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Kaugummi

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Okay … ich hab keine Ahnung, wie ich das hier anfangen soll.

Nur so viel: Das wird kein Lebensroman. Keine Kindheitstraumata, kein Gejammer. Mein Name ist Lucas. Was ich erzählen will, ist, wie ich in diese Lage geraten bin – und warum du besser zweimal überlegst, bevor du auf irgendein Popup klickst.

Ich war Ende 20, abgewrackt, verschuldet. Hatte es gerade so geschafft, ein kleines Appartement zu ergattern – nachdem ich vorher von Couch zu Couch getingelt war wie ein Ladegerät ohne Anschluss. Tagsüber arbeitete ich im Supermarkt-Lager, nachts lernte ich fürs Fernstudium. Aber die Miete wurde höher, das Leben härter. Ich dachte oft daran, einfach wegzugehen. Irgendwo neu anzufangen. Irgendwo, wo mich keiner kennt. Aber das braucht Geld. Viel Geld.

Und dann kam dieser Abend.

Der Wind klapperte an den Fensterläden. Ich lag auf meiner Matratze, der Laptop flackerte vor sich hin. Irgendeine Filmszene aus ‚Die Mumie‘ lief im Hintergrund, ich checkte E-Mails, ein paar Nachrichten von Kollegen. Nichts Besonderes. Ich wollte den Laptop gerade zuklappen, als plötzlich ein Popup auf dem Desktop erschien.

Bunt. Schrill. Vollgekleistert mit Emojis und Ausrufezeichen – wie man’s kennt. Aber irgendetwas daran war … anders.

Glückwunsch! Du wurdest ausgewählt!“ stand da. Dazu ein grinsender Smiley und pinke Kaugummis.

Ein Produkttest. Vier Tage kauen. 20.000 Dollar. Kein Abo, keine Klauseln. Das Geld käme sogar am zweiten Tag. Ich lachte. Klar doch. Bullshit.

Ich klickte es weg. Kam wieder. Noch einmal. Und noch einmal. Beim vierten Mal verschwand es – ganz. Fünf Minuten starrte ich auf meinen schwarzen Bildschirm.

Aber 20.000 Dollar …

Ich war nicht so einer, der glaubt, mit Pranks oder grimassierenden Reactions den großen Nebenverdienst zu landen. Diese Generation, die im Discounter einen Eimer Eiscreme aufmacht, reingafft, einmal ableckt und dann zurück ins Regal stellt – nur für Klicks im Internet. Die Welt war irgendwie aus den Fugen, aber gut, vielleicht war ich das ja auch.

Vielleicht … nur gucken? Meine Firewall war stabil. Einmal neugierig klicken war doch nicht gleich ein Seelenverkauf, oder?

Ich versuchte, die Anzeige zurückzuholen. Verlauf: nichts. Keine Spur. Ich leerte den Cache. Startete den Browser neu.

Und siehe da. Es ploppte erneut auf.

Ich zögerte. Dann klickte ich.

Angebot akzeptieren.“

Ich landete auf einer Website, die sich langsam aufbaute, Pixel für Pixel, als ob sie aus einer anderen Zeit stammte.

Kaugummis regneten von oben nach unten.

Wirklich. Auf der Website. Ein digitaler Kaugummi-Regen auf schwarzem Hintergrund, als würde man in einem Spiel von 2002 hängen. In der Mitte ein blinkendes Formular. Name. Adresse. Kontoinformationen.

„Weitere Informationen sowie das Testprodukt erhalten Sie nach Anmeldung per E-Mail.“

Ich tippte alles ein. Machte eine dieser nervigen „Ich bin ein Mensch“-Verifizierungen, klickte mich durch mein E-Mail-Postfach, bestätigte meine Identität.

„Vielen Dank für Ihre Teilnahme! – Eine Benachrichtigung mit genaueren Informationen erhalten Sie in Kürze.“

Klingt wie ein Scam? Genau das dachte ich auch. Und ehrlich gesagt, ich hätte es dabei
belassen sollen.

Aber in den nächsten Tagen: nichts. Keine Nachricht. Kein Kaugummi. Kein Geld. Die ganze Sache verschwand in diesem allgemeinen Hintergrundrauschen, das man Alltag nennt.

Ich vergaß es fast.

Bis ich sieben Tage später zufällig mein Postfach checkte – und eine neue Mail auftauchte.
Empfangszeitpunkt: gestern Abend. Absender: anonym. Betreff: Kaugummi K2025-Teilnahmebestätigung.

Sehr geehrter Teilnehmer,

vielen Dank für Ihre Zustimmung zur Teilnahme am Produkttest Kaugummi K2025-X.

Hiermit bestätigen wir Ihre erfolgreiche Registrierung.

Testzeitraum: 4 volle Kalendertage (96 Stunden)
Produkt: Kaugummi K2025-X (eine Einheit)
Ziel: Durchgängige Nutzung der Testeinheit über den gesamten Zeitraum.

**Wichtige Hinweise:**
Der Kaugummi ist kontinuierlich zu kauen – Tag und Nacht, ohne Unterbrechung.
Ein Entfernen, Ausspucken, Ablegen oder Ersetzen vor Ablauf der Frist führt zum sofortigen Abbruch der Testbedingungen. Dies gilt ausdrücklich auch während des Schlafens.
Sollte der Test frühzeitig unterbrochen werden, können unvorhersehbare Reaktionen auftreten.
Eine Haftung für daraus resultierende, mögliche Nebenwirkungen wird ausgeschlossen.
Mit Ihrer Zustimmung haben Sie dieser Regelung vollständig zugestimmt.

**Honorar:**
Die Überweisung des Honorars in Höhe von 20.000 $ erfolgt automatisch nach dem zweiten Testtag (48 Stunden) auf das von Ihnen angegebene Konto.
Die Auszahlung erfolgt unabhängig vom restlichen Testverlauf, entbindet jedoch nicht von der Einhaltung der vollständigen Testdauer.

Wir danken Ihnen für Ihre Teilnahme und bitten um Ihre volle Disziplin und Zuverlässigkeit.

Mit freundlichen Grüßen.

Ich las die Mail dreimal. Dann stand ich einfach nur da.

Am nächsten Morgen lag ein kleines Päckchen in meinem Briefkasten. Kein Absender. Keine Marken. Nur eine graue, matte Folie – wie aus einem Survival-Kit.

Darin: Eine durchsichtige Plastikverpackung mit der Aufschrift: „ORLIPSE“.

Darunter ein kleiner Zettel, auf dem handschriftlich stand:

„Der Test beginnt, sobald das Produkt den Weg in den Mund findet.“

Ich roch daran. Ganz normales Erdbeeraroma. Vielleicht ein Hauch künstlich. Aber nichts Ungewöhnliches. Ich zuckte mit den Schultern, öffnete die Packung und schob mir einen der rosa Würfel in den Mund.

Süßer Himbeergeschmack. Das Bonbon knackte beim ersten Zubeißen, und nach ein paar Sekunden hatte ich eine angenehm weiche Kaugummimasse auf der Zunge.

Kein Brennen. Kein Kribbeln. Kein Sci-Fi-Shit.

Ein ganz normaler Kaugummi.

Und damit begann mein obskures Experiment.

Ich kaute das Teil auf der Arbeit, beim Geschirrspülen, beim Wäsche machen, beim Müll herausbringen. Schob den Kaugummi beim Trinken oder Essen kurzzeitig unter die Zunge (hey, die haben nichts davon geschrieben, dass das nicht erlaubt sei).

Ich kaute beim Spazieren, am Laptop, auf dem Klo, im Bett. Einfach überall.

Und um nicht als der in den Todesanzeigen zu enden, der nachts an einem Kaugummi erstickt ist, verzichtete ich auf Schlaf. Einfach für die paar Tage. Ich meine … ich hatte sowieso einen ungesunden Lebensstil. Wen störte das schon?

Das ging zwei Tage so.

Dann, aus einer Laune heraus, klappte ich den Laptop auf und loggte mich ins Online-Banking ein. Meine Augen weiteten sich. Ich hielt kurz den Atem an.

20.000 verdammte Dollar.

Sie hatten es wirklich getan. Einfach so.

Ich starrte auf den Kontostand und begann zu lachen – erst leise, dann lauter. Ich fasste mir an die Stirn, als könnte ich dadurch begreifen, was da stand. Mir wurde wirklich diese absurde Summe überwiesen … fürs Kaugummikauen.

Niemand würde mir das glauben. Niemand.

Verflucht, es war fast zu einfach, um wahr zu sein.

Und jetzt? Jetzt hatte ich das Geld.

Der Geschmack des Kaugummis war längst weg, das Kauen wurde zur Qual. Mechanisch, sinnlos, nervtötend. Mein Kiefer fühlte sich an wie aus Blei.

Ich dachte: Vielleicht sollte ich ihn jetzt einfach ausspucken. Wer würde’s mitbekommen? Ich bin allein. Niemand beobachtet mich. Und eine Observierung wegen eines Kaugummis wäre ja wohl das Lächerlichste auf Erden.

Ich klappte den Laptop zu, ließ mich mit einem zufriedenen Seufzer zurück auf die Matratze fallen und starrte an die Decke. Im Kopf: Träume von Möglichkeiten. Ein besserer Wohnort. Schuldenfreiheit. Vielleicht sogar ein kleiner Urlaub.

Ich nahm den Kaugummi aus dem Mund. Drehte ihn kurz zwischen den Fingern, zog eine angewiderte Grimasse und warf ihn in ein halbvolles Wasserglas auf dem Regal neben mir.

Der größte Fehler meines Lebens.

Ich ließ mich weiter in die Matratze sinken. Die Gedanken ratterten noch, aber mein Körper war am Ende.

Ich wollte nur kurz die Augen schließen. Nur ein paar Minuten.

Ich weiß nicht, wann genau ich eingeschlafen bin.

Nicht sicher, ob ich es meiner Arroganz oder Dummheit zu verdanken hatte. Doch es war töricht zu glauben, ich könnte mich über die Geschäftsbedingungen meiner Auftraggeber hinwegsetzen. Im Nachhinein war es schlimmer, als mich überhaupt für diesen Job bereit erklärt zu haben.

Denn nachdem ich mich am nächsten Tag aus dem Bett erhoben hatte, stieg mir nicht nur ein merkwürdiger Geruch entgegen – eine Mischung aus penetrantem Pfefferminz und verbranntem Plastik, wie ein überhitzter Fernseher –, sondern auch einer meiner Hausschuhe weigerte sich, vom Boden zu lösen.

Verdutzt sah ich an mir herunter, wollte meinen Fuß befreien und griff dabei unmittelbar in eine klebrige, dicke Masse, die wie ein zäher Klumpen an der Bettkante haftete. Mein Schuh löste sich, meine Hand ebenfalls – doch als ich mir durch die Haare fuhr, bemerkte ich: Auch darin hatte sich dieses Zeug verfangen.

Ich stürmte ins Badezimmer, schnitt mir mit einer Schere die betroffenen Strähnen ab und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich dachte, es muss sich um einen absurden Albtraum handeln – nichts anderes konnte es sein. Doch das war erst der Anfang.

Als ich das Handtuch griff, um mir das Gesicht abzutrocknen, blieb meine Hand daran kleben. Mit einem Fluch riss ich sie los und blickte an mir herunter: Verschmierte, faserige Reste hafteten an meinem Shirt, als hätte ich in einen übergroßen Kaugummiautomaten gefasst.

Ich eilte zum Kleiderschrank, um mich umzuziehen – doch dort traf mich die nächste Überraschung. Wie eine zappelnde Fliege im Spinnennetz waren all meine Klamotten mit dieser merkwürdigen Gummisubstanz durchzogen. Selbst die Vorhänge am Fenster wirkten, als hätte eine groteske Kreatur ihr Nest daraus gesponnen.

Ein ungutes Gefühl kroch mir in den Nacken. Als ich langsam den Flur durchschritt, bemerkte ich unzählige rosa Gummifetzen, die wie Tentakel oder schleimige Blutegel von den Wänden hingen; als wären sie hindurchgewabert. Meine Vorahnung verdichtete sich, wurde schwer.

Als ich den Küchenflur erreichte, glich dieser dem Inneren eines Dickdarms. Ich konnte das Ende der Küche – das zur Stube führen sollte – nicht erkennen, da die Gummimasse jegliche Lichtquelle verschluckte; mich vollständig von der Außenwelt abkapselte.

Ich kam mir vor wie ein Protagonist in einem aus der Zeit gefallenen Horrorfilm. Alltagsgegenstände klebten an der Decke oder an den Wänden. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Je weiter ich den Tunnel durchschritt, desto tiefer sanken meine Füße ein. Ich versuchte, mich hindurchzuzwängen, doch es war, als kämpfte ich mich mit einer Machete durch einen sumpfigen Dschungel. Jeder Schritt wurde schwerer; die klebrige Substanz klammerte sich an mir fest, als bestünde sie aus winzigen Greifarmen, die mich mit gieriger Beharrlichkeit zurückhalten wollten.

Ich wollte um jeden Preis das Telefon erreichen – Hilfe rufen –, doch unter den meterdicken rosa Schichten war nichts zu finden. Keine Technik, kein Anschluss zur Realität.

Als ich nur noch eine Ellenlänge weiterkam und plötzlich feststeckte, ergriff mich vollends die Panik. Schlimmer noch: Ich begann, wie in Treibsand, tiefer zu sinken. Die Masse um mich herum wurde erdrückender. Schweiß rann mir von der Stirn. Und während ich langsam nach unten glitt, machte sich ein Pulsieren bemerkbar – als hätte die Substanz ein eigenes Bewusstsein.

Ich wollte wild um mich schlagen – zumindest glaubte ich das. Doch in Wahrheit konnte ich mich nicht einmal mehr rühren. Nach fünf Minuten steckte ich bereits bis zur Brust in der zähen, klebrigen Fülle, die mich begierig in ihren Schlund ziehen wollte. Nach weiteren zwei Minuten bis zum Hals. Dann schloss sich die Masse um meinen Kopf, blockierte meine Atemwege. Ein schreckliches Gefühl.

In diesem Moment dachte ich: Jetzt ist es um mich geschehen.

Doch nach etwa dreißig Sekunden spürte ich plötzlich, wie sich unter meinen Füßen etwas lockerte. Die Masse begann nachzugeben – ich rutschte.

Ich fiel.

Doch anstatt aufzuschlagen, schien die ganze Welt in einen Abgrund zu sinken. Oder drehte sich die Welt um mich? Meine Sinne verschwammen, Zeit und Raum verformten sich, als wäre ich durch eine unsichtbare Membran geglitten. Geräusche hallten verzerrt wider.

Dann – ein Aufprall. Kein Schmerz, nur Kälte, die mir in die Glieder kroch.

Ein leises, rhythmisches Klopfen drang an mein Ohr. Stimmen kamen von überall und nirgendwo, ein Raunen; ein Zittern, das durch die Wände ging.

Dann – ein Ruck.

Meine Füße berührten Boden. Kein harter Aufprall; kein Schmerz.

… sie haben es dir eindringlich erklärt, nicht wahr?“, sprach die dunkle Stimme.

Wie die naherückende Morgendämmerung folgte Klarheit auf die Verwirrung. Was war, kehrte augenscheinlich zurück.

Stimmt“, antwortete ich.

Warum?“, fragte es.

Weil …“

Nicht zum ersten Mal lauschte ich jenem Wesen. Ich erinnerte mich an die Dunkelheit. Vergangenes war jetzt, die Gegenwart war Vergangenheit – schon immer. Nur die Zukunft blieb ungewiss.

Ich spürte es; fühlte es. Ein endloses Gewässer, plätschernd in meinem tiefsten Bewusstsein. Ein irrer Tripp.

War dies ein Traum? Ein Trugbild? Ein Irrlauf der Gedanken? Vielleicht. Vielleicht war es die Verschränkung von Raum und Zeit; eine Schleife, ein Käfig ohne Ausgang.

Vielleicht würde ich diesmal den Ausweg finden. Das Licht am Ende des Tunnels.

Wie finde ich den richtigen Pfad?“ fragte ich.

Möchtest du es am eigenen Leib erfahren? Die Entscheidung liegt bei dir, Mensch.“

Er hob den Dolch; die Klinge funkelte im Zwielicht; etwas in der Haltung war vertraut – zu vertraut – als würde ich einen Schatten aus meiner eigenen Erinnerung betrachten. Ich konnte den Blick kaum erwidern. Ich sah, wie die Klinge auf meine Brust gerichtet war.

Was ist nun?“ fragte er.

Keine Ungeduld lag in seiner Stimme, nur eine erwartungsvolle Stille.

Mein Herz schlug schneller, ein dumpfes Pochen, kalt und fremd. Ich musste mich entscheiden; doch war es überhaupt noch eine Entscheidung?

Tue es!“ sagte ich.

Ein Zucken; kaltes Metall. In dem Moment, als die Klinge in mich eindrang, hatte ich das Gefühl, diese Szene schon einmal erlebt zu haben – oder noch erleben zu müssen. Ein stechender Schmerz fraß sich durch mein Fleisch, als wäre es nichts. Die Klinge schnitt tief, und ein dunkler Sog breitete sich von der Wunde aus. Er verschlang jedes Gefühl, jede Regung, jeden Laut.

Mein Körper gehorchte nicht mehr.

Das Wesen hielt den Dolch weiterhin umklammert. Doch in mir begann die Klinge zu pulsieren; ein fremder Herzschlag, der nicht der meine war.

War das der Tod? Nein. Es war etwas anderes.

Dann zerbrach die Welt.

Nur Schwärze. Uferlose Schwärze, die nach mir griff, mich hinabzog, bis kein Oben und kein Unten mehr existierte.

Ein Aufprall.

Kein Schmerz. Nur ein ruckartiges Erwachen.

Ich sog gierig Luft ein, als hätte ich viel zu lange nicht geatmet.

Unter mir kalter Stein.

Als ich durch das Loch gefallen und aufgeschlagen war (glücklicherweise unverletzt), wiederfand ich mich an einem Knotenpunkt – eine Mischung aus Katakombenkreuzung und Heizungskeller, von der aus wenige Tunnel ins Unbekannte führten. Sie umringten mich wie die Speichen eines gewaltigen Rades. Wie tief sie reichten, wusste ich nicht, doch ihre Präsenz schien unermesslich.

Hier unten herrschte eine Stille, die sich nicht wie gewöhnliche Stille anfühlte – sie war zu dicht, zu drückend. Und doch glaubte ich, ein leises Flüstern zu hören, Stimmen, die in einer fremden Sprache murmeln.

Als ich durch einen der Tunnel wanderte, kroch die Kaugummimasse wieder in mein Blickfeld. Sie haftete nun an der Decke und den Wänden, als hätte sie sich an diesen Ort zurückgezogen – oder als würde sie mich leiten. Doch der gepflasterte Weg auf dem Boden blieb frei, als wäre er bewusst für meinen nächsten Schritt vorbereitet.

Plötzlich bebte der Boden leicht, und ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. Irgendetwas war hier unten. Etwas, das wartete.

Es folgten Fratzen, die unterhalb der Masse ihren Abdruck hinterließen – und obwohl ihre Augen verdeckt blieben, wusste ich, dass sie jeden meiner Schritte aufmerksam verfolgten. Sie schauten gequält, manche erbost, traurig; andere frohlockten mit einem diabolischen Grinsen.

Mein Unbehagen wuchs – erst recht, als ich tiefer im Gang die vielen Gliedmaßen bemerkte, die verzweifelt versuchten, die rosa Masse zu durchdringen. Verkrampfte Finger streckten sich in alle Richtungen – Zeichen der Hoffnungslosigkeit dieser armen Seelen. Umso weiter ich mir meinen Weg bahnte, desto verzweifelter, aufgebrachter schienen sie. Einer war mit seiner Hand meinem Fuß beängstigend nah gekommen, doch die Masse duldete kein Durchkommen. Sie weckten beinahe Mitleid.

Ein Stück weiter bemerkte ich etwas Neues.

Ein Kind – es mutete beinahe wie eine Puppe an – saß regungslos auf einem zerdrückten Spielzeugpferd. Unter der dicken Schicht war weiterhin keine Klarheit zu erkennen. Doch ich sah den geneigten Kopf, das abgewandte Gesicht.

Die stumme Präsenz wog schwerer als jedes Geschrei – kein Schluchzen, kein Laut.

Es drehte sich langsam um. Und auch wenn sich kein Gesicht offenbarte, spürte ich ihn: einen ausdruckslosen, alten und leeren Blick. Ein Gesicht ohne Zeit.

Ich wusste nicht, ob es wirklich da war, oder nur eine Spiegelung dessen, was wir nicht mehr sehen wollen.

Kurze Zeit später folgte eine weitere Bewegung.

Zuerst glaubte ich, mir einen Schatten eingebildet zu haben. Doch unter der Masse zeichnete sich eine Form ab – vier Beine, taumelnd, wie gebrochen.

Für den Bruchteil einer Sekunde war alles still, als hielte die Welt den Atem an – dann das plötzliche Aufblitzen zweier Lichter.

Ein dumpfer Aufschlag.

Die Form zuckte, verkrampfte sich, dann verschwand sie – reglos – unter dem rosa Film, als hätte ihn etwas gierig verschluckt.

Ein heißer Druck stieg in meine Kehle, aber ich schluckte ihn hinunter.

Ich wandte mich ab – und da war sie: die Tür.

Dann – die Stimme. Und ich sah, wie sich eine mir vertraute Gestalt unter der Gummimasse abzeichnete. Jene Kreatur, die mich seit Beginn an umherirren ließ, zeigte sich erneut.

Hier geht es nicht mehr weiter“, meinte er. „Versuche dort dein Glück.“

Er deutete auf eine Tür innerhalb der rosa Masse. Knarrend öffnete sie sich von selbst. Ohne großartig Zeit zu vergeuden, trat ich ein.

Es fiel mir schwer zu glauben, was ich darin vorfand.

Auch dieser Raum war von der Masse überzogen, und in der Mitte stand eine Person. Auch wenn es sich nur um ihren unter der Masse angedeuteten Umriss handelte – ich erkannte sie auf Anhieb: Gabby.

Wie viele Jahre hatten wir uns aus den Augen verloren? Schatten aus der Vergangenheit krochen aus dunklen Ecken. Narben, die wir einander über die Zeit zugefügt hatten, begannen – wie ein chemischer Vorgang – zu oxidieren. Ein totgeglaubter Prozess, plötzlich reaktiviert.

Als sie nach und nach im Boden versickerte, machte ich einen Satz nach vorne. Wie von Sinnen, mit einem lauten „Gabby!“ auf den Lippen, das sich aus meiner trockenen Kehle kämpfte, versuchte ich, sie im letzten Moment vor dem endgültigen Versinken zu bewahren. Ein armseliger Versuch. Einer, der im Nichts endete.

Auf den Knien starrte ich nur noch still auf den Boden. Vergangene Erinnerungen zogen sich zurück, als die finstere Stimme erneut den Raum erfüllte:

Verstehst du es nicht? Mit jeder falschen Wahl verstrickt man sich tiefer in Fäden, die einen an den Fehlern der Vergangenheit haften lassen. Was wirst du nun tun?“

Die Wahrheit, es nicht besser gewusst zu haben, saß zu tief. Ich betrachtete meine geschundenen Knöchel. Vom wütenden Hämmern auf den Boden, getrieben vom Gefühl, im Leben zu schwach gewesen zu sein. Versagt zu haben.

Während die klebrige Masse erst meine Hände, dann die Arme und schließlich meinen ganzen Körper vereinnahmte, flüsterte ich:

Bringe mich weiter.“

Die Substanz, die alles zu verschlingen schien, sog mich erneut in die Tiefe. Wie schon zuvor versank ich vollständig.

Unter mir formte sich ein Umriss. Tiefer als alles, was ich je gesehen hatte. Keine Reflexion. Kein Schimmern. Nur absolute Schwärze, wie der Ereignishorizont eines schwarzen Lochs.

Als hätte man mich durch erglühendes Glas geschleudert, schlug ich die Augen auf. Ich fand mich in einem weiteren Tunnel wieder.

Eine Zeit lang wanderte ich ziellos, beobachtete, wie kaugummifarbene Ratten und Insekten – oder besser gesagt, deren aus der Masse geformte Abbilder – scheu in den Gängen huschten, an den Wänden krabbelten oder in schmale Ritzen verschwanden, sobald ich mich näherte.

Die Wasserleitungen lagen längst trocken, das Backsteinmauerwerk war baufällig, einige Fluchtlöcher mit rostigen Gittern versperrt. All das wirkte wie aus der Zeit gefallen; ganz im Gegensatz zu den grellbunten Kaugummiverpackungen, die willkürlich verteilt herumlagen und im fahlen Licht funkelten.

Ich folgte ihnen, und stand schließlich vor einer Tür.

Dahinter führte eine spiralförmige Treppe nach unten.

Unten angekommen durchquerte ich einen verfallenen Waschkeller. Überall hingen dreckige Leinentücher, ein letzter, verzweifelter Versuch, diesen Ort vor fremden Blicken zu verbergen.

Hinter dem Keller lag eine bröckelnde Untergrabung, ihre Decke stellenweise durchhängend.

Dahinter: ein neuer Korridor. Am Ende stand eine Tür offen, aus der flackerndes Fernseherlicht in den Flur fiel.

Je näher ich kam, desto klarer wurde das Schluchzen, das aus dem Raum drang.

Ich wusste nicht, was mich erwartete.

Bedächtig trat ich durchs Zwielicht. Die Luft war stickig. Der röhrenförmige Fernseher rauschte, flackerte, das Licht warf unruhige Schatten. Die Tapete hing in schmutzigen Fetzen von den feuchten Wänden, nebliger Staub lag in der Luft.

In der Mitte des Raumes stand ein zerschlissenes Sofa – mit der Rückenlehne zur Wand und der Front genau in meine Richtung gerichtet. Als hätte der, der dort saß, nur auf mich gewartet.

Ich erkannte das Gesicht nicht. Eine riesige, blassrosa Kaugummiblase verdeckte es. Nur die Füße waren zu sehen. Sie glichen meinen. Und auch der untere Teil der karierten Schlafanzughose, der aus dem Schatten ragte, kam mir bekannt vor.

Das Schluchzen, das von der Gestalt ausging, wurde stärker.

Jedes leise Wimmern ließ die Blase weiter anschwellen, als würde sie von Trauer genährt.

Irgendwann war das Geräusch kaum noch zu ertragen.

Ich wollte fliehen, doch die Masse kam mir zuvor. Sie sickerte hinterhältig aus den Wänden, schlug mit ihren Tentakeln die Tür zu und versperrte sie.

Die Blase war nun so groß, dass sie mich gegen die Wand drängte.

Und in ihrem Inneren sah ich es …

Das Wesen. Wieder war es da.

Erneut sprach es zu mir: „Du wähnst dich frei in deinen Entscheidungen, doch jede falsche Wahl nährt das Miasma der Sünde, das dich umhüllt und erstickt. Du taumelst voran, blind für die Schatten der Vergangenheit, während sich Fäden aus Reue und Verderben um deine Seele legen. Kein Zufall hält dich gefangen, sondern das Urteil deines eigenen Handelns. Eine Spirale aus Trauer und Hoffnungslosigkeit, aus der es kein Entrinnen gibt. Und selbst dort, wo Erkenntnis lauert, ist sie keine Erlösung; nur der kalte Blick in einen Abgrund, den du doch nie zu begreifen wagtest.“

Was willst du von mir? Und wie komme ich hier raus?!“, brüllte ich aus Leibeskräften, nicht wissend, ob meine Worte überhaupt hindurchdrangen.

Auf einmal platzte die Blase.

Das Platzen löste einen gewaltigen Tornado aus, der alles mit sich riss, und alles auslöschte. Es kam mir vor wie in Zeitlupe, als es mich von den Beinen riss und eine unbändige Kraft durch Raum und vielleicht sogar Zeit schleuderte. Ich war zusammengerollt wie ein Fötus, während ich durch zahllose Gänge und Räume flog, durch etwas, das sich wie Wirklichkeit, aber auch wie Erinnerung anfühlte. Die Schwerkraft war aufgehoben. Nur Bewegung blieb.

Ich akzeptierte mein Schicksal. Bis ich plötzlich wieder auf den Beinen stand.

Das Wesen trat aus den Schatten. Drei rotglühende Augen durchbohrten die Dunkelheit, als wäre es ein völlig schwarzes Gemälde, aus dem nur diese Lichter herausstachen – und die groben Umrisse von Hörnern. Mit schweren Schritten kam es näher.

Erst aus der Nähe erkannte ich die Details: Eine Rüstung, wie aus einem fremden Zeitalter, eisenhart und erzengelhaft, bedeckt von feinen, spiralförmigen Gravuren. Jedes Teil – vom Helm bis zu den Gliedmaßen – war auf kunstvolle Weise verziert, als wäre es für einen gefallenen Fürsten geschmiedet worden. Der gesamte Panzer glänzte in einem tiefen Purpur, durchbrochen von kristallinen Amethysten, die zwischen den Platten hervorwuchsen. Man konnte nicht sagen, ob das Licht aus der Rüstung selbst kam oder von den Edelsteinen reflektiert wurde.

Auf seinem Rücken entfalteten sich riesige Schwingen – ihr Farbspiel war jenseits aller Beschreibung, flirrend, changierend, beinahe lebendig. Die roten Augen, gemeinsam mit dem dritten Auge quer auf der Stirn, bildeten einen unheilvollen Kontrast zum restlichen Erscheinungsbild.

Ich stand still.

Er zog den Dolch.

Der in die Höhe gerichtete Dolch begann das quer liegende Auge auf seiner Stirn zu verdecken. Jenes, das mich zuvor im Auge behalten hatte. Und wieder – wie bereits unzählige Male zuvor – sah ich glänzend-purpurnes Metall auf meine Brust gerichtet.

Ich fragte nach dem „richtigen“ Pfad.

Ich würde es selbst erfahren. Wie alles seinen Anfang nimmt. Dass ich von vorne beginnen müsse. So lange, und noch länger. Bis ich aus eigener Kraft den Ausgang finde. Damit ich neu beginnen kann. Das waren seine letzten Worte, nachdem ich selbst um den Dolch gebeten hatte. Und erneut spürte ich das fremd schlagende Herz in mir, als mich die Klinge durchbohrte.

Und so fand ich mich wieder. Ganz am Anfang, bei der Katakombenkreuzung.

Seit einer Ewigkeit wandle ich nun an diesem Ort umher. Immer wieder werde ich von jenem dreiäugigen Wesen beschattet, das scheinbar die Kaugummimasse wie eine Marionette lenkt. Die Masse, die mich wiederum konfrontiert. Mit dem Schlechten in der Welt, und mit meiner Vergangenheit.

Als würde es sich einen Spaß daraus machen.

Zumindest ist das, was ich glaube.

Gezeichnet,

eine verlorene Seele.

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