
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Vorheriger Teil: Giftgrün
Fassungslos starrte May ihren Seelenwächter an. Sein Blick
verfiel im Gegensatz zu ihrem, außerordentlich ruhig und gelassen aus. So, als
ob es für ihn – trotz des erst kürzlichen Funds jener Phrasen – keine
Überraschung sei, dass gerade May die Auserwählte sei, dessen Bestimmung es ist
Animarum vor diesem Wesen (oder was auch immer die Macht des Seelenreichs missbraucht haben soll) zu
schützen und „allen zukünftigen Seelen den Eintritt und das Leben des Reiches
von Beginn an heimisch und wohltuend zu errichten, sodass kein Vergehen und
keine vergangene Schlacht je wieder an dieses eine Chaos erinnert“, rezitierte
Vincent bereits zum zweiten Mal die letzte Phrase, die mit einbeschloss, dass
die junge Seelenwächterin, tatsächlich die zukünftige Herrscherin sei und ihr
die Verantwortung als baldige Königin oblag. Doch schüttelte May dabei immer
wieder den Kopf. „Das kann nicht sein!“, rekapitulierte sie aufs Neue, während
sie selbst einen Blick in das Buch warf, auch wenn sie nur verzweifelt und aus
reiner Frustration heraus, so tat als ob sie die Zeilen, geschrieben in der
Totensprache, verstand. Zu ihrem Erstaunen, war das Buch für die etwaigen
Epochen, die es gemeinsam mit einer Reihe anderer Bücher in einem hölzernen,
alten Regal verbracht hatte (das Regal der Bibliothek war das einzige
Möbelstück, dessen Aussehen an eine Zeit weit vor ihr und womöglich auch vor
Vincent erinnerte) sehr gut erhalten, wenn gleich kleine, schwarze Brandflecken
von einem – möglich gewillten – Unfall erzählten. Ihr Gegenüber lachte herzhaft
über jenen Versuch, sich selbst ein Bild ihres Schicksals zu machen und nahm
ihr schlussendlich die Geschichte aus den Händen, um es zurück in das Regal zu
tun, in dem auch die restlichen Geschichtsbücher, nach einer kleinen Aufräumaktion
auf die Bitte Calums hin, stattgefunden hatte. Calum war einer von Vincents
Zimmergenossen, der sich in einer Nacht in der Bibliothek aufgehalten hatte, um
sich der Seelensuche besser zu belesen, denn nebst der Geschichte waren auch
Schriften vorhanden, die von einer geeigneten Taktik zum Fang neuer Seelen
berichtete und Tipps gab.
Vincent und die anderen Seelenwächter waren unterrichtet
worden über jene Niederschrift, doch empfand er selbst es als weniger hilfreich
sich Rat von dort einzuholen, zumal die Suche aus eigenem Gefühl und Herzen
erfolgen sollte. So, wie er es auch bei sich und May ebenfalls bei sich selbst
verspürt hatte (obgleich er diese Bindung zwischen May und ihrer neugewonnen
Seele noch immer nicht verstand. Sie war anders. Nicht so, wie er selbst jene
Verbundenheit verspürt hatte, als er May vor ihrem nahestehenden Tod bewahrt
hatte und doch konnte er sich selbst keinen Reim daraus machen, wie es nur sein
konnte). „Deine gespielten Bemühungen die Totensprache zu verstehen, bringen
dich leider nicht viel weiter“, kicherte er, als er sich wieder zu ihr gesetzt
hatte. Ihm ist allerdings nicht ihr trauriger Blick entgangen, den sie
zusätzlich unterstützt durch ihren gesenkten Kopf, aufgesetzt hatte. Auch wenn
sie es sich selbst nicht eingestehen wollte: Vincent hatte Recht. Jedoch lag
sein Recht nicht allein in der Tatsache, dass sie die Sprache der Seelenwächter
und Seelen noch nicht beherrschte, nein. Sein Recht lag ebenso in dem
unausweichlichen Fall, dass sie (so sehr sie auch sich wünschte, es wäre ein Fehler
gewesen, der in der damaligen Zeit durch Tinte und einer spitzen Schreibfeder
geschrieben worden war) diejenige war, dessen aufkommendes Ereignis es war sich
einer Königin zu stellen, welche – im Gegensatz zu May selbst – bereits für
mehrere, untergegangen Sonnen herrschen musste. „Ich kann mich ihr nicht
stellen… Das muss ein Irrtum sein, ein Fehler in der Niederschrift“, erklärte
May mit schleichender Hoffnung in der Stimme und hoffte inständig, dass sich
jene durch seine begleitenden Worte bestätigen würden. Dennoch widerlegte er
jene durch zwei einfache Phrasen, die (anders, als die Phrasen zuvor) mit solch
einer Richtigkeit und solch einer Überzeugung von seinen Lippen gingen,
wodurch die Hoffnung des Mädchens endgültig in tausend Teile zerbrach.
Vergleichbar mit einem schönen, fröhlich aussehenden Bildnis aus Glas, welches
vor wenigen Augenblicken noch eine heile, andere und weitaus bessere Welt präsentierte und im
nächsten Moment lagen Scherben in Form von restloser, kämpfender Hoffnung in
unzählbaren, kleinen Splittern auf dem harten Boden der Realität, welche
unterstreicht von den hellen Strahlen einer weit entfernten Sonne, ihr
zerstörtes Aussehen abermals hervorhoben.
„So steht es geschrieben und glaube mir: Ich lüge nicht,
wenn ich dir sage, was deine baldige Bestimmung ist. Eher würde ich sterben,
als dein jetziges Dasein mit einer Lüge zu unterstreichen, in welcher du bis zum
kommenden Tag gefangen wärst“, hatte Vincent ihr klargemacht. May schenkte
seinen Worten sofort glauben. Selbstverständlich war es heikel jedem zu
vertrauen, den man erst vor nicht allzu langer Zeit kennengelernt hatte, doch
strahlte sein Blick etwas aus, das sie rein automatisch vertrauen ließ, ohne
dass sie an seine Aussage auch nur eine Sekunde zweifeln musste.
Eine lange Zeit sagte May nichts. Vincent hörte in ihren
Gedanken, dass sie Angst hatte. Angst davor vor seinen Augen zu versagen und
gemeinsam mit all den anderen gescheiterten Seelen (aus Vergangenheit und
Gegenwart; mit denen, die die Prüfung zum Seelenwächter nicht bestanden hatten
und denen, die im bevorstehenden, unausweichlichen Krieg womöglich sterben werden) in
einer Welt zu leben, dessen eigentlicher Lebenswillen für immer ausgeschaltet
war und sie ihr Dasein allein im ewigen Schlaf verbringen würde. Ihr
Seelenwächter sah erschreckende Bilder voll Qualen, Furcht und Schmerz, in
dessen bloßen Vorstellung May – einsam und von allen anderen, dunklen und toten Seelen umgeben – um Gnade und
Verzeihung schrie. Um Verständnis und Bitte, ihr ihr Leben zu lassen. Seine
Hand, welche automatisch nach der ihren getastet hatte, umklammerte sich fest
um ihre eigene und drückte sie in einem warmen und festen Griff, der ihr
zeigte, dass sie nicht alleine war. „Zusammen“, brachte er als einziges Wort
heraus. Mehr brauchte es nicht, um die Lippen seiner Seele zu einem
aufmunternden (wenn auch leichten) Lächeln zu bringen. Die orangen Strahlen der
untergehenden Sonne, zeigten beiden an, dass es allmählich Zeit war ein
erneutes Mal aufzubrechen. „Den
verletzten, verkümmerten Wesen ein neues zu Hause zu verschaffen“, wie Regina es wohl aus ihrem eigenem Sprechorgan
herausformulieren würde, dachte May, während sie hinaus aus der Bücherei
schritt, in den großen, langen Flur, in dem sich der Brunnen befand, den sie am
Tag ihrer Ankunft mit solch einer Faszination und staunen betrachtet hatte,
dass sie hin und wieder dieses dringende Bedürfnis bekam ihre Hand hineinzutauchen.
Einst hatte sie Vincent gefragt, was wohl geschehen würde, wenn sie dem
Bedürfnis nachgeben würde, doch dieser hatte nur mit einem unsicheren Achselzucken
geantwortet. Es war das erste Mal, dass May erlebt hatte, dass ihr Begleiter
selbst nicht wusste, was bei solch einer Probe passieren würde. Lediglich hatte
er die vage Vermutung angestellt, dass man bei der Berührung dieses Brunnens (sei
es auch nur mit der bloßen Fingerspitze), sein Leben weit vor seiner eigenen
Verwandlung zur Seele sehen könnte. Doch dieses Leben soll einem in einer
außerordentlichen Absurdität und in solch einer regelrechten „Schreckensvision“
repräsentiert werden, dass man für immer dazu verdammt sei jenes Leben in
Erinnerung und in unregelmäßigen Zeitfenstern vor Augen zu haben. „Man ist
gezwungen nicht im Jetzt zu leben und auch nicht in einer plausiblen
Vergangenheit, sondern in einer Welt, die man mit der Zeit gezwungen ist als
neues zu Hause zu definieren. Andernfalls würde man unter dem großen, abnormalem
Druck, den dein Schädel zu verarbeiten hat vollends zerfallen und sein
gesamtes Dasein, bis zum selbsteingeleiteten Tod, in Angst und emotionalem
Chaos fristen“, war Vincent damals bemüht es so verständlich und klar in
einfachen Worten zu formulieren. „Doch meine Erklärung leitet sich aus einer
Vermutung zusammen, die nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen muss“,
ergänzte er, um die aufsteigende Angst in May zu nehmen.
Die Nacht selbst verlief ruhig und ohne weitere seltsame
Ereignisse. Vincent hatte heute zwei gute Seelen unter seine Fittische
aufgenommen, während May aufgrund der zugehörigen Schmerzen und dem
darauffolgenden Druck, nur eine schaffte. Natürlich hatte er sie dahingehend
unterstützt. Ihr durch seine bekannte Gedankentelepathie die Möglichkeit
offenbart mit den Schmerzen einigermaßen umzugehen, indem sie versuchen sollte
ruhig zu bleiben und sich fest und ganz auf ihr Ziel zu konzentrieren. May
bedankte sich nach dem Fang ihrer Seele sichtlich erschöpft bei
Vincent, während dieser eben jenes Lächeln unter derselben gezeichneten
Erschöpfung nur erwidern konnte. Am Ende brachte er sie zuerst zurück in ihr
Schlafgemach, damit sie dort im gedämmten Licht der aufgehenden Sonne zu Ruhe
kommen konnte. Danach brachte er die drei Seelen (zwei waren Jungs gewesen, die
etwa seinem eigenem Alter zu Lebzeiten entsprachen und ein Geist gehörte dem früher
noch lebendem Körper einer Frau an, die noch vor ihrem nahestehendem Tod Mitte
20 sein musste) ebenfalls nach Animarum. Als er selbst schlussendlich wieder im Reich Animarum war,
wollte er sich – von seiner stärker gewordenen Erschöpfung begleitet – selbst in
sein Gemach begeben, als er im Ansatz der ersten Treppenstufen einen überaus
gequälten und schmerzvollen Schrei hörte, der ihn in einen ekelerregenden
Schauer versetzte und sein langsam schlagendes Herz für gefühlte tausende untergehenden
Sonnen aussetzen ließ. Ohne sich einer möglichen Folge aus seinem plötzlichen
Handeln bewusst zu sein, folgte er mit schnellen Schritten den Schreien, bis er
sich vor dem Büro seiner Herrin befand. Zu seinem Glück, war die Tür nicht
verschlossen, weshalb er nur sehr leise und unter höchster Vorsicht einen
kleinen Spalt öffnete, um hineinschauen zu können. Doch eben jenes Szenario
ließ sein Faustgroßes Organ und seinen immateriellen Körper mit einem solchen
Schock durchfahren, wie er ihn noch nie erlebt hatte: Unter den abwertenden und
zu gleich widerspenstigen Blicken seiner Herrin und das ihrer beiden,
großgebauten Wächter, sah er mit an wie sie die Seele des Jungen folterte,
welche Vincent gleich nach der Ankunft Mays an jenem Abend vorbeigebracht
hatte. Zu allem Überfluss waren es die Schreie eines 9-jährigen, die er mit
seinen eigenen Ohren mit anhören musste. Die kindliche Seele windete sich vor
unerträglicher Pein. Schrie mit jedem Mal immer lauter, verkrampfte sich und
schien etwas aus seinen Augen auszusondern, dass Tränen gleichkam und doch schmierig und schleimig seine Haut entlang lief. Der
erfahrene Seelenwächter spürte die Angst und die Schmerzen seiner eigenen
Seele, doch gleichermaßen die Wut und die Kontrolle, welche Regina über ihr
Opfer hatte. Diese Macht, welche sich in Form eben jener Aggressivität und dem
absichtlichen Wunsch, ihrem Opfer zu schaden, war um Welten stärker als Vincent
selbst, der verzweifelt versuchte zur ihr durchzudringen und dem Jungen zu
helfen.
Jedoch entgegen allen Bemühungen stand er mit seiner Telepathie
vor einer Art psycho-magnetischen Wand, die es für ihn unmöglich machte eben
jene zu durchdringen und seiner Seele zu helfen. Noch dazu, war nur
schwach die wenige Kraft vorhanden, die er noch von seiner Seelensuche
aufzubringen hatte. Die gepeinigten Schreie des Jungen verstummten auf einmal abrupt und
auch die verkrampften Bewegungen schienen mit letzten Zuckungen ein Ende zu
nehmen, als eben jener kindliche Geist sich aufrichtete und seinen Begleiter
und gleichzeitigen Wächter erblickte und ihm mit einem breiten, und nach
verfaulten Kadavern riechendem, Lächeln entgegenkam. Von blanker Panik
ergriffen, war Vincent nicht in der Lage seine immateriellen Körperteile zu
bewegen oder etwas von seinen Lippen zu bringen. Alles, wozu sein nichtvorhandener
Corpus ihn antrieb war es, die sich nährende Seele zu beobachten und seinem Ende
mit einem einzigen Griff entgegenzustellen, während sich dessen Hand mit
langsamen doch bestimmten Bewegungen nach dem Wächter labte…
Die Worte der kindlichen Seele klangen wie aus einer fernen
Welt, als eben diese mit einer wirkungsvollen, hypnotisierenden Phrase Vincent
dazu verlieh sich endlich zu regen: „Werde
einer von uns, unwürdiger Wächter verlorengeglaubter Seelen!“
Nächster Teil: Schmerzendestürkis