Mikeys erstes Halloween
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Mikeys erstes Halloween
Jedes Jahr an Halloween saß Mikey in seinem Zimmer vor dem Fenster und schaute sehnsüchtig nach draußen. Er beobachtete, wie die Kinder in gruseligen und fantasievollen Kostümen durch die Straßen zogen, an den Türen nach Süßigkeiten bettelten und diese tütenweise nach Hause schleppten. Kichernd und aufgeregt zogen sie durch die Straßen, die bunten Grüppchen, vorbei an schaurig dekorierten Häusern und hell erleuchteten Fenstern.
In einem dieser Häuser, hinter einem dieser Fenster, saß Mickey. Dieses Haus war allerdings nicht für Halloween dekoriert und die Fenster waren alle dunkel. Wenn Kinder sich trauen sollten, an diesem Haus zu klingeln, so würde niemand öffnen. Denn Mickeys Mutter hasste Halloween. „Die Welt ist böse und schlecht“, so sagte sie immer „Und besonders an Halloween. Wenn die Toten aus ihren Gräbern steigen, sollte niemand feiern und schon gar nicht nach draußen gehen.“
Dies schärfte sie Mikey ein.
Und so blieb Mikey nichts anderes übrig als Jahr für Jahr hinter seinem Fenster zu sitzen und zuzusehen, wie die anderen Kinder Spaß hatten, sich verkleideten und voller Stolz mit ihrer süßen Beute in den Tüten prahlten. Jahr für Jahr zog Halloween an Mikey vorüber.
Doch nun ist es mal wieder soweit. Die unheimlichste Nacht des Jahres, die Nacht der Toten, Halloween steht vor der Tür. Und dieses Jahr soll alles anders werden…
Mutter hasst Halloween. „Die Welt ist böse und schlecht. Und ganz besonders an Halloween. Wenn die Toten aus ihren Gräbern steigen, sollte niemand feiern. Und schon gar nicht nach draußen gehen. Hast du verstanden Mikey? Geh mir ja nicht nach draußen, hörst du?“ Ja das waren immer ihre Worte gewesen. Jahr für Jahr. Ich kenne ihre Predigt in- und auswendig und es war ja nicht mal so, dass ich ihr nicht geglaubt hätte. Dass die Welt ein böser und schlechter Ort war, das war mir schon früh bewusst geworden und ja, an Halloween war die Stimmung besonders aufgeladen mit unheilvollen Schwingungen. Ich habe oft genug hinter meinem Fenster im Zimmer gesessen und beobachtet, wie Kinder verprügelt und ausgelacht, wie kleine Kinder von älteren erschreckt, wie ihnen die Tüten mit Süßigkeiten geklaut oder auf die Straße geworfen wurden. Letztes Jahr habe ich sogar beobachtet, wie der kleine Timmy, der seine Beute verteidigt hatte, vom Auto angefahren wurde, weil er in all der Aufregung nicht darauf geachtet hatte, dass er auf die Straße gelaufen war. Dann waren da natürlich auch noch die Verkleidungen und Symbole: Totenköpfe, Monster, Hexen und Dämonen zogen in dieser Nacht durch die Straßen. Im Laufe der Jahre hatte ich natürlich beobachtet, dass die meisten von ihnen nur verkleidete Kinder waren, doch konnte man dies ja nie mit Sicherheit wissen. Ein echter Dämon hätte es in dieser Nacht nur allzu leicht, sich unerkannt in das bunte Treiben zu mischen. Und vielleicht war ja letztes Jahr, als der kleine Timmy angefahren wurde und noch auf der Straße verstarb, wirklich einer anwesend. Es hätte der Fahrer des Autos sein können, er trug eine Totenkopfmaske…
Und dennoch habe ich in all den Jahren hinter meinem Fenster auch andere Dinge gesehen: lachende, gackernde, singende, vor Aufregung kreischende Grüppchen von fröhlichen Kindern. Kinder die stolz ihre selbstgenähten Kostüme präsentierten. Bunte, leuchtende, glitzernde Dekorationen. Prall gefüllte Beutel voller Leckereien. Kürbisse, Laternen und Lichter. Diese Spannung in der kalten Oktoberluft. Und immer wieder den einen Satz „Süßes, sonst gibt es Saures!“ Ja ich habe viel gelernt über Halloween, dieses unheimlich aufregende Fest. Ich weiß alles darüber. Aber ich durfte nie dabei sein. Denn jedes Jahr an Halloween sperrt Mutter noch früher als sonst alle Türen zu und löscht alle Lichter im Haus. Gleich nach dem Abendessen schickt sie mich auf mein Zimmer, hält ihren Vortrag über diese unheilvolle Nacht, die uns bevorsteht und ermahnt mich wie immer, niemals das Haus zu verlassen. Ich muss ihr mein Wort geben. Dann sperrt sie meine Zimmertüre noch einmal von außen ab und legt sich schlafen. Ich beziehe meinen Posten am Fenster. So ist das jedes Jahr. Gewesen.
Denn heute ist es wieder soweit. Es ist der Abend des 31. Oktober. Halloween steht bevor. Und dieses Jahr ist irgendetwas anders. Mutter ist stiller als sonst, vielleicht, so denke ich, fürchtet sie sich heute besonders. Sie hat auch keinen Appetit und lässt ihr Abendessen unangetastet. Und als es draußen dunkel wird, sperrt sie nicht wie üblich die Türen ab. Sie sitzt einfach nur da und schaut vor sich hin und ich glaube, sie denkt mal wieder an Vater. Seit er nicht mehr bei uns ist, ist es mit ihrer Angst noch schlimmer geworden. Ich kann gar nicht mit ansehen, wie sie da in der Küche sitzt und deswegen bringe ich sie nach oben in ihr Bett, decke sie zu und gebe ihr einen Gute-Nacht-Kuss. Sie muss schnell eingeschlafen sein, denn es wird dunkel und sie hat nach wie vor die Türen nicht abgesperrt und auch ihre mahnenden Worte zu Halloween bleiben dieses Jahr aus. Doch natürlich höre ich sie trotzdem in meinem Kopf. „Die Welt ist böse und schlecht… besonders an Halloween… sollte man nicht nach draußen gehen… GEH JA NICHT NACH DRAUSSEN, MICKEY HÖRST DU? VERSPRICH ES MIR!“ Ich verspreche es Mutter…Wie oft hatte ich es schon versprechen müssen? Ganz automatisch gehe ich von Mutters Schlafzimmer in mein Zimmer und beziehe meinen Beobachtungsposten am Fenster. Langsam wird es dunkel und die Straßen beginnen sich zu füllen. Heute ist eine besonders kalte und windige Nacht und der Wind trägt das Lachen und die Stimmen der Kinder zu mir. Sie beginnen sich wie jedes Jahr zu tummeln, die Hexen und Kobolde, die Skelette und Geister. In schaurigen Paraden ziehen sie durch die Straßen. Wer ist wer? Keiner weiß es. Ist die Hexe da, mit dem grünen Gesicht und dem violetten Hut, vielleicht die kleine Amelie, die sonst immer pünktlich mit bravem Pferdeschwanz zur Schule marschiert? Ist das Monster mit den langen Fangzähnen und den roten Augen vielleicht der schüchterne Leopold, dem sie immer das Pausenbrot klauen? Und steckt vielleicht unter einer der Totenkopf-Masken der kleine Timmy? Zurückgekehrt von den Toten mischt er sich vielleicht heute unter die Kinder, um noch einmal Halloween zu feiern, noch einmal Spaß zu haben, bevor er wieder in sein feuchtes dunkles Grab hinuntersteigt? Wer weiß, wer weiß… heute kann jeder alles sein.
Jeder kann alles sein… Der Gedanke geht mir nicht mehr aus dem Kopf während ich so hinter meinem dunklen Fenster sitze und das bunte Treiben draußen verfolge. Wenn sogar der kleine Timmy da draußen mitmarschieren könnte, dann könnte auch ich mich unter die Kinder mischen. Heute, in dieser einen ganz besonderen Nacht. Mir fällt mein Versprechen an Mutter ein, aber mir fällt auch ein, dass sie heute zum ersten Mal vergessen hat die Türen abzusperren. Ob ich wohl… Eine ungeheure Aufregung ergreift mich mit einem Mal. Sollte es heute wirklich soweit sein? Sollte ich es einmal wagen und trotz aller Warnungen und Verbote nach draußen gehen? Was würde Mutter sagen, wenn sie bemerken würde, dass ich nicht da wäre? Wenn sie wüsste, ich hätte sie hintergangen? Bei dem Gedanken bekommt meine Aufregung einen Dämpfer und mir wird flau im Magen. Aber ich habe bereits meinen Posten vor dem Fenster aufgegeben und stehe mitten im Zimmer. Nein, genau genommen bin ich schon an der Türe, denn diese hat Mutter dieses Mal auch nicht abgesperrt. Sie muss heute wohl wirklich sehr in Gedanken und sehr müde gewesen sein. Leise öffne ich die Türe und schleiche mit pochendem Herzen die Treppe hinunter. Bei jedem Knarren der alten Holzstufen erwarte ich, dass Mutter aufwacht und ihre vor Angst ganz zittrige Stimme durch das Treppenhaus schallt um mich zurückzurufen, um mich unter Tränen der Wut und Enttäuschung zu fragen, wie ich ihr das nur antun könne, in dieser Nacht das Haus zu verlassen, sie alleine zu lassen. Aber es bleibt still im Haus. Totenstill. Ich bin in der Küche angekommen, wo noch immer die Reste des Abendessens auf dem Tisch stehen. Ich durchquere die dunkle Küche und bin nun schon fast an der unverschlossenen Haustüre, der magischen Grenze. Noch könnte ich umkehren. Sobald ich sie öffne, wäre mein Wort gebrochen. Ich berühre die Klinke. In dem Moment höre ich von draußen ein Kind rufen: „Mein Kostüm ist das Coolste!“ EIN KOSTÜM! Ich schlage mir die Hand an die Stirn! Das hätte ich beinahe vergessen! Wie konnte ich so dumm sein? Ich habe kein Halloween-Kostüm! Ich kann mich nicht verkleiden und somit kein Teil der lachenden, aufgeregten, schnatternden, Süßigkeiten sammelnden, eingeschworenen Bande da draußen werden. Ich werde nie dazu gehören. Resigniert und unentschlossen stehe ich an der Tür. Es wäre so einfach gewesen. So wunderbar einfach. Doch es sollte nicht sein. Es wäre wohl besser, diesen irrsinnigen Plan aufzugeben, mich einfach wieder in mein Zimmer zu begeben und Halloween wie jedes Jahr an meinem Fenster zu verbringen. Die Welt dort draußen ist nichts für den kleinen Mikey. Auch so ein beliebter Satz von Mutter. Ich seufze und wende mich von der Tür ab. Sie hat natürlich wie immer Recht. Auf dem Weg zurück durch die Küche bleibt mein Blick an etwas hängen. Da unter dem Herd liegt, zwischen allem möglichen anderen Müll, ein leerer Kartoffelsack! Ich bücke mich, hebe ihn auf und befühle ihn andächtig. Meine Hände beginnen zu kribbeln und mein Herz wieder vor freudiger Erregung zu pochen. Vielleicht ist doch noch nicht alles verloren! Nur weil ich kein Kostüm habe, heißt das nicht, dass ich mir keines machen kann! Ich suche mir ein Küchenmesser und schneide mir zwei Löcher in den Sack, dann stülpe ich ihn mir über. Das wäre geschafft! Eine Tüte lässt sich leicht finden, die brauche ich natürlich für die ganzen Süßigkeiten, die ich sammeln werde! Ich nehme die größte Tüte, die ich finden kann. Zufrieden betrachte ich mich in der Spiegelung im Fenster. Perfekt! Niemand wird mich erkennen. Ich werde dazugehören! Einmal einer von ihnen sein! Nur dieses eine Mal, heute Nacht! Ich kann ein Kichern nicht unterdrücken, während ich mich im Fenster bestaune. Dann atme ich noch einmal tief durch, reiße mich von meinem Spiegelbild los und drehe mich zur Türe um. Fast erwarte ich, dass Mutter hinter mir steht, mit entsetztem, vor Enttäuschung, Angst und Wut verzerrtem Gesicht, doch ich bin immer noch allein, mich trennt nur noch die Haustüre von meinem Traum, die Haustüre, die nicht abgesperrt ist. Jetzt liegt es nur noch an mir. Ein letztes Mal atme ich tief ein, spüre das Pochen meines Herzens in der Brust und das Kribbeln meiner Finger auf der Türklinke. „Jetzt oder nie“, flüstere ich in die Stille des Hauses dann stoße ich mit einem Ruck die Türe auf. Kalte, frische Oktoberluft schlägt mir entgegen, geschwängert mit dem Duft nach Kürbissen, Süßigkeiten und Geheimnissen. „Die Welt ist böse und schlecht Mikey…“ höre ich die Stimme meiner Mutter. Aber sie ist im Haus und ich bin hier draußen, zum ersten Mal ganz alleine draußen, deswegen höre ich sie nur noch ganz leise. Und je weiter ich mich vom Haus entferne, desto leiser wird sie, bis ich sie schließlich gar nicht mehr höre. Was ich stattdessen höre, sind die aufgeregten, schrillen Stimmen einer Kindergruppe, die gerade um die Ecke biegen. Sie kichern und kreischen und prahlen mit ihren Kostümen, ihren Süßigkeiten und ihrem Mut.
„Wetten, du traust dich nicht dort klingeln?!“ höhnt einer von ihnen, er trägt eine pelzige Maske mit Fangzähnen, und deutet auf das Haus, in dem ich und Mutter leben. „Ach, da wohnt nur eine alte Frau, die garstig ist und keine Kinder mag! Die öffnet nie die Türe, das lohnt sich nicht.“ antwortet ein anderer aus der Gruppe, er trägt eine Fratzen-Maske, die von einem Ohr zum anderen grinst. Seine Stimme allerdings klingt nicht danach, als würde er unter der Maske auch grinsen. Ich höre es deutlich, seine Stimme zittert. Der dritte aus dem Grüppchen meldet sich zu Wort, ein grün-gesichtiger Zombie mit schuppiger Haut und roten Augen. Er verstellt seine Stimme zu einem tiefen unheimlichen Raunen und hält sich die Taschenlampe unters Kinn: „Man sagt sie soll einen Sohn haben! Aber niemand hat ihn jemals ges…“
Doch er verstummt mitten im Satz. Die ganze Gruppe bleibt auf einmal wie angewurzelt stehen. Sie haben mich entdeckt. Ich hatte mich halb hinter einem Gebüsch versteckt, ich bin noch unsicher, wie ich mich nun verhalten soll. Zu gerne würde ich mich ihnen anschließen, mit ihnen durch die Straßen ziehen, lachen und tuscheln und prahlen. Doch ich weiß nicht, wie so etwas geht. So stehe ich auch nur da und bekomme kein Wort heraus, während die Kinder sich gegenseitig anstupsen, in meine Richtung zeigen und dann langsam rückwärts die Straße wieder zurücklaufen. An der Ecke angekommen, beginnen sie zu rennen. Da erst finde ich meine Stimme wieder, rufe noch „He, ihr da!“ aber da ist es schon zu spät. Sie sind außer Sicht. Ich seufze. Das war ja ein toller Start. Unter meiner Maske spüre ich plötzlich, wie mir heiße, nasse Tränen das Gesicht herunterlaufen. Ich hebe die Hand und schlage sie mir ein paar Mal mit aller Kraft gegen die Stirn. Das hilft. Böse Tränen, böse Kinder, böse Mikey! Natürlich will keiner mit mir spielen… die Welt ist böse und schlecht. Ich drehe mich um und schaue zurück zum Haus. Noch kann ich umkehren. Wenn Mutter noch schläft und nichts gemerkt hat, kann ich einfach ins Haus schleichen, die Türe hinter mir fest verriegeln, mich in mein Zimmer hinter mein Fenster setzen und es wäre nie etwas geschehen. Mutter würde nie erfahren, was sich getan habe und alles wäre wieder wie früher… ja das wäre wohl wirklich das Beste…
Doch noch während ich so diesen Gedanken nachhänge, haben sich meine Füße ganz automatisch in Bewegung gesetzt und sind vom Haus weggelaufen, statt umzukehren. Ja ich bin schon an der nächsten Straßenecke und ich biege tatsächlich ab, ich sehe unser Haus nicht mehr! Ich merke, dass ich die ganze Zeit in geduckter Haltung gegangen bin, doch nun richte ich mich endlich auf, hebe den Kopf, schaue in die Straße hinein und vor mir tut sich eine unglaubliche Welt auf! Ich sehe große, beleuchtete Häuser, geschnitzte Kürbislaternen auf den Veranden und in den Gärten, Girlanden mit blinkenden Geistern und tanzenden Skeletten, auf einem Hausdach wiegt sich sogar ein riesiges Gespenst im Wind. Staunend, mit offenem Mund gehe ich die Straße entlang und all mein Kummer ist vergessen. Ich kann nur noch berauschende Aufregung und Vorfreude verspüren. Am Haus ganz am Ende der Straße steht eine Gruppe Kinder. Mein herz klopft wie wild. Jetzt nur nicht wieder etwas Falsches machen! Hinter dem Stamm eines großen Baumes am Straßenrand scheint mir ein guter Posten, um das Geschehen erst einmal zu beobachten. Ich hatte so oft an meinem Fenster gesessen und beobachtet, was sie taten, hatte versucht mir alles einzuprägen und ganz genau zu lernen. Aber hier draußen war das nochmal etwas ganz anderes. Vorsichtig luge ich hinter dem Baum hervor und versuche ganz genau zu erkennen, was vor sich geht. Die Kindergruppe, ein Bettlaken-Gespenst, eine Hexe mit Besen und ein kleiner Knirps mit Kürbis-Maske nähern sich dem Haus. Die größte und mutigste aus der Gruppe, in diesem Fall die Hexe, tritt vor auf die Veranda, auf der ausgehölte Kürbisfratzen leuchten und im Wind flackern. Doch sie scheint sich nicht zu fürchten. Forsch drückt sie auf die Klingel und macht sich bereit. Es dauert nicht lange, bis sich die Haustüre öffnet. Ein Mann tritt heraus, er hat eine Schüssel unter dem Arm. „Gib uns Süßes, sonst kriegst du Saures!“ schreit die Kindergruppe einstimmig. Der Mann lacht. „Ihr seid ja eine feine Bande!“ Dann greift er in seine Schüssel und holt eine volle Hand Bonbons heraus! Dreimal tut er das, in jede Tüte der Kinder wirft er eine volle Hand Bonbons! Mir läuft das Wasser im Munde zusammen. Bonbons… wie traumhaft müssen sie wohl schmecken? Noch nie habe ich so etwas gekostet. Nun kann ich es fast nicht mehr erwarten, will hin stürmen, mich zu den Kindern stellen und meine Tüte ebenfalls aufhalten. Doch ich muss nun geduldig sein, darf nichts überstürzen und damit alles ruinieren. Also warte ich in meinem Versteck auf meinen Moment. Die Kindergruppe lungert noch eine Weile auf der Straße vor dem Haus herum. Sie vergleichen den Inhalt ihrer Tüten und geraten in Streit, wer mehr bekommen hat. Dumme Kinder. Ich spüre wie meine Finger anfangen zu kribbeln. So fängt es immer an, wenn ich wütend werde. Erst kribbeln meine Finger, dann verschwimmt alles vor meinen Augen und ich sehe Bilder in meinem Kopf. In meinem Kopf renne ich zu den Kindern und reiße ihnen die Tüten mit den Bonbons aus der Hand. „Wenn ihr so dumm seid und euch streitet, gehören sie alle mir!!!“ schreie ich. In meinem Kopf. Doch noch stehe ich still hinter meinem Baum, warte auf meinen Moment. Ich denke schon, dass er nie kommen wird und ich bis zum nächsten Morgen hier warten muss, bis Mutter wach wird und sieht, dass ich nicht da bin, oh böser, böser Mikey…
Doch dann ist es endlich soweit! Die lauten Kinderstimmen werden allmählich leiser, als sie um die nächste Straßenecke verschwinden, immer noch streitend. Ich warte noch, bis sie wirklich außer Sicht- und Hörweite sind, dann erst wage ich mich aus dem Schatten des Baumes hervor. Mit bis zum Hals klopfendem Herzen gehe ich auf das Haus zu. Meine zitternde Hand drückt auf die Klingel. Jetzt ist es endlich soweit! Mein Moment, von dem ich mein ganzes Leben lang schon träume. Und dann öffnet sich tatsächlich die Haustüre! Der gleiche Mann wie eben steht da, die Schüssel mit den herrlichen Bonbons unter dem Arm, zum Greifen nahe! Ein Bild blitzt kurz in meinem Kopf auf, wie ich ihm die Schüssel entreiße, aber dann besinne ich mich zum Glück gleich wieder! Halt, böser Mikey, so geht das doch nicht! Wie war das gleich nochmal? „Na heute ist ja was los hi…“ der Mann mit der Schüssel erstarrt mitten im Satz, er hat wohl auch vergessen, was er sagen wollte. Einen Moment lang starren wir uns nur an. Dann tritt er einen Schritt zurück, will wohl wieder ins Haus, will schon die Türe schließen! Nein, nein, NEIN! Das darf nicht passieren! Denk nach Mikey! „GIB MIR SÜSSES, SONST KRIEGST DU SAURES!!!“ brülle ich heraus und stelle reflexartig meinen Fuß in die Türe. Puh, das ging gerade nochmal gut. Nun wird der Mann wissen was zutun ist, gleich habe ich es geschafft. Er wird in seine Schale greifen, mir Bonbons in meine Tüte werfen, lachen und mir noch ein frohes Halloween wünschen. Oh, so ein frohes Halloween für Mikey!
Doch es kommt alles ganz anders…
Der Mann lacht nicht. Und er greift auch nicht in seine Schale. Stattdessen wird sein Gesicht bleich und er versucht gewaltsam, die Türe zu schließen. Was ihm natürlich nicht gelingt, weil ich meinen Fuß dazwischen gestellt habe. „Wer sind Sie, was wollen Sie…“ stammelt der Mann und dann schreit er plötzlich „Verlassen Sie augenblicklich mein Grundstück, sonst rufe ich die Polizei!“
Ich bin vollkommen durcheinander. Was soll das, was ist passiert? Habe ich etwas Falsches gesagt? Aber nein, die Kinder haben es genau so gesagt: „Gib uns Süßes, sonst kriegts du… Saures!“ Saures… in meinem Kopf arbeitet es. Saures, Saures, was hat das zu bedeuten…? Da geht mir ein Licht auf! Der Mann will mir offenbar nichts Süßes geben! Nun dann bekommt er eben… „SAURES!“ zische ich und spüre auf einmal ein unglaubliches Kribbeln in den Fingern. Dieser Mann ist böse, dieser Mann hat Saures verdient, oh ja Saures von Mikey! Noch immer versucht der Mann die Türe zuzudrücken, aber das wird ihm nicht gelingen. Mit einem gewaltigen Ruck stoße ich die Türe auf und da liegt der Mann mit samt seiner Schüssel am Boden. Die Schüssel zerschellt und hunderte von bunten Bonbons ergießen sich über den Flur. Ich will sie einsammeln, doch ich weiß, nun ist erst mal das Saure dran! Wie gut, dass ich das Messer eingepackt habe, mit dem ich mir die Löcher in die Maske geschnitten habe. Nun wird dieser böse, böse Mann auch ein paar Löcher bekommen
Erst schreit er noch recht laut, doch schon bald ist er ganz still und lässt mich in Ruhe meine Bonbons einsammeln. Die habe ich mir nun auch wirklich verdient. Ich sammle sie alle ein, ganz gründlich, dieser Mann soll kein einziges mehr behalten. Sie gehören alle mir! Eins stecke ich mir gleich in den Mund, ich kann nicht widerstehen. Und ich hatte Recht, sie schmecken traumhaft!
Mit einer prall gefüllten Tüte mache ich mich auf den Heimweg und ich kann nicht anders, als vor Freude zu hüpfen. Bis ich beim Haus ankomme habe ich schon einen ganz klebrigen Mund vor lauter Bonbons und ich denke, ich habe mich noch nie glücklicher gefühlt. Beim Anblick des Hauses bekomme ich wieder etwas Herzklopfen und mein Glücksrausch lässt ein wenig nach. Ob Mutter wohl etwas gemerkt hat? Noch ist zwar alles dunkel, doch was, wenn sie in der Küche, gleich hinter der Haustüre auf mich wartet? Sie würde furchtbar wütend sein. Und traurig und enttäuscht, was noch viel furchtbarer wäre. Sie würde mir alle meine Bonbons wegnehmen und in das Feuer im Kamin werfen. Sicher, Bonbons sind böse, sie machen krank, es ist ja nicht so, als wüsste ich das nicht. Und doch schmecken sie so traumhaft, ich würde sie alle aufessen, es wäre mir egal! Und da war ja noch etwas in meiner Tüte… Was würde sie wohl zu meiner anderen Beute sagen? Mit zitternden Knien gehe ich auf die Haustüre zu, lege mein Ohr daran und horche. Alles bleibt still. Ich muss es wagen. So leise wie möglich öffne ich die Türe. „MIKEY! WO WARST DU?! DU BÖSER, BÖSER JUNGE!!!“ kreischt es plötzlich in der stockdunklen Küche. Ich erschrecke mich so sehr, dass ich beinahe die Tüte mit den Bonbons und der anderen Beute fallen gelassen hätte. Doch dann beruhige ich mich allmählich wieder, lache sogar leise erleichtert auf. Es war mal wieder nur in meinem Kopf. Ich schlage mir einmal kurz und kräftig mit der Hand dagegen, damit die Stimme verschwindet. Dummer Mikey. Im Haus ist es nach wie vor still. Ich kann mein Glück kaum fassen! Mutter schläft noch, sie hat nichts bemerkt! Leise schleiche ich mich auf mein Zimmer und schließe vorsichtig die Türe hinter mir. Nun bin ich mit meinem Glück allein. Ich habe nämlich noch etwas vor, denn noch ist Halloween nicht vorbei! Ich nehme meinen gewohnten Platz hinter meinem Fenster ein, schiebe mir selig ein Bonbon nach dem anderen in den Mund und beginne damit, meine eigene Halloween-Laterne zu schnitzen. Der Kopf des bösen Mannes eignet sich wirklich ganz hervorragend dafür…
Ich habe meine Halloween-Laterne gut versteckt, ganz hinten in meinem Schrank. Mutter soll sie ja nicht finden. Aber sie ist sowieso immer noch nicht aufgewacht. Halloween ist nun schon lange wieder vorbei, gestern hat es angefangen zu schneien und die Leute beginnen sich auf ein anderes Fest mit dem Namen „Weihnachten“ vorzubereiten. Ich höre sie, hinter meinem Fenster, wie sie etwas von „Frieden auf Erden“ reden aber dann schreit die Stimme von Mutter aus dem Schlafzimmer, dass ich da bloß nicht hinhören soll, das seien alles Lügen, die Welt ist böse und schlecht! Ich denke zwar, dass die Stimme eigentlich nicht aus dem Schlafzimmer, sondern aus meinem Kopf kommt, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Doch ich habe jetzt etwas gefunden, dass mir hilft, wenn es besonders laut wird in meinem Kopf. Ich zünde dann nämlich eine Kerze an und stelle sie in meine Laterne. Dann schaue ich in ihr Licht und kann wieder lächeln, während ich an das schönste Halloween meines Lebens denke, das schönste Halloween, seit 50 Jahren! Und wenn ich dabei die Augen schließe und mich ganz stark anstrenge, kann ich sogar noch die Bonbons auf meiner Zunge schmecken…