ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Die Fahrräder mussten als Ersatz herhalten für die Motorräder, die sie noch nicht hatten, aber ganz bestimmt irgendwann besitzen würden. Timo – der jetzt immerhin schon 16 war – noch weitaus eher als Martin mit seinen verfluchten zwölf Jahren. Die beiden Brüder waren sehr unterschiedlich. Timo hatte schulterlange, schwarze Haare, einen Bartansatz, seine erste Freundin und dauernd laute Rockmusik auf den Ohren. Martin dagegen war ein eher stiller, unscheinbarer Junge. Das Nesthäkchen, welches mit seinem blonden Lockenkopf noch immer unverkennbar wie ein Kind aussah und dem mehr der Sinn nach seichter Popmusik als nach harten Gitarren stand. Dennoch waren sie in diesem Moment gleich, als sie auf ihren nagelneuen, flammroten Fahrrädern am Startpunkt ihrer improvisierten Rennstrecke in dieser wenig frequentierten Seitenstraße standen.
Es würde ein Rennen ohne Gnade werden. Vielleicht nicht auf Leben undTod, aber doch immerhin um fünfzig Euro, die sich der Sieger einsteckenkonnte. Timo würde seinen Gewinn sicher für CDs oder Konzertkarten ausgeben, oder auch für eins seiner unzähligen Band-Shirts. Martin wusstees noch nicht so genau. Es kam ihm mehr darauf an, überhaupt zu gewinnen. Endlich einmal der Bessere zu sein. Beide zählten sie gemeinsam den Countdown herunter „… 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1… Los!“ Martin trat sofort in die Pedale, und auch Timo reagierte augenblicklich.
Timo ging sofort in Führung, was angesichts der kurzen Strecke, die sie für ihr Rennen gewählt hatten, entscheidend sein konnte. Trotzdem würde es noch einige Sekunden dauern, bis er den Baum, der die Zielmarkierung symbolisierte, erreicht hätte. Noch konnte Martin gewinnen. Noch konnte er seinen übermächtigen Bruder schlagen.
Seine Muskeln gaben alles. Es war ihm egal, ob er sich etwas zerren oder danach tagelang Muskelkater haben würde. Er durfte nicht verlieren.Und er holte tatsächlich auf. Mehr noch: Er überholte seinen Bruder sogar. Unglaublich! Er würde gewinnen. In seinem Eifer achtete er alleinauf die Straße und hielt seinen Blick stur nach unten gerichtet. Er sah, wie das Rad seines Bruders plötzlich langsamer wurde, aber das spornte ihn nur noch mehr an. Immer schneller trat Martin in die Pedale,bis er…
… hart gegen den Baum knallte. Die Schmerzen waren heftig. Er schürfte sich beide Knie auf. Er hatte eine gebrochene Nase, Blutergüsseim Gesicht und die schlimmste Gehirnerschütterung seines Lebens. Sein Rad hatte sich verbogen und seinen Fuß eingeklemmt, und dennoch konnte ernur eines sagen, als sein besorgter Bruder zu ihm lief und ihn fragte, ob alles in Ordnung sei: „Ja!“ hatte er geantwortet. „Ja, verdammt! Ich habe gewonnen. Ich habe das scheiß Rennen gewonnen!“
Dieses unvergleichliche Glücksgefühl drang damals durch all die Schmerzen und den Schock, und auch jetzt war es noch so stark, dass Martin einen Teil davon behielt, als er aus seinem Traumzustand erwachte und wieder das bleiche, hässliche Ding wurde, dass er nun jeden Tag war.Er spürte Hunger und Durst. Er fühlte die lange Knochenzunge, um die sich seine Existenz nun drehte und die sich in seinem Körper wie ein eifersüchtiger Wächter eingenistet hatte. Und er hörte die latenten, fernen Signale seines Meisters. Er hörte sie immer. In jeder Sekunde seines Lebens. Außer in den Träumen. Außer in den seltenen Träumen. Doch zum ersten Mal seit seiner Verwandlung fühlte er sich allein. Allein, obwohl tausende bleicher und größtenteils schwarz gekleideter Gestalten um ihn herum standen. Allein, da sein Bruder ihn im Stich gelassen hatte.
~o~
„Martin!“ schrie Davox unwillkürlich, und auch wenn der Name seines Bruder von Schmerz begleitet wurde, so war ihm dieser Schmerz doch willkommen. Denn er lenkte Davox von seinen anderen Gedanken ab. Gedanken, die ihn schon den ganzen Morgen über lockten und quälten. Gedanken an Symmetrie. Und an seinen noch unversehrten rechten Unterarm.Daran, ob dieser Knochen wohl auch so wohlgeformt ist wie der andere. Ja, das ist er, flüsterte eine Stimme. Und ob der Anblick den Schmerz wert war. Ja, er ist es wert. Er ist alle Qualen der Welt wert.
Allein die Tatsache, dass Hexe neben ihm auf dem Rücksitz schlief undBianca nicht weit entfernt am Steuer saß, hatte seine Fingernägel und Zähne bislang noch zurückgehalten. An seinem bereits versehrten Arm konnte er sich erst recht nicht zu schaffen machen. Dort hielt ihn Hexesheilende Hand fest und verhinderte so, dass er buchstäblich auseinanderfiel. Aber es wurde immer schwerer, dem Drang zu widerstehen.So unendlich schwer.
„Boah Junge. Musst du so schreien?“ fuhr ihn Bianca vom Fahrersitz aus an. „Ich habe nicht den Beginn einer Zombieapokalypse überlebt, um wegen deiner Anfälle in die nächste Leitplanke zu rasen. Tick demnächst bitte etwas leiser aus!“ Hexe rieb sich derweil die Augen. Sie war nun endgültig wach geworden.
„Wer ist Martin?“ fragte sie ihn verschlafen. Davox wandte hastig seinen allzu obsessiven Blick von seinem Arm ab. Glücklicherweise schienes Hexe nicht zu bemerken. „Martin ist mein Bruder“, antwortete Davox, und dabei fiel ihm wieder ein, was das bedeutete. Das es mehr war als eine rein genetische Verwandtschaft. Gemeinsame Kindheit. Freundschaft. Vertrautheit. „Er ist mein Bruder. Mein kleiner Bruder. Und ich habe ihnim Stich gelassen.“ Davox‘ Tonfall brachte zumindest annähernd seine nagenden Schuldgefühle zum Ausdruck.
Hexe ließ ihn kurz los, um sich durch ihr dichtes, rotes Haar zu fahren. Sofort fühlte er ihre heilende Kraft versiegen und merkte bereits, wie die Gesetze dieser Dimension ihn entsorgen wollten wie einstörendes Krebsgeschwür. Langsam, sehr langsam, und doch unaufhaltsam. Erst als sie ihn wieder anfasste, endete es. „Du hast jetzt also auch noch einen Bruder? Was kommt als nächstes? Sagst du mir, dass du mein Vater bist?“ Sie atmete tief durch.
„Hey Bianca, lass uns schnellstmöglich irgendein Café ansteuern. Zum einen habe ich einen Mordshunger, und zum anderen denke ich, dass unser Locharm hier uns seine ganze Geschichte erzählen sollte. Von Anfang bin Ende. Bei einem guten Cappuccino.“
„Das trifft sich gut“, gab Bianca vom Fahrersitz zurück “Wir sind gleich in Hamburg.“
Nicht mal eine halbe Stunde später saßen die drei in einem gemütlichen Café, welches auch zu dieser späten Stunde noch geöffnet hatte – inzwischen war es bereits weit nach Mitternacht – und glücklicherweise auch nicht gerade gut besucht war. Bis auf einen nicht besonders aufmerksamen Mann, der seine Nase in ein Buch vergraben hatte, und einer ziemlich angetrunkenen, dösenden Frau waren sie die einzigen Gäste.
Sie hatten sich einen Platz ganz am Ende des Raumes gesucht. Direkt über ihnen hing ein Fernseher, auf dem gerade irgendeine Doku über die alten Römer lief. Die gertenschlanke Hexe hatte sich einen großen, gezuckerten Cappuccino, einen Blaubeermuffin, einen Schokodonut und einen Vollkornbagel mit Frischkäse und getrockneten Tomaten bestellt, während die eher mollige Bianca vor einem ungesüßten schwarzen Kaffee saß. Das Schicksal war nicht immer fair bei der Verteilung des Stoffwechsels. Davox hatte sich ein Stück Sahnetorte und ein Glas Milch bestellt. Irgendwie hatte er ziemlichen Heißhunger auf Calcium bekommen.
„Also gut,“ sagte Hexe, während sie an ihrem Cappuccino schlürfte und von ihrem Muffin abbiss, „erzähl uns deine Geschichte!“
Davox holte tief Luft, nippte noch einmal an seiner Milch und begann.„Also, eigentlich waren ich und mein Bruder nur auf dem Weg zum Festival,als unser Anschlusszug dummerweise ganze drei Stunden Verspätung hatte. Und das ausgerechnet mitten in dem ödesten Kaff, das man sich nur vorstellen kann. Aus lauter Langeweile sind wir dann hinunter Richtung Wald spaziert und sind dort auf eine – wie wir dachten – verlassene Hütte gestoßen. Allerdings war sie nicht verlassen. Ganz und gar nicht.“
Davox stockte kurz, als ihn die schmerzhaften Erinnerungen überkamen. „Im Inneren fanden wir Arnold Wingert vor, einen Biologieprofessor, der, wie ich heute weiß, einer dieser Knochenzombies gewesen ist. Vielleicht sogar der erste von ihnen. Außerdem trafen wir dort Devon, einen „Weisendes Gebeins“, wie er sich selbst nannte, der einen schwarzen Umhang mit Knochenintarsien trug und dem überall am Körper faustgroße Stücke Fleisch fehlten.“
„So wie bei dir?“ warf Hexe ein, während sie sich gerade das letzte Stück des Muffins in den Mund schob und zum Donut griff. Bianca starrte ihn düster und grübelnd über ihren noch unberührten Kaffee an.
„So wie bei mir. Nur viel extremer“, stimmte Davox zu. „Zu guter Letzt befand sich dort auch eine riesige Knochenschlange. Sie war halb so groß wie das gesamte Haus und besaß riesige Hände, die wiederum aus menschlichen Knochenhänden bestanden. Devon nannte sie Krixxamesh. Ich vermutete, dass ihr sie bereits kennengelernt habt.“
Die beiden nickten. „Das Biest, das die Hälfte aller Besucher niedergemetzelt hat und vor dem wir mitten in die Zombiehorde geflohen sind.“
„Ja“, bestätigte Davox. „Krixxamesh nahm Martin mit seinen Knochenhänden gefangen, und Devon zwang mich dazu, selbst zu einem Weisendes Gebeins zu werden. Dafür versprach er mir, Martin am Leben zu lassen. Er hatte es versprochen, er…“ Ein kurzes Zittern ging durch Davox‘ Leib. Tränen füllten seine Augen.
Hexe nahm seine Hand. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass es auseiner Regung heraus geschah. Nicht allein aus Pflichtbewusstsein und weil er sich sonst bald auflösen würde. „Alles gut, Davox. Nimm dir Zeit!“
Er warf ihr einen dankbaren Blick zu, sprach dann aber weiter. „Er hat ihn zu einem Knochenzombie gemacht. Zu einem seelenlosen, geistlosenDing. Dieser Professor Wingert… er hat seine Zunge in ihn gesteckt undihm das Leben ausgesaugt. Oder seine Menschlichkeit, oder… was weiß ich. Jedenfalls tat er das alles erst, nachdem ich mir das hier selbst zugefügt hatte. Allein mit Zähnen und Fingernägeln.“ Er blickte auf seinen ausgehöhlten Arm. So schön, flüsterte wieder die Stimme. So wunderschön. Du musst noch mehr Fleisch entfernen! „Und nachdem ich einige Worte gesprochen hatte. Ich… Ich hätte all das niemals getan. Ich wäre vielleicht sogar lieber gestorben. Aber ich konnte Martin nichtim Stich lassen. Wenn ich nur gewusst hätte…“ Seine Worte versiegten in dem Maße, in dem seine Tränen schneller flossen.
Wieder war es Hexe, die ihn aufmunterte. „Wie hättest du das wissen können? Jeder anständige Mensch hätte es versucht. Hätte nach diesem Strohhalm gegriffen. Auch ich hätte nicht anders gehandelt. Auch wenn allein die Vorstellung, sich selbst so verstümmeln zu müssen, grauenhaftist.“
Davox nickte dankbar und kämpfte seine Tränen zurück. „Jedenfalls habe ich mich danach sogar stärker gefühlt. Devon hatte mich noch gewarnt, dass ich mich nun, da ich ein Weiser des Gebeins geworden sei, nicht zu weit von Krixxamesh entfernen dürfe, da nur in ihm etwas von der Magie wohnt, die uns erlaubt, weiterzuexistieren.“
Davox nippte an seiner Milch und sprach dann weiter. „Ich muss Martin retten. Ich kann ihn nicht bei diesen Kreaturen lassen.“
Hexe sah ihn traurig an. „Ich sage dir das echt ungern, Junge, aber leider ist er selbst eine dieser Kreaturen. Und die wirkten mir nicht so,als ob man mit ihnen vernünftig reden könnte.“
Davox schüttelte den Kopf. „Ich kann ihn kontrollieren. Bei einem vonihnen ist es leicht. Und vielleicht kann ich ihn irgendwie heilen. Irgendeine Möglichkeit dazu muss es doch geben.“ Er glaubte zwar selbst nicht wirklich daran. Aber er zwang sich dazu. Er musste es glauben.
„Ich hoffe, dass du recht hast“, sagte Hexe mitfühlend. Dann trat wieder drückende Stille in dem Café ein. Der Mann in der Nähe des Eingangs blätterte die Seiten seines Buches um, die betrunkene Frau schnarchte leise vor sich hin.
„Was geschah danach?“ presste Bianca plötzlich hervor. Es war das Erste, was sie sagte, seit sie in das Café gekommen waren.
Davox blickte sie nun direkt an. „Danach hat Devon Krixxamesh irgendwie in sein Amulett verschwinden lassen – In irgendeine seltsame Dimension vielleicht, genau weiß ich es auch nicht – und wir sind gemeinsam zum Festival gefahren. Dort hatte Devon den Plan gefasst, das Festival zum Keim der „Herrschaft der Knochen auf dieser Existenzebene“ zu machen. So waren jedenfalls seine Worte. Dazu hat er Krixxamesh entfesselt und meinen Bruder – den ich einfach auf dem Festivalgelände zurückgelassen habe – und Dr. Arnold Wingert dazu benutzt, einen Teil der Festivalbesucher in Knochenzombies zu verwandeln.“ Den Part mit Knochenherz sparrte Davox lieber aus. Seine Rolle dabei gefiel ihm nichtwirklich, und er sah auch so schon nicht wie der strahlende Held seiner Geschichte aus.
Biancas Stimme wurde sonderbar ruhig, ihr Gesicht zu einer Mauer aus Eis. „Nur damit wir uns richtig verstehen. Du hast dich der Sekte des Mannes angeschlossen, der meinen Bruder und seine Bandkollegen ermordete? Du hast ihn zum Festival geführt, und du warst dabei die ganzeZeit sein Diener und Handlanger? Wegen dir habe ich nun keine Familie mehr? VERSTEHE ICH DAS RICHTIG?!?“ Den letzten Satz schrie Bianca und schmiss Davox ihre noch volle Kaffeetasse an den Kopf. Der kochend heißeKaffee landete auf seinem unversehrten Arm. Die Tasse hingegen knallte auf den Tisch und zersprang in mehrere Scherben.
Davox schrie instinktiv auf, auch wenn er vor nicht allzu langer Zeit bereits sehr viel größere Schmerzen erlitten hatte.
„ICH HASSE DICH!!“ schleuderte Bianca ihm entgegen. „Du Monster! Du verdammtes abartiges, hässliches, schwanzloses Dreckstück!“ Ihre lackierten Nägel hieben direkt auf den freigelegten Knochen seines Unterarms. Und das tat wirklich weh. Mehr sogar als Biancas Kränkungen. Davox packte sich an seinen Arm und hielt ihn fest. Unfähig, ein Wort zu sprechen. Wieder traten Tränen in seine Augen.
Inzwischen hatte sich eine der beiden Angestellten des Cafés vom Tresen wegbewegt und kam direkt auf die drei zu. Hexe ergriff das Wort. „Beruhige dich, Bianca. Er kann nichts dafür. Außerdem habe ich keine Lust, aus dem Laden geschmissen zu werden.“
Bianca funkelte Hexe wütend an. „Nichts dafür? Du verteidigst diesen Penner auch noch? Was bist du nur für eine Freundin?“ aber Bianca gab sich selbst die Antwort auf ihre letzte Frage. Meine Beste. Meine Einzige. Und aus diesem Grund blieb sie auch still, als die Bedienung zu ihnen trat.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte die dunkelhaarige, kleine Frau in einem Tonfall, der ausdrückte, dass sie die Antwort schon zu kennen glaubte. „Klar. Es hat sich geklärt. Mein Freund hier hat nur gerade Schluss gemacht. Und seine Ex hat es nicht gut verkraftet. Den Schaden für die Tasse bezahle ich. Setzen Sie ihn einfach auf meine Rechnung!“
Die Bedienung sah sie zwar skeptisch an, nickte dann aber und verschwand wieder.
Inzwischen war Davox wieder halbwegs zur Besinnung gekommen. Statt Bianca für die heftige Behandlung seinerseits anzugreifen, sagte er abernur resginiert: „Das hatte ich wohl verdient. Ich weiß, ich hätte nichtbei all dem mitmachen dürfen. Diese Schuld werde ich wohl nie wieder loswerden. Aber Devon ist so mächtig. So furchterregend. Ich dachte, ichhätte keine Wahl.“
„Man hat immer eine Wahl!“ erwiderte Bianca genauso eisig, aber immerhin ruhiger. Wenn auch wahrscheinlich nur aus Rücksicht auf ihre Freundin.
„Immerhin solltest du auch daran denken, dass Davox uns das Leben gerettet hat. Was immer er sonst getan haben mag: Ohne ihn wäre wir nicht hier.“
„Dann vielen Dank, Davox!“ ätzte Bianca. „Vielen Dank, dass ich noch da bin, um all das Elend zu erleben!“
Darauf folgte Schweigen. Hexe knabberte lustlos an ihrem Bagel und hielt Davox versehrte Hand. Bianca versuchte Davox mit Blicken aufzuspießen. Davox hingegen hielt sich weiter den Arm, wenn auch in erster Linie, um seine Wunde vor den Blicken der Angestellten zu verbergen.
Es war Hexe, die die Stille brach. „So kann es nicht weitergehen. Weder mit diesen sinnlosen Wutausbrüchen und Attacken“, sie blickte Bianca tadelnd an, „noch mit dem erzwungenen Händchenhalten.“ Sie schaute zu Davox, der bestätigend nickte, auch wenn er in Wahrheit die Berührungihrer Hand sehr genoss. Allerdings war es auch nicht besonders romantisch zu wissen, dass sie dies nur aus Mitgefühl tat. „Es gibt nur einen Weg, um Davox seine Freiheit zurückzugeben und gleichzeitig den wahren Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen.“
„Und der wäre?“ fragte Bianca skeptisch.
Hexe strich sich durchs Haar und setzte ein kampflustiges Gesicht auf. „Wir gehen zurück zum Festival, reißen diesem Motherfucker Devon den löchrigen Arsch auf und entreißen ihm dann das Amulett. Dann bekommtBianca ihre verdiente Rache, Davox seine Freiheit und seinen Bruder undich meine Hände zurück. Und obendrein retten wir auch noch die Welt. Klingt das nicht nach ’nem Plan?“
Bianca lächelte plötzlich. Der Gedanke an Rache schien ihr zu gefallen.
Davox hingegen wurde kreidebleich. „Das ist Wahnsinn. Der Typ verfügtüber schwarze Magie, zehntausende von Knochenzombies und wahrscheinlichinzwischen einige weitere Anhänger. Von Krixxamesh ganz zu schweigen. Das wäre Selbstmord.“
„Reg dich ab, Davox! Du kennst doch meinen Spitznamen. Und lass dir
gesagt sein: Manche Hexen werden nicht verbrannt. Manche Hexen sind das Feuer!“ Ihr Lächeln war derart selbstbewusst und verwegen, dass selbst Davox kurz an seiner pessimistischen Einstellung zweifelte.
Dann aber wurde die Dokumentation im Fernsehen von einer Sondermeldung unterbrochen. „Auf einem der größten Metal-Festivals Deutschland kam es zu einer Geiselnahme gewaltigen Ausmaßes. Die Verantwortlichen, bei denen ein islamistischer Hintergrund nicht ausgeschlossen werden kann, haben alle Zugänge zum Festivalgelände fest in ihrer Hand und drohen damit, einen Sprengsatz zu zünden, falls die Polizei oder Journalisten dem Gelände zu nahe kommen oder einer der Besucher einen Fluchtversuch unternimmt. Die auf dem Gelände platzierte Bombe soll dabei genug Sprengkraft besitzen, um das gesamte Areal inklusive der angrenzenden Stadt zu zerstören. Die umliegenden Gebiete wurden vorsichtshalber evakuiert. Ob sich die Terroristen tatsächlich imBesitz einer solchen Bombe befinden, oder ob es sich um eine leere Drohung handelt, ist noch nicht abschließend geklärt. Auch haben die Terroristen bislang noch keine Forderungen gestellt. Aus Rücksicht auf die Geiseln können wir Ihnen leider keine Bilder von dem Ereignis zeigen. Wir halten Sie aber dennoch auf dem Laufenden.“
„Eine Geiselnahme? Islamisten? Bomben? Halten die uns für blöd?“ kommentierte Bianca die Meldung, die vor lauter Überraschung sogar damitaufgehört hatte, Davox böse anzustarren.
„Die meisten von uns sind blöd“, erwiderte Davox lakonisch und wandte sich dann wieder an Hexe. „Jedenfalls macht das die Umsetzung deines Plans nicht einfacher.“
Hexe zuckte nur mit den Schultern. „Vielleicht aber doch. Manche Dinge findet man nur heraus, wenn man sie sich ansieht.“
~o~
Und das taten sie auch. Sie zahlten ihre recht saftige Rechnung, verließen das Café, stiegen in den Wagen und fuhren zurück in Richtung des Festivals. Die Fahrt verlief dabei größtenteils schweigend. Die Atmosphäre war angespannt und vergiftet. Hexe versuchte es zwischenzeitlich mit Musik, um die Stimmung etwas aufzulockern, aber siemachte es dadurch nur noch schlimmer. Die Töne wirkten wie Fremdkörper, und sie schaltete das Radio schnell wieder aus. Es war nicht nur das böse Blut zwischen ihnen. Es war auch eine wachsende Unruhe, die von
außen kam und wie Gift in den Innenraum des Wagens drang.
Je näher sie dem Festival kamen, desto weniger Fahrzeuge teilten die Straße mit ihnen. Und als sie die Grenze der kleinen Ortschaft passierten, wurde das Gefühl förmlich greifbar. Jegliches Gefühl von Leichtigkeit und Gelassenheit verließ ihre Herzen. Die Welt wurde plötzlich zu einem Ort, an dem einen jeder Grashalm und jede Kreatur gefährlich werden konnte. An der man nicht mal der Luft oder den Naturgesetzen noch trauen durfte. An dem Angst, Hass und Hunger der Normalzustand und alle anderen Emotionen feindliche Eindringlinge waren,die schneller zugrunde gehen mussten als ein naives Kleinkind in einerVersammlung von Psychopathen.
Sie hielten in unmittelbarer Nähe des Festivalgeländes an und stiegenschweren Herzens aus, mit der Erwartung, jeden Moment auf Straßensperren oder Blaulicht zu stoßen. Oder wenigstens auf Polizisten,Schaulustige, vielleicht sogar Militärs. Aber da war nichts. Gar nichts. Das Einzige, was sie sahen und hörten, waren Stille und Leere. Nicht einmal Insekten, Ratten oder Katzen ließen sich sehen, während sieauf das stockdustere Festivalgelände zugingen. Es hätte Hexe nicht einmal gewundert, wenn selbst alle Mikroorganismen von hier verschwundenwären. Selbst die Luft schmeckte falsch. Sie war scharf und kalkig, und jeder Atemzug trocknete die Stimmbänder und die Lungen aus. „Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht“, krächzte Bianca heiser und sprach damit
das aus, was Hexe und auch Davox dachten. „Wo sind die ganzen Leute hin? Es gibt bei so etwas doch immer neugierige Gaffer. Und wo ist die Polizei?“
„Vielleicht halten sie sich wegen der ‚Bombendrohung‘ zurück?“ schlug Hexe vor, auch wenn sie selbst nicht daran glaubte.
„Ich bitte dich!“ gab Bianca in ungläubigem Tonfall zurück. „Wir wissen doch alle, dass das nur eine dumme Geschichte ist. Und gerade deswegen hätte ich eigentlich erwartet, dass es hier von Polizisten wimmelt. Immerhin muss man so ein Theater doch möglichst glaubwürdig inszenieren.“
Da keiner von ihnen eine Lösung für dieses Rätsel hatte, gingen sie einfach weiter auf den Eingang zu. Hexe schritt mutig voran, Bianca folgte direkt darauf und Davox bildete die Nachhut. Sie alle hatten die Taschenlampenfunktion ihrer Smartphones angeschaltet, und die Lichtstrahlen schnitten ungewöhnlich mühsam durch die Nacht, wie durch ein zähes Stück Fleisch.
Als sie den offiziellen Parkplatz erreichten, auf dem die geparkten Autos der Festivalbesucher wie Grabsteine herumstanden – und genaugenommen waren sie das ja nun auch – war es Davox, der als nächster die Stille brach. Seine Stimme klang verängstigt. „Mädels!“ sagte er halb flüsternd, halb schreiend. „Ich weiß jetzt, wo all die Polizisten hin sind.“
Sofort drehten sich Hexe und Bianca um und erblickten eine ganze Hundertschaft von Gesetzeshütern, die neben ihren Uniformen noch etwas anderes gemeinsam hatten. Kalkweiße Gesichter, ausdruckslose Augen und gefährliche Knochenzungen, die bereits gierig aus ihren Mündern ragten.
Knochenwald-Serie
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