Moment sah ich das..“
Irgendwo schrie jemand. Er hielt kurz inne und lauschte. Die anderen sahen ihn
fragend an, anscheinend hatten sie es nicht gehört. Bildete er sich jetzt schon
Sachen ein? „…sah ich das Blut an der Wand. In dem Moment bin ich völlig
erstarrt, war ja klar, dass so viel nicht von mir…“ Noch ein Schrei.
Dieses Mal näher dran. Wieder hielt er inne, doch nun hatten es alle gehört.
Wieder herrschte Stille. Dann plötzlich lief alles schief.

Von draußen hörte man
mehr Schreie. Befehle wurden gebrüllt, Motoren gestartet. Dann peitschte ein
Schuss durch die Nacht. Die Bodyguards sahen sich kurz fragend an, während der
Polizist schon zur Tür hechtete. Schließlich waren es seine Männer, und was
immer da los war, es klang ganz und gar nicht gut. Der Rest im Raum war mehr
oder weniger ratlos, auch wenn man die Anspannung und aufkeimende Panik fast
schmecken konnte. Die Tür wurde aufgerissen. Kommissar Lysstråle stürzte auf
sie zu, als er hinaussehen konnte stutzte er kurz, dann rannte er weiter. Die
beiden Leibwächter folgten ihm, ihre Pistolen im Anschlag. Was zur Hölle war da
los? Mittlerweile konnte man auch Hunde jaulen hören, immer mehr Menschen
schrien haltlos durcheinander. „Erik!“ Erst als sein Vater ihn rief
merkte er richtig, dass er aufgestanden war und sich auf die Tür zubewegte. Er
musste einfach wissen was dort vor sich ging. Fast hatte er den Rahmen
erreicht, da erzitterte die Erde. Er fiel zu Boden. Aus dem Augenwinkel sah er,
wie alle zu Boden gingen. Der Minister stöhnte auf. Wie betäubt hörte Erik
seinen Vater Anweisungen bellen, anscheinend war der Regierungsbeamte verletzt.
Sollte er helfen? Was könnte er denn da draußen schon anrichten? Noch bevor er Zeit zum Nachdenken hatte bebte
die Erde erneut. Panisch suchte er nach etwas zum Festkrallen, ruderte kurz
hilflos auf dem Boden liegend herum, bekam dann aber den Türrahmen zu fassen. Er
zog sich ran und hatte nun freie Sicht. Sein Atem stockte. Das war einfach
unmöglich.

Es war eine wahre
Symphonie des Chaos. Menschen schrien, Schüsse wurden abgegeben und alles wurde
unterstrichen von den Geräuschen aufeinandertreffender Metallteile sowie dem
Sound tausender ineinandergreifender Zahnräder. Zwischen all den von Todesangst
ergriffenen Leuten ragte eine Maschine in die Höhe, fast doppelt so groß wie
Erik. Sie war gefertigt aus bräunlich schimmerndem Metall und hatte eine
humanoide Form. Ihre gewaltigen Stützen erinnerten an Beine, dazwischen befand
sich eine Art Torso. Die Arme dieses Dings wirbelten durch die Luft, einer
glich einem menschlichen Arm bis ins Detail, der andere hatte anstatt der
fünffingrigen Hand die Schneide einer überdimensionalen Doppelaxt. Und auf
diesem über und über mit Runen beschrifteten Körper thronte eine Art Kopf, der
unter anderen Umständen jeden kultivierten Menschen mit seiner  außerordentlichen Kunstfertigkeit begeistert
hätte. Das Gesicht zeigte das perfekte Ebenbild der Grimasse eines kämpfenden
Kriegers, von dessen Gesicht ein stählerner Bart im Wind wehte. Dieser
‚Roboter‘ bewegte sich noch dazu mit einer solchen Agilität und
Geschmeidigkeit, dass Erik kurz die Angst, die er empfinden müsste, vergaß und
staunend innehielt. Erst ein schreiender, schon beinloser Polizist, der gerade
durch die Luft geschleudert wurde holte ihn aus seinen Gedanken. Schnell rannte
er zurück in das schützende Häuschen. Die beiden Wissenschaftler knieten neben
dem Politiker und versorgten die Platzwunde, die er sich irgendwie an der
Schläfe eingehandelt hatte. „Da draußen..“, schrie Erik. Alle sahen
ihn an. „Da draußen ist ein riesiger kämpfender Roboter.“ Sein Vater
starrte ihn an. Dann wurde er rot im Gesicht. „Bist du von allen guten
Geistern verlassen?“, brüllte er. „Was fällt dir ein in einer solchen
Situation Witze zu machen.“ Völlig verblüfft stotterte er: „A-aber
Papa, das ist kein Witz, da ist wirklich…“ Sein Vater wollte wieder
schreien, da erzitterte der Boden erneut. Doch dieses Mal war es anders. Viel
intensiver. Er blickte zur Tür, um zu erfahren was dort vor sich ging, aber ein
metallisches Bein versperrte seine Sicht. Die eingeritzten Runen glühten
hellblau als das Zittern einer einzigen gigantischen Erschütterung wich. Er sah
sich um und bemerkte dann die Ursache dafür. In der Decke zeichnete sich eine
riesige Pranke ab.

Für einen Moment stand
die Zeit still. Eriks Augen weiteten sich. Draußen hatten die Schreie
aufgehört, ein paar wenige Schüsse hallten noch durch die Nacht, wie die
verzweifelten Schreie eines Totgeweihten. Er wartete ab. Er konnte zwar nicht
wie all die anderen außerhalb der Hütte sehen, wie sich die monströse, gusseiserne
Hand bedächtig von dem kleinen Container erhob, doch er spürte, als sie mit der
Wucht eines Meteors wieder hinunterfuhr. Das gesamte Zimmer erzitterte erneut,
doch viel beunruhigender waren die Geräusche, die sich zu dem dumpfen Knall des
Aufpralls gesellten. Wie aus den Hälsen hunderter kleiner Dämonen ertönte von
überall ein metallisches Knacken und Ächzen. Man konnte den Todeskampf des
behelfsmäßigen Hauptquartiers richtig mitfühlen. Dann war Ruhe, doch alle
wussten was kommen würde. Sie alle hatten in diesem Moment einen Gedanken, doch
noch bevor irgendeiner ihm weiter nachgehen konnte, brüllte Eriks Vater ihn so
laut er konnte: Raus! Alle raus hier! Da meldete sich Eriks
Zweifel zu Wort. Sollte er das tun? Der Ausgang wurde größtenteils von dem massiven
Bein dieses Ungetüms versperrt, gab es überhaupt Entkommen? Der Container würde
sicher standhalten. Natürlich würde er das. Aber noch während er sich der
Illusion von Sicherheit hingab, übernahm sein Überlebensinstinkt die Kontrolle
und so dauerte es kurz, bis er bemerkte dass er lief. Direkt auf die Tür zu. Die
versperrte Tür. Wütend begann er gegen das glänzende Metall zu hämmern. Er
schrie. Schrie sich die ganze Angst und die Wut raus, den ganzen Hass auf
diesen Ort und alles was in den letzten Stunden geschehen war. Ein Schrei aus
purer Verzweiflung, der nicht mehr bewirkte, als die gedämpften Echos seiner
Schläge zu übertönen. Auch die anderen waren neben ihn getreten. Der Minister
befand sich noch immer dem Delirium nah, Björn stützte ihn mühselig, doch sein
Blick war leer geworden. Erik steigerte sich in seine Rage, er wollte hier
raus! Konnte dieses verdammte Mistvieh nicht einfach aus dem Weg gehen? Was
sollte denn dieser Müll! Immer hatte er versucht sein Bestes zu geben, hatte
sich an die meisten Regeln gehalten, war immer nett und freundlich, er war ein
guter Mensch gewesen, und das war jetzt der Dank? Das sollte es sein? Sein
Schrei wurde lauter. Der griechische Wissenschaftler neben ihm beobachtete ihn
mit derselben kalten Berechnung, die er schon den ganzen Tag zeigte. Eriks
Fäuste taten weh, Tränen traten in seine Augen, seine Stimme kratzte, doch er
wollte seinen Willen zeigen. Er wollte nicht aufhören. Vermutlich hätte er auch
gar nicht gekonnt. Und so schrie er sich die Seele aus dem Leib.

Ungläubig starrte der
Kommissar auf die Szene, die sich ihm bot. Er stand gute zehn Meter vom
eigentlichen Geschehen entfernt, unfähig sich zu bewegen. Wieder hob der
mechanische Riese seine monströse Hand, wieder herrschte diese trügerische
Stille. Diese dämlichen Wissenschaftler! Von vornerein hatte man sie gewarnt
hier zu graben, aber sie hatten nicht hören wollen. Sie hatten sich stattdessen
gradewegs ihr eigenes Grab geschaufelt. Er wusste zwar nicht, wo dieses Ding
herkam, mit seiner bronzenen Oberfläche und den leuchtenden Runen, doch es
schien eine Mission zu verfolgen. Und sich ihm in den Weg zu stellen wäre
Irrsinn gewesen. Die Insassen der Hütte waren ja eh alle geflüchtet, er hatte
vorhin den Jungen gesehen. Es würde also niemand verletzt werden. Der Wind trug
die Geräusche des Waldes an sein Ohr. Anscheinend waren auch die Tiere
beunruhigt. Er hörte etwas, dass aus nächster Nähe ein infernalisches Gebrüll
sein musste, ihn aber nur als schwacher Hauch erreichte. Für einen Moment
bildete er sich ein, Wörter zu hören. Sicherlich nur Einbildung, wer sollte
schon mitten im Wald schreien? …deinen
verdammten Fuß hier weg! Er erstarrte. Das waren Wörter. Aber was sollte
das bedeuten?  Er hörte genauer hin. Jetzt hau schon ab du eiserne Ausgeburt der Hölle, du Drecks… Das waren Wörter gewesen. Er blickte jetzt in die
Richtung, aus der der Wind kam. Blickte in den finsteren Wald, der in der Nacht
wie das Tor zu einer anderen Dimension schien. Er sah direkt in die tiefe
Schwärze fernab des Lichts. Aber er sah auch die helle Wand des
Metallcontainers, die sich am Rand seines Blicks versteckte.

Sein Atem stockte,
sein Kopf war leer. Dann begriff er. Da waren noch Menschen drin! Aber wie war
das möglich? Er hatte doch…nur den Jungen gesehen. Schnell sah er sich um.
Den dummen Jungen, den der Polizist nun nicht mal mehr entdecken konnte.
Verdammt! Er biss sich auf die Unterlippe. Die anderen schienen nichts zu
hören, sie waren mehr mit ihrer eigenen Panik beschäftigt. Einer der Bodyguards
lag stöhnend auf dem Boden, der andere rührte sich schon nicht mehr. Was in der
Position, in der er lag, wohl eh schwierig gewesen wäre. Also blieb die Arbeit
mal wieder an ihm hängen. Was sollte er tun? Eine wirkliche Idee hatte er jetzt
nicht. Dann eben den einfachsten Weg. Die erste Kugel war hektisch
abgefeuert, sie ging meilenweit daneben. Plötzlich blickten ihn alle an. Dieses
Monstrum hatte seine Hand nun weit über den glänzenden Kopf gehoben und hielt
inne. Er hatte keine Zeit mehr. Der zweite Schuss traf eine Schulter. Noch war
die Hand in der Luft. „Hey!“ Würde Geschrei etwas bringen? „Du
hast mich schon gehört, du billiger Kaffeekocher!“ Verstand dieses Ding
ihn überhaupt? „Komm leg dich mit einem von deiner Art an! Sein Name ist
Colt!“ Die Hand verharrte regungslos in der Luft. „Na, Angst? Willst
wohl nicht verlieren, du jämmerlicher Haufen Altmetall!“ Keine Regung.
Offensichtlich war die Idee wirklich nicht so berauschend gewesen. Da fiel ihm
der Film ein, den er mit seinem Sohn zu dessen 18. Geburtstag gesehen hatte.
Irgendein Alienkram. Dort hatte der
tragische Held die Aufmerksamkeit des Weltraumkraken auf sich gewinnen müssen
und es erst geschafft, indem er dessen Abstammung durch den Schmutz gezogen
hatte? Aber das war doch nur eine lächerliche Hollywoodproduktion gewesen.
Sowas passierte einfach nicht in echt. Er biss die Zähne zusammen, denn er
wusste noch genau, wie das für den Helden ausgegangen war. Die Hand vibrierte
leicht. Er hatte keine Wahl. „Na du Blechbüchse, glaubst du deine Erbauer
sind jetzt stolz auf sich? Auf ihr dreckiges, hässliches Maschinenkind? Ich
sehe hier keinen, weißt du warum? Weil sich niemand für dich interessiert! Du
bist nur eine bessere Waschmaschine!“ Der Kommissar zitterte. Dann sank
die Hand. Ganz langsam und ruhig, geschmeidiger als bei den meisten Menschen.
Das Vieh bewegte sich. Es drehte sich um. Der Boden erbebte als es den ersten
Schritt machte. Auf den mutigen Polizisten zu. Seine glühenden Augen lagen im
Schatten der kupfernen Augenbrauen. Er war wirklich beeindruckend detailgetreu.
Lysstråle bemerkte gar nicht, wie die Gefangenen in die Freiheit stürmten. Er
war zu fixiert auf das Ungetüm, das mittlerweile ganz nah an ihn herangetreten
war. Kurz sah es ihn an. Zack. Blitzschnell
hatte seine Hand nach ihm geschlagen. Plötzlich konnte der Kommissar fliegen.
Er wurde seltsam ruhig, er wusste was kommen würde. Es hieß, das Leben würde in
so einem Moment an einem vorbeiziehen. Und das tat es auch. Einen Augenblick
später traf er die Bäume. Wenn man genau hinhörte konnte man sein Genick
brechen hören. Dann sah die Monstrosität sich um und stürmte los. Rannte weg
von der Menschenmenge, hinein ins Dorf. Lief an Erik vorbei. Für einen Moment
trafen sich ihre Blicke und Erik fühlte eine unnatürliche Kälte. Dann, als sei
es das normalste der Welt, enthauptete es beinahe beiläufig im Vorbeirennen
Eriks Vater.

In Ermangelung eines besseren Ortes saßen die
wenigen noch Anwesenden in einer der besser restaurierten Hütten an einer Art
Tisch. Es war eigentlich ein Exponat, dazu gedacht, das Innere eines solchen
Gebäudes besser zu simulieren, aber das war jetzt unwichtig. Für Erik war
sowieso nichts mehr wichtig. Er hatte gesehen, wie der Kopf seines Vaters zu
Boden gefallen war. Hatte in seine kalten, noch eschrocken blickenden Augen
gesehen. Und nun war er fort. Einfach tot. So konnte es doch nicht enden.Jetzt
war er hier, in dieser erbärmlichen Baracke, mit dem merkwürdigen
Wissenschaftler und dem verletzten Politiker. Alle anderen hatten es vorgezogen
zu gehen, beziehungsweise davonzustürzen. Wieso er hier bleiben musste, wusste
er eigentlich selbst nicht so recht. Aber er hätte eh nirgendwo anders
hingekonnt. Verstärkung war wohl unterwegs, aber es würde dauern. Nachdem die
örtliche Polizei von den Geschehnissen gehört hatte, weigerten sich vehement
alle auch nur in die Nähe zu kommen. So musste die Staatsgewalt von außerhalb
anrücken. Es war einfach unglaublich. Sein Vater war gestorben, aber niemand
schien wirklich Notiz von ihm zu nehmen. Um fair zu sein, genau so wenig hatte
jemanden der tote Einsatzleiter interessiert. Was hatte es denn für einen Sinn?
„…die Runen waren komplett identisch.“ Halbherzig hörte er der
Konversation zwischen den beiden Männern wieder zu. „Ich weiß, Professor.
Trotzdem können wir da jetzt nicht hingehen.“ „Warum denn bitte
nicht?“ „Es ist mitten im Zentrum, wir wären von überall
angreifbar.“ „Ich bitte Sie, das sind wir hier ebenfalls! Aber die
Runen könnten uns sagen, womit wir es zu tun haben.“ „Ich dachte,
Professor…“ Er sah Erik an, überlegte kurz und sprach weiter.
„Ich dachte sie hätten es entschlüsselt.“ „Das Alphabet, ja. Es
ist auch nicht besonders unterschiedlich von dem, was wir kennen. Wir konnten
auch schon erste Zeilen lesen, es ist faszinierend, hier so etwas zu finden,
damit hätte wohl wirklich keiner…“ „Kommen Sie auf den
Punkt!“ „Wir haben noch nicht alles gelesen.“ Es war kurz ruhig.
Dann meldete sich eine krächzende Stimme zu Wort. Eriks Stimme. Kurz war er von
deren Klang selbst überrascht. Dann sagte er: „Könnte uns der Inhalt denn
helfen?“ Beide Männer sahen ihn verwundert an. Sie waren es wohl nicht
gewohnt, ihre Angelegenheiten mit einem Teenager besprechen zu müssen.
„Ja, äh, schon“, sagte der Forscher. „Worauf warten wir dann
noch? Darauf dass dieses Biest uns erledigt, bevor wir ihm zu Leibe rücken
können?“ Sie mussten das Gesagte kurz sacken lassen. Dann erwiderte der
Minister, mehr überrumpelt als zustimmend: „Ja worauf eigentlich…“
Das ließ sich der Grieche nicht zwei Mal sagen. Sofort sprang er auf, lief
schon zur Tür, drehte sich dann aber im Rahmen nochmal um. Er sah Erik an, mit
einem komischen Ausdruck im Blick. Vielleicht etwas wie Mitgefühl?
„Möchtest du..äh…willst du lieber hier bleiben?“ „Nein“,
gab er sofort zurück, „Dieses Ding hat meinen Vater getötet, ich komme
mit.“ Der Minister wollte noch widersprechen, doch da waren sie beide
schon zur Tür raus.

Er sah sich die ganze Zeit um. Jeder Schatten, den er im
Augenwinkel hatte, wurde in seinem Kopf sofort zum Umriss dieser Maschine,
jedes Geräusch das er hörte machten seine Gedanken zum Knirschen der gewaltigen
Füße auf dem sandigen Boden. Schon seit einer Viertelstunde standen sie nun um
den mysteriösen Runenstein und Erik wurde mehr und mehr nervös. Der Professor
hatte irgendwoher einen Block nebst Stift hergezaubert und übersetzte eifrig
den Text in die normale norwegische Sprache. Der Politiker sah ihm interessiert
zu, während Erik etwas abseits stand. Er hatte schon diese ganze Zeit so ein
Kribbeln im Bauch, als würde sofort etwas passieren. Doch nichts geschah. Es
gelang tatsächlich, die komplette Inschrift ohne weiteres zu übersetzen. Er
hätte schreien können vor Freude. Der Wissenschaftler hatte sie zu sich
gewunken und nun machte sich ein verschwörerisches Grinsen auf seinem Gesicht
breit. „Also, es handelt sich hier tatsächlich um die Ruinen einer frühen
Hochkultur, etwas, dass wir hier nie erwartet hätten. Wie wir mittlerweile
bemerkt haben, befanden sie sich auf einem erstaunlichen technischen Niveau,
was der Text auch belegt. Es ist von allerlei Erfindungen die Rede:
Kriegsmaschinerien, Werkzeuge, Alltagsgegenstände, sogar eine Art elektrisches
Licht wird beschrieben. Wie auch immer, auf jeden Fall steht dort auch etwas
über eine Maschine geschrieben, mächtig genug alle Feinde zu besiegen, sollte je
eine Streitmacht von See landen und den Ort einnehmen.“ „Also genau
das, womit wir es zu tun haben!“ Der Politiker klang nicht unbedingt
begeistert. „Ziemlich sicher. Und es kommt noch besser. Hier steht auch, wie
man ihn wieder deaktiviert. Man muss nur…“ Er deutet auf einige Zeichen
am Stein. „Man muss lediglich die Runen seines Namens berühren. So
einfach ist es.“ Er tippte auf die Rune des Buchstaben U. Sie leuchtete in
einem kalten Blau auf. Normalerweise wäre Erik jetzt sicherlich verdammt beeindruckt
gewesen. Aber das war er nicht. Denn er hatte hinter sich ein Geräusch gehört.
Und zwar eins, das er nicht hören wollte. Das Knirschen von Sand. Grade, als
der Grieche die Rune für N zwei Mal drückte, wollte Erik sie darauf aufmerksam
machen. Aber so weit kam er nicht. Denn plötzlich hallte ein kratzender Ton
durch die Nacht, der klang, als hätte die Kehle, aus der er kam, seit
Jahrhunderten keinen Laut von sich gegeben.
Stǫðva!“

Sie alle hoben
gleichzeitig ihren Blick. Das Wesen stand ungefähr 15 Meter von ihnen entfernt.
War das grad wirklich geschehen? Hatte
dieses Ding etwas gesagt? Erik wunderte gar nichts mehr. Aber was hatte dieses
Wesen überhaupt von sich gegeben? er hatte es nicht verstanden. Sein Blick
schweifte kurz hinüber zu den beiden Männern. Der Minister war genau so ratlos
wie Erik. Doch der Professor war es nicht. Und ihm schien nicht zu gefallen was
er da gehört hatte. „Warum sollte ich?“, schrie er dem Monstrum
entgegen. Seine Stimme klang überraschend gefasst, beinahe gebieterisch. „Nú!“, rief das Ding zurück. Der
Wissenschaftler sah es finster an. Dann funkelten seine Augen und ein Grinsen
huschte über sein Gesicht. Schon die ganze Zeit hatte seine Hand über einer
Rune geschwebt. Jetzt ließ er sie langsam darauf zugleiten. Hätten sich die
Augen der Maschine weiten können, in diesem Moment hätten sie es wahrscheinlich
getan. Aber so zeigten sie nur das gleiche blaue Licht, dass sie schon die
ganze Zeit ausstrahlten, im Einklang mit den leuchtenden Runen, die über den
gesamten glänzenden Körper verteilt waren. Die Monstrosität hob langsam seinen Arm, als wolle es anklagend auf seinen
Kontrahenten zeigen. Dessen Lächeln wurde breiter. Doch dann, im Bruchteil
einer Sekunde, änderte sich das gesamte Geschehen. Ohne Vorwarnung löste sich
plötzlich die Hand der Maschine und schoss direkt auf den Forscher zu. Ihm
blieb nicht einmal Zeit zum Schreien, seine Augen weiteten sich, dann hatte ihn
die Pranke erreicht. Sie umklammerte ihn. Erst jetzt bemerkte Erik, dass sie
immer noch über eine lange Kette mit dem Rest dieses antiken Roboters verbunden
war. Krieeeeetsch. Sie begann zurück
zu schleifen, rieb über den Sandboden und zog den einzigen Mann, der sie hätte
retten können, immer näher in sein Verderben heran. Erik wäre gerne gerannt,
hätte etwas unternommen, aber er war unfähig sich zu bewegen. Der Grieche
schlug immer wieder auf die massive Hand ein, es gelang ihm sogar ein paar
Dellen in die Oberfläche zu hauen, die Umklammerung jedoch lockerte sich kein
bisschen. Klonk. Mit einem dumpfen
Geräusch verband sich die riesenhafte Extremität wieder mit dem Rest des
Körpers. Das Maschinenwesen hob den zitternden Wissenschaftler auf die Höhe
seiner Augen und sah ihn interessiert, ja fast neugierig an. Es musterte ihn
regelrecht. Dann, urplötzlich, drehte es sich einfach um und marschierte davon.
Als wäre nie etwas passiert, als hätte es die anderen beiden Menschen gar nicht
wirklich wahrgenommen. Was sollten sie denn jetzt tun? Ihre letzte Hoffnung war
verloren. Niedergeschlagen trottete Erik zu dem ebenso bedrückt aussehenden
Politiker hinüber. Nu waren sie allein. Der Wind blies den groben Sand, der
überall auf dem Boden verteilt war, umher, fegte ihn über den Platz, an diesem
verdammten Runenstein entlang und auf den Notizblock des Professors. Moment. Der
Notizblock war noch hier? Aber das bedeutete ja…Erik hätte vor Freude
schreien können. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren.

Zitternd hielt der
Minister den Block in der Hand. Als Erik ihn darauf aufmerksam gemacht hatte
war er direkt darauf zugestürmt und hatte ihn mit einer Euphorie vom Boden
gerissen, die man sich wohl nur mit wiederentdecktem Überlebenswillen erklären
konnte. Und es stimmte, für einen kleinen Moment hatte er alle Hoffnung fahren
lassen. Aber nun war sie in ihm wieder gekeimt, die kleine zarte Pflanze, die
ihn dazu brachte weiterzumachen. Er war Thor Aasfeld, Minister der
ehrwürdigen norwegischen Regierung. Alles hatte er sich erkämpfen müssen, war
als Sohn verarmter deutscher Einwanderer in einem der Problemviertel Oslos aufgewachsen.
Mit 15 war er von zu Hause weggerannt, hatte sich mit zwielichtigen
Gelegenheitsjobs durchschlagen müssen und hatte so manche Nächte auf der Straße
verbracht. Das hatte eine Weile funktioniert, doch irgendwann hatte er diese
Perspektivlosigkeit einfach nicht mehr ausgehalten. Also hatte er sich
gefälschte Zeugnisse besorgt, hatte ganze Wochen in Bibliotheken verbracht, um
all das verpasste Wissen nachzuholen. Im Endeffekt hatte er sich für ein
Biologiestudium beworben, sich durchgebissen und als Jahrgangsbester
abgeschlossen. Für ein paar Jahre hatte er selbst geforscht, doch sein Ziel war
immer etwas anderes gewesen: Politik. Er kannte die Missstände, hatte sie
erlebt und jetzt wollte er sie bekämpfen. Sein ungewöhnliches Schicksal hatte
seine Parteikollegen stark beeindruckt. Sie kannten zwar auch nur die
schillernde Seite, der Junge der sich aus eigener Kraft von der Straße
hochgekämpft. Niemand ahnte von der anderen Seite, dem gebrochenen Jungen, der
sein gesamtes neues Leben auf einer Fälschung aufgebaut hatte und sich für die
Finanzierung seines Studiums hatte prostituieren müssen. Er war Thor Aasfeld.
Er hatte sich aus dem buchstäblichen Dreck der Straße hochgekämpft. Jetzt würde
er nicht scheitern.

Beide blickten sie auf das Gekritzelte, das der Professor in
der Hektik dahin geschmiert hatte. Auf den ersten Blick sah es unglaublich
unübersichtlich auf, doch er hatte am Rand des zerknitterten Blattes ein Wort
geschrieben. Sie konnten es war nicht lesen, aber das rauchten sie auch gar
nicht. Es waren vier Runen. Drei glühten ihnen schon schwach entgegen. Sie
wussten was zu tun war. Der Minister ließ den Block fallen.“Weißt du, was
zu tun ist?“, fragte er Erik mit einer Ernsthaftigkeit in der Stimme, wie
die Situation sie verlangte. „Ja, jemand muss diese eine Rune noch
berühren.“ „Nicht jemand. Ich werde es tun.“ „Sie wollen es
tun?“ Erik wusste nicht, was er davon halten sollte. Schließlich hatte
dieses Ding seinen Vater getötet. Sollte er da nicht das Recht haben es zu
töten? „Dieses Wesen hat meinen…“ „Ich weiß was es getan
hat.“ Er ließ Erik gar nicht erst ausreden. „Aber du bist immer noch
nur ein Kind. Wir haben beide gesehen, wozu dieser Roboter im Stande war. Es
ist zu gefährlich. Ich werde es tun.“ Erik wollte widersprechen, aber so
weit kam er gar nicht. Schon war der Politiker an den Stein herangetreten und
kniete sich auf den Boden. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die
fremden Schriftzeichen. Er wusste genau, wonach er suchen musste. Es war die
Rune des R. Sie zu finden stellte auch gar keine Herausforderung dar und genau
das war das Problem. Sie kam zu oft vor. Woher sollte er wissen, welche die
Richtige war? Natürlich konnte er einfach alle ausprobieren, doch er traute
dieser Methode. Nach allem, was sie erlebt hatten, musste er davon ausgehen,
dass diese Kultur klug genug gewesen war, sich auf so etwas vorzubereiten. Er
musste die Richtige treffen. Und er hatte nur einen Versuch. Noch einmal
musterte der Politiker den Text. Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Es
war ihm vorher nicht aufgefallen, aber die leuchtenden Runen befanden sich alle
in einer diagonalen Linie. Und was schloss sich am Ende jener Linie an? Ein R.
Sein Grinsen wurde breiter und entblößte all seine schneeweißen Zähne. Für
einen Moment ließ er seinen Finger über dem einen Zeichen ruhen. Dann berührte er es. Für einen kurzen Moment
geschah gar nichts. Dann erfasste ein gewaltiger Schock seinen Körper.

Erik konnte gar nicht so schnell reagieren, wie es
passierte. Grade noch hatte der siegessicher aussehende Mann die Rune berührt,
jetzt lag er zappelnd auf dem Boden. Es hatte ein kurzes Knistern gegeben und
dann hatten die Krämpfe ihn erfasst. Erik konnte sich nicht bewegen. Er konnte
nur fassungslos zusehen wie die Krämpfe immer weniger wurden. Dann war Thor
Aasfeld, der Kämpfer von den Straßen, der aufstrebende Stern an Norwegens
Politikerhimmel, tot. Einfach tot. Und Erik war ganz allein. Zu allem Überfluss
hatte es ja noch nicht einmal was gebracht. Er konnte zwar nicht wissen, ob das
Maschinenwesen noch herumwanderte, doch er hatte das Gefühl, dass es so war.
Die ganze Aktion war völlig witzlos. Er hätte heulen können. Dann hörte er das
Grollen.

Es war ein schöner Tag. Die Vögel zwitscherten, das Wetter war gut und im ganzen Dorf herrscht eine ausgelassene Stimmung. Wir schreiben den Tag der Sommersonnenwende 917 nach Christi Geburt. Das gesamte Dorf hat sich zur Einweihung der neuen Erfindung ihres kleinen Volkes versammelt. Häuptling Oldungr, der große Krieger, hält eine kurze, feierliche Rede. Dann wird ihre neue Errungenschaft aktiviert. Es ist der ultimative Verteidigungsmechanismus. Im Falle einer feindlichen Übernahme würde es für das letzte Aufbäumen sorgen. Doch all die Feierlichkeit konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier keineswegs ein Schutzmechanismus eingeweiht wurde. Es war eine Vernichtungswaffe, um die möglichen Feinde mit in den Untergang zu reißen. Dafür war der Unnr gut. Der Name erklärte die Funktion an sich schon sehr gut. Es war ein Wort, das extra dafür neu geschaffen wurde. Es war vollkommen todbringend. Deshalb hatte man parallel die Thræll gebaut. Riesenhafte, maschinelle Wächter, entworfen um die Todeswaffe vor Unbefugten zu beschützen. Sie sahen beeindruckend aus, mit ihren fein gefertigten Gesichtern, ihren perfekt konstruierten Armen und der runenübersähten Rüstung. Denn der Unnr würde gleichzeitig alle weniger hoch gelegenen Siedlungen dieses Volkes vernichten. Auch wir haben heute ein Wort für das, was sie so bezeichnen. Es nennt sich Tsunami.

Das Grollen war immer lauter geworden. Erik hatte keinen
Schimmer gehabt, was dort vor sich ging. Dann hatte er es gesehen. Die
gigantische Welle. Er wusste weder wo sie herkam, noch wie es möglich war,
sowas künstlich zu erzeugen. Doch er hatte seinen Blick abgewendet. Nicht, dass
das irgendetwas besser gemacht hätte. Denn er hatte die Geräusche gehört. Hatte
gehört wie ganz Kjedelump unter den Wassermassen zerbarst. Er hatte die Schreie
der Verzweifelten gehört, voller Schmerz nachdem sie gesehen hatten, was
passiert war und wie viele starben. Und dann voller Panik, als der Sog alles
wieder zurück in den Fjord saugte. Noch immer hockte er auf dem Boden,
zusammengekauert, unfähig sich zu
bewegen. Die ersten Strahlen der Sonne kitzelten ihn. Und er hatte
Hunger. Unbeschreiblichen Hunger. Aber hier war nichts mehr. Alles war weg. So
blieb er einfach wo er war. Bereit zu sterben. Wartend auf den Tod, der ihn von
all den Schmerzen und den Gewissensbissen erlösen sollte. Er würde lange
warten. Sehr lange. Doch nicht vergeblich. Wenn in ein paar Stunden endlich die
Verstärkung eintreffen würde, viel zu spät, da sie sich durch die Ruinen des
Orts kämpfen mussten, dann würden sie nur noch seine immer noch
zusammengekauerte Leiche finden.

Das dunkle Wasser schwappte träge ans Ufer. Der bewölkte
Himmel tauchte die ländliche Idylle in einen aschfahlen Schein. Die klare
Flüssigkeit zog sich langsam vom kiesigen Strand zurück, nur um sofort als Welle
wieder einzufallen. So lief das hier den ganzen Tag. Jeden Tag. Jede Nacht.
Seit Tagen. Monaten. Jahren. Vermutlich seit Millennien. Doch sonst war hier
nichts Spannenderes geschehen . Kjedelump war ein durchschnittliches Dorf an
einem durchschnittlichen Fjord gewesen. So hatte man geglaubt.. Völlig normal
an der Küste Norwegens. Augenscheinlich war es bloß eine Ansammlung
verschiedener Holzhütten hier am Rand des Eismeeres gewesen. Hier waren lange
Zeit keine interessanten Dinge passiert. Über das missglückte Forschungsprojekt
wurde Stillschweigen bewahrt, man verschüttete alles wieder unter der dunklen
Erde. Kaum jemand würde sich an Kjedelump erinnern. Wieso denn auch?

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