GeisterGeisteskrankheitLangeTod

Die Geister von Amhurst

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

„Serena. Bist du da?“

Die Flüsterstimme wabert durch den Raum zu dem Bett, in dem eine Frau hochschreckt und sich verwirrt umschaut.

„Hallo?“, fragt sie ins Halbdunkel und hofft, niemanden in ihrem Zimmer zu entdecken. Tatsächlich ist niemand da. Sie steigt aus dem Bett, wischt sich das Haar aus dem Gesicht und macht das Licht an. Sie ist alleine im Zimmer. Vielleicht eine dieser Stimmen, die man im Halbschlaf hört. Wortfetzen. So real, dass man erschrickt.

Sie horcht. Stille. Alles ist still. Die ganze Klinik schläft. Bald schon, wird sie erwachen und der alltägliche Wahnsinn wird von vorne beginnen. Wie jeden Tag.

Sie geht zur Zimmertür und öffnet sie, um sich im Flur umzuschauen. Es ist niemand zu sehen. Die Halogenlampen summen beruhigend und werfen ein helles Licht auf den Teppich in der alten Anstalt. Auch die Schwestern, die tagsüber so geschäftig von Zimmer zu Zimmer eilen, sind nicht zu sehen. Alle schlafen.

Sie läuft in kleinen Schritten über den Flur, leise, um niemanden aufmerksam zu machen. Unschlüssig dreht sie wieder um und läuft zurück. Dann überlegt sie kurz und läuft doch wieder den Flur hinunter zum Aufenthaltsraum. Er ist dunkel. Sie geht hinein. Ein ungutes Gefühl überkommt sie und läuft ihr kalt den Rücken hinunter. Sie hat das Gefühl, angestarrt zu werden. Sie bleibt stehen und horcht.

Stille.

Sie geht einige Schritte in den Raum hinein und meint, ein kurzes Ächzen zu hören.

Aber sie weiß, dass es vermutlich nur ihre Gedanken sind, die ihr einen Streich spielen.

Vermutlich hat die Frau sich die Stimme eingebildet. Es ging ihr die Letzte Zeit doch schon besser. Die Ärzte haben ihr Medikamente gegeben und seitdem hat sie nicht mehr diese Ängste und Stimmen hat sie schon lange nicht mehr gehört.

Trotzdem überkommt sie ein Schaudern.

Sie geht zurück in ihr Zimmer, froh den Aufenthaltsraum zu verlassen, und schaut sich unsicher um bevor sie wieder ins Bett geht.

Sie meint, ein leises Wispern zu hören und geht zur Wand.

Da… ganz schwach. Kaum verständlich. Anscheinend hat sie sich doch nicht geirrt. Sie hört eine Stimme.

„Bist du da? Kannst du mich hören?“ Ganz schwach nur.

Serena legt ihr Ohr an die kalte Wand.

„Kannst du mich hören?“, flüstert es.

Serena stolpert zurück. Grauen erfasst sie. Die Stimme ist da. Real. Ganz anders, als sie es jemals zuvor gehört hat. Ganz gleich, was Doktor Osbourne sagt. Das Flüstern ist real.

Sie läuft aus dem Zimmer und greißt die Tür zum Nebenzimmer auf. Es ist dunkel. Sie schaltet das Licht an und schreckt damit einen Mann auf, der sich verwirrt im Bett aufsetzt.

„Was…. Geh raus.“, murmelt er.

Serena sieht ihn und erkennt, dass er er geschlafen hat. Er kann es nicht gewesen sein.

„Hörst du es denn nicht?“, fragt sie.

„Was denn?“. Der Mann setzt seine Brille auf.

„Hör doch.“. Serena legt ihr Ohr an die Wand

„Serena. Ich weiß, dass du mich hören kannst.“ Die Stimme flüstert. leise. Sie kommt aus der Wand.

„Ich höre nichts. Geh raus. Oder ich hole den Nachtdienst.“ Der Mann überlegt kurz und drückt dann einen Knopf neben seinem Bett.

Serena verlässt das Zimmer und läuft wieder auf den Flur. In kleinen Schritten trippelt sie an ihrem Zimmer vorbei zum anderen Ende, wo nur das Treppenhaus ist.

Sie öffnet die Tür um zu schauen, ob dort jemand steht und sie ruft. Doch das Treppenhaus ist leer und weht ihr eine stille Kälte entgegen.

Die Frau geht wieder in ihr Zimmer und stellt sich an die Wand.

„Wer bist du?“, fragt sie in die Stille.

Keine Antwort.

„Sag doch was.“ Serena klopft gegen die kalte Tapete. „Gerade hast du doch auch was gesagt.“

„Ich kann dich hören.“, flüstert die Stimme.

Serena reißt die Augen auf und taumelt einen Schritt zurück.

„Du bist in der Wand? Bist du eingemauert? Wo bist du?“ Serena legt sich auf den Boden und presst ihr Ohr auf den Teppich.

„Ich bin hier.“, wispert die Stimme wieder. Sie kommt eindeutig nicht aus dem Boden, sondern aus der Wand.

Serena springt auf und legt ihr Ohr wieder an die Wand. „Und was willst du von mir?“

In diesem Moment geht die Tür auf. Die Frau dreht sich erschrocken herum. Zwei Pflegerinnen kommen in den Raum. Eine davon geht auf Serena zu und streichelt ihr beruhigend über den Arm.

„Hey, Serena.“ Ihre Stimme klingt warm und freundlich. „Was ist denn mit dir los? Du schläfst ja garnicht.“

Die Frau schaut sie verwirrt an und dreht dreht den Kopf zur Wand.

„Du darfst ihr nichts verraten.“, flüstert die Stimme. „Es ist unser Geheimnis. Ich habe einen Plan.“

Die Schwester scheint zu ahnen, was in Serena vorgeht.

„Sind die Stimmen zurück?“, will sie wissen.

Zurück? Was meint sie damit? Diese Stimme ist nicht wie die anderen. Sie ist real. Können sie sie etwa nicht hören?

„Nein.“, sagt Serena wenig überzeugend. „Ich höre garnichts. Ich wollte nur etwas malen.“

Die Pflegerin reicht ihr einen Becher mit einem Medikament.

„Komm, nimm das und dann setzen wir uns hin und reden ein bisschen.“, meint sie freundlich.

Serena weiß, dass sie Konsequenzen zu erwarten hat, wenn sie die Medikamente nicht nimmt. Sie ist schon lange genug hier. Wenn man einmal eine Diagnose hat, ist es egal, was das Leben mit sich bringt. Man wird in jeder Situation auf diese Diagnose reduziert. Sie wird sich fügen, das Medikament nehmen, schläfrig werden und ein bisschen mit der Pflegerin reden. Sie ist nett, Alle hier sind nett. So ist es nicht. Aber anscheinend, scheinen sie die Wahrheit zu ignorieren.

Serena nickt und nimmt den Becher.

„Keine Sorge, ich bin da.“, flüstert die Stimme. Serena gibt sich Mühe so zu tun, als höre sie sie nicht.

„Alles wird gut.“ Die Pflegerin lächelt. „Du wirst sehen.“

„Ich warte auf dich.“, flüstert die geisterhafte Stimme.

Serena ahnt, dass nichts gut wird.

++++++++++++++++++++++

Einige Jahre Später

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Es klingelt.

Dann knackt es in der Leitung. Jemand hebt ab.

„Osbourne“, sagt eine Männerstimme.

– Kurze Stille. –

„Hallo Doktor Osbourne. Hier ist June.“

– Stille –

„June Colletti. Meine Mutter ist…. war…meine Mutter war Serena Colletti.“

„June…“, Die Mänenrstimme klingt, als würde sie kurz überlegen. „Ich kenne dich von den Besuchen. Es tut mir leid, was mit deiner Mutter geschehen ist. Es war sicher nicht leicht für dich.“

„Doktor Osbourne. Deswegen rufe ich nicht an.“ Irgendetwas in Junes Stimme klingt merkwürdig angespannt. „Hier passieren merkwürdige Dinge.“

„Wo bist du denn, June?“, fragt Doktor Osbourne

„In Amhurst.“

Wieder ist es kurz Still.

„Du bist in Amhurst?“ Osbourne klingt alarmiert.

„Ja.“, bestätigt June. „Und irgendetwas stimmt hier nicht.“

„Amhurst wurde vor drei Monaten geschlossen.“, mischt sich eine Frauenstimme ein.

„Das ist meine Frau…Meredith…. Ich habe auf Lautsprecher geschaltet, June. Was treibst du in Amhurst? Du solltest nicht dort sein.“ Osbourne ist besorgt

„Wir…..Wir sind gestern hergekommen. Spontan. Wir wollten die letzte Station meiner Mutter sehen und heute wieder fahren.“, sagt June. „Aber dann….“

„Dann was?“, will der Doktor wissen.

„Haben sie jemals seltsame Dinge in Amhurst erlebt, Doktor Osbourne?“

„Was für Dinge, June?“, fragt Osbourne.

„Ich…. ich glaube…. ich glaube, meine Mutter ist noch hier.“, flüstert June in den Hörer.

„Pass auf, June. Ich komme zur Klinik, okay? Bitte bleib, wo du bist.“, sagt Ostbourne.

„Nein.“ Osbournes Frau klingt alarmiert. „Du willst einfach so, weil dich jemand anruft, in eine verlassene Klinik fahren? Das ist verrückt. Es wird bald dunkel. Du weißt doch garnicht, wer das ist. Ich möchte nicht, dass du gehst.“

„Du kennst June Colletti, Schatz. Sie war oft zu Besuch. Nur weil ihre Mutter keine Patientin mehr ist, heißt das nicht, dass uns alles drum herum nicht mehr interessieren muss.“

„Trotzdem. Fahr nicht.“, sagt die Frau.

„Es dauert nicht lang. Versprochen.“, beschwichtigt der Mann.

„Wenn das so ist: Ich komme mit…. Nein, keine Widerrede.“, sagt Osbournes Frau.

„June. Bleib, wo du gerade bist. Wir kommen dich abholen.“. Doktor Osbourne klingt entschlossen.

„Danke, Doktor. Wir sind im Aufenthaltsraum.“ June klingt erleichtert.

Es Klickt. Das Gespräch wird beendet.

++++++++++++++++++++++++++++++++

Kurze Zeit später.

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„Du bist verrückt, Schatz. Du fährst, nur weil dich jemand anruft, mirnichts, dirnichts in eine verlassene Nervenheilanstalt, um ein Mädchen abzuholen, dass dort eingebrochen ist, um seiner toten Mutter nahe zu sein? Das ist verrückt. Wir hätten die Polizei rufen sollen. Wir SOLLTEN die Polizei rufen.“

Meredith Osbourne schaut besorgt aus dem Fenster, während ihr Mann das Auto Stadtauswärts in den nahen Auwald lenkt, in dem die Klinik von Amhurst liegt. Ein altes Gebäude aus den 1920er Jahren, das stillgelegt wurde, weil unweit davon eine neue, große und moderne Nervenklinik gebaut wurde. Seitdem Amhurst die letzten drei Monate nicht mehr genutzt wurde, kam es oft vor, dass der Sicherheitsdienst Jugendliche und abenteuerlustige Youtuber vom Gelände verscheuchen musste. Anscheinend war June mit einigen Freunden dort eingestiegen und hatte die bedrohliche Antmosphäre unterschätzt, die leerstehende Häuser auf Menschen ausüben konnte.

„Ich bin es ihr irgendwie schuldig, Schatz. Sie musste mit ansehen, wie ihre Mutter mehr und mehr in den Wahnsinn glitt und sehr langsam gestorben ist. Stück für Stück. Das Mädchen war damals gerade mal siebzehn. Und ihre Mutter war sehr schwer krank. So etwas verkraftet man nicht so einfach. Nicht, nach so kurzer Zeit.“ Doktor Osbourne klingt besorgt. „Wir sollten nach ihr sehen. Wenn sie in einer Krise ist, sind wir die besten, um ihr beizustehen. Du hast dein Handy mit. Sobald irgendetwas merkwürdig ist, rufst du die Polizei. Deal?“

Meredith nickt. Ihr ist trotzdem mulmig zumute.

Das Auto biegt in die Allee ab, an deren Ende Amhurst Asylum liegt. Ein schönes, altes Gebäude, in einer gepflegten und großzügigen Parkanlage. Der Herbst taucht die Landschaft in ein farbenrächtiges Bunt. Im Tag liegt bereits ein Hauch Dämmerung. Ein schöner Tag.

Das Auto biegt auf den Hof vor der Klinik ein und parkt vor dem Haus. Es sieht still und verlassen aus. Kein Anzeichen dafür, dass Menschen dort drin sind.

Meredith und Frank Osbourne steigen aus. Man merkt, wie angespannt die Frau des Doktors ist. Sie möchte nicht hier sein und hält ihr Handy in der Hand. Beide Mustern das Gebäude, dass sie mit dunklen, stillen Fensterscheiben anstarrt und wartet, was passiert. Leere Häuser wecken tiefe Ängste in uns. Weil nichts darin wohnt, außer das Ungewisse.

„Ich habe den Schlüssel für den Hintereingang. Ich gehe hinein. Bleib hier, Schatz. Okay?“ Doktor Osbourne küsst seine Frau auf die Wange. „Es geht schnell und…“

Schritte ertönen. June und ein Teenager kommen hinter dem Haus vor. June hat ihre blonden Haare zu einem unordentlichen Knoten gedreht und sieht aus, als wäre sie auf einem Campingausflug. Ihr Begleiter sieht aus, wie ein normaler High School Schüler. Beide laufen auf die Osbournes zu. June lächelt, sieht aber angespannt aus. Der Junge wirkt besorgt.

„Doktor Osbourne.“, sagt sie und lächelt ihn kurz an. „Hallo Frau Osbourne.“

Der Junge nickt dem Ehepaar zu.

„June. Was machst du hier nur?“. Frank streichelt ihr kurz über die Schulter. „Du solltest nicht hier sein.“

„Wir … wollten uns nochmal von Mama verabschieden, bevor das hier abgerissen wird oder ein Edelhotel wird.“, erzählt June leise. „Aber….“

„Aber was?“, fragt Frank leise.

„Doktor. Bitte. Kommen Sie mit. Kommen Sie mit in den Aufenthaltsraum. Bitte. “ June klingt fast flehend.

„Frank, nein.“, sagt seine Frau eindringlich.

„Was ist dort im Aufenthaltsraum, June?“, will Osbourne wissen.

„Wir wollten dort übernachten. Coby, ich und Jarret. Und…“, beginnt June. Doktor Osborune unterbricht sie.

„Jarret? Ihr wart zu dritt? Wo ist der andere?“, Will Frank wissen und klingt alarmiert.

„Er ist oben. Es geht ihm … nicht gut.“, sagt der andere Junge und schaut auf den Boden. „Er hatte einen Anfall oder so.“

Frank schaut seine Frau an. „Wir gehen rein und schauen nach ihm. Wenn er Hilfe braucht müssen wir als Ärzte ihm helfen.. June, zeig uns wo Jarret ist.“

Verlassene Häuser sind gruselig. Verlassene Nervenkliniken noch gruseliger. Die Osbournes hatten jahrelang hier gearbeitet und sich niemals unwohl gefühlt, doch nun, wo das lebhafte Summen der Halogenlampen nicht mehr zu hören war, nicht mehr die Stimmen der Patienten und des Personals über die Gänge hallten, wirkt das Haus bedrohlich und die Leere der Räume saugt die Angst aus den Gemütern wie ein Schwamm und sickert in die Wände. Das Haus füllte sich an mit Angst und Leere und wurde mehr zu mehr zu einem Geisterhaus. June und Coby waren durch ein offenes Fenster der Küche eingestiegen. Doch der Doktor schließt der Gruppe die Hintertür auf. Die Teenager gehen voran. Die Osbournes folgen ihnen. Die beginnende Dämmerung scheint grau ins Gebäude.

„Wir haben im Aufenthaltsraum unsere Schlafsäcke ausgebreitet und wollten dort über Nacht bleiben….doch…“ Coby verstummt.

„Doch was?“, will Frank wissen und bekommt keine Antwort während sie zum Treppenhaus gehen.

„Doktor Osbourne. „, beginnt June.

„Ja?“

„Doktor. Warum GENAU war meine Mum in der Klinik?“ fragt das Mädchen. „Ich kenne die ganzen Diagnosen und Wörter. Aber es sind halt nur Wörter. Warum war sie wirklich da?“

Der Doktor überlegt. Soll er es ihr sagen? Soll er sie damit weiter belasten oder ist er es ihr schuldig, ihr die Antworten zu geben, die sie sucht. Wird sie mit den Antworten zufrieden sein und damit Erkösung finden? Oder liegt ihr Problem tiefer?

„June. Deine Mutter war sehr krank.“ Die Gruppe geht die Treppe hinauf in den dritten Stock. „Sie litt unter paranoider Schizophrenie mit Tageslichthalluzinationen und sie hatte beinahe jede Nacht Schlafparalysen mit Halluzinationen. Sie war ein sehr kranker Mensch. Sie war in Amhurst, weil hier der Ort war, an dem sie sich und anderen am wenigsten schaden konnte. Sie war hier sicher, June.“ Der Doktor klingt auf einmal ganz sanft.

Der Flur im dritten Stock ist ganz still. Langsam fließt die Dunkelheit des Abends durch die Fenster. Der Teppich auf dem Boden schluckt jedes Geräusch. Links und Rechts gehen Türen ab. Die Zimmer der Patienten. Vor einer davon bleibt June stehen. Osbourne kennt die Tür. Er kennt das Zimmer. Er kennt die Person, die darin lebte. Er kennt den Schrecken, mit dem sie Tag und Nacht leben musste. Er weiß, dass es ihr Zimmer war. Das Zimmer von Serena Colletti. Junes Mutter.

June öffnet die Tür. Das Zimmer ist leer, bis auf ein Bettgestell. Auf den Wänden sind tiefe Kratzer von jemandem, der mit bloßen Fingern die Tapete von der Wand gekratzt hat und versuchte, sich durch den Beton zu graben. Auch jetzt noch sieht es schlimm aus. Doktor Osbourne ahnt, warum June die Tür geöffnet hat. Er sollte es sehen. Es sollte eine stumme Anklage sein. Sie brauchte jemanden, um ihm die Schuld zu geben.

„Sie hat Stimmen aus den Wänden gehört.“, sagt June und überrascht Jack damit. Anscheinend sucht June doch keine Schuldigen. „Sie wollte in den Wänden suchen und die Personen darin befreien, oder?“

Frank legt ihr die Hände auf die Schultern. „Niemand kann etwas dafür, wenn er eine solche Krankheit bekommt. Es ist niemandes Schuld.“

June antwortet darauf nicht. Sie verlassen das Zimmer. Meredith und Frank sind froh darüber.

„Wo ist Jarret?“, fragt Meredith.

„Kommen Sie.“, sagt June und geht in die Richtung des alten Aufenthaltsraumes. Es ist ein großer Raum mit hohen Fenstern und Holzbalken an den Wänden und der Decke. Einige Tische stehen im Raum. An der Wand stehen aufgestapelt einige Stühle. Im hinteren Bereich des Raumes, rechts in der Ecke liegen ausgebreitet drei Schlafsäcke und Rucksäcke. Ein Teenager liegt in einem der Schlafsäcke und schläft. Meredith Osbourne geht zu ihm, kniet sich neben sie und legt ihm die Hand auf die Stirn. Er öffnet müde die Augen und stöhnt. Dann schließt er sie wieder.

„E hat Fieber. Was ist mit ihm passiert?“, fragt sie.

June und Coby schauen sich an.

„Was denn? Nun sagt doch.“, hakt Meredith eindringlich nach.

„Wir …. wir haben hier unser Lager aufgeschlagen. Wir wollten uns hier über Mama unterhalten. Abschied nehmen und ihr noch einmal nahe sein. Uns verabschieden. Doch dann…“

„Dann was?“, fragt Frank.

Auf dem Flur sind dumpfe Geräusche zu hören. Dumpfe Schritte auf Teppich. Als würde jemand dort schnell laufen. Frank und Meredith fahren herum, in der Befürchtung, jemand könnte ins Zimmer kommen. Doch es ist niemand zu sehen.

„Dann begann das.“, flüstert June leise.

„Die Schritte?“ Ein mulmiges, drückendes Gefühl breitet sich in der Magengegend der Osbournes aus. Doch Frank ist Realist. Er hatte viele Jahre mit Menschen zu tun, die Dinge wahrnehmen, die sie als übersinnlich erklären. Er musste sich für sie immer an der Realität festhalten. Erklärungen finden. Rational sein.

„Es ist ein altes Haus, June.“, sagt er sanft und klingt dabei unsicher. „Alte Häuser machen Geräusche und vielleicht sind noch andere Leute hier eingestiegen, die sich hier herumtreiben. Ich werde dem Sicherheitsdienst Bescheid geben.“

Die dumpfen Schritte entfernen sich.

„Es sind Schritte, Doktor Osbourne. Sie hören es doch selbst. Wir haben nachgesehen. Es ist niemand im Flur. Niemand, den wir sehen können.“, sagt June. „Schauen Sie nach.“

„Wir müssen einen Krankenwagen rufen, Frank.“, sagt Meredith. „Er hat Fieber.“

„Zuerst begannen diese Schritte auf dem Flur.“, beginnt Coby leise. „Wir dachten eigentlich, das hier wäre nur ein gruseliges Abenteuer. Eine Nacht und am nächsten Morgen wieder heim. Wir waren hier im Raum. Dann kamen diese Schritte.“

„Es könnte alles sein, Coby. Die Chance, dass es Gespenster sind, ist verschwindend gering. Wir leben in einer materiellen Welt. Alles, was Geräusche macht, muss sich auch materiell manifestieren. Eine Seele hat aber keine Materie. Überleg doch mal.“ Doktor Osbourne schaut Coby eindringlich an. Der schaut auf den Boden.

„Setzen Sie sich, Doktor.“, sagt er.

Jack schaut zu seiner Frau, die noch immer neben Jarret kniet. Beide schauen sich an. Meredith schüttelt unmerklich den Kopf. Jack nickt. Er setzt sich.

June und Coby nehmen sich an der Hand. Coby atmet tief ein und schließt die Augen. „Warten Sie ab.“

„Warten? Worauf?“

Wieder hören sie dumpfe Schritte auf dem Fur. Jack Osbourne hört, wie Coby heftig atmet. Dann kommen die Schritte den Flur herunter auf den Aufenthaltsraum zu. Immer näher und näher. Jack kennt die Schritte. Er erinnert sich daran. Er erinnert sich daran, wie Serena Colletti immer mit diesen kleinen Trippelschritten den Flur auf und ab gelaufen war. Grauen kriecht in ihm hoch und schnürt ihm den Hals zu. Er sieht seine Frau an. Auch ihr steht das Grauen in den Augen.

„Zuerst…. kamen diese Schritte….“ flüstert Coby.

Frank schluckt. „Und dann?“

Jarret beginnt zu krampfen. Er reißt die Augen auf und biegt seinen Rücken durch. Er verrenkt sich grotesk und stöhnt. Meredith räumt alles beiseite, was für ihn gefährlich sein könnte.

„Dann bekam Jarret diese Anfälle.“ In Junes Stimme schwingt Grauen. „Die ganze Nacht lang. Immer wenn die Schritte ganz nah waren.“

Die Trippelschritte kommen immer näher und näher. Sie klingen dumpf auf dem Teppich . Coby umklammert Junes Hand.

„Schauen Sie doch. Schauen Sie.“. In Junes Stimme schwingt Entsetzen.

Frank und Meredith drehen sich langsam zur Tür.

„Ist sie da?“, ächzt Coby.

„Wer, Coby? Wer ist da?“, will Frank wissen. „Ich sehe niemanden.“

Meredith packt ihn am Arm und schüttelt ihn kurz. Frank schaut sie an. Sie macht eine Kopfbewegung in Richtung des Tisches, der bei der Tür steht. Frank schaut. Er sieht nichts, doch dann fällt sein Blick unter den Tisch. Es läuft ihm eiskalt den Rücken herunter. Seine Nackenhaare stellen sich auf. Unter dem Tisch sieht er zwei Füße stehen und den Saum eines Nachthemdes. Er hebt den Blick, doch über dem Tisch ist nichts.

Coby wimmert. Jarret krampft weiter. Die Füße drehen sich und gehen langsam in den Raum. Dann sind sie verschwunden. Jarret seufzt erschöpft, sinkt in seinem Schlafsack zusammen und verfällt in einen unruhigen Dämmerschlaf.

„Warum?“, stammelt Frank entsetzt und schüttelt June. „Warum seid ihr wieder hier hineingegangen? Warum seid ihr bloß wieder hineingegangen?“

„Wir konnten Jarret nicht alleine lassen.“, flüstert Coby.

„Sie ist noch hier.“ June klingt völlig klar. „Sie ist nicht fort. Mum ist noch hier.“

„Dafür gibt es eine rationale Erklärung, June.“ Meredith versucht vergeblich ruhig zu klingen. „Wir haben gerade alle etwas erlebt. Aber es wurde bewiesen, dass Menschen Pheromone ausschütten, wenn sie unter Stress stehen und dass andere Menschen diese Pheromone noch nach langer Zeit wahrnehmen können. Alte Häuser machen Angst. Menschen, die hier sind, schütten Angstpheromone aus und wer dann danach herkommt, nimmt die wahr und entwickelt ein Bedrohungsgefühl. So entstehen Geisterhäuser, June. Es sind nur Pheromone.“

„Sie haben sie gesehen.“ June klingt beinahe trotzig.

„Wir haben etwas gesehen. Es hätte auch eine Massenhalluzination sein können. Unser Hirn konstruiert ein Szenario in einer Ausnahmesituation. Es gibt tausend Möglichkeiten.“, versucht Meredith zu überzeugen.

Doch June ist bereits überzeugt. „Sie ist noch hier.“

„Selbst wenn, du kannst nichts für sie tun. Du musst gehen und dein Leben leben, June.“, sagt Doktor Osbourne sanft.

„Ich kann etwas für sie tun.“ June greift in ihren Rucktsack. Es klickt, als sie eine Pistole herauszieht und sie entsichert. Frank und Meridith erstarren.

„June, was tust du…. Ich habe deiner Mutter nur versucht zu helfen. Ich habe nichts getan, was ihr geschadet hat.“, sagt Jack Osbourne betont ruhig.

June richtet die Pistole auf Meredith.

„Ich weiß, Doktor Osbourne. Ich weiß das. Sie waren gut zu Ihr. Sie beide.“

„Dann leg die Pistole weg, Liebes.“, sagt Meredith sanft.

„Sie müssen ihr helfen.“ June klingt beharrlich.

„Ich kann ihr nicht…“, beginnt Frank und unterbricht sich, als Meredith unmerklich den Kopf schüttelt. „Ja…ja, gut. Wir werden ihr helfen. Wir werden deiner Mutter helfen. Doch dafür musst du mir jetzt die Pistole geben.“

June schüttelt den Kopf. Coby greift nach seinem Rucksack und holt eine Spritze und ein Fläschen mit einer klaren Flüssigkeit heraus. Er gibt sie Frank. Der wirft einen kurzen Blick darauf.

„Fentanyl?“, sagt er ungläubig.

June nickt. „Sie müssen ihr helfen.“

„Wie soll ich ihr damit helfen?“, will Doktor Osbourne wissen.

„Sie müssen sie beruhigen und mit ihr reden, Doktor Osbourne.“, sagt June.

„Deine Mutter ist tot, June.“ Frank klingt verzweifelt. „Ich kann nicht mit ihr reden.

Am anderen Ende des Flures poltert es. Trippelschritte.

„Sie ist noch hier. Gehen sie zu ihr.“

Frank Osbourne schaut sie entsetzt an. Ihm dämmert, was June von ihm möchte. „Ich….ich kann nicht. NEIN, June. Das werde ich nicht tuen.“

June spannt den Hahn der Pistole und zielt auf Merediths Kopf. „Sie müssen ihr helfen.“

„Es….es muss doch…es muss doch. Es wird einen anderen Weg geben.“, stammelt Frank.

„HELFEN SIE IHR!!“ schreit June und springt auf. Sie drückt Meredith die Pistole auf die Stirn.

Frank zittert. Aber er weiß, er ist Arzt. Er hat es gelernt und er weiß, wie er es dosieren muss. Er wird einfach einschlafen und behaupten, er hätte mit Serena gesprochen. Sie wäre ins Licht gegangen, oder wohin auch immer. Frank zieht die Spritze auf.

„Mehr.“, June klingt entschlossen.

Frank schüttelt den Kopf. „Dann st…“

„Mehr!“, unterbricht ihn June.

Mit zitternden Händen zieht Frank die Spritze weiter auf. Er weiß, die Dosis ist tödlich. Er schaut seine Frau an. Sie hat Tränen in den Augen. „Bitte, June..“

„Tun Sie es. Gehen Sie zu ihr und helfen Sie ihr. Sie sind ein guter Mensch, Doktor Osbourne.“ , sagt June.

Der Einstich schmerzt kurz. Doch bevor ihm klar wird, was er getan hat, reißt ihn eine Welle fort. Doktor Osbourne fällt zu Boden. Das Fentanyl schlägt brutal zu.

Er hört, wie seine Frau entsetzt schreit und es ein kurzes Handgemenge gibt.

Dann fällt ein Schuss.

Eine weitere Welle der Droge rollt in Doktor Osbourne heran. Er weiß, dass sie ihn fortreißen wird. Sein Atem setzt aus. Er beginnt zu sterben.

Coby wimmert vor Entsetzen und sinkt in sich zusammen.

June legt die Pistole weg und wirft einen letzten Blick auf die tote Meredith und sieht, wie Frank Osbourne sich auf dem Boden krümmt. Es wird aussehen, wie ein erweiterter Suizid.

Sie geht zur Wand und streichelt sie fast zärtlich.

„Serena, bist du da?“, flüstert sie.

Stille.

„Bist du da? Kannst du mich hören?“

Am anderen Ende des Flures, weit entfernt, kommen Schritte leise und trippelnd auf den Aufenthaltsraum zu.

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