KreaturenLange

Hüter des Verfalls: Bahnhof

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Ich hatte schon immer eine besondere Beziehung zu stillgelegten
Bahnhöfen. Das mag jetzt für den ein oder anderen ein wenig eigenartig
klingen, aber im Grunde ist es doch gut nachvollziehbar. Was gibt es
poetischeres als einen Ort, der einst eine Hauptader des Lebens gewesen
war und der hunderte und tausende von Menschen an ihr Ziel gebracht
hatte. Ein wahrer Brennpunkt aus Emotionen: Dem nervösen Bauchgrummeln
vor dem Vorstellungsgespräch, der Uniprüfung oder dem ersten Arbeitstag,
dem aufregenden Kribbeln vor dem ersten Date, der Vorfreude auf einen
langen und entspannenden Urlaub oder der Traurigkeit auf der ewig
scheinenden Heimreise nach einer schmerzlichen Trennung. Ein Ort, der
einst so voller Leben war und der nun als rostiges und sinnloses Relikt
seiner einstigen Bedeutsamkeit die Landschaft verschandelt.

In dieser Hinsicht war der Bahnhof auf dem ich mich gerade befand
geradezu archetypisch. Von Gras und Unkraut überwucherte, rostrote und
oftmals ins Nichts führende Gleise lagen wie gebrochene Knochen herum.
Jahrzehntealter Müll in Form von Trinkpäckchen, Zigaretten,
Getränkedosen und Flaschen breitete sich vergilbt und verblichen über
die gesamte Landschaft aus und diente gelegentlich Asseln,
Tausendfüsslern und anderen Insekten als Habitat. Und das
Bahnhofsgebäude selbst war ebenfalls zu einer rostigen und ausgehöhlten
Ruine verkommen, die bedrohlich im rötlichen Licht der untergehenden
Sonne vor mir aufragte.

Eine plötzlich heraufziehende Windböe wirbelte ein paar alte
Zigarrettenpackungen herum und ließ mich frösteln. Es war erst Ende März
und ich hatte dummerweise für meinen Ausflug keine Jacke eingepackt.
Dafür war die Idee, dem alten Bahnhof einen Besuch abzustatten wohl
einfach zu spontan gekommen. Ich hatte schon vor einiger Zeit in einer
Community für Lost Places von diesem Bahnhof gelesen, doch erst heute
hatte sich die Gelegenheit ergeben und so stand ich nun vor dem
Bahnhofsgebäude, aus dem vor gut Dreißig Jahren der letzte Zug seine
Fahrt gestartet hatte. Tragischerweise hatte ausgerechnet eine dieser
letzten Fahrten in einer Katastrophe geendet. Der hoffnungslos
überalterte Zug entgleiste bereits nach wenigen Kilometern und brachte –
neben vielen Verletzten – 137 Menschen den Tod. Unter ihnen auch einige
Kinder. All ihre Träume, Erwartungen und Ängste begannen und endeten
noch in Sichtweite dieses Bahnhofs. Das war zwar nicht der Grund für
seine Stillegung – dafür war der schönere, größere und modernere Bahnhof
verantwortlich, über den die Strecke nun führen sollte – aber nach
dieser Tragödie weinte ihm niemand auch nur eine Träne nach.

Diese düstere Geschichte begleitete mich bei jedem meiner Schritte
entlang der verfallenen Gleisen. Der Wind und die Kälte zerrten an
meiner Entschlossenheit, aber immerhin regnete es nicht und so ließ ich
mich auf meinem Weg zum alten Bahnhofsgebäude nicht entmutigen und
schloss stattdessen eine Reihe Fotos, von denen bestimmt am Ende einige
all die Mühen wert sein würden.

Seltsamerweise entdeckte ich um so mehr Müll, je näher ich dem
Bahnhof kam. Inzwischen nicht mehr nur Plastik, Blech und Glas, sondern
auch alte Bananenschalen, weggeworfene Äpfel, angebissene und gamlige
Butterbrote und weitere Unapptetitlichkeiten. Es war fast als hätte
jemand eine Spur aus Müll gelegt, die direkt zum Bahnhof führte. Ich
musste kurz an das Märchen von Hänsel und Gretel denken, auch wenn
Brotkrumen eine weitaus angenehmere Markierung waren. Um nicht jedes mal
in irgendetwas ekliges zu treten, musste ich mit der Zeit ziemlich
kreativ werden. Seltsamerweise waren die Schienen selbst beinahe
Müllfrei, weswegen ich mich letztlich entschied lieber auf ihnen zu
laufen, statt Slalom durch den Müll zu laufen.

Natürlich hätte ich versuchen können noch weiter Abseits der schienen
zu gehen, aber dort wuchsen dichte Dornenbüsche und anderes Gestrüpp
und es wäre noch anstrengender sich hindurchzukämpfen. Also wählte ich
die Schienen. Es war irgendwie ein seltsames Gefühl und ich konnte nicht
verhindern, dass ich mich hin und wieder umsah oder auf die Geräusche
eines herannahenden Zugs wartete, obwohl auf diesen Gleisen schon lang
keiner mehr gefahren war. Trotzdem glaubt ich ein oder zwei mal
tatsächlich ein fernes vibrieren zu hören. Wahrscheinlich ist die Angst
von Zügen überfahren zu werden im modernen Menschen einfach zu tief
verwurzelt. So tief wie die unserer Vorfahren vor Löwen oder Wölfen. Und
immerhin ist die Aussicht von mehreren Tonnen Metall zerquetscht zu
werden ja auch nicht gerade erstrebenswert.

Nach einer Weile konnte ich aber dem Drang mich umzudrehen
wiederstehen und ehe ich mich versah ragte das aufgegebene
Bahnhofsgebäude düster vor mir auf. Die Sonne war bereits zur Hälfte
hinter dem Horizont versunken und das rötliche Licht verlieh dem alten
Gebäude etwas bedrohliches. Trotzdem schoß ich erneut einige Fotos.
Bedrohlich war immerhin besser als langweilig. Durch den versiegelten
Haupteingang gab es kein durchkommen, also folgte ich den Schienen in
den Bahnhof hinein. Drinnen war es bereits ein ganzes Stück dunkler als
vor dem Gebäude, da das Dämmerlicht nur durch die überwiegend blinden
und gelegentlich zersplitterten Fenster eindringen konnte. Trotzdem
konnte ich die beeindruckend hohe Decke sehen, von der bereits einige
Ziegel heruntergefallen waren. Es war hier drin vollkommen still. Hatte
ich draußen noch das Zirpen von Grillen oder die Geräusche der fernen
Autobahn gehört, gab es im Bahnhof nur meinen Herzschlag und ab und an
das verstörende Geräusch des Windes, der sich seinen Weg durch alle
Ritzen und Öffnungen des alten Gebäudes bahnte.

Ich kletterte an der Bahnsteigkante hoch, wobei ich mir gleich an
einem scharfkantigen Stein meine Jeanshose zeriss und mir eine – zum
Glück nur recht oberflächliche – Schürfwunde zuzog. Trotzdem schaffte
ich es hinaufzugelangen und sah mich noch einmal etwas genauer um. Auf
dem Bahnsteig, auf dem ich mich nun befand, standen noch immer Sitzbänke
und eine dreckige und verschmierte Wartekabine. Auf dem Boden lagen
Zeitungen, Dosen und weiterer Müll und auch die Mülltonnen neben den
Bänken quollen vor Abfall über. Soweit ich es erkennen konnte, sah es
auf den vier anderen Bahnsteigen nicht anders aus. Mit einem einzigen
Unterschied.

Während neun der Gleise erwartungsgemäß leer waren, befand sich auf
Gleis ganz offensichtlich ein Zug. Soweit ich ihn erkennen konnte,
handelte es sich um eine arg mitgenommene Regionalbahn, die sicher schon
bessere Tage gesehen hatte. Trotzdem war ich überrascht hier überhaupt
einen Zug vorzufinden. Eigentlich hätten sie doch alle aus dem Bahnhof
befördert oder notfalls demontiert werden sollen. Allein schon wegen des
Materialwerts. Aber egal, auf diese Weise versprach mein kleiner
Ausflug noch interessanter zu werden als gedacht. Vielleicht schaffte
ich es ja sogar in den Zug zu gelangen und ihn mir von innen anzusehen.

Ich ging also in Richtung Treppe, um zum entsprechenden Gleis zu
gelangen. Die Treppe machte dabei keinen besonders guten Eindruck. Von
unten zog mir ein etwas fauliger Geruch entgegen und der graue Stein der
Treppenstufen war bereits an mehreren Stellen stark abgebröckelt. Bei
zwei Stufen war es so schlimm, dass sie praktisch nicht mehr vorhanden
war, weswegen ich sie mit einem einzigen großen Schritt überbrücken
musste. Dabei wünschte ich mir, dass ich mein Sportprogramm etwas
gewissenhafter durchgezogen hätte. Vor allem die Dehnübungen hätten mir
hier sicher geholfen. Trotzdem kann ich, zwar voller Adrenalin und mit
einigen Schweisstropfen, aber dennoch heil unten an. Der Geruch war dort
sogar noch intensiver. Es roch nach verdorbenen Lebensmitteln,
ungewaschener Haut, Urin und anderen wenig angenehmen Dingen.

Noch immer war es auszuhalten, aber trotzdem breitete sich eine
latente Übelkeit in mir aus. Um die Quelle des Geruchs ausfindig zu
machen, schaltete ich die Taschenlampenfunktion meines Handys an, wobei
ich zuvor noch bemerkte, dass ich hier absolut keinen Empfang zu haben
schien. In irgendeinem entlegenen Fleckchen Erde wäre das ja nicht
verwunderlich gewesen, aber auch wenn dieser Bahnhof verlassen war und
sich in seiner direkten Umgebung keine Wohnhäuser oder Geschäfte
befanden, war er doch Teil einer Stadt. Zumindest etwas Empfang sollte
man da doch erwarten. Aber über die defizitie des örtlichen Handynetzes
konnte ich mich später beschweren. Stattdessen suchte ich mit dem hellen
Lichtstrahl nach der Quelle des ekelhaften Geruchs.

Eigenartigerweise fand ich aber nichts. Zwar war Korridor
erwartungsgemäß schmutzig, staubig und heruntergekommen, überall lagen
verstreute Schutthaufen und es gab auch kleine Pfützen an jene Stellen,
wo das Dach nicht mehr dicht war. Aber es gab nichts, was diesen Gestank
rechtfertigte.

Letztlich entdeckte ich zumindest einige herumliegende Dosen,
Flaschen, Zigarettenkippen und zerknüllte Zeitungen, die in einer beinah
geraden Linie angeordnet waren und genau in die Richtung führten, in
der sich Gleis 10 befand. Erneut musste ich an Hänsel und Gretel denken.
Hatten sich hier irgendwelche Bahnangestellten einen letzten Scherz
erlaubt, bevor der Bahnhof aufgegeben worden war?

Schritt für Schritt folgte ich der Spur, wobei ich sorgsam auf jeden
meiner Schritte achtete, um nicht in der Dunkelheit über irgendetwas zu
stolpern. Endlich fand ich den Aufgang zum Bahnsteig von Gleis 10 ganz
am Ende des Bahnhofs. Anders als manch anderer Bahnhof besaß dieser nur
einen Eingang und endete an dieser Seite mit einer massiven Mauer. Auf
eben diese Mauer fiel der Lichtstrahl meines Smartphones als ich in
Richtung des Aufgangs abbog und legte einen mit Kreide oder Stein an die
Wand geschriebenen Buchstaben frei. Ein großes weiße „h“ und dahinter
ein Ausrufezeichen. Das Schwenken meiner Taschenlampe legte mir die
ganze Botschaft offen, die dort geschrieben stand:

„Rette Dich! Sie sind schrecklich!“

Was sollte das bedeuten? Wer hatte das geschrieben? Und wann? War das
irgendein blöder Scherz? Die Fragen drehten sich in meinem Kopf und
gaben einer unbestimmten uralten Angst tief in meinem Bauch Nahrung, die
endgültig die Oberhand zu gewinnen drohte, als ich auf dem Boden eine
zerissene Lederjacke und einen weißen Turnschuh fand. Auf dem Turnschuh
waren eindeutig Blutstropfen und entlang der Risse auf der Jacke hatte
sich ein dicker weißlicher Schimmelflaum gebildet. NUR entlang der
Risse.

Wahrscheinlich gab es irgendeine logische Erklärung für all das, aber
inmitten des stillen verfallenen Bahnhofs kurz vor dem Einbruch der
Nacht, fiel sie mir ums verrecken nicht ein. Stattdessen riet mir eine
innere Stimme das Gebäude schleunigst wieder zu verlassen. Beinah hätte
ich es auch getan und den Rest des Sonntags gemütlich auf der Couch vor
dem Fernseher verbracht, aber letztlich siegten Neugier und
Abenteuerlust. Aus welchem Grund hatte ich die Reise denn sonst
unternommen, wenn nicht um Geheimnisse zu ergründen? Eigentlich war das
doch ein riesiger Glücksfall. Ich nahm also all meinen Mut zusammen und
ging die Stufen zum Bahnsteig hinauf, wobei ich – als Zugeständnis an
die warnende Stimme in meinem Kopf – einen herumliegenden großen und
scharfkantigen Stein mitnahm. Auch wenn ich nicht wusste, wozu ich ihn
gebrauchen sollte, beruhigte mich das Gewicht in meiner rechten Hand
doch wenigstens genug, um die nächsten Schritte zu wagen. Die Treppe war
in einem besseren Zustand als die erste, weswegen mir der Aufstieg
problemlos gelang.

Inzwischen war es auch Oben so gut wie dunkel. Die Sonne musste
mittlerweile untergegangen sein, aber da beinahe Vollmond war, drang
noch etwas silbriges Licht durch die gesprungenen Fenster und ließ mich
auch ohne die Taschenlampe die Umrisse des Zuges erkennen. Der üble
Geruch war inzwischen noch intensiver geworden und schien irgendwie von
dem Zug auszugehen. Trotzdem trat ich noch näher und beleuchtete den
Wagon vor mir mit meiner Taschenlampe. Der Zug war anscheinend einstmals
rot gewesen, war aber nun ausgeblichen und eher rosa. Hier und da waren
Graffitis in grellen Farben auf den Wagon gesprüht. Die meisten davon
konnte ich beim besten Willen nicht entziffern. Mit einer Ausnahme.

Links von der Eingangstür hatte jemand hastig die Worte „Hüte dich
vor den Hütern!“ gesprüht. Erneut bohrte sich eine winzige Klinge aus
eisiger Angst in mein Herz und es kostete mich einige Willenskraft, dem
Drang zur Umkehr zu widerstehen. Bevor mich der Mut verließ, drückte ich
die Klinke an der Einstiegstür herunter und zog mit aller Kraft daran.
Zu meiner großen Überraschung ging sie mühelos auf. Sofort schlug mir
ein Schwall übelriechender feuchter Luft entgegen und ich musste dem
Reflex widerstehen, mich sofort zu übergegen. Ich zog den Kragen meines
T-Shirts als kümmerlichen Ersatz für eine Atemmaske über meine Nase und
stieg in den Zug ein. Durch meine dünnen Schuhe fühlte ich sofort den
dicken weichen Teppich mit dem der Zug ausgestattet war. Ich konnte mich
nicht erinnern einen solchen Boden schon einmal bei einem modernen Zug
gesehen zu haben. Ansonsten war eigentlich alles so wie man es
erwartete.

Ein enger Gang, mehrere Sitzreihen mit grün gepolsterten Sitzen…
Moment mal. Waren die nicht normalerweise blau oder vielleicht noch
grau? Ich ging näher auf einen der Zweierplätze zu und leuchtete darauf.
Ekel stieg in mir auf, alls ich an einigen Stellen unter dem
vermeintlich grünen Sitzpolster blasse blaue Flecken durchscheinen sah.
Bei dem grünen Überzug handelte es sich keinesfalls um ein Sitzbezug,
wie ich zuvor angenommen hatte. Vielmehr war das einfach nur Schimmel,
dick gewachsen wie ein Polster. Erneut meldete sich in mir ein
instinktiver Würgereflex und Magensäure kroch brennend meine Kehle hoch.
Nur ebenso schaffte ich es mich nicht selbst zu besudeln. Dieser Erfolg
an Selbstbeherrschung wurde aber zunichte gemacht, als ich mir als
nächstes den „Teppich“ ansah.

Auch er bestand aus einem dichten weichen Schimmelflaum, dessen
sporen bei jedem meiner Schritte aufgewirbelt wurden. Nun konnte ich
nicht verhindern, dass ich mich direkt auf meine Schuhe übergab.
Immerhin brachte ich es noch zustande zuvor mein T-Shirt wegzuziehen,
aber dafür stieg mir der Geruch auch wieder voll in die Nase, was meinen
Brechreiz nur noch steigerte. Als mein Brechreiz endlich abgeklungen
war, gab es für mich nur noch einen Wunsch: Raus hier! Diese
Gesundheitsgefahr war wirklich kein Abenteuer der Welt wert. Doch fast
im selben Augenblick hörte ich, wie die Türen sich verriegelten und der
Zug sich rappelt in Bewegung setzte. Verzweifet rüttelte ich an der
verrosteten Tür, aber es tat sich nichts. Der Zug nahm nach und nach an
Geschwindigkeit auf und mir blieb nichts as abzuwarten, wohin dieser
schimmelverseuchte Zug mich bringen würde.

Wie zum Teufel bewegte er sich überhaupt? Hier funktionierte schon
lange nichts mehr. Auch die Oberleitungen waren an mehreren Stellen
gerissen. Der Zug konnte gar nicht fahren. Und dennoch tat er genau das.
Durch die schmierigen Fenster sah ich im Mondlicht den Bahnhof und
danach Gestrüp und Bäume an mir vorbeiziehen. Das musste ein Traum sein.
Das konnte einfach nur ein Traum sein. Aber ich hatte andererseits noch
nie von Träumen gehört, die so erbärmlich stanken.

Resigniert beschloss ich mich durch den Zug zu bewegen, um zu
schauen, ob es irgendwo etwas weniger eklig war. Aber das nächste Abteil
sah nicht viel besser aus als dieses. Auch hier gab es überall unmengen
von Schimmel und Schmutz und noch dazu quollen auch die hin und wieder
an den Seiten angebrachten Mülleimer vor Unrat über. Meine Verzweiflung
und mein Ekel wuchsen und ich hatte das ungute Gefühl meine Lunge nach
dieser Fahrt gleich im Sondermüll entsorgen zu müssen. Falls ich hier
noch rauskam. Das ließ sich bei uralten Zügen die auf magische Weise
anscheinend von Selbst losfuhren wohl nicht mit Sicherheit sagen.

Beim dritten Abteil wurde ich aber positiv überrascht. Zwar war auch
hier noch der eklige Geruch wahrzunehmen und die Sitze waren feucht und
voller Stockflecken, aber immerhin hatte der Boden keinen widerlichen
Teppich und auch die Sitze waren nicht bewachsen. Zumindest die meisten.

So sehr es mir widerstrebte, aber am Ende überwand ich mich, mich auf
einen der Sitze niederzulassen, der zwar zerfleddert aber noch
verhältnismäßig sauber aussah. Trotzdem fühlte ich die ekelhafte
Feuchtigkeit durch meine Hose und mein T-Shirt und versuchte mich
dadurch abzulenken, dass ich der nächtlichen Landschaft beim
Vorbeiziehen zusah. Irgendwann würde der Zug anhalten müssen, dachte ich
noch. Dann schlief ich ein.

Ich erwachte durch den klang einer schrillen und eigenartigen Stimme: „Guten Abend. Ihre Fahrkarte bitte.“

Einen süßen Moment lang dachte ich noch, dass ich alles nur geträumt
hatte und lediglich in einem modernen und normalen Zug eingeschlafen
war. Dann aber öffnete ich die Augen und die schöne Illusion zerstob wie
Morgennebel unter der Wüstensonne. Ich sah in ein blaßes, dünnes und
hässliches Gesicht. Der vermeintliche Kontrolleur besaß keine wirklichen
Lippen, sondern nur spitze weiße Zähne, die selbst im fahlen Mondlicht
blitzten. Seine Haut war gräulich und wirkte dünn und trocken wie altes
Pergament. Aus seinem Kopf sproßen nur ein paar wenige strähnige Haare
und er stank noch schlimmer als die beiden ersten Zugabteile zusammen.
Seine Hände waren lange dünne Klauen, die in ungeschnittenen gelblichen
Fingernägeln endete. Vor allem aber sagte mir ein uralter Instinkt, dass
er kein Mensch war. Nicht einmal ein alter, hässlicher und
heruntergekommener.

Dieses Wissen gab mir die Kraft blitzartig aufzustehen und die dürre
Kreatur aus dem Weg zu schieben. Eigentlich hatte ich erwartet, dass das
sehr einfach werden würde, aber meine Schulter fühlte sich danach
beinah an als wäre sie gegen massiven Stahl geprallt. So zerbrechlich
wie es aussah war das Wesen offensichtlich nicht. Jedenfalls rannte ich
in Richtung des nächsten Abteils, auch wenn mir klar war, dass ich in
einem Zug nicht so einfach davonlaufen konnte. Mein Überlebensinstinkt
verlangte von mir es zumindest zu versuchen. Hinter mir rief das
ekelhafte Ding erneut „Ihre Fahrkarte! Bleiben Sie stehen. Ich will Ihre
Fahrkarte sehen!“ Ich hörte seine Schritte bereits hinter mir näher
kommen. Hektisch drückte und fummelte ich an der Tür des Abteils herum,
während das rumpeln des eigentlich ausrangierten Zuges in meinen Ohren
dröhnte. Trotzdem wusste ich, dass dieses Ding bald bei mir sein würde.
Endlich hatte ich die Tür geöffnet und schloss sie gerade noch bevor
mich die Kreatur erreichen konnte. Seltsamerweise versuchte sie gar
nicht mir ins Abteil zu folgen. Und als ich mich in den – mit einem mal
von gedämpftem gelben Licht erleuchteten – Abteil umsah, wusste ich auch
warum.

Dieser Teil des Zuges war wohl einst eine Art Boardbistro gewesen. Es
gab eine kleine Theke und mehrere Tische. Und an diesen Tischen saß
sicher ein dutzend Wesen die genauso aussahen wie der abscheuliche
Fahrkartenkontrolleur. Einige von ihnen trugen zerfetze Kleider –
Anzüge, Uniformen von Bahnangestelten, Shirts – die meisten waren aber
nackt. Sie alle waren dürr, lippenlos und fast kahl und zwei von ihnen
zeigten mit ihren dünnen Mündern ein ekelhaftes breites Lächeln, dessen
bloßer Anblick etwas in mir zerstörte. Sie machten aber immerhin
zunächst keine Anstalten mich anzugreifen, sondern stopften seelenruhig
seit Jahren verdorbenen Kuchen, pelzige Suppe und Kaffee, in dem dicke
Schimmelstücke schwammen, in sich hinein. Einer kaute auch an etwas, das
verdächtig nach einem mit Maden durchzogenen menschlichen Bein aussah.
Ich musste sofort an den herrenlosen Schuh an der Treppe zu Gleis 10
denken. Es war alles in allem so ziemlich das ekelhafteste, was ich je
zu Gesicht bekommen hatte und der Gestank hier drin war grauenhaft. Ein
paar Herzschläge gab es nur schmatzende Gestalten und lächelnde
Gesichter.

Dann aber erhob sich eine der Gestalten – es war der größte von Ihnen
– und nahm sich ein rostiges, auf dem Tisch liegendes Messer. „Du hast
keine Fahrkarte.“ zischte die abscheuliche Gestalt. „Du musst
verschwinden oder mit uns essen.“ Diese Wahl fiel mir nicht schwer.
„Dann verschwinde ich einfach. Haltet nur kurz den Zug an und ich komme
nie wieder her.“ Das Wesen lächelte und schütelte leicht den grotesken
Kopf, während es erneut einige Schritte auf mich zuging. „Du verstehst
nicht. Du bist ohne Fahrkarte eingestiegen. Deshalb musst du mit uns
essen. Oder verschwinden!“ Er fuhr sich zur Erläuterung mit dem Messer
über die Kehle und nun begriff auch ich überdeutlich, wovon er sprach.
„Ich kann das nicht essen. Das ist ekelhaft! Und es wird mich krank
machen!“ schrieb ich in Panik, doch in den Augen des Wesens und seiner
Gefährten zeigte sich nicht die geringste Spur von Mitleid. „Also wirst
du verschwinden.“ Es klang wie eine Feststellung. Ohne jede Emotion.
Sogar ohne Boshaftigkeit. In mir allerdings kochten die Emotionen hoch,
während mir das Wesen noch näher kam und ich genau die blauen Augen in
dem pergamentartigen Gesicht sehen konnte. Ganz besonders die
Todesangst. „Lasst ihr mich gehen, wenn ich esse?“

Das Wesen blieb stehen und sah aus als würde es überlegen. „Ja.“
sagte es schließlich. „Aber nur, wenn du alles aufisst. Setz dich!“
befahl das Ding mit gebieterischer Stimme und anscheinend hatte ich
keine andere Wahl, auch wenn sich mir schon jetzt der Magen umdrehte.
Dennoch schob ich mich schweren Herzens an den widerlichen Wesen vorbei,
um den einzigen freien Platz in dem verfallenen Boardbistro
einzunehmen. Auch wenn ich peinlichst genau darauf achte, keines von den
dürren Monstern zu berühren, konnte ich doch nicht vermeiden das ein
oder andere mal einen trockenen Arm, oder einen nackten Oberkörper zu
streifen. Eines der Wesen machte daraufhin sogar eine anzügliche Geste
und Griff mir in den Schritt, was mich beinah erneut zum Kotzen gebracht
hätte.

Letztendlich fand ich mich aber auf meinem Platz wieder. Vor mir eine
verrotete Tischdecke und ein vergammeltes schleimiges Stück graugrüner
Torte auf einem halb gesprungenen Teller. Von dem Tortenstück ging ein
stechender Geruch aus. Hind und wieder sah ich, wie sich etwas darin
bewegte. „Nun iss! Iss, wenn du nicht verschwinden willst.“ Und ich
gehorchte. Alles in mir wehrte sich dagegen und der erste Bissen war
unerträglich ekelhaft. Allein die Konsistenz un der Gedanke an das was
ich da aß ließen mich würgen und den Geschmack würde ich nie wieder in
meinem Leben loswerden. Beim zweite Bissen zerteilte ich eine Made mit
meinen Zähnen, die immer noch besser schmeckte als die Torte in der sie
steckte. Jeder weitere Bissen war zwar eine Tortur, aber irgendwann
hatte ich tatsächlich das ganze Stück hinuntergewürgt.

Mein Magen rebellierte und ich glaubte schon zu spüren wie sich das
verdorbene Essen in meinem Organismus ausbreitete. Trotzdem hatte ich es
geschafft. „Ich habe aufgegessen. Lasst mich nun gehen. Bitte.“ Der
Große, der schon zuvor mit mir gesprochen hatte und der direkt neben mir
saß beugte sich zu mir. Sein dürres knochiges Gesicht war mir ganz nah
und sein stinkender Atem bließ mir durch seine scharfen Zähne ins
Gesicht. „Du hast noch nicht alles gegessen.“ sagte er und nun war seine
Stimme alles andere als emotionslos, sondern drückte beinah Vorfreude
aus. Bei diesen Worten reichte mir eines der anderen Wesen – es war
dasjenige, welches mir zuvor in den Schritt gegriffen hatte – den Teller
mit dem halb verspeisten Bein.

„Guten Appetit“ sagte es und fuhr sich mit seiner langen Zunge lasziv
über seine lippenlose Mundöffnung. Irgendwie vermutete ich, dass es
weiblich war und dass es sich dabei um ein „Versprechen“ handelte.
Dieser Gedanke ekelte mich beinah so sehr an wie das Leichenteil auf
meinem Teller. Aber nur beinah. Ich hatte einen Entschluss gefasst. Ich
würde lieber sterben als zum Kannibalen zu werden. „Das esse ich nicht
ihr Wichser!“ schrie ich, während ich unvermittelt auf den Tisch sprang
und dabei die ekelhaften Speisen zur Seite schleuderte. Ich hätte selbst
nicht gedacht, dass mir ein solches Kunststück gelingen würde. Eine der
Kreaturen hackte sofort mit ihrem Messer nach mir, aber da war ich
bereits vom Tisch herunter. Ich hätte nicht gedacht, dass Angst einem so
eine Kraft und Schnelligkeit verleihen konnte. Einige blaße Hände
versuchen nach mir zu greifen, allen voran das Wesen (es oder sie?),
welches mir das eindeutige Angebot gemacht hatte. Aber ich konnte ihnen
entwischen.

So schnell ich konnte zog ich die Tür zur nächsten Kabine auf und
rannte direkt in das Wesen hinein, welches vorhin meine Fahrkarte sehen
wollte. Dieses mal verlangte es nicht danach. Wahrscheinlich war es
dafür ohnehin zu spät. Stattdessen packte es meinen Arm, als ich gerade
an ihm vorbei gerannt war. Sein Griff war hart wie Stahl und ich dachte
schon meine Flucht wäre hier zu Ende. Aber da fiel mir der Stein in
meiner rechten Hand wieder ein. Mit aller Kraft ließ ich ihn wieder und
wieder auf den Ellbogen der Gestalt herabsausen. Das Wesen heulte laut
auf. Und als sich gerade die Tür der Fahrerkabine wieder öffnete und die
Kreaturen aus dem Boardbistro begannen die Kabine zu betreten, hörte
ich ein trockenes Knacken und sah, dass sich der Unterarm des Wesens
fast von seinem Oberarm getrennt hatte. Ich zog fest daran und löste so
auch noch die dünne Verbindung aus trockener Haut. Der Unterarm riss ab
und ich nahm ihn aus einem Impuls heraus einfach mit. Dann begann ich
zum nächsten Abteil zu flüchten. Der grosteske Kontrolleur war zu sehr
mit seinen Schmerzen beschäftigt um mir nachzulaufen und blockierte noch
dazu den Weg für meine anderen Verfolger.

Ich öffnete die Tür und wechselte in das nächste vollkommen
verschimmelte Abteil. Der Geruch war mir diesmal aber herzlich egal. Ich
atmete trotzdem tief ein und aus und drehte mich dann um, um den Arm
des Wesens so vor die Tür zu klemmen, dass sie verriegelt war. Ich hatte
keine Ahnung, ob meine Verfolger dadurch aufgehalten werden würden,
aber was besseres fiel mir einfach nicht ein. Fieberhaft überlegte ich,
wie ich entkommen konnte. Gerade hatte der Zug keine besonders hohe
Geschwindigkeit. Ich könnte abspringen und mir dabei entweder alle
Knochen brechen, sterben oder halbwgs unbeschadet überleben und diesen
Viechern entkommen. Selbst wenn meine Überlebenschancen nicht besonders
hoch waren, so waren sie doch besser als in diesem Zug. Wie um diesen
Gedanken zu untermauern bemerkte ich nun, dass einer meiner Verfolger an
der Tür rüttelte. Aber der ekelhafte Unterarm hielt noch stand. Dennoch
musste ich schnellstens hier verschwinden.

Da ich keine Möglichkeit sah die Tür aufzubekommen, schleuderte ich
den schweren Stein so oft gegen eines der blinden Fenster, bis es
endlich in viele kleine Stücke zerbarst. Fast im selben Moment zerbrach
auch der Arm und die Tür zur Kabine öffnete sich. Mehr als ein dutzend
dieser Kreaturen wartete dort auf ihre Rache. Ich hatte also keine Zeit,
um zu zögern. Ich stieg schnell auf einen der verschimmelten
schleimigen Sitze, wobei ich beinah abrutschte und schaffte es irgendwie
mich durch das Fenster zu quetschen. Ich spürte noch, wie mich dünne
Finger am Bein berührten und wie die scharfkantigen Glasreste in meinen
Körper schnitten. Dann begann der Fall.

Die Schmerzen des Aufpralls waren unbeschreiblich und einen Moment
lang war ich kurz davor dem Lockruf der gnädigen Ohnmacht nachzugeben,
die über mich kommen wollte. Aber ich wusste, dass das mein Ende
bedeutet hätte. Zwar war der Zug vorerst weitergefahren – so viel hatte
ich noch mitbekommen – aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie
anhalten und nach mir suchen würden. Vorsichtig versuchte ich
aufzustehen indem ich mit beiden Armen hochstemmte und wurde sofort mit
einem stechenden Schmerz in meinem rechten Arm bestraft. Ich sank zurück
auf den Boden und betrachtete meinen Arm. Er stand in einem
unnatürlichen Winkel ab und war ganz offensichtlich gebrochen. So eine
Scheisse! Trotzdem hatte ich unterm Strich noch Glück gehabt.

Zwar hatte ich die Schnitte vom Fenster, die mir im schlimmsten Fall
eine Blutvergiftung einbringen konnten und eben einen gebrochenen
rechten Arm, aber sonst beschränkten sich meine Verletzungen auf
Schürfwunden, Blaue Flecken und Prellungen. Höchstwahrscheinlich hatte
ich auch eine Gehirnerschütterung, aber das war im Moment meine
geringste Sorge. Immerhin war ich am Leben und vorerst entkommen. Nun
musste ich nur noch in die Zivilisation zurückkehren und mich verarzten
lassen. Ich stemmte mich mit meinem gesunden Arm hoch und sah mich um,
um festzustellen, wo ich mich befand. Allerdings konnte ich in der
Dunkelheit nicht allzu viel erkennen und hatte zudem mein Handy bei dem
Sturz irgendwo verloren. Also hielt ich mich an die einzige
Orientierung, die ich hier besaß: Einige ferne Lichter am Horizont
rechts von mir und ein Trampelpfad entlang der Gleise, der in Richtung
der Lichter führte.

Die ersten Schritte waren nicht leicht und ich wäre einige Male
beinah umgekippt. Aber irgendwie brachte ich es fertig, einen Fuß vor
den anderen zu setzen und betete, dass man mich nicht entdecken würde.

Als ich die Quelle der Lichter nach vielen Stunden endlich vor mir
sah, hätte ich beinah laut aufgeschrien. Sie stammten von dem alten
Bahnhof. Ich war nun wieder genau dort, wo die schrecklichen Kreaturen
herkamen und lief im Grunde sprichwörtlich in die Höhle des Löwen
hinein. Meine Verletzungen, die ich im Zuge der Erleichterung über mein
Entkommen fast vergessen hatte, begannen angesichts dieser Enttäuschung
wieder zu brennen und zu pochen. Verdammt. Ich brauchte einen Arzt, ein
Bad und vor allem Sicherheit. Was würde ich nicht alles geben für die
Sicherheit der Stadt. Falls es in meinem Leben ab jetzt noch so etwas
wie Sicherheit gab, nachdem ich nun wusste, mit was für Kreaturen wir
unsere Existenz auf dieser Erde teilen. Aber wie dem auch sei. Ich würde
ohnehin kein Leben mehr haben, wenn ich nicht an diesem Bahnhof vorbei
und irgendwie wieder in die Stadt gelangen könnte, also musste ich …

Plötzlich sprangen mehrere dürre Gestalten aus den Büschen am
Wegesrand und umringten mich so blitzartig und koordiniert, dass es kein
Entkommen mehr gab. Sie hatten mich mit den Bahnhofslichtern angelockt
wie eine Motte mit einer Kerzenflamme oder wie Strandräuber ein Schiff
mit einem falschen Leuchtsignal. Ich sah mir die Kreaturen vor mir
genauer an. Zwar sahen sie alle mehr oder weniger gleich aus, aber
dennoch erkannte ich in einer von ihnen diejenige, die es anscheinend
auf mich abgesehen hatte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie sie so
schnell hierher gekommen war. „Hallo mein Hübscher. Da haben wir dich ja
doch wiedergefunden.“ sagte sie mit einer lasziven und doch schrillen
und abstoßenden Stimme, die mir mehr Übelkeit bereitete als ihr Atem und
ihr widerliches Äußeres. Dann packten mich gleich mehrere ihrer
Gefährten und schleiften mich in Richtung Bahnhof. Ich wollte mich zwar
dagegen wehren, aber ich hatte ganz einfach nicht mehr die Kraft dazu.

Sie brachten mich in diesem Raum, der wohl einmal ein Lagerraum des
Bahnhofs gewesen war. Auch hier ist der Boden voller Schimmel. Und die
Decke. Und die Wände. Vor allem die Wände. Gerade hier bin ich mir
besonders sicher, denn ich stecke bereits seit mehreren Tagen bis zur
Brust in diesem Schimmel. Außer mir gibt es hier noch weitere Menschen.
Einen Mann und eine Frau. Wer sie sind, weiß ich nicht. Wahrscheinlich
wissen sie das selbst nicht mehr. Sie reden nicht mit mir und auch nicht
miteinander und blicken nur apathisch an die Wand. Beide sind sie
ausgemergelt. Sie haben kaum noch Fleisch auf den Knochen. Und es wir
jeden Tag weniger. Auch das weiß ich genau. Denn sie schneiden es ihnen
ab. Muskel um Muskel. Von Armen und Beinen und anderen Stellen ihrer
Körper. Und dann füttern sie mich damit. Jeden Tag. Erst habe ich mich
geweigert zu essen. Aber irgendwann war ich zu hungrig. Irgendwann hab
ich ein Stück vom Arm der Frau gegessen. Es war noch warm vom Leben und
doch schon vom Schimmel überwuchert. Wie alles hier. Dann wollte ich
immer mehr davon und habe mich nicht längert geweigert.

Sie sagen, dass ich nicht so bin wie die beiden. Dass ich zu höherem
bestimmt bin. Dazu, so zu werden wie sie. „Sie“, das sind die Hüter. Die
Hüter, vor denen mich die Aufschrift am Zug gewarnt hatte. Die Hüter
des Verfalls. Wenn meine Verwandlung vollendet ist, will Lisa mich zu
ihrem Gefährten nehmen. Ja, ihren Namen kenne ich jetzt. Und noch immer
Ekel ich mich vor ihr. Aber der Ekel wird immer weniger. Mit Jedem Tag,
der vergeht. So wie meine Haare und meine Lippen. Bald schon – das spüre
ich – werde ich sie sogar lieben. Ich werde sie lieben. Mit Leib und
Seele. Und alles Leben hassen.

{{Vorlage:Hüter_des_verfalls}}

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