Looking through shattered glass
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Teil 1 – Jules
Mein Name ist Jules. Ich bin 38 Jahre
alt und ich arbeite in einem Büro. Tatsächlich gibt es kaum etwas
Langweiligeres. Den ganzen Tag sitze ich vor dem PC und kalkuliere
irgendwelche Preise und erstelle Tabellen, damit diejenigen, die
nicht so gut mit Zahlen umgehen können, wunderbare Bildchen vor sich
haben oder bei Kuchendiagrammen daran erinnert werden, dass sie bald
zur Mittagspause ausstempeln können. Nun ja, es klingt vielleicht
verbittert, eigentlich bin ich es aber nicht. Dieser Job beschert
mir mein Auskommen. Ich lebe nicht schlecht von dem Gehalt, welches
ich bekomme. Ich kann mir vielleicht keine großen Reisen oder
Diamantringe leisten, jedoch möchte ich das auch gar nicht. Ich bin
zufrieden mit dem, was ich habe. Ein kleines Haus am Stadtrand mit
einer Bushaltestelle vor der Haustür, die mich zur nächsten
U-Bahn-Station bringt, welche mich wiederum bis direkt vor das
Gebäude fährt, in dem sich das Büro befindet, in dem ich arbeite.
Das bedeutet für mich, dass ich mich nicht durch den morgendlichen
Berufsverkehr quälen muss, was wiederum bedeutet, ich kann eine
Tasse Kaffee mehr trinken, ehe ich zur Arbeit aufbreche. Auf dem Weg
nach Hause brauche ich einfach nur in eine andere Bahn steigen und
bin mitten im pulsierenden Leben der großen Stadt. Mitten drin, im
nächsten Pub, in der Nähe des nächsten Kaufhauses, um mich einer
Shoppingtour hinzugeben oder das neuste Restaurant auszuprobieren.
Ich bin mehr als nur froh, dass ich nicht mitten in diesem Trubel
lebe, sondern nur am Rande dessen. Und – wie schon gesagt – immer
nur eine kleine Fahrt mit der U-Bahn entfernt, um dort eintauchen zu
können.
Gerade stehe ich vor dem Spiegel in dem
kleinen Bad im Untergeschoss des Hauses. Meinem Spiegelbild schneide
ich eine Grimasse, während ich eine Strähne meines kupferroten,
halblangen Haares aus meinem Gesicht streiche und diese hinter das
rechte Ohr klemme.
„Besser wird es nicht.“, murmel ich
zu mir selber und greife noch nach dem Lippenstift – Autumn Rain
verkündigt der vollmundige Name die leicht bräunliche Farbe des
Lippenstifts. Ein kurzer Blick an mir herunter sagt mir, dass ich so
das Haus verlassen kann. Eine hautenge Jeans und ein einfaches weißes
Shirt in die Jeans gesteckt und flache schwarze Ballerinas sind mein
heutiges – zugegeben simples – Ausgeh-Outfit. Nein, es ist
vielleicht wirklich nichts Besonderes, aber es ist besonders bequem
und passt zu jeder Location, die heute Abend unsere Wahl sein wird.
Uns, das sind zwei Freundinnen und ich.
Wir haben uns in eben jenem Büro kennengelernt, in welchem ich
arbeite. Ich sag doch, ich bin nicht verbittert, auch wenn es sich
eingangs so anhörte. Wenn man auf der Arbeit auch noch Menschen
trifft, die einen ein Stück durch das Leben begleiten, kann man doch
nur glücklich sein.
Mit einem energischen Ruck ziehe ich
die Badtür hinter mir ins Schloss, schnappe mir meine kleine
Umhängetasche vom Garderobenhaken und die Schlüssel von der Kommode
neben der Ausgangstür.
„Ich bin dann weg! Gute Nacht und all
das!“, rufe ich ins stille Haus hinein. Ich habe keine Ahnung, ob
mein Mitbewohner mich hört, oder ob er überhaupt da ist. Wenn ich
ehrlich bin, habe ich ihn schon sehr lange nicht mehr gesehen oder
überhaupt etwas von ihm gehört. Noch während die Haustür ins
Schloss fällt, zucke ich mit den Schultern zu meinen eigenen
Gedanken. Solange er die Miete jeden Monat zahlt, soll mir alles egal
sein. Er verwüstet das Haus nicht, er hinterlässt nur selten eine
Spur des Chaos hinter sich und er ist sehr, sehr still. Was will man
mehr. Ja, ich bin scheinbar wirklich ein Glückskind.
Auch jetzt. Ich stehe nicht einmal 2
Minuten an der Bushaltestelle, da trudelt der Bus auch schon ein. Es
blieb mir noch nicht einmal die Zeit mir eine Zigarette anzuzünden.
Mit einem hydraulischen Zischen öffnet sich die Bustür, ich zeige
meine Karte vor und steige ein. Der Abend soll endlich beginnen. Auch
eine Frau im mittleren Alter (etwas das nur diejenigen sagen, die
nicht in eben diesem mittleren Alter sind) will sich amüsieren und
den Alltagsstress einmal hinter sich lassen. Und ja, das habe ich
heute vor. Morgen ist Samstag, da brauche ich nicht ins Büro. Also
spricht auch nichts gegen einen regenerativen Tag im Bett mit
ungemachten Haaren und Waschbäraugen.
Teil 2 – John
Die Gewichte knallen zurück in ihre
Halterung und ich atme schwer. Schweiß rinnt von meiner Stirn und
meine Arme fühlen sich an, als würden sie nur noch aus Gummi
bestehen. Aber das aller zählt nicht, es ist das Adrenalin welches
durch meine Venen strömt und Glückshormone freisetzt. Das Gefühl
sich vollkommen verausgabt zu haben, bis an seine Grenzen und noch
darüber hinaus gegangen zu sein, ist unbeschreiblich. So frei, wie
gerade, kann man sich nur beim Sport fühlen, wenn man wieder einen
Schritt weiter in seinem Trainingsablauf gekommen ist. Jeden Tag
einen Schritt weiter, jeden Tag ein wenig mehr. Mit einem breiten –
ja, selbstverliebten – Grinsen spanne ich meinen Arm an und
beobachte meinen Bizeps, wie dieser sich aufgepumpt hat und deutlich
sichtbar hervorsticht.
Ein Blick in den Spiegel vor mir, zeigt
mir einen sehr glücklichen Mann im besten Alter. Mit 36 Jahren bin
ich gerade wirklich in der Form meines Lebens. Und das können nicht
Viele von sich behaupten. Außerdem weiß ich genau in diesem Moment,
weshalb in den Fitnessstudios überall Spiegel hängen. Wir Sportler
sind eben ein kleines selbstverliebtes Volk. Es sei uns gegönnt. Wir
arbeiten schließlich hart für unseren Körper.
Noch immer kleidet mich das Grinsen,
als ich mir mein Handtuch schnappe und mir über den Kopf und durch
das Schweiß getänkte halblange Haar fahre. Anschließend lege ich
es locker über meinen Nacken und schnappe mir meine Trainingstasche.
„Hey J.! Heute wieder was geschafft,
was?“
„Klar doch! Man muss ja was für sich
tun!“, lachend laufe ich an dem Mädchen vorbei, welches irgendwann
vielleicht auch einmal ein paar Muskeln ihr eigen nennen wollte.
Sadie ist neu hier im Fitnessstudio. Sie ist vielleicht gerade einmal
18 Jahre. Jung, hübsch, voller guter Vorsätze, aber ohne jeden
Muskeltonus. Allerdings hat sie ja die besten Absichten und scheint
ihren Körper verändern zu wollen. Jedenfalls war sie immer hier,
wenn auch ich hier war. Und ihr bewundernder Blick tat mir gut. Immer
wieder sehe ich, wie ihre Blicke auf mir lasten. Neidisch? Sicherlich
nicht, wohl eher bewundernd und wahrscheinlich geht ihr auch der ein
oder andere Gedanke durch den Kopf, wie sie bei mir landen könnte.
Wer kann es ihr vedenken?
„Streng dich an, Sadie. Glaub mir,
das ist es wert! Bis morgen!“, ich winke der blonden, jungen
Schönheit noch einmal zu und dann verlasse ich das Fitnessstudio
auch wieder.
Bis nach Hause ist es nicht weit. Dies
ist auch der Grund, weshalb ich dort nicht dusche. Zu Hause bin ich
ungestört und kann meinen Körper in aller Ruhe betrachten. Außerdem
ist es sauber und ordentlich, was man von den Duschen im Studio nicht
unbedingt behaupten kann. Egal, diese kleine Einschränkung nahm ich
gerne in Kauf. Zu Fuß waren es nur 10 Minuten, bis ich zu Hause war.
Da würde ich schon keine Geruchsbelästigung für andere werden.
Teil 3 – Jamie
„Es ist so langweilig!“, meine Füße
schleifen durch den Sand und mein Kinn berührt fast meine Brust. Aus
meiner Nase läuft ein wenig Schnodder, den ich mir mit dem
Handgelenk abwische. Tief seufzend erhebe ich mich von dem Karussell
auf dem Spielplatz neben meinem Haus. Ich habe Glück, dass wir einen
Spielplatz direkt neben dem Haus haben, da kann ich immer spielen
gehen. Allerdings ist das langweilig, wenn kein anderes Kind da ist.
Langsam schlendere ich zum Sandkasten
herüber. Unschlüssig stehe ich vor der Umrandung und frage mich, ob
ich eine Burg bauen soll. Vorsichtig hocke ich mich hin und vergrabe
meine Hände im Sand, welcher längst schon einmal gewechselt werden
müsste, aber davon weiß ich nichts. Was ich allerdings weiß, ist
dass der Sand zu warm, zu trocken, zu fein ist, als dass ich damit
etwas bauen könnte. Kurz hebe ich meinen Kopf und schaue zu meinem
Haus herüber. Geistesabwesend streiche ich mir mit einer Hand durch
mein halblanges Haar und hinterlasse dabei eine dreckige Spur auf
meiner Stirn. Soll ich eine Gießkanne mit Wasser holen?
Nein… ich lasse das lieber. Papa
würde sicher wieder schimpfen.
Leicht erschaudere ich, wenn ich an
Papa und seine Wutanfälle denke. Dabei kaue ich so fest auf meiner
Lippe, dass diese leicht an zu bluten fängt. Der metallene Geschmack
des Blutes erschreckt mich noch mehr und ich reiße meine Augen weit
auf. Blut! Ich schmecke Blut. Tränen steigen mir in die Augen und
ich streiche mit dem Handrücken über meine Unterlippe. Eine kleine
Blutspur ist nun darauf zu sehen und schon löst sich eine Träne aus
meinen großen braunen Augen und rinnt meine Wange hinab. Aus
irgendeinem Grund habe ich keine Schmerzen, aber große Angst vor
Blut. Immer wenn ich Blut sehe, krampft sich meine Brust zusammen und
ich kann nicht mehr richtig atmen. Dass ich zittere bekomme ich kaum
noch mit. Fast ein wenig paralysiert vor Angst stehe ich nun wieder
vor der Sandkiste und schaue auf meinen Handrücken, dann zu unserem
Haus, dann wieder auf den Handrücken.
Schließlich habe ich mich entschlossen
und laufe zum Haus. Wenn ich ganz leise bin und in mein Zimmer
schleiche, mich im Bett verstecke, wird Papa vielleicht nichts von
meinem kleinen Ausflug mitbekommen.
Teil 4 – Jade
„On candy stripe legs the Spiderman
comes
Softly through the shadow of the evening sun
Stealing
past the windows of the blissfully dead
Looking for the victim
shivering in bed
Searching out fear in the gathering gloom
and
Suddenly
A movement in the corner of the room
And there
is nothing I can do
When I realize with fright
That the
Spiderman is having me for dinner tonight.“ **
Lyrics: The Cure ~ Lullaby
Die einlullende und irgendwie
beängstigende Stimme von Robert Smith begleitet mich auch an diesem
Tag. Wie eigentlich an jedem Tag. Man kann nicht sagen, dass The Cure
meine Lieblingsband ist, ich habe keine, allerdings passt gerade
dieses Lied zu meiner momentanen Stimmung. Schön düster und
wunderbar melancholisch. Mit ausdrucksloser Miene ziehe ich mir die
Bettdecke über den Kopf. Die Sonne schien durch die Spalten der
Jalousie und verhöhnte mich. Wenn ich draußen das Lachen der Kinder
höre, überkommt mich ein Brechreiz, dem ich am liebsten Nachkommen
wollte. Was ich aber nicht tat, denn dies würde bedeuten, dass ich
das Bett verlassen musste und dazu war ich noch nicht bereit.
Mein ganzer Körper fühlt sich schwer
an, so schwer. All meine Gliedmaßen haben sich in Blei verwandelt
und mein Kopf ist mit dem Pochen eines Presslufthammers ausgefüllt.
Fest presse ich meine Augen zusammen, in der Hoffnung noch ein wenig
dieses jämmerlichen Daseins verschlafen zu können.
Es ist stickig und brütend heiß unter
der Bettdecke. Flüchtig schießt mir ein Gedanke durch den Kopf:
‚Wenn ich jetzt die Luft anhalte und nicht mehr ein- und ausatme –
nie mehr! – dann habe ich es hinter mir.‘
Was sich so leicht denkt, ist
allerdings nicht so leicht in die Wirklichkeit umzusetzen. Der
menschliche Körper ist ein wahrliches Meisterwerk, ein Wunder. Er
besitzt einen Selbsterhaltungstrieb sondergleichen. Und so merke ich,
wie sich eine Hand von mir selbstständig macht und die Bettdecke ein
wenig lupft. Etwas kühlere Luft, die ich gierig – ach scheiß auf
meine Reflexe! – einsauge strömt unter die Bettdecke und kühlt für
einen klitzekleinen Moment meinen pochenden Kopf. Den Gedanken daran,
dass es ja eigentlich guttut, verbiete ich mir strikt!
Ein Fuß von mir streckt sich unter der
Decke hervor, während diese wieder auf mein erhitztes Gesicht sinkt.
Aber jetzt kann ich wieder einschlafen. Wenigstens kurz noch der
anstrengenden und schrecklichen Wirklichkeit entfliehen.
Während Robert Smith noch etwas von
‚Spiderman is always hungry‘ singt, bin ich schon wieder
eingeschlafen.
Teil 5 – Jacob
Im Fernsehen läuft auch nur Mist.
„Was soll die verdammte Scheiße? Wer
will denn so eine Drecksrotze sehen?“, wütend schmeiße ich die
Fernbedienung in die hintere Ecke des Wohnzimmers und erhebe mich
wütend aus dem Sessel, in dem ich es mir gerade erst bequem gemacht
hatte, um das Spiel zu sehen. Was der Sender sich dann dabei gedacht
hatte, dieses Spiel nicht auszustrahlen, weiß ich nicht. Aber es
macht mich wütend. Wütender als ich eh schon bin.
Auf die Idee, mich zu informieren wer
in der neuen Saison die Übertragungsrechte bekommen hatte, war ich
natürlich nicht gekommen. Es war bisher immer so gewesen, dass die
Spiele auf dem Sender kamen und so musste es natürlich auch immer
bleiben.
„Was für ein Dreckssender!
Scheiße!“, fluchend schlurfe ich in die Küche und reiße den
Kühlschrank auf, um mir ein Bier herauszunehmen. Erst das Zischen,
als ich den Deckel öffne, kann mich ein wenig beruhigen.
Den ersten Schluck spüre und schmecke
ich gar nicht. So stürze ich das kühle Nass herunter. Als ich die
Flasche absetze, ist diese halb geleert. Eine einzelne Perle vom
Schwitzwasser rinnt den Flaschenhals hinab und ich beobachte sie, wie
sie auf das untere Glied meines Zeigefingers trifft. Kurz, nur ganz
kurz, entspannt sich meine Miene und ich setzte die Flasche wieder an
meine Lippen. Den Kopf habe ich weit in den Nacken gelegt, sodass ich
meine Haare, die dringend wieder einen Haarschnitt benötigen, auf
meinen Schultern spüre.
Dieses Mal schmecke ich den bitteren
Geschmack des Bieres, die Kühle, die es in meinen Körper
transportiert und kann endlich durchatmen.
„Trotzdem ist es ein Scheißsender!“,
murmel ich vor mich hin, als ich schon das nächste Bier aus dem
Kühlschrank nehme und es öffne.
Teil 6 – Jade
Mit der tiefen Stimme von Ville Valo
(wenn man finnisch konnte, weiß man, dass Valo ‚Licht‘ bedeutete,
was für ein Kuriosum) wache ich wieder auf. Er forderte mich zu
einer süßen Tat auf: ‚Join me in death‘ – Folge mir in den Tod.
„Scheiße!“, murmele ich und
krieche unter der Decke hervor. Inzwischen ist es Dunkel geworden,
kein Licht mehr, welches durch die Ritzen der Jalousie dringt. Ich
setze mich auf die Bettkante und sehe auf meine Füße, die ich nur
noch im diffusem Licht sehen kann, wie sie den Boden berühren. Das
schizophrene daran ist, dass ich meine Füße wirklich nur
verschwommen und undeutlich sehen kann. Aber ich KANN sie sehen.
Allerdings kann ich nichts spüren. Ich spüre nicht, wie sie den
Boden berühren. Ich spüre nicht den kratzigen Teppich unter meinen
Fußsohlen. Ich weiß in diesem Moment nur, dass sie da sind, weil
ich sie verschwommen sehe.
Meinen Körper spüre ich schon lange
nicht mehr. Ich fühle mich wie betäubt. Wie ausgeschaltet. Meine
Wahrnehmung funktioniert hauptsächlich nur noch durch visuelle und
auditive Reize. Essen schmeckt nach Pappe, ich esse nur noch, weil
Nahrungsaufnahme sein muss. Ich trinke, weil mein Körper danach
lechzt. Ich sagte ja schon, dass der Körper ein gemeiner Verräter
ist.
Langsam erhebe ich mich und strecke
meine Hände weit nach vorne aus. Ich schaue auf meine Hände mit den
langen Fingern. Die Fingernägel sind kurz, die Unterarme sind
vernarbt. Ich weiß woher die Narben kommen. Eine Rasierklinge hat
dabei eine große Rolle gespielt. Ich wollte mich spüren, als ich
mich geritzt hatte, aber es hat auch nichts geholfen. Geblieben sind
nur die weißen Narben, die mich an mein Versagen und den Verrat
meines Körpers erinnern. Jeden Tag neu. Die Narben leuchteten weiß
in dem immer dunkler werdenden Raum und langsam lasse ich meine Arme
zu beiden Seiten meines Körpers fallen.
Ich blicke mich in meinem Zimmer um.
Auf den ersten Blick ist es nicht ungewöhnlich für eine 19-jährige
Informatik-Studentin, die schon ewig nicht mehr in den Vorlesungen
war. Darf man sich dann überhaupt noch Studentin nennen? Wie auch
immer – noch bin ich nicht exmatrikuliert.
Mit schlurfenden Schritten verlasse ich
mein Zimmer und zwinge mich die Treppen hinab. Es ist schwer Treppen
zu gehen, wenn man nichts fühlt. Es klappt nur, weil man sieht –
oder inzwischen weiß – wie hoch jede Treppe ist, wann man einen
Schritt nach dem nächsten nehmen muss. Alles läuft automatisch.
Die Küche befindet sich angrenzend zum
Wohnzimmer. Ein weiter Weg für mich. Aber schließlich schaffe ich
es. Genau wie ich es schaffe den Kühlschrank zu öffnen. Ich weiß,
dass sich dort noch einige Alkopops befinden. Ich habe sie
eingekauft. Jack Daniels mit Cola. Bacardi Breezer. Egal was. Ich
brauche etwas, was die Taubheit nicht mehr so vordringlich erscheinen
lässt. Was meine Gedanken abtötet. Und vielleicht tötet es ja
nicht nur meine Gedanken.
Teil 7 – Jamie
Mit einem Schrei wache ich auf. Um mich
herum ist es stockdunkel. Ich kann nichts sehen und ich traue mich
nicht, meine Hand auszustrecken, um die Nachttischlampe anzuknipsen.
Kauernd sitze ich in meinem Bett, die
Arme um meine Beine geschlungen und mein Blick geht ängstlich zur
Tür. ‚Hat er meinen Schrei gehört? Ich bin davon aufgewacht. Wie
kann Papa das Schreien nicht gehört haben?‘, langsam wiege ich mich
vor und wieder zurück.
Wenn die Tür jetzt aufgeht, wird
es wieder passieren. Ich weiß es. Es ist immer so. Papa mag es
nicht, wenn ich laut bin. Dabei mache ich es doch nicht absichtlich.
Ich kann doch nichts dafür, dass ich träume. Schlecht träume.
Meine Lippe tut weh, auf die ich mir
vorhin gebissen habe. Ebenfalls bei dem Gedanken an Papa. Immer
wieder wiege ich mich vor und zurück. Vor und zurück. Dies gibt mir
Sicherheit. Es ist, als würde mich jemand umarmen und beschützen.
Auch, wenn ich es nur selbst bin.
Da! Ich halte meinen Atem an. Die Augen
zusammen zu pressen traue ich mich nicht. Ich starre auf die Tür.
Jeden Moment muss sie sich öffnen. Es hatte doch geknarrt, die
Dielen im Flur auf den Treppen.
„Bitte nicht. Bitte nicht heute.
Bitte nie wieder. Bitte nicht Papa. Bitte nicht!“, flüstere ich
vor mich hin, während mein kleines Herz rast, als würde es aus
meiner Brust springen. Er wird kommen. Wie jede Nacht, immer und
immer wieder. Aber noch nicht jetzt. Die Tür bleibt geschlossen und
das Knarren habe ich mir scheinbar eingebildet.
Teil 8 – John
Eine heiße Dusche tut gut. Es
verstärkt noch das gute Gefühl nach dem Training. Als ich aus der
Duschkabine trete und in den beschlagenen Spiegel blicke, überkommt
mich eine seltsame Art von Vorfreude. Die Vorfreude darauf, was ich
gleich sehen werde, wenn ich das Kondenswasser von der Spiegelfläche
streiche.
Ein Körper, der definiert ist. Einen
Körper, den sich Viele wünsche, aber nur wenige haben. Harte Arbeit
und Disziplin waren eben nicht für Jeden etwas. Es gehörte eine
Menge Selbstdisziplin dazu so an seine Grenzen zu gehen. Viel
Selbstaufgabe und viel Schmerz und Schweiß. Aber wenn man mein
Spiegelbild sieht, dann weiß man wofür sich die ganze Schinderei
lohnt. Ein Körper wie aus einem Anatomiebuch. Grinsend strich ich
mein Haar aus dem Gesicht und gehe nackt durch den dunklen Korridor
zu meinem Zimmer. Hier ist es still und kühl. Niemand stört mich.
Hier habe ich meine Ruhe.
Gut, dass meine Mitbewohnerin – Jules
– nicht darauf besteht, dass man zusammen isst und gemeinsame
Aktivitäten unternimmt. Sie ist einfach zufrieden, wenn ich die
Miete pünktlich zahle. Ich würde auch gar nicht mit ihr klarkommen.
Der ganze Kühlschrank ist voll von ungesundem Zeug. Und egal, wie
oft oder wie auffällig ich meine Nahrungsergänzungsmittel
positioniere, sie ignoriert es. Aber zum Glück rührt sie auch mein
Hähnchen, welches ich immer im Haus haben muss, und mein frisches
Gemüse nie an. Es ist entspannend hier.
Nackt lege ich mich auf mein Bett und
betrachte die Decke. Die diffusen Schatten, die durch die Ritzen der
Jalousien dringen, wiegen mich in den Schlaf. Tief und fest. Erholsam
und glücklich.
Teil 9 – Jacob
Auch das dritte Bier hilft nicht
wirklich. Es kühlt mich ein wenig ab, das schon. Die glühende Wut
ist verraucht, aber der schwelende bittere Geschmack der
tiefsitzenden Wut bleibt. Wie lange ist das eigentlich schon so?
Seit Jonie starb? Wahrscheinlich schon
vorher. Ihr jahrelanger Kampf gegen den Krebs, der ihren Körper mehr
und mehr aufgefressen hatte und sie schließlich in einer Hülle
zurückließ, die nicht mehr als lebender Körper bezeichnet werden
konnte. Ja, seit sie ihn mit all dem alleine gelassen hatte. Seitdem
schwelte diese Wut in ihm. Und dies waren jetzt schon 20 Jahre. Eine
Ewigkeit, um in seiner eigenen Hölle gefangen zu sein.
Jetzt gerade mehr resigniert als
wütend, schmeiße ich die Flasche quer durch die Küche. Das
Splittern des Glases der Flasche interessiert mich nicht. Ich drehe
der Küche den Rücken zu und gehe nach oben. Drei Bier machen noch
lang und breit nichts mit meinem Körper oder meiner Wahrnehmung.
Dazu gehörte schon mehr. Mein Kopf ist klar und nur zu deutlich weiß
ich, dass morgen der gleiche Scheiß weitergehen wird.
Im Vorbeigehen schaue ich mir die Türen
zu den anderen Zimmern an. Kurz bleibe ich vor einer stehen, schüttel
dann aber meinen Kopf und schnaube verächtlich. Mein Schlafzimmer
befindet sich zwei Türen weiter. Ich mache mir erst gar nicht die
Mühe mich auszuziehen und lege mich, wie ich bin, auf das Bett. Nur
den obersten Knopf meiner Jeans öffne ich. Mein Kopf sinkt auf mein
Kissen und kurz bevor sich meine Augen schließen, sehe ich das
gerahmte Diplom an der Zimmerwand hängen. Diplomierter Betriebswirt.
Was für eine Scheiße!
Teil 10 – Jules
Ich versuche nicht zu kichern, während
ich auf Zehenspitzen die Treppen zu meinem Schlafzimmer nach oben
schleiche. Ich will John, meinen Mitbewohner, nicht wecken. Der Typ
war zwar pflegeleicht, aber sicher nicht amüsiert, wenn man seinen
Schönheitsschlaf stört. Puh! War der Kerl selbstverliebt. Gut, er
hatte einen tollen Körper und sah – zugegeben – lecker aus, aber
nein, er ist nicht mein Typ. Ich stehe eher auf blond. Nur bei mir
selber nicht. An mir mag ich die kupferfarbenen Haare. Aber doch
nicht bei einem Kerl. Okay, es war lange her, dass ich ihn das letzte
Mal sah, aber ich weiß noch, dass wir beide lachen mussten, als wir
die Ähnlichkeit unserer Haarfarbe bemerkten. Redheads unter sich
eben.
Irgendwie schaffe ich es in mein Bett.
Als ich in der Waagerechten liege, bemerke ich, dass die Welt sich
dreht. Schnell. Sollte sie sich so schnell drehen? Ich bin mir nicht
sicher. Aber vielleicht liegt das auch nur am letzten Cosmopolitan,
der wohl einer zu viel war. Egal. Morgen ist Samstag, da kann ich
viel Zeit im Bett verbringen.
Ich erinner mich noch an mein letztes
Kichern, dann war ich auch schon eingeschlafen.
Teil 11 – John
„Stell dich nicht so an. DU wolltest
schließlich mit zu mir. Jetzt sind wir hier und du jammerst wie ein
kleines Mädchen.“, ein gemeines Grinsen huscht über mein Gesicht.
Ich bin mir dessen sehr bewusst und es stört mich nicht im
Geringsten. Sadie dafür umso mehr. Immer weiter weicht sie vor mir
zurück. Allerdings bringt es nichts, denn in drei, zwei, JETZT!
Schritten wird sie die kalte, feuchte Kellerwand in ihrem Rücken
spüren und ich warte auf den spitzen Aufschrei, der erkennen lässt,
dass auch Sadie bemerkt hat, dass sie jetzt endgültig in der Falle
sitzt.
„Und jetzt wimmerst du. Hättest du
mal mehr trainiert, dann hättest du jetzt dieses Problem nicht.
Wobei ich nicht finde, dass du ein Problem hast. Du hast es doch…“,
kurz schweift mein Blick über die kleine Kellerparzelle. Nackter
Stein, feuchte Außenwände, ein Spalt, groß, bzw. klein wie eine
Schießscharte, lässt ein wenig Luft in den ‚Raum‘. Auf den Boden
habe ich ihr sogar eine Matratze gelegt. Bin ich nicht freundlich?
„… gemütlich! Gewöhn dich dran. Dies hier wird jetzt für lange
Zeit dein zu Hause sein.“
„J.! Bitte. Bitte, bitte, bitte.“,
noch ist die Stimme von Sadie lebhaft, wenn auch panisch. Aber ihr
Lebensgeist ist noch nicht verschwunden, noch nicht gebrochen. Noch
ist die Hoffnung in ihr, dass sie wieder gehen kann. Bald dieses Loch
verlassen darf und alles nur noch ein übler Albtraum war, an den man
sich nicht gerne erinnert.
Leise lache ich auf. „Bitte, bitte,
bitte? Nein.“, mit einem schnalzenden Geräusch meiner Zunge
schüttel ich den Kopf. „Nein. Du bist mein Gast. Benimm dich also
auch wie einer. Ich werde später wiederkommen. Und bis dahin erwarte
ich, dass du dich benehmen kannst!“
Ohne auch nur auf eine weitere Reaktion
von Sadie zu reagieren, gehe ich die Treppen hinauf. Ich ignoriere
das Jammer und Rufen der jungen blonden Frau, die so überhaupt
keinen Muskeltonus besitzt. Sie hatte ja einmal gute Absichten. Aber
dann? Ja, dann war die Selbstdisziplin eingebrochen. Erst kam sie nur
noch jeden zweiten Tag ins Fitnessstudio, dann nur noch einmal die
Woche, dann nur noch einmal im Monat. Was fiel ihr ein? Wie konnte
man sich so gehen lassen? Außerdem war es doch ihre Pflicht meinen
Körper zu bewundern. Nein, nein, nein! So geht das nicht. Ich werde
ihr eine Lektion für das Leben erteilen. Und das sogar gratis.
Selbstdisziplin war wichtig. Überlebenswichtig!
Grinsend tätschel ich meine rechte
Jeanstasche. In dieser befindet sich der Schlüssel zur Tür der
Kellerparzelle. Soll Sadie doch an den Stahlstangen rütteln, wie sie
wollte, raus kommt sie nicht.
Teil 12 – Jules
„Ach Karen. Tut mir Leid, dass ich
heute zu spät dran bin! Ich habe verschlafen.“, schuldbewusst sehe
ich meine Kollegin, mit der ich mir ein Büro teile, an. Diese grinst
aber nur und zwinkert mir zu.
„Mach mal halblang. Die halb Stunde.
Niemand hat mitbekommen, dass du zu spät dran bist und ich werde
meinen Mund halten. War das Wochenende stressig? Und wenn ja, weshalb
war ich bei dem Stress nicht mit dabei?“
Man kann von Glück sagen, wenn man
eine solche Kollegin hat, wie Karen.
Mit einem Stoßseufzer lasse ich mich
auf meinen Drehstuhl fallen und strecke meine Füße weit unter
meinen Schreibtisch aus. Kurz verziehe ich mein Gesicht und sehe dann
zu Karen herüber, wieder mit einem Schmunzeln im Gesicht.
„Ich weiß, dass du gerne eine
spannende Geschichte hören willst. Am besten eine mit viel Sex und
Alkohol. Leider muss ich dich aber enttäuschen.“, grinsend strecke
ich meine Hand aus und schalte meinen PC an, der auch sogleich
hochfährt und mich dazu auffordert mein Passwort einzugeben.
„Irgendwie weiß ich gar nicht mehr,
wenn ich ehrlich bin, was ich alles am Wochenende getan habe. Ich
hatte eine schreckliche Migräne, die mich ans Bett gefesselt hat und
alles liegt nur noch im grauen Nebel. Also nichts, worauf du neidisch
sein musst.“, ich zwinker ihr zu und öffne mein Mailprogramm, um
zu sehen, was heute auf mich wartet.
„Ach scheiße, Migräne ist scheiße!“
„Du wiederholst dich.“, entgegne
ich ihr grinsend. Nicke dann aber. „Ja, ist sie. Aber jetzt ist es
wieder besser. Nur noch ein leises Pochen. Das kann ich überstehen.“,
ich rücke auf meinem Stuhl herum und runzelt die Stirn. Meine Hand
fährt in die rechte Hosentasche meiner Jeans und holt einen
Schlüssel aus der Tasche. Das Dingen hat mich in den Oberschenkel
gepiekst. Ich zucke mit den Schultern und lasse den Schlüssel wieder
in meiner Hosentasche verschwinden. Keine Ahnung, wie der Schlüssel
in meiner Tasche gelandet ist. Vielleicht liegt in meinem Kopf doch
noch mehr im Nebel, als nur das Wochenende.
Teil 13 – Jamie
Ganz leise – auf Zehenspitzen, Papa
darf mich nicht hören – schleiche ich die Kellertreppe hinab.
Dabei murmel ich unablässig vor mich hin. Meine Stimme beruhigt
mich.
„Es gibt keine Monster im Keller. Es
gibt keine Monster im Dunkeln. Es gibt überhaupt keine Monster!“
Immer wieder murmel ich dieselben
Worte. Immer wiederhole ich mich und beruhige mich damit selbst.
Was mache ich eigentlich hier im
Keller? Warum schleiche ich hierher? Ich habe Stimmen gehört. Und
ich bin tapfer! Mama hat immer gesagt, ich sei ihr tapferes, kleines
Mädchen. Und dann war Mama nicht mehr da. Dann war sie einfach weg.
Papa hat gesagt, dass sie jetzt gestorben ist und auf dem Friedhof
liegt. Aber ich glaube, dass Mama ein Engel ist und im Himmel zu uns
schaut. Leider ist Papa, seit Mama ein Engel ist, immer wütender
geworden. Ob Mama das auch von oben sieht? Ob sie dann auch noch
immer sagt, dass ich ihr kleines, tapferes Mädchen bin?
„Hallo?“, ich flüstere gerade so
laut, dass ich meine eigene Stimme vernehmen kann.
„Hallo! Ja.. Hallo! Hier! Hilf mir.
Oh Gott im Himmel, hilf mir!“, da ist wirklich jemand. Erschrocken
bleibe ich stehen und habe auf einmal mehr Angst vor meiner eigenen
Courage, als vor dem Keller.
„Bist du.. bist du ein.. Geist?“,
piepse ich mit meiner hellen Kleinmädchenstimme.
Schweigen war die Antwort. Dann höre
ich Schritte und schließlich Hände, die die Stangen an der
Kellertür umschließen. Mehr Schweigen und dann ein ungläubiges:
„Willst du mich verarschen, J.?“
„Jay?“, ich muss gegen meine Tränen
ankämpfen. Ich bin bereit den Weg nach oben so schnell
zurückzulaufen, wie meine eigenen Beine mich tragen. Es war doch
ganz egal, ob Papa mich hört.
„Ich heiße Jamie. Nicht Jay!“
Und jetzt renne ich wirklich. Schnell!
Teil 14 – Jade
„… bisher gibt es noch keinen
Anhaltspunkt bei der Suche nach der vermissten Sadie Perkins. Die
Polizei und ihre Familie bitten um Ihre Mithilfe. Wenn Sie die junge
Frau gesehen haben, die zuletzt im Fitnessstudio ‚Iron Bars‘ am
Montag Morgen gesehen wurde, wenden Sie sich bitte an ihre
nächstgelegene Polizeistation. Und jetzt geht es weiter mit…“
Ich drehe das Radio aus. Ein vermisstes
Mädchen. Sie hat Glück, dass sie jemand vermisst. Wie sich das wohl
anfühlen muss? Wenn man vermisst wird, dann bedeutet es auch, dass
man Jemandem etwas bedeutet. Dass man Jemanden hat, der einen liebt.
Resigniert setzte ich mich auf mein
Bett. Ich spüre meine Beine nicht, wie immer. Das ist nichts Neues.
Dass ich aber inzwischen außer Atem bin, wenn ich nur eine Treppe
hochgehe, das schon. Mache ich mir Sorgen um mich? Wohl kaum. Sorgen
machen bedeutet auch, dass man sich wichtig ist. Ich bin mir aber so
wichtig, wie ein Dreckpunkt an der Wand. Und mit jedem Tag mehr wird
der Punkt kleiner. Bis er schließlich ganz verschwunden ist. Einfach
verschwinden. Sich im Nichts auflösen. Eine wunderbare Vorstellung.
Teil 15 – Jacob
„Wenn die kleine Göre nicht langsam
still ist…“, murmel ich wütend vor mich hin und reiße die
Zimmertür auf. Jetzt brülle ich in voller Lautstärke, ich will ja,
dass mich das Balg hört. „… dann wird sie wieder in den Keller
gesperrt! Verstanden?! Papa braucht Ruhe!“, mit einem lauten Knall
schlage ich die Schlafzimmertür wieder zu. Ruhe. Endlich Ruhe!
Teil 16 – Jules
„Ich glaube, ich muss zum Arzt. Meine
Migräne wird nicht besser.“, meine Augen tränen. Das Licht war
viel zu grell. Ich sehne mich nach der Dunkelheit meines
Schlafzimmers. Der Ruhe und der Kühle des Raumes.
„Geh lieber jetzt gleich, Jules.
Melde dich krank und ruhe dich aus. Ich schaffe das hier schon.“,
Karen sieht mich besorgt an. Es ist jetzt der vierte Tag, dass ich
mit Kopfschmerzen zur Arbeit komme. Am Montag dachte ich noch, dass
sich der Anfall gelegt hat. Der Dienstag und der Mittwoch liegen
wieder im kompletten Nebel. Heute morgen bin ich aufgewacht und
dachte, dass mein Kopf gleich explodiert. Zur Arbeit habe ich mich
dennoch geschleppt. Ich hätte es lieber lassen sollen.
„Danke Karen. Ich glaube, ich mache
das wirklich.“, ich vermeide jedes Nicken mit dem Kopf, erhebe mich
und packe meine Sachen schnell zusammen. Mit aschfahlem Gesicht sehe
ich Karen noch einmal an. „Ich denke, dass ich erst nächste Woche
wieder kommen werde.“
„Natürlich wirst du das.“, mit
gerunzelter Stirn sieht sie mich an. Als wäre dies eine absolute
Selbstverständlichkeit. Kurz erwidere ich noch ihren Blick, dann
wende ich mich um und verlasse das Büro. Nur noch ein schneller Gang
zur Personalabteilung und dann endlich, endlich nach Hause. Ins
Dunkle.
Teil 17 – John
„Hallo Vögelchen. Hast du mich
vermisst?“, ich lache leise in mich hinein.
Gerade bin ich wieder nach Hause
gekommen. Ich habe noch nicht geduscht, wie immer habe ich im Studio
die Möglichkeit nicht wahrgenommen. Hier zu Hause ist es eben doch
gemütlicher und angenehmer. Außerdem erwartet mich hier ja jemand.
Mein Vögelchen. Das soll ruhig sehen, wie ich auf mich selber achte.
Wie ich meinen Körper NICHT vernachlässige. Sie soll sehen, was
ihre Disziplinlosigkeit mit ihr anstellt, im Gegensatz zu mir. Zu
meinem Körper. Außerdem will ich in ihrem Blick sehen, wie sehr sie
mich anhimmelt.
Aber… ich stocke und blieb drei
Schritte vor ihrer Parzelle stehen. Skeptisch und verärgert schaue
ich in das inzwischen stinkende Loch. Sie kann nicht einmal ihre
eigenes Schlafzimmer sauber halten. Es stinkt nach Kot und Urin.
Widerlich!
Und neben all dem kommt sie jetzt nicht
einmal mehr an das Gitter. Neben all dem will sie mich jetzt nicht
mehr begrüßen. Neben all dem kommt kein Ton mehr über ihre Lippen.
Sie hängt nur noch, in sich
eingefallen, auf ihrer verschmutzten Matratze und starrt ins Nichts.
Ihre Augen zeigen keine Bewunderung mehr. Sie zeigen nur noch eine
Leere. Konnte sie so schnell gebrochen werden? Amateur.
Disziplinloser Amateur!
„Steh auf Sadie! Ich will mit dir
reden!“, herrsche ich sie an. Aber sie bewegte sich nicht. Sie
rührt sich einfach nicht. Nur ein leichtes Heben und Senken ihrer
Brust zeigt mir, dass sie noch nicht tot ist.
„Sadie! Ich will, dass du jetzt auf
mich hörst und aufstehst! Du hast mich zu begrüßen!“
Keine Reaktion. Verärgert schlage ich
mit der geballten Faust gegen die Gitterstäbe. Sie zuckt zusammen,
aber rührt sich auch weiterhin nicht.
„Scheiße! Verdammt! Ich werde gleich
wiederkommen. Bis dahin wirst du dich zusammenreißen. Ich denke, du
hast mich verstanden!“
Damit drehe ich mich auf dem Absatz um
und gehe die Treppen hoch. In meiner Wut bemerke ich nicht einmal
meine schmerzende Hand.
Teil 18 – Jacob
Wie oft war es vorgekommen, dass ich
mir meine Hand verbinden musste? Zu oft. Ich weiß, dass ich
Jähzornig bin. Ich weiß, dass ich mich manchmal nicht selbst unter
Kontrolle habe. Aber das ist ja auch nicht weiter verwunderlich bei
einem Kind, welches so unfolgsam ist, wie meins. Wie konnte ein
solches Teufelskind nur aus der wunderbaren und sanftmütigen Jonie
entstehen? Seufzend betrachte ich das Loch in der Leichtbauwand vor
mir. Auch wenn es eine Leichtbauwand ist, hat meine Faust doch
einiges abbekommen, als ich gegen diese schlug. Gut, die Wand
ebenfalls, das interessiert mich jedoch nicht. Ich kühle meine Hand
mit einem nassen Handtuch und starre weiterhin auf das Loch.
Weshalb muss mich dieses Kind auch nur
immer bis aufs Blut reizen? Weshalb kann es sich nicht einfach selbst
versorgen und ruhig sein? Wie oft muss ich sie noch in den Keller
sperren und die Dunkelheit auskosten lassen? Wann lernt das Balg
endlich dazu? Ach, soll es bleiben, wo der Pfeffer wächst! Ich will
schlafen.
Teil 19 – Jade
Die Rasierklinge rutscht aus meiner
Hand in das Waschbecken. Gefolgt von dunkelrotem Blut. Blut aus den
Venen ist dunkelrot. Endlich huscht ein Lächeln über mein Gesicht.
Endlich habe ich einmal etwas richtig gemacht. Endlich….
Teil 20 – Jules
Schlafen. Nur noch schlafen. Die Augen
schließen. Nichts sehen, nichts hören. Jetzt. Sofort!
Teil 21 – Jamie
Blut! Da war Blut. Viel Blut. Zitternd
starre ich an mir hinab. Gerade hat doch nur meine Hand wehgetan.
Jetzt war da Blut.
„Es tut so weh!“, jammer ich. Immer
mehr Blut sammelt sich im Waschbecken, in dem auch etwas metallisches
liegt. Es sieht scharf aus und meine Handgelenke… habe ich mich
geschnitten? Aber wie?
Instinktiv weiß ich, dass ich Hilfe
brauche. Soll ich zu Papa? Nein. Der würde mich nur wieder in den
Keller sperren. Dahin, wo es kalt und dunkel ist. Wo es stinkt und wo
ich Angst habe.
Aber Moment. Der Keller. Da war doch
jemand. Jemand, der mich Jay genannt hat. Die kann mir doch sicher
helfen. Ich stolpere aus dem Badezimmer zur Treppe. Mir wird ganz
schwindelig, aber ich schaffe es noch die Treppe zum Erdgeschoss
hinunterzugehen. So viel Blut. Oh Gott. Hilfe!
Teil 22 – John/Jacob
Verflucht! Man kann noch nicht einmal
in Ruhe duschen! Immer dieses Kind, welches einen stört!
Schnell stelle ich das Wasser wieder
ab, welches ich schon laufen gelassen habe, damit es warm wurde,
während ich mich ausziehen wollte, ehe ich den Schrei des Kindes
gehört habe.
Warum kann das Gör nicht einmal still
sein?
„Verdammte kleine Ratte! Sei endlich
still!“
Teil 23 – Jamie
„Nein Papa. Nicht. Geh. Alles gut.“,
ich höre meine Stimme selbst wie von weit weg. Es ist, als würde
sich Watte in meinen Ohren befinden. Oder wie nach dem Schwimmen,
wenn noch Wasser in den Gehörgängen steckt.
Mir wird schlecht und in meinem Kopf
dreht sich alles. „Papa. Geh dich hinlegen.“, piepse ich.
Teil 24 – Jade
Cool. So fühlt es sich also an. Zuerst
schwindet der Schmerz. Eigentlich hatte ich ja genau den behalten
wollen. Endlich habe ich mal wieder etwas gefühlt. Aber tja, was
soll’s. Das Hören klappt auch nicht mehr so wirklich und das Sehen
wird auch schwerer. Je mehr es sich in meinem Kopf dreht, desto
verschwommener wird meine Sicht. Es ist ein richtig gutes Gefühl.
Teil 25 – John/Jacob
Die Ratte wollte in den Keller?
Freiwillig? Na, dann soll sie doch. Sie ist sehr willkommen. Ob es
nun ein Gast, oder zwei sind. Das macht den Braten nun auch nicht
mehr fett.
Ich werde allerdings zuerst unten sein.
Und ich werde ihr die Tür aufhalten. Vielleicht bringt die Kleine ja
dem Vögelchen Manieren bei.
Teil 26 – Jamie
Die Treppen sind hoch. Viel zu hoch.
Wie soll ich es schaffen, die nach unten zu kommen? Meine Beine
tragen mich kaum noch. Ich kann nur noch ein bisschen sehen. Alles
verschwimmt vor meinen Augen und es wird.. schwarz? Mehrmals blinzel
ich und es wird wieder ein bisschen besser. Auf einmal stehe ich vor
der Kellertür. Der Tür mit den Gittern. Gerade steht sie auf und
das Mädchen darin schaut voller Angst zu mir.
Langsam hebe ich meine Arme. Sie sind
blutüberströmt.
„Hilf mir! Bitte. Du weißt doch. Ich
bin Jamie. Hilf .. mir.“, weiter komme ich nicht. Ich breche
zusammen. Direkt vor den Füßen von dem Mädchen.
Teil 27 – Jade
Ein glückliches Lächeln legt sich auf
meine Lippen. Einmal öffne ich noch meine Augen.
„Endlich .. etwas… richtig…
gemacht.“, murmel ich kaum noch hörbar.
Teil 28 – Jules
Endlich. Die Kopfschmerzen sind
verschwunden. Ich kann schlafen.
Teil 29 – John/Jacob
Was zum Teuf….
EPILOG
Pressemitteilung der örtlichen
Polizei:
Sadie Perkins wurde nach 5 Tagen
Gefangenschaft körperlich unversehrt, jedoch vollkommen entkräftet
und psychisch instabil, in ein Krankenhaus gebracht. Dort befindet
sie sich auf dem Weg der Besserung und wird vom Kreis ihrer Familie
umsorgt.
Wie es zu ihrer Entführung kam, ist
noch nicht in allen Einzelheiten bekannt. Man weiß nur so viel, dass
Jules Kenwood, 36, Sadie Perkins mit dem Versprechen in ihr Haus
gelockt hat, um dort ihr hauseigenes Fitnessstudio zu besuchen.
Jules Kenwood ist die Erbin von Jacob
Kenwood, der mit 56 Jahren verstarb. Kenwood war der Begründer der
Autovermietungskette ‚Carpark‘. Jules Kenwood hat mit seinem Ableben
sein Vermögen geerbt. Die junge Frau litt – laut Aussagen von
Sadie Perkins und der postmortalen Diagnose der Ärzte – scheinbar
an einer Dissoziativen Identitätsstörung. Jules Kenwood suizidierte
sich selbst und verstarb noch vor eintreffen des Notarztes.
Sollten sich weitere Erkenntnisse
ergeben, werden wir Sie informieren.