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Freiflug

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Der Absturz

Ein Ruck ging durch seinen Körper und den Sitz, auf dem er bis eben noch gemütlich geschlafen hatte. Irritiert sah er sich verschlafen um und stellte enttäuscht fest, dass sie sich immer noch in der Luft befanden. Ein Blick aus dem kleinen, runden Fenster zu seiner Linken reichte aus, um sich zu vergewissern, dass es wohl auch noch eine Weile bis zur Landung dauern würde. Außer kahlen Feldern und den Bergketten in weiter Ferne war dort draußen dank des wolkenlosen Himmels nicht viel zu erkennen.

Jack hasste das Fliegen. In seinem sechsunddreißigjährigen Leben war er bisher nur drei Mal geflogen, vier Mal, wenn man heute mitzählte, und er hatte es jedes Mal aufs Neue zu hassen gelernt.

Die Bodenlosigkeit unter einem, die Gewissheit, dass man im Falle eines Falles – haha – kaum eine Überlebenschance hatte. Jedes kleine Stottern der Maschine jagte ihm einen Heidenschrecken ein, jede dichte Wolkenfront ließ ihn in dem Glauben, dass sie in wenigen Sekunden gegen einen Berg, ein Hochhaus oder ein anderes Flugzeug krachen und alle sterben würden.

Die einzige Methode gegen diese – wie er sich immer wieder erfolglos einzureden versuchte – unbegründete Angst war der Schlaf. Kaum war er in die Maschine eingestiegen und hatte sich hingesetzt, schloss er schon die Augen und versuchte ihn zu erzwingen, ehe sie überhaupt starteten, damit er erst erwachte, wenn sie sicher landeten.

Zwei Mal hatte es geklappt, beim ersten Mal war die Angst zu groß und die Erfahrung zu gering gewesen – die Male danach hatte er versucht, die Nacht zuvor durchzumachen, um möglichst müde zu sein -, dieses Mal scheiterte es daran, dass er durch ein Rucken des Flugzeuges geweckt wurde.

Wie lange wir wohl noch brauchen? Zu lange, so viel stand fest. Jede wache Minute, die er in dieser Todesmaschine verbringen musste, war zu viel. Warum nur musste Fliegen die schnellste und einfachste Methode sein, irgendwo hinzukommen? Der Mensch hatte derart viele geniale Errungenschaften erfunden, warum nicht endlich mal ein gleichwertiges Transportmittel, welches nicht extra in die Lüfte gehoben werden musste?

„Kann ich Ihnen noch etwas bringen, Sir?“

Die Stimme neben ihm ließ Jack erschrocken zusammenfahren. Sein Blick war so konzentriert auf die vorbeiziehende Welt außerhalb des Fensters gewesen, dass er gar nicht gemerkt hatte, wie die Stewardess sich ihm genähert hatte.

„Nein danke, ich brau…“, setzte er an, stoppte jedoch mitten im Satz, als seine Augen zu der netten Dame hinüberglitten. Mit einem Mal gefror ihm das Blut in den Adern. Er riss erschrocken die Augen auf und schnappte panisch nach Luft, da er das Gefühl hatte, jeden Augenblick zu ersticken. Der Anblick vor ihm raubte ihm den Atem.

Die Stewardess war kaum mehr als solche zu erkennen. Die einst feine, bügelglatte Uniform war nun blutgetränkt und mehrfach gerissen. An manchen Stellen hing sie nur noch in Fetzen herunter und gab den Blick auf die darunterliegende, nackte Haut frei, doch was es dort zu sehen gab, löste in Jack mehr Schrecken als alles andere aus.

Wunden und Verletzungen, soweit das Auge reichte. Der Oberkörper wirkte irgendwie seltsam deformiert. Der Unterkiefer der Dame hing nur noch an einem Gelenk schief herunter, ein Großteil der Zähne fehlte, die, die sich noch in ihrem zerfetzten Mundraum befanden, waren gesplittert und zerbrochen. Die linke Gesichtshälfte war nicht viel mehr als eine Ruine, eine Masse aus Blut, Knochensplittern und ein paar losen Hautfetzen; das entsprechende Auge lag nicht mehr in der Höhle, weswegen ein leeres, schwarzes Loch auf ihn herabblickte. Ihr linker Arm fehlte gänzlich, er hörte einfach an der Schulter auf, ein blutiger Stumpf lugte aus den Resten der Uniform hervor.

„Stimmt etwas nicht, Sir?“, fragte die Stewardess, wobei die Überreste ihres Mundes sich irgendwie bewegten und die Zunge, die schlaff an der Seite herunterhing, hin und her wippte.

Jack drehte sich der Magen um. Er spürte, wie es ihm hochkam, riss sich aber gerade so noch zusammen, um sein letztes Mahl bei sich zu halten. Jedoch wandte er dabei den Blick ab, schloss die Augen fest zu und wünschte sich, dass dieser Albtraum endete. Es musste ein Traum sein, unmöglich, dass dieses… dieses Ding da gerade wirklich vor ihm stand und ihn aus dem verbleibenden, leblosen Auge anglotzte.

Einatmen… Ausatmen… Es ist nur ein Traum, jeden Moment wirst du erwachen. Gleich ist der Spuk vorbei. Doch er ging nicht vorbei. Jack kauerte noch immer in seinem Sitz, die Augen fest zusammengekniffen, wehrte er sich vor der bitteren Realität direkt vor seiner Nase. Auch wenn er es sich wünschte, so wusste er doch, dass er nicht ewig so hier verharren konnte. Noch hatte man ihn nicht angefallen oder dergleichen, was er glatt als Wunder abtat, aber wenn er diesem wahrgewordenen Albtraum entfliehen wollte, musste er anfangen, etwas zu unternehmen!

Zitternd, nein regelrecht bebend öffnete Jack die Augen wieder und richtete sich ein wenig auf. Als er sich der wandelnden Leiche der Stewardess zuwandte, sollte er überrascht werden.

„Ist alles in Ordnung, Sir?“

Völlig verdattert musterte er sie ausgiebig, ehe er eine Antwort stammelte. „J-j-ja, alles… alles ok, i-ich muss nur mal eben… Entschuldigen Sie mich.“ Hektischer als nötig stand er auf, schob sich an der Stewardess vorbei und schritt den Gang zwischen den unzähligen Sitzreihen entlang zum Toilettenraum.

Doch nur ein Traum, dachte er erleichtert und zweifelte damit einher an seinem Geisteszustand. Hatte der Flug wirklich bereits so sehr an seinen Nerven gezehrt, dass er begann zu halluzinieren? Musste wohl so sein, denn der Anblick der völlig gesunden und intakten Stewardess, deren Gliedmaßen alle da waren, wo sie hingehörten, die nicht mit blutiger und zerstörter Kleidung, sondern piekfein und sauber vor ihm stand, hatte ihn eines Besseren belehrt.

Endlich erreichte er den Toilettenraum, der glücklicherweise nicht besetzt war. Er öffnete die Tür und schloss sich darin ein, ehe er tief Luft holte und sich ein wenig entspannte. Bis eben war ihm gar nicht aufgefallen, wie angespannt er gewesen sein musste.

Ein Spritzer Wasser ins Gesicht, zurück auf deinen Platz und weiterschlafen. Guter Plan, fehlte nur noch die Umsetzung.

Der erste Punkt war schnell erledigt. Verhältnismäßig. Jack musterte sein eigenes Gesicht ein paar Sekunden lang im Spiegel, ehe er das Wasser aufdrehte. Was er sah, erschreckte ihn ein wenig. Er wirkte ausgemergelt, müde… und das war noch eine nette Umschreibung. Sein unsteter, hektischer Blick huschte hin und her. Tiefe Augenränder zeichneten sein unrasiertes, blasses Gesicht. Er zitterte. 

Jack empfand sich selbst als ungepflegt und meinte, eher das Antlitz eines Drogensüchtigen auf Entzug als das eigene zu sehen.

Sobald wir gelandet sind, wird es mir wieder besser gehen. Ja, davon war auszugehen, doch bis dahin würde er noch ein wenig durchhalten müssen. Nicht, dass ihm etwas anderes übrigblieb. Sie befanden sich mehrere hundert Meter über dem Erdboden, wo hätte er schon hingehen sollen, wenn er entschied, es nicht mehr auszuhalten? Sicher würde man ihm keinen Fallschirm aushändigen und eine gute Landung wünschen…

Obgleich die Vorstellung irgendwie erschreckend war – es war wohl unnötig zu erwähnen, dass Jack unter Höhenangst litt und allein der Gedanke an einen Fallschirm ihn in panische Angst versetzte – amüsierte sie ihn auch, weswegen er ein wenig besser gelaunt die kleine Toilettenkammer wieder verließ.

Auf dem Rückweg zu seinem Platz stellte er fest, dass irgendetwas nicht stimmte, konnte jedoch im ersten Moment partout nicht sagen, was ihn störte. Die gesamte Atmosphäre hatte sich verändert, und zwar auf keine angenehme Art und Weise. Dennoch schritt Jack gefasst weiter durch den Gang, bis er seinen Sitz erreichte. Dort blieb er stehen und verharrte erschrocken.

Während er eine Vierteldrehung gemacht hatte, war es ihm endlich aufgefallen. Aus den Augenwinkeln hatte er gesehen, was ihn so sehr störte, und nun, da er sich der Tatsache gewahr geworden war, lähmte ihn seine Angst.

Das ist unmöglich. Das mochte durchaus sein, doch es änderte nichts an der hiesigen Situation. Die Menschen, die hier mit ihm in dem Flugzeug gesessen hatten – knapp hundert Mann – blieben dennoch verschwunden.

Denn genau das war geschehen. Sie waren einfach verschwunden. Puff und weg. Niemand mehr da. Houdinis Show wurde von tosendem Applaus begleitet, nur, dass da niemand mehr war, der hätte applaudieren können.

Das ist unmöglich, beschwor Jack sich erneut. Es änderte nichts, was er daran erkannte, dass es immer noch totenstill in der Maschine war.

Bis eben noch hatten sich die anderen Fluggäste unterhalten, flüsternd zwar, doch ein allgemeines, irgendwie beruhigendes Raunen war zu vernehmen gewesen. Wer sich nicht unterhalten hatte, hatte eben gelesen und dabei in einem Buch herumgeblättert. Das Rascheln von Papier war ebenso beruhigend gewesen. Verdammt noch mal, in diesem Moment wäre Jack sogar über einen lauthals schnarchenden, fetten Kerl glücklich gewesen, der es sich direkt neben ihm auf seinem Platz bequem machte. Selbst das wäre beruhigend gewesen!

Aber Beruhigung sollte er hier nicht mehr finden. Die Stille war erdrückend. Kaum zu glauben, wie schnell man Hintergrundgeräusche vermissen konnte, wo sie einem nur allzu häufig gehörig auf die Nerven gingen.

Um sicher zu gehen, dass er sich nicht irrte oder vielleicht an einem kurzen Anfall von Taubheit litt, drehte Jack sich um und überblickte flüchtig die Sitzreihen neben und hinter ihm. Hätte er es doch nur nicht getan, denn nun musste er endgültig einsehen, dass er sich nicht getäuscht hatte. Die Plätze waren allesamt leer. Alle Fluggäste waren ins Nirgendwo hin verschwunden. Selbst von der Stewardess oder ihren Kolleginnen war keine Spur auszumachen.

Das Flugzeug glitt seelenruhig und konstant weiter auf seiner Bahn dahin, doch wo es eben noch eine reichhaltige Menschenfracht mit sich führte, war Jack nun der einzige Zurückgebliebene dieses grausamen Scherzes. So musste es doch sein. Das Alles war nur ein einziger, kosmischer Witz auf seine Kosten! Haha, was haben wir nicht alle gelacht, jetzt kommt wieder raus, Leute, langsam macht ihr mir Angst.

Aber sie kamen nicht. Das Flugzeug blieb leer und still. So still, dass Jack glaubte, den Verstand zu verlieren, wenn nicht gleich irgendein Geräusch ertönte.

Ohne zu wissen, was er da eigentlich tat, setzte er sich in Bewegung. Jacks Gedanken schalteten sich auf ein Minimum herunter und er lief einfach los. Wohin? Scheißegal wohin, nur weg von hier.

Leider war sein Bewegungsradius, bedingt durch den Raum der Maschine, ein wenig eingeschränkt, weswegen er nicht viel weiter als bis zum vorderen Ende des Flugzeuges kam. Vor der verschlossenen Tür des Cockpits stehend überlegte er, was er als nächstes machen sollte.

Schulterzuckend überwand er sich zu etwas, dass er unter normalen Umständen nicht einmal im Traum getan hätte. Aber dies waren weder normale Umstände noch handelte es sich um einen Traum – dafür fühlte sich der Boden zu seinen Füßen schlicht zu real an. Deswegen legte Jack seine Hand auf die Klinke der Tür und drückte sie hinab. Zu seiner Überraschung ließ sie sich mühelos öffnen.

Sollte die nicht abgeschlossen sein? Egal.

Die Tür schwang auf, und was sie preisgab, verwunderte Jack bei weitem nicht so sehr, wie es das wohl hätte sollen. Das Cockpit lag ebenso leer und verlassen vor ihm wie der Rest der Maschine. Kein Pilot, kein Co-Pilot, niemand. Das Flugzeug flog von alleine und machte seinen Job überraschend gut.

„Alles klar“, murmelte Jack. „Ich bin verrückt.“

Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und lief zu seinem Platz zurück. Der Plan? Scheiß auf den Plan. Er würde sich hinsetzen und das Ende des Fluges abwarten, ganz gleich wie dieses auch aussah.

Womöglich würden sie, nein er, jeden Moment einfach abstürzen und sterben. Vielleicht aber würde die Maschine auch führerlos ihren Bestimmungsort erreichen, landen und Jack aussteigen lassen, damit er dann feststellen dürfte, dass auch der Rest der gottverdammten Welt plötzlich ausgestorben vor ihm lag und er der letzte noch lebende Mensch war. Oder er würde einfach aufwachen, eingeschnürt in eine Zwangsjacke, sich in seiner kleinen Gummizelle hin- und herwiegend.

Wie es auch ausgehen mochte, Jack kümmerte es nicht. Er fügte sich in sein Schicksal, akzeptierte die Konsequenzen, erlaubte seinem Geist, sich so weit wie möglich von diesem Irrsinn zu distanzieren und sich selbst nicht mehr als aktiv denkendes Individuum zu betrachten, sondern nur als Körper, der in einer völlig durchgeknallten Welt umherwanderte. Rast- und ziellos.

Auf jeden Fall war es besser, als sich mit der grässlichen Wahrheit auseinandersetzen zu müssen. Das hätte nämlich bedeutet, Gefühle zuzulassen, und diese wären einfach zu schmerzhaft gewesen. Angst, Panik, Verzweiflung… nein, sowas konnte er nicht gebrauchen.

Jack setzte sich auf seinen Platz, schloss die Augen und dann geschah es. Als hätte die Maschine nur darauf gewartet, ging plötzlich ein heftiger Ruck durch sie und sie ging stetig abwärtsgleitend in die Vertikale über. Sekunden später folgte der Aufprall. Jack spürte ihn nicht einmal mehr.

Verhasst und doch geliebt

Hochschreckend erwachte Jack aus seinem Albtraum. Er atmete schwer und ungleichmäßig, saß mit weit aufgerissenen Augen da und erwartete jeden Moment eine Katastrophe. Die Katastrophe trat nicht ein, seine Atmung und sein pochendes Herz beruhigten sich wieder.

Nur ein Traum, es war nur ein Traum…, beschwor er sich wieder und wieder. Doch Traum hin oder her, noch immer ängstigte ihn, was er gesehen und gespürt hatte. Alles war so unglaublich realistisch gewesen. Die tote Stewardess, die gar nicht so tot war, das leere Flugzeug, das führerlose Cockpit, der Absturz…

Gut, dass es vorbei ist. Vorbei war es noch lange nicht, schließlich befanden sie sich immer noch in der Luft, und so schnell würde Jack sicher keinen erholsamen Schlaf mehr finden, aber wenigstens war er zurück in der Realität, wie er sie kannte. Eine, in der die Toten tot und rappelvolle Flugmaschinen voll blieben.

„Kann ich Ihnen etwas bringen, Sir?“

Dieses Mal erschrak Jack nicht, auch wenn sich augenblicklich ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend breit machte. Doch als er aufsah und die Stewardess erblickte, legte es sich sogleich wieder. Lebendig, unverletzt, ordentlich, so wie er seine Stewardessen mochte.

„Ein Wasser bitte“, erklärte er krächzend, was ihm überhaupt erst deutlich machte, wie trocken seine Kehle eigentlich war.

„Kommt sofort“, sagte die Dame und bückte ich zu ihrem Servierwagen hinunter.

Indes schloss Jack einen Moment lang die Augen, um auch die restliche, aufwühlende Aufregung in seinem Inneren zu vertreiben.

„Bitte, Sir.“

Er hörte, wie ein Glas vor ihm auf seinem Tischchen gestellt wurde und öffnete die Augen wieder. Sofort erstarrte er zu Eis, so sehr lief es ihm kalt den Rücken runter.

Nur ein Scherz, nur ein grausamer, überhaupt nicht witziger Scherz, dachte er und betrachtete unablässig das Wasserglas vor sich, in dem ein menschlicher Augapfel samt Sehnenverbindung schwamm und es langsam rot färbte. Das flaue Gefühl in seiner Magengegend kehrte zurück und wuchs rasend schnell zu einer ernsthaften Übelkeit an.

Sieh jetzt bloß nicht zur Seite. Untersteh dich, tu es nicht! Es nutzte nichts. Trotz dessen er ganz genau wusste, was ihn dort erwartete, bewegte sich sein Blick langsam zur Seite und richtete sich auf die Stewardess. Blutige Uniform, entstelltes Gesicht, leere Augenhöhle, abgerissener Arm… Da war sie wieder, die Frau seiner Albträume.

Jack schluckte schwer, er brauchte keinen Ton hervor, obwohl er am liebsten geschrien hätte.

„Stimmt etwas nicht, Sir?“, fragte die Stewardess und sah zu dem Wasserglas hinüber. „Oh! Entschuldigen Sie bitte, das hätte nicht passieren dürfen. Tut mir wirklich schrecklich leid! Ich mache das gleich weg.“

Nein, nein, nein! Er wollte protestieren, wollte schreien, wollte sie von sich stoßen, doch er tat nichts dergleichen. Der Leichnam beugte sich vor und langte mit dem noch intakten Arm nach dem Wasserglas. Jetzt, da sie ihm näherkam, roch er ihre Verwesung, hörte die glitschigen Laute, die ihre Kleidung bei jeder Bewegung verursachte, und konnte die Wunden näher inspizieren, als ihm recht war.

Das Gefühl der Übelkeit wurde unerträglich. Jack war sich sicher, wenn die Frau nicht sofort von ihm wich, würde er sie von oben bis unten besudeln. Nicht, dass es noch einen Unterschied gemacht hätte. Eine Verschlimmerung des Anblicks oder des Geruchs schien kaum mehr möglich.

Ihre Hand legte sich um das Glas, hob es an und hinterließ dabei bereits blutige Spuren. Während sie sich wieder von Jack entfernte, rutschte ihr das Glas aus den glitschigen Fingern, wodurch es ihm direkt auf den Schoß fiel. Ein Wasser-Blut-Gemisch breitete sich auf seiner Hose aus, was alleine ausreichte, ihm einen übelkeiterregenden Schauder über den Rücken zu jagen. Doch als er dann auch noch spürte, wie das herausgefallene Auge nun auf seinem Bein ruhte, lief das Fass endgültig über.

Jack schaffte es gerade noch, sich genug vorzubeugen, dass er sich nicht selbst traf, und übergab sich mitten auf seinen leeren Nachbarplatz. So elend er sich dabei auch fühlte, so sehr erleichterte es ihn doch auch, da die Übelkeit mit einem Mal zu schwinden begann. Außerdem gewährte ihm dieses kleine Malheur, sich für ein paar Sekunden lang nicht mit der Stewardess und seinen gelähmten Gedanken beschäftigen zu müssen.

Kaum war sein Magen jedoch leer, richtete er sich schon wieder auf und sah sich der Missbilligung seiner Flugbegleiterin ausgesetzt. „Also so was! Ich habe mich doch entschuldigt! Es gab keinerlei Grund, sich derart aufzuführen, Sir!“

Ungläubig blinzelte Jack. Er glaubte nicht, was er da hörte. Was zum Teufel ging hier vor sich?

„Was ist denn los, Margarete?“ Eine zweite Stewardess trat an den Platz und inspizierte das Geschehen. Im Gegensatz zu ihrer Kollegin sah sie noch verhältnismäßig gut aus. Alle Gliedmaßen waren dran und nur der Körper wirkte hier und da ein wenig eingedellt, außerdem trug sie eine mächtig große Platzwunde an ihrem Kopf mit sich herum, weswegen ihr halbes Gesicht unter dickflüssigem Blut verborgen lag und ihre getränkten Haare regelrecht zusammenklebten.

„Ach du meine Güte, was ist denn passiert?“, fragte die zweite Stewardess.

„Unser verehrter Gast hier hielt es für nötig, auf ein kleines Missgeschick übertrieben reagieren zu müssen. Jetzt dürfen wir die Sauerei wegmachen“, erwiderte Margarete und schaute dabei weiter kritisch durch ihr verbleibendes Auge auf Jack herab.

Dieser wiederum war immer noch zu fassungslos, um irgendetwas zu antworten. Er fühlte sich hundeelend, außerdem überkam ihn das Gefühl, sich jeden Moment wieder übergeben zu müssen, weswegen er stürmisch aufstand, sich irgendwie an den beiden Stewardessen vorbeizwängte – wohlbedacht darauf, sie nicht zu sehr zu berühren, was sich jedoch kaum vermeiden ließ, da sie keine Anstalten machten, einen Schritt beiseite zu gehen – und zum Toilettenraum rannte.

Auf dem Weg dahin stellte Jack fest, dass die Beiden nicht die einzigen Leichen in dem Flugzeug waren. Sämtliche Fluggäste saßen blutüberströmt auf ihren Plätzen, manche mehr, manche weniger stark verletzt. Sein Denken begann bereits sich wieder auszuschalten, weswegen er diesen Umstand nur am Rande registrierte. Deswegen bemerkte er auch nicht, wie sie ihn alle missbilligend betrachteten und die Nase rümpften – so sie denn noch eine hatten –, weil er ihnen mit seiner Aktion den Flug versaute.

Als er an einem ganz besonderen Gast vorbeizog, der aus nicht viel mehr als ein paar zusammengewürfelter Klumpen Fleisch bestand, veranlasste ihn der Anblick, noch schneller zu rennen. Viel war nicht von ihm nicht übrig, ein Stück war grob als Hand auszumachen, ein weiteres stellte die Hälfte eines Schädels dar, der aufrecht auf dem blutigen Sitz hockte und dessen Auge schummrig zu Jack hochsah. Als der halbe Schädel ihm zuzwinkerte, riss Jack die Hand hoch und hielt sie sich vor den Mund, während er immer schneller wurde.

Er schaffte es gerade rechtzeitig zur Kabine, deren Tür er hinter sich zuknallte, ehe er den Klodeckel aufriss, sich hinhockte und auch schon übergab. Mehr als ein bisschen Gallenflüssigkeit würgte er jedoch nicht hervor. Das Wenige, was er im Magen gehabt hatte, lag hinten auf dem Nachbarplatz.

Nachdem sein Magen sich ein paar Mal schmerzhaft verkrampft hatte, ohne noch etwas hochzubringen, beruhigte er sich ein wenig. Das hinderte Jack jedoch nicht daran, das Klo weiterhin zu umarmen und sich zu wünschen, nie wieder von hier weg zu müssen, oder zumindest so lange nicht, bis das Flugzeug endlich gelandet war und er dieser Hölle entkommen konnte.

Entkommen? Du wirst hier nicht mehr rauskommen. Ein schlichter, rationaler Gedanke, dem Jack sogleich Glauben schenkte. Erneut wurde ihm übel, er würgte, verzog vor Schmerzen das Gesicht, doch es kam nichts. Als der Anfall sich wieder legte, atmete er ein paar Mal schwer ein und aus, wobei ihm der unangenehme Geruch von Erbrochenem in die Nase stieg. Um das Risiko zu minimieren, noch einmal zu würgen, richtete er sich auf zittrigen Beinen auf und drehte sich zu dem Waschbecken um.

Ein paar Spritzer Wasser, werden mir guttun. Ja, und was dann? Wieder raus in diesen wahrgewordenen Albtraum? Ich kann das nicht!

Wie zur Antwort, klopfte es plötzlich an der Tür. „Sir? Sind Sie da drinnen?“

Nein, hier ist niemand. Verschwinde einfach. Verschwinde… bitte!

„Sir? Ich muss Sie bitten rauszukommen.“

„Einen Moment!“, rief Jack, drehte das Wasser auf und spritzte es sich ins Gesicht. Ich kann das nicht, widerholte er indes in Gedanken. Er drehte das Wasser ab und hob den Blick in sein Spiegelbild. Sich selbst betrachtend, erschrak er nicht länger.

Du hast es doch die ganze Zeit gewusst, alter Junge, schien es sagen zu wollen.

Ach ja, hatte er das? Möglicherweise. Sehr wahrscheinlich. Im Grunde genommen, ja.

Ein Trümmerfeld. Mehr war nicht von seinem Körper übriggeblieben. Die Brust eingeschlagen, diverse Rippen mussten gebrochen sein und sich schmerzhaft in seine Lungen bohren. Er spürte nichts davon. Das linke Bein knickte in einem seltsamen Winkel ab, weswegen er schief dastand. Die Kleidung lag in ähnlichen Fetzen da wie die Uniform der Stewardess und war genauso blutbesudelt. Immerhin hatte sein Gesicht kaum Schaden genommen, ein paar Schrammen hatte es abbekommen, ansonsten sah es noch recht gut aus.

Wenigstens bleibt mir mein charmantes Lächeln, dachte er bitter.

Im gleichen Augenblick kam die Erinnerung in aller Schrecklichkeit und Klarheit. Wie das Triebwerk ausfiel, der Pilot alles unternahm, um die Maschine und seine Fluggäste noch irgendwie heil zu Boden zu bringen. Eine Notlandung. Tragisch nur, dass sie zu dieser Zeit über eine Bergkette hatten fliegen müssen, die kaum einen guten Landeplatz bot. Sie hatten es alle gewusst, hatten gewusst, dass ihr Ende unausweichlich bevorstand, und dennoch in Todesangst geschrien. Sie hatten sich gegenseitig festgehalten, gebetet, gebangt und gehofft, nur um dann mit ihren Familienmitgliedern zerschmettert zu werden. Oder aber still und allein zu sterben, so wie Jack.

Er sah es deutlich vor sich. Der erste Aufprall. Es hatte nicht schlimmer kommen können. Die rechte Seite des Flugzeuges wurde von einem Bergmassiv aufgerissen, noch während sie mit voller Geschwindigkeit dahinglitten. Dabei waren schon die Hälfte aller Leute rausgeschleudert worden. Wer nicht an den Felsen zerschmettert wurde, den schlitzten die scharfen Metallteile der zerstörten Maschine auf. Ein Unglücklicher landete gar in der noch funktionierenden Turbine und wurde in Stücke gerissen. Die Hälfte seines übriggebliebenen Schädels sollte Jack später zuzwinkern.

Die Maschine raste weiter in ihr Verderben, ungeachtet der Schreie, ungeachtet der Sterbenden. Das Letzte, woran Jack sich deutlich erinnerte, war der letzte fatale Aufprall. Vermutlich waren sie direkt in das nächste Felsmassiv geprallt. Er war aus seinem Sitz hinausgeschleudert worden, wobei sich sein Bein vorher irgendwie verhakt hatte und gegen irgendetwas Hartes geknallt. Der explodierende Schmerz endete bereits wenige Augenblicke später. Er hatte nicht lange leiden müssen.

Ich weiß schon, warum ich das Fliegen hasse…, dachte Jack humorlos, betrachtete sich noch ein paar Sekunden lang im Spiegel und wandte sich dann ab, um die Tür zu öffnen.

Margarete stand dahinter. Auf einmal wirkte sie nicht mehr so böse, sondern eher geschäftsmäßig. „Der Pilot möchte Sie sprechen, Sir.“

„In Ordnung“, erwiderte Jack. Was der Pilot wohl von ihm wollte? Er würde es sicher gleich erfahren. Jetzt, da er sich der Wahrheit wieder gewahr geworden war, empfand er das alles nicht länger so schlimm. Er war tot, so einfach war das. Klar, es gab schönere Vorstellungen vom Leben, aber was sollte man machen? Wenn eine tonnenschwere Flugmaschine in ein Bergmassiv raste, blieb das ungewollte Dahinscheiden nun mal nicht aus, und ändern konnte er ohnehin nichts mehr daran.

Langsam humpelnd schlich er an den anderen Gästen vorbei. Sie sahen ihn nicht länger missbilligend an, rümpften nicht mehr die Nasen. Ganz im Gegenteil, sie machten einen ehrfürchtigen Eindruck. Was hatte das zu bedeuten? Die Stimmung wirkte irgendwie… feierlich, zeremoniell. Jack konnte sich nur nicht erklären warum.

Schlussendlich erreichte er das Cockpit. Plötzlich überkamen ihn Zweifel. Sollte er wirklich einfach eintreten? Was erwartete man von ihm? Wollte er das wirklich wissen? Du bist tot, alter Junge. Gib dir nen Ruck, was hast du schon zu verlieren?

Auch wieder wahr. Selbstsischer öffnete Jack die Tür und trat ein.

„Ah, gut“, posaunte der Pilot sogleich, er war allein, kein Co-Pilot zu sehen. „Meine Ablösung.“

„Ablösung?“, fragte Jack irritiert.

Der Pilot ließ von den diversen Gerätschaften vor sich ab und drehte sich auf seinem Stuhl zu Jack um. Sein gesamter Körper und sein Gesicht bestanden aus nicht viel mehr als einer einzigen, breiigen Masse, die sich entgegen aller Naturgesetze trotzdem noch irgendwie bewegen und reden konnte. „Ganz recht“, erklärte der zertrümmerte Kopf. „Ich brauche eine Pause, deswegen rufe ich hin und wieder einen der Gäste nach vorne, damit sie übernehmen können.“

„Aber… aber ich kann doch gar nicht…“, stammelte Jack.

„Ach was“, winkte der Pilot ab. „Es gibt nicht viel zu beachten. Das Baby fliegt quasi von alleine.“ Er stand auf und bedeutete Jack, sich zu setzen, was dieser zu seinem Entsetzen auch noch machte. War er verrückt geworden? Er und fliegen? Er hasste das Fliegen!

„Und wo soll ich uns hinfliegen?“ Nicht nur, dass Jack sich nicht mit Flugzeugen auskannte. Nein, er hatte auch absolut keine Ahnung, wo eine Horde Untoter schon groß hinsollte.

Gleich darauf spürte er, wie ihm eine fleischige Hand auf die Schulter gelegt wurde, und schauderte. „Wo auch immer Sie hinwollen, mein Junge. Wir sind frei zu fliegen, wohin wir es uns wünschen. Die ganze Welt steht uns offen.“

„Die ganze…?“ Ein seliges Lächeln legte sich auf Jacks Lippen. „Ok, verstanden.“

„Gut so. Rufen Sie, wenn es Probleme geben sollte!“

Doch Jack hörte ihn schon nicht mehr. Er hatte sich ans Steuer gesetzt, und obwohl er keine Ahnung hatte, was es zu tun galt, flog er sicher und ohne Komplikationen die Maschine durch den Luftraum, der allein ihm gehörte. Schon wenig später stellte er fest, welch unglaubliche Glücksgefühle es ihm bereitete, wie sehr es ihn befreite.

Im Leben hatte er das Fliegen gehasst, im Tod lernte er es erst so richtig zu schätzen.

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