
The Devil Within
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Prolog und Kapitel 1 – 4 (von 14)
Prolog
Das Plakat klebte an der Wand, feucht vom Regen. Es zeigte eine junge Frau mit leicht ovalem Gesicht. Das lange, dunkelbraune Haar hing verwuschelt und in buschigen, dichten Locken um ihren Hals und die Schultern. Einige Strähnen wischten über die Stirn und die Augen, welche von dichten Wimpern umrahmt wurden. Deren Farbe war dunkelbraun, durchsetzt von einem wilden Glitzern.
Das Mädchen trug eine schwarze Weste, darunter ein schwarzweiß gestreiftes Hemd. Der Schnitt wies etwas kantiges, höchst unelegantes auf. Am Rand nahe dem Reißverschluss war ein Band aus roten, über Kreuz verlaufenden Stickereien.
Unter dem Bild des Mädchens standen die folgenden Worte:
GRANGER, HERMIONE
Belohnung: 42, 000 Galleonen
letzter bekannter Aufenthaltsort: Muggel London
Muggelborn Wanted für Mord, Nutzung höchst giftiger Stoffe, Betreibung verbotener Künste
Für weitere Informationen schauen Sie sich bitte die Akte an. Jegliche Sichtung oder Information, die zur Gefangennahme dieser Person führt, soll sofort dem MInisterium oder Aurororenbüro gemeldet werden.
Sehr gefährlich! Bitte nur mit äußerster Vorsicht nähren.
Der Spiegel
„Wingardium Leviosa!“ Ron Weasly fuchtelte energisch mit
seinem Zauberstab durch die Luft. Hermine rollte entnervt die Augen.Der Junge mit dem karottenroten Haar war einfach nur unfähig. Allein
schon wie er die Arme bewegt hatte. Er hatte an eine Windmühle
erinnert. Und richtig artikuliert gesprochen hatte er auch nicht!
War das etwa so schwer? Immerhin hatte Flitwick es ihnen vorgemacht. Der kleinen Lehrer unterrichtete das Fach Zauberkunst. Dort lernten
sie, wie Hermine schnell begriffen hatte, die Grundlagen der
Zauberei. Dinge fliegen zu lassen etwa. Ein Feuer heraufzubeschwören.
Eine Ananas einen Stepptanz ausführen zu lassen. Licht herbei zu
zaubern.
Hermine hatte sich enorm auf die heutige Unterrichtseinheit gefreut.
Flitwick hatte ihnen erklärt, dass sie heute bereit seien, eine
Feder fliegen zu lassen. Dies hatten sie alle durchführen wollen,seit der koboldartige Lehrer mit den langen Fingern und den etwas
spitzen Ohren Trevor, die Kröte des plumpen, hilfsbedürftigen
Jungen Nevilles, einmal quer durch den Raum hatte fliegen lassen.
Jetzt saßen sie allesamt als Zweierpaare an den Tischen in dem
großen, gewölbeartigen Raum. Licht fiel durch die weiten Fenster und hellte das sandfarbene Gestein auf, schimmerte auf dem polierten
Boden. Vor ihnen lag jeweils eine weiße Schwanenfeder, welche sie in der Luft schweben lassen sollten.
Ron hämmerte inzwischen dermaßen mit seinem Zauberstab auf die
Feder ein, dass Hermine es für besser hielt, einzugreifen. „Ron, stopp, stopp, stopp!“ Das Mädchen mit den vielen, buschigen,
dichten, langen, dunkelbraunen Haaren streckte beschwichtigend eine
Hand aus. „So stießt du hier jemandem noch das Auge aus.“
„Außerdem“, setzte Hermine erklärend hinzu, wobei man
ihre etwas großen Schneidezähne in ihrem Mund aufblitzen sah, „hast
du die falsche Betonung. Es heißt Levi-o-sa, nicht Levio-saaa.“ Ron stützte den Kopf auf der Tischplatte
ab. Sein unebener Zauberstab lag nutzlos vor ihm. „Bitte“, meinte er schnaubend und genervt, „mach es doch selber, wenn du
es besser weißt. Na los!“
Ihre braunen Augen blitzten scharf zwischen den Wimpern hervor, als
Hermine Ron anfunkelte. Dann jedoch hob sie ihren Zauberstab – ein langes, spitz zulaufendes, mit Ranken verziertes Stück Holz – und richtete ihn auf die Feder. „Wingardium Leviosa!“, rief sie
mit befehlender Stimme.
Die Feder erhob sich langsam, glitt in anmutigen Spiralen nach oben
und blieb circa einen Meter über Hermines Kopf in der Luft stehen,
wo sie sich drehte wie ein Laubblatt auf einem Wasserstrudel. Die Braunhaarige vernahm freudig Flitwicks Worte: „Oh, wie
erfreulich! Sehen Sie doch mal bitte alle her. Ms Granger hat’s
geschafft!“ Ron sah noch deprimierter aus als zuvor. Seine
Schultern senkten sich. Hermine verpasste ihm einen stolzen, leicht
arrogant wirkenden Blick und lächelte zufrieden über ihr Ergebnis.
„Es heißt Levi-o-sa, nicht Levio-saa!„Ron äffte Hermines warme, leicht besserwisserisch klingende Stimme nach, wobei er das besserwisserische regelrecht übertrieb. Er, Harry
und Seamus stapften über den Schulhof. „Sie ist der wahre
Albtraum, echt! Kein Wunder, dass sie keine Freunde hat.“
Was Ron nicht wissen konnte: Hermine lief genau hinter ihnen. Das
braunhaarige Mädchen hatte alles gehört. Jetzt beschleunigte sie
ihre Schritte und stürmte an den drei Jungen vorbei, wobei sie Ron
mit der Schulter anrempelte. Die Bücher der letzten Stunde hatte
Hermine an ihre Brust gedrückt und den Kopf gesetzt. Sie schluchzte. Ihre braunen Haare glichen dem gesträubten Fell einer Katze.
Dieser unsensible Blödmann! Dieser taktlose Idiot! Was sich Hermine am wenigstens eingestehen wollte: Er hatte Recht. Diese
Wahrheit war ihr erst jetzt aufgefallen. Und sie schmeckte bitter in
ihrem Mund.
„Oha, das sieht nach Ärger aus“, murmelte Ron. Er und
Hermine saßen auf einer Bank in der Nähe des Innenhofes, von
welchem man aus einen guten Blick auf das Quidditchfeld hatte. Der
Rothaarige und die Braunhaarige wollten eigentlich Harry und seiner
Mannschaft beim Training zusehen, aber so wie die Dinge gerade
standen, würde es wohl zu einer Verzögerung kommen.
Der Grund war, dass das Gryffindor-Team nicht das einzige Team war, welches sich gerade fürs Training entschieden hatte. Mehrere Schüler
in grünen, langen Roben betraten gerade den Rasen, ebenfalls Besen
in der Hand. „Was wollt ihr denn hier, Flint?!?“, hörte
Hermine Wood, den Captain des Gryffindor-Teams rufen.
Sie legte das Buch zur Seite, in welchem sie gerade gelesen hatte.
Gemeinsam mit Ron lief das Mädchen mit zügigen Schritten zu den
beiden Kontrahenten. Flint, ein Mann, welcher so hässlich und
grobschlächtig war, dass man ihm nachsagte, Trollblut in den Adern
zu haben, meinte ungerührt: „Ganz ruhig, Wood. Lies dir das
hier mal durch.“
Er reichte dem schlanken, drahtigen, dunkelbraunhaarigen Schüler
eine Pergamentrolle. Wood entrollte diese und las vor: „Ich,
Professor Severus Snape, erlaube hiermit dem Slytherin-Team das
Quidditchfeld zu benutzen, um ihren neuen Sucher zu testen.“ Er
ließ das Pergament sinken. „Ihr habt einen neuen Sucher.“
Die Brauen des jungen Mannes wanderten nach oben. „Wen?“
Flint und einer seiner Gefährten wichen etwas zur Seite, um einer
dahinter stehenden Person Platz zu machen. Sie war klein, schlank und
schmal. Blonde, helle Haare umgaben ein blasses, leicht spitz
zulaufendes Gesicht mit silbergrauen Augen. Das kann doch nicht
sein. Hermine weiteten sich überrascht die Augen. Dasselbe
Erstaunen war auch auf Harrys Gesicht zu sehen, welcher ausrief:
„Malfoy?“
„Ganz recht.“ Die Stimme des anderen klang aalglatt und
kalt wie immer. „Und es gibt noch etwas neues.“ Bei diesen
Worten bettete Draco Malfoy demonstrativ seinen Besen an seiner
anderen Schulter. Erst jetzt nahmen die Anwesenden diesen genauer in
Augenschein. Er war lang, stromlinienförmig und schwarz lackiert.
Die Reisigschweife waren grünlich schimmernd und sorgsam
geschliffen.
„Das sind Nimbus 2001!“, rief Ron aus und konnte es
offenbar nicht fassen, „Wo habt ihr die her?“ Flint
erklärte schmierig: „Ein Geschenk von Dracos Vater.“ „Ja,
Weasly“, schnarrte Malfoy, „Mein Vater möchte für seinen
Sohn und dessen Team nur das Beste. Ihr dagegen müsst euch wohl
jeden einzelnen Reisigstreifen zusammensparen, oder? Wir werden euch
nur so davon fliegen. Der Pokal ist schon so gut wie unserer.“
Das ist doch die Höhe! Dieser eingebildete Snob! „Wenigstens
musste sich in unser Team niemand einkaufen!“, sagte Hermine mit
scharfer Stimme, „Da zählt nämlich nur Talent.“ Malfoys Lippen bildeten einen schmalen Strich. Sein Gesicht glich jemandem,
der in eine saure Zitrone gebissen hat und nun eine Möglichkeit
sucht, sie ungesehen wieder auszuspucken. Er trat einen Schritt auf
Hermine zu. „Nach deiner Meinung hat niemand gefragt“, fauchte er gereizt, „du dreckiges, kleines Schlammblut!“
„Wen sollte der Fluch denn treffen?“, fragte Hagrid. Der
Halbriese saß in seinem überdimensionierten Sessel und sah die drei Kinder an. Harry, Hermine und Ron befanden sich in der behaglichen, etwas chaotisch eingerichteten Hütte des breiten Mannes.
Dieser war mindestens dreimal so groß und breit wie ein normaler
Mann und sah so wild aus: lange, schwarze, dichte Haare und
einen verwuschelten Bart, welcher fast wie der Ansatz von Fell aussah. Er trug schwere, braune Stoffkleidung und die Hände, welcher er auf die Knie stützte, waren so groß wie Mülleimerdeckel.
Die Hütte bestand aus einem einzigen Raum. Es gab einen kleinen,
runden Tisch mit krummen Beinen, mehrere Hocker und einige Truhen, in
welchen sich Kleider sammelten. In einem schiefen, zusammen
gezimmerten Regal standen Döschen und Flaschen. Ron, Harry und
Hermine hockten vereint auf einer harten Holzbank. Ron hatte einen
Eimer auf dem Schoss.
Der Fluch, von dem die Rede war, bestand darin, dass der Rothaarige
wieder und wieder würgende Laute ausstieß und unzählige, schwarze,
glitschige, zuckende Nacktschnecken in den Holzeimer plumpsten. Hermine bemitleidete Ron. Der Ärmste. Er hat versucht mich zu
verteidigen. Wäre Rons Zauberstab nicht kaputt, so wäre der
Zauber auch nicht nach hinten los gegangen.
„Malfoy“, antwortete Harry bitter, „Er sagte zu Hermine…ähm, ich weiß leider nicht, was es bedeutet.“ Verlegen biss er sich auf die Lippen. Das braunhaarige Mädchen stand auf. Sie trat etwas von den drei anderen weg, kehrte ihnen den Rücken zu. Ihre Arme verschränkte sie. Hermine zitterte immer noch von
unterdrückter Wut. „Er hat mich Schlammblut genannt“,
antwortete die Braunhaarige und ihre Stimme klang bitter.
Hagrid sog die Luft ein. „Das hat er nicht!“, rief der
Halbriese aus und er klang richtig wütend und erbost. „Was ist ein Schlammblut?“, fragte Harry verwirrt. Hermine fuhr herum. Ihre braune Mähne flog. „Es bedeutet dreckiges Blut“,
antwortete die Braunhaarige und ihre Stimme wurde mit jedem Wort, das sie sprach, schneller, „Schlammblut ist eine abwertende Bezeichnung für jemanden, dessen Eltern Muggel sind, also Nichtmagier.“ Hermine war den Tränen nah, als sie leise hauchend hinzufügte: „Jemand wie mich.“
Hermine öffnete die Augen. Ihre linke Stirn schmiegte sich sachte an
das Holz des Stützpfeilers. Das Mädchen stand auf der langen,
überdachten, braunen Holzbrücke, welche sich zwischen dem einen Turm und dem Gelände spannte. Ihre braunen Augen hatten einen guten Blick auf den Schwarzen See, welcher in der Sonne glitzerte. Eine leichte Brise fuhr ihr durch das Haar.
Harry und Ron trainierten gemeinsam auf dem Quidditchfeld. Hermine
selbst hatte nicht mitkommen wollen. Sie war nicht sehr interessiert
in Quidditch. Die Braunhaarige verstand nicht, was an diesem Sport so
toll sein sollte. Aber sie sah doch bei den Spielen zu und freute sich, wenn ihr Team gewann. Harry war aber auch ein sehr guter Spieler.
Das braunhaarige Mädchen war in Gedanken durch das Schloss und
schließlich nach draußen gewandert. Sie hatte sich an zwei Dinge
erinnert, die sie tief in ihrem Bewusstsein begraben hatte. Rons
abfällige Bemerkung über sie nach Zauberkunst und ihre allererste
Konfrontation mit der Beleidigung ‚Schlammblut‘. Das war so lange her. In dem Fall mit Malfoy vier, in dem Fall mit Ron sogar fünf Jahre.
Warum dachte sie genau jetzt daran? Sie hatte gehofft, diese
unliebsamen Erinnerungen zu verdrängen. Warum kamen sie jetzt
zurück? Zeigten ihr, dass sie eine Ausgestoßene war. In dieser und
in der anderen Welt. Hermine hatte seit ihrem ersten Schuljahr in
Hogwarts sich gegen die Vorurteile der anderen Schüler wehren
müssen. Sie war die Streberin, der Bücherwurm und – in den Augen der Slytherins – ein niederes Geschöpf, das es nicht wert war zu
leben.
Allein der Gedanke an diese Tatsache ließ die Wut und Frustration in
Hermine aufschäumen. Warum sie? Warum nur erwischte es unter den
ganzen Muggelgebornen an Hogwarts ausgerechnet sie? Warum erklärten
Malfoy und seine Kumpanen sie zum Sündenbock, den man verhöhnen
konnte? Weil sie die Freundin von Harry Potter war. Weil die Lehrer
sie als klügste Hexe ihres Jahrgangs bezeichneten. Was an sich ja
nicht falsch war. Aber es wurde falsch, wenn man diese simplen
Eigenschaften mit der ach so wichtigen ‚Lehre des reinen Blutes‘ zusaute!
Hermine lief von der Brücke weg. Sie wusste selbst nicht so genau, was sie hier gewollt hatte. Frische Luft schnappen vielleicht. Doch jetzt sehnte das braunhaarige Mädchen sich nach Abgeschiedenheit, nach einem Ort, wo sie in aller Ruhe vor sich hin brüten konnte. Ohne der Gefahr zu laufen, dass Malfoy auftauchte und ihren Trübsal
ausnutzte.
Im Schloss selbst herrschte ein reges Treiben. Es war die Mittagspause und die Schüler liefen in vielen Trauden umher. Die
Treppen bewegten sich lautlos in andere Richtungen. Hermine musste
hin und wieder über eine Trickstufe springen, welche die Angewohnheit hatte, den Fuß der unglücklichen Person festzuhalten.
Die Gänge waren mit einigen Säulen verziert, welche Schnitzereien wie Blumen, Ranken und Schnörkel besaßen. An den Wänden hingen in Gold gerahmte Bilder. Sie zeigten die unterschiedlichsten Motive: Landschaften, Tiere, eine Frau mit einem Baby, eine Gruppe Männer,
welche Karten spielte, ein Ritter auf einem Pferd, der jemandem irgendwelche aberwitzigen Herausforderungen zu schrie. Allen Bildern
war jedoch gemein, dass sie sich bewegten. Manchmal stand Hermine vor
den Gemälden und beobachtete das Treiben dort. Doch nun hatte sie
keinen Blick dafür.
Die dichten, braunen Haare des Mädchens wippten über ihre
Schultern, als sie eine enge Wendeltreppe herabstieg. Ihre
Schuluniform war so dunkel, dass sie aus der Ferne fast schwarz
wirkte. Nur das Gryffindor-Emble war deutlich zu erkennen. Der Löwe,
welcher sich auf die Hinterbeine stemmte, die Tatzen ausstreckte und
mit dem Schweif peitschte, während er brüllend den Kopf zurück
warf. Das goldene Tier befand sich auf einem feuerroten Hintergrund.
Das Wappen war eindrucksvoll. Wie die der anderen Häuser auch.
Hermine lief die letzten paar Stufen runter. Sie war in den
Katakomben angekommen. Im Vergleich zu den Hauptgängen des Schlosses
war hier alles viel düsterer und feuchter. Rundbögen zierten die
Gänge und ruhten auf nackten Säulen. Das glatte Gestein war
grauschwarz und feucht vom Grundwasser. In rußigen Halterungen
steckten Fackeln. Hermine schwang den Zauberstab und entzündete
einige, um besser sehen zu können.
In dem flackernden Licht entdeckte die Braunhaarige eine Tür an der
gegenüberliegenden Wand. Sie war oben abgerundet und aus schwarzem
Eisen. Mehrere Nieten bedeckten das Metall und als Klinke gab es nur
einen Ring. Was ist das für eine Tür? Sie ist mir bisher noch
nicht aufgefallen.
Interessiert trat Hermine darauf zu. Sie umschloss den Ring und zog.
Die Pforte war nicht verschlossen. Mit einiger Mühe schaffte die
Braunhaarige es die Tür zu öffnen, denn diese war schwer. Als sich
ein schmaler Spalt auftat, holte Hermine tief Luft und schlüpfte in
einer Spur von Wagemut in den Raum.
Dieser war dunkel. Im Großen und Ganzen glich er dem Gang der
Katakomben. Dunkle Bögen liefen an der Decke entlang wie Gerippe.
Hermines Schritte hallten leise von den Wänden. Der dumpfe Laut
klang wie das Pochen eines Herzen. Das Mädchen hatte das Gefühl,
sie befände sich in dem Inneren eines riesigen Tieres.
In einer Ecke stand ein Spiegel. Er war quadratisch und wurde von
einem goldenen Rahmen umschlossen, welcher eine Spitze aufwies.
Sonderbare Symbole schmückten das Metall. Der gigantische Spiegel
stand auf vergoldeten Adlerklauen. Hermine trat langsam auf den
Spiegel zu. Sie wandte das Haupt um die Worte lesen zu können,
welche einen Halbbogen über der reflektierenden Oberfläche formten:
ERHEGEB Z REH NIE DREBAZ TILT NANIEDTH CIN.
Was für ein eigenartiger Satz. Hermine leckte sich über die
Lippen. Sie blickte in den Spiegel. Ihr Spiegelbild schaute zurück.
Braunes Haar, dunkelbraune Augen, umrahmt von dichten Wimpern.
Gesunde Haut und ein leicht ovales Gesicht. Hermine blickte ihr
Antlitz an. Dann jedoch veränderte sich ihre Reflektion.
Die Haut wurde Schicht für Schicht heller, bis sie blass wie
silbriges Mondlicht war. Auch ihr Haar wurde etwas heller, umgab
spinnwebfein die nackten Schultern. Die Augen jedoch wirkten dunkler.
Sie schienen fast schon schwarz.
Unsicher tat Hermine einen Schritt zurück. Sie holte erschreckt
Luft. Ihr Atem hing weiß von ihren Lippen. Was war das nur für ein
Wesen, das sie dort im Spiegel erblickte? War es überhaupt noch sie
selbst? Und wenn ja, wie hatte sie so werden können? Angst mischte
sich mit ihrer Faszination.
Das Spiegelbild lächelte. Seine Zähne waren ganz hell, fast weiß.
Es hob eine Hand und öffnete diese. Aus seiner Handfläche quoll
silbriger Dunst und begann sich zu verdichten. Es entstanden drei
Gestalten, welche kauernd da standen und ängstlich zu dem Wesen
blickten, das sie buchstäblich in der Hand hatte.
Es waren Ron, Draco und eine dritte Person, welche undefinierbar
schien, aber Hermine hatte eine Vermutung, um wen es sich handelte.
Nein! Entsetzen durchfuhr ihre Glieder, als die Gestalt ihre
andere Hand hob, zur Faust ballte und auf die Personen niedersausen
ließ. Hermine zuckte zusammen, als die Erscheinungen zu Rauch wurden
und sich unter der geballten Hand hervor wanden wie kleinen,
sterbende Tiere.
Hermine stolperte noch mehr zurück. Die sonderbare Reflektion war
verschwunden und sie war wieder sie selbst. Blass, verschreckt,
schockiert stand ihr Ebenbild im Spiegel, die dunklen Augen geweitet.
Nein, nein, nein, nein, nein, nein! Das könnte ich nicht tun! Zu
so einer Tat wäre ich niemals fähig. Hermine schüttelte
schaudernd den Kopf, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus
dem Raum.
Böses Omen
Die Herbstferien waren schön gewesen. Auch wenn sie, laut Harrys
Meinung, viel zu kurz waren. Zwei Wochen, um sich mal vom Schulstress
zu erholen. Immerhin hatte er nicht zu den Dursleys gemusst. Für den
schlaksigen Jungen mit den verstrubbelten, schwarzen Haaren war dies
ein wahrer Pluspunkt.
Seine Verwandtschaft behandelte ihn nämlich so liebevoll wie eine
Kakerlake. Als wäre er der letzte Dreck. Meistens taten sie so, als
wäre er nicht da. Und sie machten den jungen Zauberer für alles
verantwortlich, was man irgendwie nicht rational erklären konnte.
Selbst ein Straßenhund hatte es manchmal besser als er!
Überhaupt, wenn Harry seinen Onkel, seine Tante und seinen Neffen
betrachtete, dann konnte er es selbst manchmal kaum glauben, dass er
mit ihnen verwandt war. Von der Schlankheit käme ihm Petunia
höchstens noch am nächsten. Allerdings war die Frau mit den
dunkelroten, streng frisierten Locken nicht einfach schlank, sondern
Knochendürr. Sie hatte ein Pferdeartiges Gesicht und einen langen
Hals, den sie gut nutzen konnte, um argwöhnisch über die Hecke in
die Nachbargärten zu spähen.
Onkel Vernon war ungeheuer fett und schien überhaupt keinen Hals zu
haben. Sein aufgedunsenes Gesicht wurde durch einen Schnurrbart
geziert, sodass er wie ein Wallross aussah und er hatte kaum Haare.
Die wenigen, bereits angegrauten kämmte er sorgsam, als würden sie
ihn irgendwie hübscher machen. Vernon glich einer bissigen Bulldogge
und Harry fand ihn von allen dreien am schlimmsten.
Bevor der schwarzhaarige Junge Draco kennen gelernt hatte, hatte er
gedacht, er würde schwer einen Jungen finden, den er mehr als Dudley
hassen würde. Sein Cousin hatte enorme Ähnlichkeiten mit Vernon.
Genauso fett, dieselben kleinen, blauen Schweinsäuglein und dasselbe
aufgedunsene Gesicht. Irgendwie ähnelte Dudley vom Aussehen her
einem dicken, kleinen Ferkel. Somit hatte es nur gepasst, dass
Hagrid, der freundliche Halbriese, ihm damals ein Kringelschwänzchen
an den Allerwertesten verpasst hatte.
Harry hatte die Herbstferien deshalb genossen, weil er sie im
Fuchsbau verbracht hatte. Dem besten Ort nach Hogwarts. Das
merkwürdige, windschiefe Haus voller Gerümpel gehörte der Familie
Weasley. Sein bester Freund Ron, die Zwillinge Fred und George sowie
die bildschöne, gewitzte Ginny hatten jede freie Minute mit Harry
verbracht. Sie hatten gemeinsam Quidditch gespielt, im nah gelegenen
Wald nach Pilzen gesucht (aus denen Molly Weasly dann einen
vortrefflichen Auflauf gemacht hatte) und abends so lange über
Süßigkeiten, die neusten Besen und die Ergebnisse der Saison
geredet, bis die pummelige, rothaarige Frau höchstpersönlich ins
Zimmer gekommen und das Licht ausgemacht hatte.
Für Harry war der Fuchsbau mehr zuhause als es der Lingusterweg
jemals sein konnte. Hier dranglasierte ihn niemand wegen seiner
magischen Fähigkeiten oder schloss ihn im Spind ein. Er verhungerte
auch nicht, denn Mrs Weasly gab sich immer erst dann zufrieden, wenn
er mindestens einen Nachschlag zu sich genommen hatte. Überhaupt
sorgte sich die ganze Familie rührend um ihn.
Das Einzige, was Harry etwas schade fand, war, dass Hermine nicht zu
Besuch kam. Die Braunhaarige verbrachte die zwei Wochen Freiheit
lieber bei ihren Eltern in London. Zwar verübelte der Junge es ihr
nicht, aber er hätte es schon toll gefunden, wenn sie bei ihrem
Ausflug in den Wald dabei gewesen wäre. Insgeheim beneidete der
Schwarzhaarige sie und Ron sogar. Wer wünschte sich nicht eine
Familie, die sich um einen sorgte?
Harry selbst besaß dies nicht. Er lebte bei den Dursleys im
Lingusterweg, seit er ein Baby war. Der Grund: Harrys Eltern waren
von dem gefürchteten, mächtigen Schwarzmagier Lord Voldemort
getötet worden. Dann hatte dieser auch versucht, Harry zu töten.
Dies hatte jedoch nicht geklappt und der weißhäutige Zauberer hatte
sich praktisch fast selbst getötet. Wegen dieser kleinen Sache hatte
Harry nun eine schmale, feine, gezackte Blitznarbe auf seiner Stirn
und war weltberühmt.
Inzwischen war Lord Voldemort jedoch zurück gekehrt und dies warf
einen Schatten auf alles. Das Zaubereiministerium hatte endlich nach
gut einem Jahr der Verleugnung es ebenfalls begriffen, aber darüber
freute Harry sich nicht wirklich. Im Allgemeinen war er momentan
sehr grüblerisch. Die Schule, Quidditch, Lord Voldemort, die
aufkeimenden Gefühle, welche er für Ginny empfand…all das war so
viel auf einmal. Manchmal hatte er das Gefühl sein Kopf würde
platzen.
Die Landschaft rauschte an Harry vorbei. Flächen aus grün, braun
und gelb. Bäume und Hügel wie verschwommene Silhouetten. Es war,
als wolle alles sich im unendlichen Schleier der Zeit verflüchtigen.
Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Der schwarzhaarige Junge saß auf einer Bank nahe dem Fenster, die
Füße etwas auf die Kante gezogen. Er mochte es mit Zügen zu
reisen. Selbst U-Bahnen gefielen ihm. Dieser Rausch an
Geschwindigkeit, den man so gar nicht wahrnahm. Es war eine super
Ablenkung.
„Freust du dich auf Hogwarts?“, fragte Harry Ron. Die
beiden saßen sich gegenüber. Der Rothaarige bettete die Hände auf
seinen Knien. „Eigentlich schon, aber ich bin etwas aufgeregt
wegen des Spieles, das zum Einbruch des Winters ansteht.“ Harry
sah seine Lippen nervös zucken. „Mein erstes Spiel als Hüter.
Glaubst du, ich bin gut?“ „Klar“, erwiderte sein
bester Freund sanft, „Mach dir keine Sorgen, Ron. Das wird
schon.“
Kurz saßen sie schweigend da, beobachteten die davon brausende
Landschaft, als sie einen Blick auf sich gerichtet fühlten. Harry
wandte den Kopf zur Abteiltür. Eine junge Frau stand dort. Das
schmale, sehr gerade Gesicht wurde umrahmt von dichten, langen,
blondbraunen Haaren. Die Augenbrauen waren weitgehend gerade und die
Nase etwas länglich. Der Blick der braunen Augen war verliebt und
verträumt, als sie auf Ron ruhten.
Harry blickte sich zu Ron um. Dieser lächelte dünn. Lavender Brown
behauchte sachte und schnell die Oberfläche der Abteiltür. Dann
zeichnete sie mit ihren dünnen Fingern langsam ein großes Herz.
Hinein schrieb sie die Buchstaben R und L. Zwischen beide setzte sie
ein Plus. Harry und Ron beobachteten, wie Lavender mit liebevoller
Kleinarbeit einen Pfeil durch das Herzchen jagte, mehrere Striche
darum und drei Xe unter die beiden Buchstaben malte.
Dann hauchte die Braunhaarige noch einmal ihr Kunstwerk an. Sie
flüsterte: „Ich warte auf dich, Won-Won.“ Verliebt ging
sie von dannen. „Ehrlich“, meinte Ron zu Harry, „Ich
weiß nicht, ob ich das süß oder nervig finden soll. Es ist gewiss
toll, wenn man mal Aufmerksamkeit bekommt, aber auf die Dauer….“
Er unterbrach sich.
Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, als Hermine den Gang
entlang kam. Wie Lavender blieb sie vor der Abteiltür stehen. Harry
nahm undeutlich wahr, wie die Schultern sich etwas strafften und sie
den Kopf leicht herablassend senkte. Ihr Blick war genau auf die
kleine Liebesbotschaft gerichtet. Die braunen Augen zogen sich
verletzt zusammen und ein gekränktes Glitzern erhellte sie. Langsam
schwoll dieses an, wurde zu einem vernichtenden Glühen. Hermine
wandte fast ruckartig den Kopf ab und marschierte zügig davon. Ihre
braunen, gelockten Haare wogten wie geschmolzenes Kupfer hinter ihr
her.
Harry sah sich nach Ron um. Dieser machte ein verdrossenes Gesicht.
Es war, als hätte Hermine durch ihr Auftreten ihm das Lächeln vom
Antlitz gewischt. „Was?“, fragte der Rothaarige und zuckte
vage mit den Schultern, „Was kann ich dafür, dass Hermine
eingeschnappt ist? Das, was da zwischen mir und Lavender läuft, ist
pure Chemie. Mehr nicht. Hermine braucht sich gar nicht so
aufzuspielen!“
Harry blickte skeptisch nach draußen in den Gang. Er glaubte
Hermines wütende Stimme in seinem Kopf zu hören. Mehr als einmal
hatte sie sich über die Taktlosigkeit und Unsensibilität des
rothaarigen Jungen beschwert. Irgendwie musste er ihr nun zustimmen.
Dass die Braunhaarige verletzt war, sah sogar ein Blinder. Also,
warum realisierte Ron dies nicht?
Der Zug fuhr nun stetig nordwestlich. Die vorbeihuschende Landschaft
veränderte sich. Sie wurde wilder, unbezwingbarer und wirrer. Wolken
zogen über den Himmel, ballten sich zusammen und erstickten die
Lichtstrahlen der Sonne. Ihre Leiber waren bleierngrau und wurden
teilweise von Blitzen beleuchtet. Offensichtlich braute sich ein
Gewitter zusammen.
Wenig später hörte Harry das Trommeln des Regens und sah das Wasser
an den milchigen Scheiben herab rinnen. Bilde ich mir das ein oder
ist es im Allgemeinen dunkler geworden? Nachdenklich spähte
Harry durch das Glas auf die düstere Landschaft. Ein kräftiger Wind
wehte und die Zweige einiger Eschen, welche einsam in der Ferne
standen, flogen wie verfilzte Haare hinter ihren Stämmen her. Weit
und breit war keine Menschenseele zu sehen.
Ein unbehagliches Kribbeln breitete sich in Harry aus. Er spürte,
wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Der Junge verengte die Augen
vor Skepsis. Der Atem hing ihm von den Lippen. Die Adern schienen
leicht stärker hervor getreten.
Ron blickte ihn besorgt an. „Werden wir langsamer?“, fragte
er ungläubig. „Es scheint so“, murmelte Harry und warf
einen Blick aus dem Fenster in den strömenden Regen und die karge
Landschaft, „Aber wir können unmöglich da sein!“
Der Zug wurde immer langsamer. Harry hörte das unerträglich
schrille Kreischen und Fauchen der Bremsen, als sie sich in die
rostigen, verwitterten Schienen bohrten. Ihr Wagon hielt mit einem
solchen Ruck, dass Harry sich gegen das Fenster drücken musste, um
nicht von den herab stürzenden Koffern erschlagen zu werden. Die
Abteiltür rutschte kurz nach vorne, als wolle sie aufgehen, und
knallte dann dumpf und laut gegen den Rahmen.
Harry rappelte sich mühsam auf. „Was läuft hier?“, fragte
Ron. Seine Stimme war heißer vor lauter Angst. Auch Harry spürte
seine Furcht wie kaltes Wasser seinen Nacken herab rinnen. Die Hände
waren ganz schwitzig. Nervös knetete der Junge sie. „Ich hab so
’ne Vermutung“, gestand er, „Hoffen wir, dass ich mich
irre.“ „Ich habe Angst, Harry“, gestand Ron und sah
sich hektisch um, „Wo ist Hermine, wenn man sie mal braucht?“
In diesem Moment ertönte ein lauter Schrei, durchdringend, hoch,
schrill und voller Angst und Schmerz. Er durchstach die Luft wie ein
Dolch aus Klang. Harry schreckte zusammen. Das Blut gefror ihm in den
Adern. Denn bei der Person, die geschrien hatte, handelte es sich um
Hermine.
„Komm!“ Harry sprang auf und Ron folgte seinem Beispiel.
Beide stürmten aus dem Abteil raus und den Gang entlang. Aus dem
Augenwinkel erspähte der Schwarzhaarige die anderen Schüler, welche
in den Abteilen saßen, eng aneinander gerückt, weiß im Gesicht und
mit großen Augen. Sie waren unverletzt.
Doch Harry dachte nur an Hermines entsetzlichen Schrei. Die
Erinnerung steckte ihm tief in den Knochen. Der Laut hatte sich so
schrecklich angehört. Harry fühlte seine Angst im schnellen
Rhythmus seines Herzen in seinem Nacken hecheln. Die Füße des
Jungen berührten kaum den glatten Boden. Er und Ron wetzten durch
den Gang. Als sie das dritte Abteil erreichten, stieß Harry die Tür
mit den Schultern auf. Er trat kaum hinein, als Ron auch schon in ihn
hinein krachte. „Hermine!“, keuchte der Rothaarige.
Sie lag auf ihrem Sitz. Der Oberkörper war leicht zur Seite geneigt.
Ihr linker Arm ruhte auf ihrem Schoss, während ihr rechter über der
Sitzkante wippte. Der Kopf lag auf der Schulter. Die langen,
kastanienbraunen Haare umflossen sie. Hermine hatte die Augen
geschlossen und eine merkwürdige Flüssigkeit tropfte von ihren
Lippen wie dickflüssiger Speichel.
Harry und Ron scharrten sich um die Braunhaarige. „Ist sie
tot?“, fragte der Rothaarige entsetzt. Der andere erwiderte:
„Nein, sie lebt noch.“ Harry kniete sich vor Hermine.
Sachte schlug er ihr mehrmals gegen die Wange. „Komm schon,
Hermine“, flüsterte er mit zusammen gebissenen Zähnen, „Wach
auf!“
Endlich regte sie sich. Hermine sackte im Sitz nach hinten. Ihr Kopf
hob sich langsam und sie blinzelte verstört. Sie schien so
durcheinander, dass es ihr sogar egal war, dass Ron sie stützte.
Normalerweise hätte sie dies nicht so einfach zugelassen.
Harry durchwühlte seine Tasche. Er dankte der Süßigkeitenfrau
innerlich, dass diese vor kurzem hier gewesen war und er sich eine
extra große Tafel Beste Schokolade gekauft hatte. „Wie fühlst
du dich?“, fragte Ron. „Miserabel“, gestand Hermine
mit schwacher Stimme, „Mir ist, als hätte ich Kopfschmerzen,
Migräne, Bauchkneifen und Halsweh in einem.“
Harry packte die Beste Schokolade aus, brach ein großes Stück ab
und reichte es ihr. „Hier iss“, bat er, „Danach geht’s
dir besser.“ Hermine nahm die braune Nascherei und biss zögernd
hinein. Gedankenversunken kaute sie darauf rum. „Geht’s dir
wieder gut?“, fragte Ron hoffungsfroh. Sie nickte und schluckte
den Bissen herunter. Der Rothaarige strahlte. Harry jedoch
beobachtete Hermine ganz genau, während sie weiter aß. Ihre
Schweigsamkeit passte ihm gar nicht.
Verliebter Narr
Nach dem leisen, schnellen, zischenden Rattern des Zuges klang das
Knarren der Räder ganz anders. Die Deichsel sprang sachte über den
Weg, wenn die Kutsche über ein Schlagloch fuhr. Sie war schwarz und
glich einer Droschke. Diese reihten sich aneinander wie ein Zug bei
einer Trauerfeier. Draußen prasselte der Regen, sammelte sich in
allen Ritzen und feuchtete die Bäume an. Pfützenwasser spritzte
hoch, wenn etwas – egal ob Mensch oder Wagenrad – hindurch lief.
Hermine, Harry und Ron saßen gemeinsam in einer Droschke. Die
Braunhaarige hockte neben Harry auf dem harten Sitz und war so weit
von Ron abgerutscht wie es nur ging. Sie vergab ihm immer noch nicht
seine Verliebtheit zu Lavender. Die Braunhaarige stützte ihren Kopf
in die Hand und bettete den Ellebogen am Fenstersims. Die Tropfen,
die den Ärmelstoff nässten, ignorierte sie vollkommen.
„Fühlst du dich wirklich besser, Hermine?“, fragte Harry.
Hermine spürte seinen besorgten Blick auf sich. Sie zog den Arm vom
Fenster weg, als sie sich umwandte. Das braunhaarige Mädchen
versuchte ein aufmunterndes Lächeln. „Ja, Harry“,
erwiderte sie sanft, „Ich bin nur etwas matt, das ist alles.“
Der Schwarzhaarige kniff die Augen zusammen. Seufzend wandte Hermine
den Blick ab, betrachtete die Sturmwolken draußen und bettete die
Hände auf ihrem Schoss. Sie war immer noch etwas geschwächt von
dem, was geschehen war. Ihre Haut war bleich, die lange Mähne hing
etwas strähnig um ihr Haupt. Einzelne Strähne verirrten sich wie
filzige Schweifhaare in ihr Gesicht. In den braunen Augen flackerte
es düster.
„Habt ihr eine Vermutung, wer das war?“, fragte Ron. Der
Rothaarige hatte die Hände in den Schoss gelegt. Um seine Nase war
er weiß und das rote Haar schien im Nacken abzustehen. Hermine
konnte sehen, dass er ein Zittern unterdrücken musste. „Ich
meine, der Zug ist ja plötzlich angehalten und alles wurde so kalt.
Harry, du hast die Schüler gesehen. Die haben vor Angst gezittert.
Und was mit Hermine passiert ist, ist mir ein absolutes Rätsel.“
Harry wandte sich an die Braunhaarige: „Wer hat dich
angegriffen, Hermine?“ Das Mädchen blickte ihn voller Unbehagen
an. Sie wollte sich am liebsten gar nicht erinnern. Der Schock, die
Ohnmacht und das, was sie gesehen und gefühlt hatte, steckten tief
in ihren Knochen. Ihr Herz klopfte krampfhaft, während sie die
Ereignisse vor dem inneren Auge ablaufen ließ. Der gewaltige
Schlund, das rasselnde Keuchen, welches ihr alle Energie aus dem Leib
zu saugen schien, und die wispernde Stimme, die ihr Dinge zuraunte,
sie verführte….
Hermine schüttelte sich. Nein, nein, nein…das will ich alles
nicht! Sie war angewidert, fühlte sich, als hätte jemand sie
gerade eben in einen Bottich voller Schleim getaucht – und zwar
nackt. Hermine hatte in Büchern und Romanen gelesen, dass Angst heiß
und schwer war oder kalt wie Eis, aber diese Angst war vermischt mit
Ekel…schleimig, zäh, klebrig, ekelhaft, erstickend….
Trotzdem schuldete sie Harry eine Antwort. Wenigstens den Teil einer
Antwort. Hermine holte tief Luft und berichtete: „Es war ein
Dementor.“ Ihr lief es eiskalt den Rücken herunter und sie
schauderte. Ron versuchte ihr zaghaft die Arme um den Leib zu legen,
aber sie schlug seine Hände zurück, schnappte wie eine gereizte und
verängstigte Katze: „Lass mich!“ Du bist doch so in
Lavender vernarrt, also geh zu deiner Puppe! Sei ein guter Freund!
Ihre Gedanken waren zynisch, fremd, als würde sie sie gar nicht
selbst denken.
Harry beachtete den Zwist nicht. Er reichte Hermine wortlos ein
weiteres Stück seiner riesigen Tafel. Die Braunhaarige steckte es in
den Mund und entspannte sich ein wenig bei dem süßen Geschmack, der
sich auf ihrer Zunge ausbreitete. Harry meinte: „Ein
Dementor…mitten im Zug von Hogwarts. Wenn das nicht Voldemort war,
bin ich Draco Malfoys bester Freund.“
„Denkst du, der Dementor war hinter dir her?“, fragte Ron.
Harry kniff die grünen Augen zusammen. Hermine beobachtete, wie er
sich nachdenklich am Kopf kratzte. „Gut möglich“.
antwortete der Junge, „Aber was eigenartig ist: Normalerweise
attackieren die Dementoren mich sofort. Dies Mal hat dieser mich aber
übersehen. Stattdessen ist er auf Hermine losgegangen. Du musst
irgendetwas haben, irgendein Gefühl, das ihn angelockt hat.“
Die Braunhaarige wandte den Blick ab. Sie meinte kühl: „Kann
gut sein.“ Tatsächlich war sie sich ziemlich sicher, dass dies
der Fall war. Hermine spürte seit Anfang des sechsten Schuljahres
ein unangenehmes, brennendes Gefühl im Brustbereich. Das Mädchen
hätte es wohl benennen können, doch das Gefühl machte sie über
seinen Namen blind.
Inzwischen hatten die Kutschen angehalten. Tuschelnd stiegen die
Schüler aus. Hermine bezweifelte, dass die meisten die Dementoren
gesehen hatten. Aber dennoch hatten sie die Lebens vernichtende,
bedrohliche, kalte Aura gespürt, welche sich in den Wagons
festgesetzt hatte wie ein ekelhaft stinkendes Gas.
Hermine selbst war immer noch wackelig auf den Beinen. Ihre Muskeln
zitterten und protestierten bei jedem Schritt. Sie waren regelrecht
gelähmt aufgrund der Attacke. Als der Dementor in ihr Abteil
gekommen war, hatte Hermine sich nicht rühren können. Ihre Beine
waren schwer wie Blei gewesen und die Angst hatte sie auf den Boden
gepinnt wie ein aufgespießter Schmetterling. Erst als das
unmenschliche Wesen sein schauriges Werk begonnen hatte, hatte
Hermine in einer Art Panikattacke ihrer Furcht in einem Schrei Luft
gemacht. Furcht wovor? Vor dem Dementor? Oder vor dem, was ich
gesehen habe?
Das Trio bog langsam in die Große Halle ein. Die Schüler, ehemals
eine einzige, bunte, wandelnde Masse teilten sich auf und liefen zu
den vier langen Holztischen. Auf den dunkelbraunen Platten lagen
erwartungsvoll leere Teller, daneben silbriges Besteck und Becher,
die hübsch verzierte Oberfläche schimmerte in dem warmen Licht der
unzähligen Kerzen und zeichnete ein Farbenspektakel aus rot, grün,
lila, blau und gelb.
„Oh mein Won-Won! Endlich bist du da!“ Hermine seufzte
resigniert, als sie die ekelhaft übertrieben mädchenhafte Stimme
vernahm. Lavender Brown stürzte auf Ron zu. Ihre langen, dichten,
schmutzig braunen Locken flogen um ihre Schultern. Das rosa
gekleidete Mädchen fiel über den Rothaarigen her und zog ihn in
eine stürmische Umarmung. Hermine wurde von dem starken Duft ihres
Parfüms selbst aus dieser kurzen Distanz geradezu betäubt. Es hatte
eine widerlich blumige, aufdringliche Note.
Alles in allem wirkte Lavender Brown wie eine Karikatur des
übertrieben weiblichen Mädchens. Hermine fand, dass ihr Gegenüber
dermaßen feminin war, dass es schon widerlich war. Die Braunhaarige
selbst umgab dagegen eine Aura natürlicher Schönheit und
Schlichtheit. So anders als Lavender in ihrem ganzen Pink und der
vielen Schminken.
Lavender löste sich minimal von ihrem Schatz, hielt Rons Arm jedoch
immer noch umklammert. „Oh, ich hab mir so Sorgen um dich
gemacht“, rief sie und ihre Stimme klang dermaßen wie das
Fiepen eines schutzbedürftigen Welpen, dass Hermine schlecht wurde,
„Dieser Überfall auf den Zug war so gruselig. Aber Gott sei
Dank ist dir nichts passiert, Ron!“ Und sie umarmte den Jungen
stürmisch.
Um Hermines Mundwinkel zuckte es. Sie verspürte eine Mischung aus
Ekel, Argwohn, Neid und Unbequemlichkeit. Diese Situation war nicht
nur peinlich, sie war ihr auch unangenehm. Endlich schien Lavender
realisiert zu haben, dass sie neben Harry und Ron stand. Das Mädchen
mit den schmutzig braunen Haaren machte einen Schritt nach hinten und
starrte Hermine erstaunt an.
„Was ist denn mit der passiert?“ Ihr Tonfall war eine
Mischung aus Mitgefühl und Gleichgültigkeit. Hermine ballte die
Fäuste. Am liebsten wollte sie einen Schritt nach vorne machen und
die andere ordentlich verprügeln. Wie blöd war diese Barbie bitte?
War es nicht offensichtlich, dass Hermine angegriffen worden war?
Aber Lavender sah ja alles durch die rosarote Brille. Liebe macht
blind. Für Lavender galt dieses Sprichwort auf jeden Fall. Bei
Hermine müsste es wohl eher lauten: Eifersucht macht blind.
„Sie wurde von den Dementoren angegriffen“, erklärte
Harry. Er schien bemerkt zu haben, dass Hermine einen unwillkürlichen
Schritt nach vorne gemacht hatte, denn der Junge streckte einen Arm
aus und hielt sie so zurück. „Beruhige dich“, flüsterte
er der Braunhaarigen zu.
Lavender meinte: „Oh je. Na, sie kann froh sein, dass ihr nichts
Schlimmes passiert ist.“ Die Braunhaarige klammerte sich wieder
an Ron und zog an seinem Arm. „Komm, Won-Won, lass uns essen
gehen.“ Die rosa gekleidete Gryffindor rannte davon, albern
kichernd und mit den Wimpern klimpernd.
Ron machte ein unsicheres Gesicht. Zaghaft lächelte er Hermine und
Harry an. „Tja, ich geh dann mal“, meinte er. Der
Rothaarige lief hinter Lavender her, die schon am Gryffindortisch saß
und ihn begeistert begann mit Kartoffelbrei zu füttern. Sie hielt
seine Hand und kuschelte sich an ihn. „Ach, mein Won-Won.“
Harry lächelte nachsichtig. Hermine dagegen starrte Lavender an, als
könne sie diese mit bloßem Blick erdolchen. Ihre Unterlippe bebte
etwas, aber die Braunhaarige hielt die Tränen tapfer zurück. Nicht
weinen! Nicht vor dieser Puppe. Harry sah sie an. „Wollen
wir auch etwas essen?“, fragte er. „Nein danke, ich habe
keinen Hunger“, sagte Hermine kurz angebunden, wandte sich um
und verließ die Große Halle.
Das braunhaarige Mädchen lief durch die Gänge des Schlosses. Sie
kam vorbei an den letzten paar Schülergrüppchen, die die Kutschen
versäumt hatten. Ihre Gespräche wehten als leise Bruchstücke zu
ihr hinüber, die sie jedoch ignorierte, nein: überhaupt nicht
wahrnahm. Ihre Füße schienen von ihrem Unterbewusstsein gelenkt zu
werden.
Hermine erreichte das Mädchenklo im Erdgeschoss. Ein schmaler,
runder Raum mit marmornen Säulen. Waschbecken schmiegten sich an die
kalkweißen Wände, in die Verzierungen geschnitzt worden waren.
Neben den Toiletten stand eine kleine Badewanne, die abgeschirmt war
durch einen undurchlässigen Vorhang. Wie grauer Dunst hing er von
der Stange.
Die Gryffindor schlug den Vorhang zur Seite und betrat den
abgeschnittenen Bereich des Badezimmers. Die Wanne war weiß und
gerade mal so groß, dass eine Schülerin sich hinein legen konnte.
Nicht so prunkvoll und ausgefallen wie das gewaltige Schwimmbecken im
Bad der Vertrauensschüler, aber ihre Schlichtheit hatte etwas
vertrautes, das Hermine nun brauchte.
Das Mädchen riss eilends den Wasserhahn auf. Sie beugte sich über
die Wanne und wusch sich das Gesicht. Hermine bebte. Jetzt konnte sie
die Tränen nicht mehr zurück halten. Unaufhaltsam bahnten sie sich
ihren Weg. Die Braunhaarige schluchzte herzzerreißend auf und warf
sich neben der Badewanne auf die Knie. Sie presste die Hand auf den
Mund, um das Wimmern zu ersticken. Ihr Körper wiegte vor und zurück.
Aus den zusammen gekniffenen Augen rannen salzige Tränen.
Dieser Idiot! Dieser Trottel! Dieser Blödmann! Ron war
wahrlich bescheuert. Vor allem, was seine Beziehung zu ihr anging.
Dauernd nervte es ihn, wenn die anderen Jungen der Braunhaarigen
nachsahen – vor allem, als Hermine im vierten Jahr von dem
bulgarischen Quidditchspieler Victor Krumm zum Weihnachtsball
eingeladen worden war, war der Rothaarige vor Neid geplatzt -, aber
wenn Ron dann mal die Gelegenheit hatte, ihr zu sagen, dass er sie
liebte, verpatzte er diese Momente jedes Mal!
Und nun hatte sich auch noch diese Lavender Brown den Jungen
geangelt. Hermine schluchzte auf und vergrub das Gesicht in den
Händen. Diese blöde Barbie-Tussi! Was sah er nur in ihr?
Lavender war wie eine menschliche Puppe. Übertrieben geschminkt und
so kitschig, dass es widerlich war. Rose Stirnband, rosa Pullover,
Schleifchen und dieses Gekicher… Es machte Hermine regelrecht
rasend.
Immer noch glaubte die Braunhaarige Lavenders lächerliche Botschaft
auf der Abteiltür zu sehen. Das Herz, verziert mit Pfeilen und
Strahlen. Und die beiden Buchstaben, die es in der Mitte einrahmte. R
und L. Ron und Lavender. Hermine jammerte und drückte sich die
flache Hand auf den Mund, denn das Wimmern war so ungewöhnlich laut.
Sie sollen verschwinden. All diese ekeligen Bilder… Aber sie
verschwanden nicht. Stattdessen drehten sie sich in Hermines Kopf im
Kreis. Rasend schnell wie ein Karussell. Lavender, die ihre
Herzchen-Botschaft auf die Tür schrieb. Die sich an Ron klammerte
und mit ihm rumturtelte. Die ihm bei Quidditchtraining zusah und
immer, wenn ihm etwas glückte, jubelte, als hätte er so eben die
Welt gerettet. Und ihr ‚Won-Won‘ war das schlimmste. Dieser Spitzname
war der Gipfel an Kitschigkeit!
Sie lacht viel zu laut. Sie hat eine zu lange Nase, ihre Augen
haben ein wässriges Blau, die Haare sind so ordentlich gekämmt,
dass sie gar nicht zu dem scharf geschnittenen Gesicht passen. Und
allein wie sie guckt, wie ein Welpe…da wird mir schlecht! Warum
nur war Ron so vernarrt in diese Barbie? Diese Puppe! Hermine konnte
es nicht verstehen.
Dieser rothaarige Junge war so unsensible. Hermine wimmerte auf,
drückte sich die Hand an den Mund, während ihr Körper vom
Schluchzen geschüttelt wurde und sich aufbäumte. Inzwischen waren
ihre Wangen tränennass. Sie rannen ihr ins Haar, verstopften ihr die
Nase, sodass die Braunhaarige schniefte.
Warum? Warum war dies so unfair? Warum tat Ron ihr das an? Was war
das für ein Gefühl, das in ihrer Brust riss, schmerzte wie eine
tiefe Wunde? Nicht Liebe! Liebe war warm und weich wie ein pelziges
Hermelin. Aber das hier war so düster und dunkel wie die Schatten
von verdorrten Bäumen, krallte sich ihr ins Fleisch wie Dornen. Und
es war hungrig. Lechzte nach Rache und Vergeltung.
Hermine malte sich aus, wie die Wassermenschen Lavender im Schwarzen
See ertränkten. Wie Fluffy, der dreiköpfige Hund, ihr die Beine und
Arme abbiss. Wie der Cruciatus ihren hässlichen Leib schüttelte.
Wie die Todesser Lavender mit dem Todesfluch umbrachten. Oder die
Kobolde sie auf dem Schwarzmarkt an einen Sklavenhalter verkauften.
Woher kamen diese Gedanken? Sie waren so erschreckend, schockierend,
gruselig. Aber zugleich so unglaublich befriedigend, lösten in
Hermine ein Gefühl aus Lust und grimmiger Genugtuung aus. Es fühlte
sich so bestialisch, animalisch an. Verführerisch und abstoßend
zugleich. Ich bin nicht, der ich bin. Das Mädchen wischte
sich mit den Händen die Tränen vom Gesicht, drückte die Tropfen an
den Augenwinkeln aus und rieb sich mit den Fingern über die
Nasenspitze.
Das Mädchen rieb langsam die Finger in ihrer geschlossenen Faust,
als würde sie Blütenblätter zerreiben. Bring sie um. Der
Gedanke schlich sich in ihren Kopf wie die Zunge einer Schlange.
Hermine spürte etwas sachte gegen ihren Rücken drücken, Lippen,
die ihr Ohrläppchen streiften. Bring sie um und dein Problem ist
gelöst.
Kontrollverlust
“
me cry. ‚till I make you.‘
Die Tage vergingen und der Winter brachte Schneegestöber, stürmische
Böen und Eiseskälte mit nach Hogwarts. In einer stillen Absprache
blieben die Schüler die größte Zeit über in den großen Gemäuern
des Schlosses und wärmten sich die steifen Knochen am Kaminfeuer.
Zudem schworen viele Mädchen nun auf warmen Tee. Der tue wahre
Wunder, vor allem in den ziemlich unterkühlten Kerkerräumen.
Harry verfluchte die Tatsache, dass er Quidditchkaptian war, jetzt
regelmäßig. Da die Winterspiele kurz bevorstanden, musste Harry
sein Team regelmäßig bei Minus fünf Grad über den Quidditchplatz
hetzen, wo sie sich auf von Kälte knarrenden und spröden Besen
schwingen mussten. Obwohl Harry sicherheitshalber zwei Unterhemden,
einen dünnen Pullover, einen Wollpullover und darüber die dicke
Quidditchkleidung trug, war er am Ende unterkühlt wie ein Eiszapfen
und hatte steife Finger, klappernde Zähne sowie eine weißlich
gewordene Nase.
Was Harry leider trotz des ganzen Quidditchstresses aufgefallen war:
Seine beiden besten Freunde schienen immer weniger miteinander zu tun
haben wollen. Hermine weigerte sich im Gemeinschaftsraum zu sein,
wenn Ron dort war, und immer wenn sie ihn und Lavender erblickte,
machte sie auf dem Absatz kehrt und ging in die entgegen gesetzte
Richtung.
Ron bekam davon eher wenig mit. Da das erste Match in den
Winterspielen sein erstes Quidditchspiel überhaupt war, übte er
sogar spätabends und kam dann meist erst um neun oder zehn mit
steifen Knien, blau angelaufenen Fingern und klappernden Zähnen
zurück.
Da Harry es sich in den Kopf gesetzt hatte, sowohl mit Hermine als
auch mit Ron befreundet zu bleiben, achtete er genau darauf, sich
seine Zeit so einzuteilen, dass keiner der beiden benachteiligt
wurde. Bei Ron musste er dann jedoch vermehrt in Kauf nehmen, dass
Lavender Brown anwesend war, die Ron praktisch ohne Pause küsste und
mit ihm rumturtelte.
Harry saß vor dem Kaminfeuer, die Füße in den dicken
Winterschlappen versenkt, die ihm Molly Weasly Weihnachten letzten
Schuljahres geschenkt hatte, und las in Höchst potente
Zaubertränke das Kapitel über die Reaktion von verschiedenen
Schlangengiften im menschlichen Körper. Auf seinem Schoss lag ein
halb voll gekritzeltes Pergament, das er Stück für Stück zu einer
sehr schludrigen Zusammenfassung erweiterte.
Das Portraitloch ging auf und Ron stapfte hinein. Harry konnte sofort
erkennen, dass er wieder geübt hatte, denn er hatte einen dicken
Schal um den Hals und ausnahmsweise einen der Wollpullover an, die
ihm seine Mutter immer zu Weihnachten strikte. Der Rothaarige mampfte
ein Sandwich mit Salami, Käse, Feldsalat und Tomaten.
„Sie kann sich nicht beschweren“, sagte Ron und blieb vor
Harry stehen. Dieser senkte sein Zaubertrankbuch und wartete
schweigend. Es dauerte nur ein, zwei Sekunden, bis sein bester Freund
fortfuhr: „Ich habe nichts falsch gemacht. Hermine hat mit Krumm
rumgeknutscht. Jetzt ärgert sie sich darüber, dass es ein Mädchen
gibt, das mich gerne und oft küsst. Wir leben in einem freien Land.
Also soll sie sich nicht so aufspielen. Da habe ich mich ja besser
gehalten, als sie mit Krumm geflirtet hat.“
„Nun ja“, erwiderte Harry und hob kurz die Braue, „Wenn
ich mich recht erinnere, hat Krumm sie nur auf die Hand geküsst.
Lavender und du dagegen, ihr küsst euch auf den Mund.“ „Was
macht das denn für einen Unterschied, Harry?“, verlangte Ron zu
wissen, „Technisch gesehen ist es ja wohl das Gleiche!“
„Hmm, für Hermine wohl eher nicht“, war die Antwort des
Schwarzhaarigen, „Mädchen sind da etwas kompliziert.“ Ron
stopfte sich den Rest seines Sandwichs in den Mund, kaute und
schluckte, bevor er sich auf den Sessel neben Harry schmiss und
theatralisch ausrief: „Hermine ist immer kompliziert.“
Harry sah auf, als Lavender Brown auf Ron zugeeilt kam und sich ihm
in die Arme warf. „Ach, mein tapferer Won-Won!“, rief sie
aus, „Du hast geübt, oder? In Schnee und Eiseskälte. Du wirst
bestimmt großartig sein. Ich weiß es!“ Die Braunhaarige
umklammerte den Arm des Gryffindors regelrecht und kuschelte sich an
ihn. Ron warf Harry einen leicht gequälten Blick zu und schien
innerlich aufzustöhnen. Er umarmte Lavender und lächelte milde.
„Gewiss doch.“ Harry sah jedoch, dass sein Freund ziemliche
Zweifel hatte.
Der Schwarzhaarige ergriff das Zaubertrankbuch und klappte es
zusammen. Er klemmte es sich unter den Arm, gemeinsam mit seiner
gerade zusammen gerollten Zusammenfassung. Harry wandte sich an Ron:
„Ich suche Hermine, wenn es dich nicht stört. Ich will wissen,
ob ich bei meiner Zusammenfassung alles Wichtige aufgelistet habe.“
Theoretisch gesehen brauchte Harry bei so etwas keine Hilfe. Er
konnte gut Dinge zusammenfassen. Außer sie standen in einem
Zaubertrankbuch. Dort schaffte es Harry irgendwie immer die
Informationen durcheinander zu bringen. Somit würde er bei dieser
Zusammenfassung wirklich Hilfe brauchen.
Ron nickte nur, aber so vorsichtig, dass Lavender es nicht bemerkte.
Harry wandte sich ab, damit der andere sein Lächeln nicht sah. Der
Rothaarige mochte sagen, was er wollte: Die Tatsache, dass er es
respektierte, wenn Harry Zeit mit Hermine verbrachte, zeugte nicht
nur von seiner unerschütterten Freundschaft, sondern auch davon,
dass Ron vielleicht ein wenig in Hermine verliebt war. Auch wenn er
sich dies niemals eingestehen wollte.
Harry fand Hermine an dem Ort, an den sie sich am häufigsten zurück
zog, wenn sie alleine sein wollte. Die Bücherei war in einer großen
Halle mit halbrunder Decke untergebracht. Lauter dunkelbraune Regale
reihten sich aneinander. In ihnen standen sorgfältig sortiert die
Bücher. Schwarzes, braunes und weinrotes Leder. Die Luft roch nach
altem Pergament und halb vertrockneter Tinte.
Licht flutete durch die Fenster, erhellte mehrere Tische und Stühle.
Harry lief möglichst leise, um niemanden zu stören oder gar das
Argwohn der Bibliothekarin zu erregen. Er fand Hermine zwischen zwei
Regalen. Die Braunhaarige hatte einen Stoß Bücher auf dem Arm.
Sachte nahm sie die einzelnen Bänder und ließ sie in das Regal
schweben. Harry war schon öfter aufgefallen, wie gut sie das
non-verbale, ja sogar das zauberstablose Zaubern beherrschte.
Irgendwie beneidete er sie darum ein bisschen.
„Hermine…“, sprach er die Braunhaarige leise an. Sie warf
ihm einen kurzen Blick zu. Um ihre Mundwinkel zuckte die Andeutung
eines Lächelns. Es geschah seit neuerem immer seltener, dass sie
lächelte. Und wenn, dann auch nicht richtig. Ihre Augen lächelten
nicht mehr mit und ihr Lächeln war nur ein schwaches Zucken um die
Lippen.
„Hallo Harry“, begrüßte sie den Schwarzhaarigen. Harry
sagte: „Ich wollte dich fragen, ob du dir meine Zusammenfassung
ansehen könntest.“ Hermine nickte und meinte: „Sobald ich
diese Bücher einsortiert habe, okay?“
Auf einmal veränderte sich ihr gesamtes Gebaren. Hermine wirkte die
Zauber viel energischer, manchmal knallte sie die Bücher regelrecht
in die Regale. Harry zuckte bei jedem Knall etwas zusammen. Das
ist unnormal. Hermine ging niemals so mit Büchern um.
Normalerweise behandelte sie die Lederbände wie Schätze und mit
Respekt. Respekt vor dem Wissen, das zwischen den Buchdeckeln ruhte.
Hermine zischte: „Er kann küssen, wen er will. Es ist mir
gleich. Selbst, wenn Ron sich durch alle Mädchen des Gryffindorturms
vögeln würde, wäre es mir gleich.“ Harry hob etwas die Braue.
Ihm gefiel der Gesichtsausdruck der Braunhaarigen gerade gar nicht.
Er hatte etwas Düsteres an sich, die braunen Augen schienen von
Schwärze umwölkt zu sein und die Haut blässer.
Da Harry jedoch weder Hermine, noch Ron gegen sich aufbringen wollte,
hielt er sich größtenteils an eine Faustregel: Stumm sein und
zuhören. Nichts sagen, was der andere missdeuten könnte. Arme
Hermine und armer Ron. Sie hatten beide auf ihre Art verloren:
Hermine, weil sie von Lavender verdrängt wurde. Und Ron, weil er mit
dem Maß an Aufmerksamkeit überfordert war. Beide drifteten
voneinander weg und Harry fürchtete, es würde ihm niemals gelingen,
sie wieder zusammen zu bringen.
Harry beobachtete, wie Hermine die Bücher einsortierte. Zügig
schrumpfte der Stapel auf dem Tisch. Auf einmal bemerkte der
schwarzhaarige Junge ein kleines, gelbes Buch, das ganz unten lag.
„Das stammt nicht aus der Bücherei“, rief er aus. Hermine
schob gerade den letzten Wälzer in das Regal. Sie wandte sich zu ihm
um.
Harry nahm das gelbe Büchlein und blätterte flugs darin herum. Die
Seiten waren ausgeblichen, hatten bereits braune Ränder. Es dauerte
etwas, bis der Junge realisierte, dass er ein Theaterstück
betrachtete. Neugierig klappte Harry das Buch zu, um das Cover zu
betrachten. Es war gelb genauso wie der Einband. MEDEA stand in
schwarzen Buchstaben darauf.
Hermine nahm ihm sachte den Einband aus der Hand, als sie erklärte:
„Das Buch gehörte meinem Vater. Er hat es mir geschenkt, da wir
letzten Sommer in eben diesem Theaterstück waren.“ Das Mädchen
fuhr mit den Fingern den Schriftzug nach. „Medea ist ein antikes
Theaterstück, verfasst von Euripides. Es ist eine Tragödie, die,
obwohl sie so alt ist, viele noch heute aktuelle Themen behandelt.“
Die beiden Gryffindor liefen langsam an den Regalen vorbei und
suchten eine ruhige Ecke. „Worum geht es denn?“, fragte
Harry interessiert. „Um eine Frau, die von ihrem Gatten verraten
wird“, antwortete Hermine, „Medea ist eine mythologische
Sagengestalt, eine Zauberin, Tochter des Königs von Kolchis. Sie
hilft Jason das Goldene Vlies zu erobern, ein magisches Artefakt, was
dieser braucht, um seinen Thron zurück zu erlangen. Von ihrem Vater
wird sie dafür verstoßen. Medea reist mit Jason nach Ikolos, wo sie
allerdings vom Sohn des Pelias verbannt werden. Die beiden fliehen
nach Korinth. Erst hier setzt die Tragödie von Euripides eigentlich
ein.“
Hermine ließ sich auf einem Ohrensessel nieder. Harry selbst setzte
sich auf einen Schaukelstuhl. Und das, was sie mir da erzählt
hat, war nur die Hintergrundgeschichte. „Wie geht es denn in
Korinth weiter?“, fragte Harry. Die Braunhaarige antwortete:
„Medea und Jason bekommen Asyl in Korinth. Doch sie sind immer
noch Fremde. Jason verliebt sich in die Tochter des Königs von
Korinth. Dies sieht Medea überhaupt nicht gern. Zu allem Übel
erfährt sie auch noch, dass sie wegen ihrem Schimpfen über das
Königshaus verbannt wird.“
Die Gryffindor seufzte und streichelte liebevoll das Buch, als wäre
es ein Tier. Sie sah Harry nicht an. „Sie rächt sich grausam“,
fuhr Hermine fort, „Ermordet ihre eigenen Kinder, um Jason zu
treffen. Und tötet dessen neue Braut.“ Harry realisierte erst
in diesem Moment, dass er eine Gänsehaut auf den Armen hatte.
Unliebsame Zeitgenossin. „Der will ich nicht begegnen“,
meinte Harry, „Sie ist ja richtig böse.“
„Oh, das würde ich nicht sagen“, erwiderte Hermine ruhig,
„Sie hat ein Motiv. Es waren nur Neid und gekränkter Stolz, der
sie so weit getrieben hat. Das erkennt sie sogar selbst. Medea sagt
es am Ende ihres Monologs.“ Das Mädchen durchblätterte das
Buch. Sie räusperte sich und las vor: „Vor welcher Tat ich
steh, begreif ich wohl, doch größer als Vernunft ist Leidenschaft.
Aus ihr entsteht der Menschen schlimmster Leiden.“
Drei Tage waren vergangen seit dem Gespräch mit Hermine in der
Bücherei. Harry saß in der Großen Halle am Gryffindortisch. Es war
früher Morgen und die Luft roch nach frisch gebackenen Brötchen,
warmen Croissants und stark gebrautem Kaffee. Der schwarzhaarige
Junge hatte einen leeren Teller vor sich stehen. Nur die Krümel
wiesen auf sein Frühstück hin.
Der dunkelrote Pullover mit den goldenen Streifen kratzte über seine
Haut. Um Harrys Waden schlangen sich die ledernen Knieschoner seiner
Ausrüstung. Neben seinem Teller lagen die Lederhandschuhe.
Heute war es soweit: Das allererste Spiel der Wintersaison fand
statt. Gryffindor gegen Slytherin. Harry machte sich Sorgen um Ron.
Auch wenn der Rothaarige es zu verbergen versuchte, er zweifelte
stark an seinen Fähigkeiten als Hüter.
Neben Harry raschelte es leise, wenn Hermine ihre Zeitung
umblätterte. Die Braunhaarige saß neben ihm, den Tagespropheten
entfaltet und las mit etwas geschlossenen Augen die Artikel. Harry
nahm davon jedoch kaum Notiz. Er realisierte viel mehr die
aufgeregte, freudig begeisterte Atmosphäre. Das Spiel war das
Gesprächsthema des Tages. Erwartung lag in der Luft und Harry
bemerkte einige Quidditchspieler seines Teams, die durch die Halle
liefen.
Als Ron den Raum betrat, wanden sich die Spieler zu ihm um. Harry
konnte aus der Entfernung den genauen Gesichtsausdruck seines
Freundes nicht sehen, doch allein an der Körperhaltung konnte er
erahnen, wie unwohl sich der andere fühlte. Ron hatte die Schultern
angezogen und lief mit steifen Schritten durch den Gang.
Der Rothaarige ließ sich auf seinem Stuhl nieder. Ungelenkig und
ruckartig, als wären seine Sehnen und Muskeln vertrocknet. Das
Gesicht war weiß wie verschüttete Milch. Hermine sah auf. Harry
bemerkte, dass sie kurz Ron ansah, bevor ihre Augen weiter glitten
und Lavender fixierte, welche zu dem rothaarigen Jungen stiefelte.
„Viel Glück heute, Ron!“, rief sie und senkte die Stimme,
„Ich weiß, du wirst brillant sein.“ Ihre Augen strahlten
von Zuversicht, sie lächelte freundlich und freudig zugleich, warf
dem Jungen einen verliebten Blick zu und schritt von dannen. Ron sah
ihr nach, genauso wie Hermine.
Der Rothaarige wandte sich wieder zu Harry um. „Hör zu“,
stieß er gepresst hervor, „Wenn das hier vorbei ist, dann kann
Cormac den Posten haben.“ Rons Atem kam gehetzt und er blickte
sich nervös um, als fürchte er, jemand höre zu. Der Schwarzhaarige
sagte leise: „Ganz ruhig, Ron. Hier, etwas zu trinken.“
Harry reichte ihm einen goldenen Becher. „Du siehst furchtbar
aus, Ron“, ertönte dicht neben ihm eine Stimme. Der
Schwarzhaarige wandte das Haupt. Luna Lovegood saß neben ihnen. Ihre
langen, dichten, spinnwebfeinen, aschblonden Haare waren verborgen
unter einem Ungetüm von Mütze. Diese hatte die Form eines
gewaltigen Löwenkopfes, die Schnauze schmiegte sich an Lunas Stirn
und die lange Mähne bildete einen wuscheligen Kranz.
Die blauen Augen des Mädchens musterten Ron besorgt. „Hast du
ihm deshalb etwas in den Becher getan?“, fragte Luna, „Ist
das zur Stärkung?“ Harry erwiderte nichts. Er hob kurz eine
kleine, tränenförmige Phiole an und verstaute sie in seiner Tasche.
Als der Junge sich umwandte, begegnete er Hermines braunen Augen.
„Flüssiges Glück“, realisierte diese. Die Gryffindor rief
erschreckt: „Trink es nicht, Ron!“ Nicht, dass der Trank
giftig wäre. Er war es ganz und gar nicht. Nein, Felix felicis (so
lautete seine offizielle Bezeichnung) hatte die Fähigkeit dafür zu
sorgen, dass dem Trinker jedes Vorhaben gelang.
Ron wirkte kurz unsicher. Er musterte den Apfelsaft in dem goldenen
Becher, welchem nun ein Zaubertrank beigemischt worden war. Dann hob
der Rothaarige das Gefäß an und leerte es in einem Zug. Ron
schluckte. Sein ehemals blasses, verstörtes Gesicht hellte sich auf
und er lächelte breit. Ron stellte den Becher ab und richtete sich
auf. „Komm, Harry“, rief er und schlug in die Hand des
Schwarzhaarigen ein, welcher sich nun ebenfalls erhob, „Wir
haben ein Spiel zu gewinnen.“
Draußen schneite es heftig. Das kalte Weiß bedeckte Zentimeterhoch
den Boden und wurde aufgewirbelt, wenn die Quidditchspieler auf ihren
Besen dahin fegte und sich gegenseitig den Quaffel, einen großen,
roten Ball zuwarfen, während sie sich den Toren nährten. Ihre
langen Umhänge flatterten hinter ihnen her. Scharlachrot und
smaragdgrün.
Harry und Draco jagten sich auf den obersten Sphären, hoch über den
Köpfen der anderen Spieler. Beide hatten nur ein Ziel vor Augen: den
Goldenen Schnatz zu fangen, bevor der Gegner es tun konnte, und das
Spiel somit zu gewinnen. Jedoch war diese Sache leichter gesagt, als
getan. Der Schnee tanzte in dichten, dicken, feinen Flocken durch die
Luft und mehr als einmal jagte Harry nur einer besonders schmutzigen
Schneeflocke hinterher.
Der Junge zischte durch die Luft wie ein Falke. Nach einer Weile ließ
der Schwarzhaarige den Besen etwas gemächlicher gleiten, damit er
sich einen besseren Überblick verschaffen konnte. Harry wischte sich
Schnee von der Brille und hielt Ausschau nach Anzeichen für den
Schnatz.
Sein Blick fiel auf Ron. Der Rothaarige war unglaublich. Er rauschte
schnell und präzise vor den drei Torringen umher, kickte und schlug
den Quaffel zur Seite, egal von welcher Richtung der rote Ball auf
ihn zugeschossen kam. Der Junge strahlte ein unglaubliches
Selbstbewusstsein aus. Kampfeswille leuchtete in seinen Augen und der
Wunsch, es ihnen allen zu zeigen.
Was ihm auch momentan sehr gut gelang. Ron wehrte bisher jeden
einzelnen Torschuss ab. Die durchtrainierten, flinken Jäger – allen
voran Ginny Weasly – taten ihr übriges. Vereint waren sie eine
Streitmacht, die gewagt und mutig Punkt für Punkt holte. Sehr zum
Ärger von Slytherin.
„Wuhuuuuu!“, rief Ron, als es ihm gelang einen besonders
schwierigen Wurf abzuwehren. „Weasly! Weasly! Weasly!“
Seine gute Laune steckte die Zuschauer an, welche ihn kräftig
anfeuerten. „Weasly, Weasly, Weasly!“ Die vielen Stimmen
vereinten sich zu einem Chor aus schierer Begeisterung.
Harry erblickte Hermine, welche neben Luna stand, die leise jubelnd
„Weasly, Weasly, Weasly!“ rief. Die Braunhaarige klatschte
in ihre blau behandschuhten Hände. Sie schüttelte leicht den Kopf.
Widerwillige Anerkennung, Missgunst und Freude rangen auf ihrem
Gesicht um die Vorherrschaft. Hermine seufzte leise, ließ sich nur
etwas von der allgemeinen Begeisterung mitreißen.
Etwas goldenes blitzte auf. Harrys Kopf ruckte herum, als er den
eigenartigen Lichtschimmer fokussierte. Kaum zu erkennen zwischen dem
fallenden, flockigen, leicht schmutzigen Schnee sirrte und schwirrte
der Goldene Schnatz, sprang auf der Stelle hin und her. Jaaa!
Harry ruckte mit beiden Händen an seinem Besenstil und lehnte sich
nach vorne. Der Besen schoss so schnell an Malfoy vorbei, dass dieser
kurz blinzelte, bevor er die Verfolgung aufnahm. Der schwarzhaarige
Junge flog in einem gewaltigen Bogen über das Spielfeld und hielt
auf den Schnatz zu. Seine Augen fixierten die goldene Kugel, sein
Herz hämmerte aufgrund der Vorfreude und sein Atem wehte als weiße
Dunstfahne hinter ihm her.
Gleich hab ich ihn! Harry löste eine Hand von dem gefrorenen
Holz, streckte den Arm aus, als plötzlich…. Der Schnatz klappte
die surrenden Flügel zusammen und plumpste nach unten wie ein Stein.
Harry riss ohne zu zögern den Besen nach unten, obwohl das Fluggerät
kurz einen bockigen Sprung vollführte. Na warte! So nicht!
Harry rauschte fast senkrecht nach unten. Der Schnatz zischte dicht
über den Boden, was dafür sorgte, dass der Junge bei der Verfolgung
eine gehörige Ladung Schnee aufwirbelte. Hinter sich hörte Harry
das pfeifende Geräusch, als Malfoy versuchte an ihm vorbei zu
kommen. Kurz blickte der Junge nach hinten in das blasse, spitz
zulaufende, arrogante Gesicht seines Feindes, welcher die Lippen
zusammenkniff.
Der Schwarzhaarige wandte sich wieder um. Er sah, wie der Schnatz
eine Art verzweifelten Versuch durchführte, nach oben zufliegen.
Dies misslang der goldenen Kugel jedoch, dann Harry holte aus und
schlug mit der flachen Hand darauf, umschloss das glatte Metall mit
den Fingern. Er kam zu stehen und reckte jubelnd die Faust in die
Luft. Gewonnen! Hurra!
„Weasly, Weasly, Weasly!“ Die Siegesfeier ging im
Gryffindorturm weiter. Alle hatten Ron umringt, jubelten und sangen
im Chor: „Weasly ist unser King!“ Aus Zauberstäben flogen
bunte Girlanden und Konfetti. Harry selbst stand etwas abseits neben
Hermine und beobachtete das Treiben um Ron.
Er lächelte. Es freute den Schwarzhaarigen, dass dieses Mal Ron im
Mittelpunkt war. Harry gönnte es dem Rothaarigen. Und für ihn war
es eine willkommene Abwechslung. Normalerweise war er es, auf den
alle schauten, der immer wieder ins Rampenlicht gerückt wurde, ob er
es wollte oder nicht.
Diese Tatsache hatte im vierten Schuljahr für einen ziemlichen Krach
zwischen ihm und Ron gesorgt, der anfangs richtig neidisch auf Harry
war, weil dieser am Trimagischen Turnier teilnehmen wurde. Einem
furchtbar gefährlichen Wettkampf. Dabei habe ich das gar nicht
gewollt. Glücklicherweise hatte Ron irgendwann eingesehen, dass
Harry wirklich bescheuert sein musste, seinen Namen in den Feuerkelch
zu werfen.
„Eigentlich dürften die sich gar nicht so freuen“, erklang
Hermines Stimme neben ihm. Der Schwarzhaarige sah sie an. „Wir
haben geschummelt, Harry“, erklärte das Mädchen, „Und das
weißt du genau.“ Harry konterte milde: „Und was war das
mit Cormac?“ Ihre Augen weiteten sich. Sie wussten beide, dass
Ron den Posten als Hüter nur bekommen hatte, weil Hermine seinem
Konkurrenten Cormac McLaggen einen Verwirrungszauber auf den Hals
gehetzt hatte.
„Das ist etwas anderes“, hielt Hermine dagegen. Harry hob
sachte die tränenförmige Phiole an, sodass die Braunhaarige sie
genau beäugen konnte. Und die durchscheinende Flüssigkeit darin.
„Du hast ihm nichts gegeben“, realisierte Hermine erstaunt
und verblüfft. Harry nickte nur lächelnd und steckte das Fläschchen
wieder ein.
Ein gerührtes „Oh“ machte die Runde, als Lavender sich aus
der Gruppe löste, auf Ron zustürmte, ihn umarmte und
leidenschaftlich küsste. Eng umschlungen standen sie da, ihre Körper
passten zueinander wie zwei Puzzelstücke. Die Menge klatschte. Harry
lächelte ebenfalls.
Dann nahm er jedoch aus dem Augenwinkel wahr, wie sich eine braune
Haarmähne umwandte und davon stürmte. Hermine? Nachdenklich
wandte Harry sich um. Er sah gerade noch, wie das Portraitloch hinter
ihr zufiel. Der Junge warf einen schnellen Blick zu Ron und Lavender,
aber die beiden waren so sehr in ihren Kuss vertieft, dass es ihnen
wohl nicht auffallen würde, wenn er sich davonstahl.
Harry stieg aus dem Portraitloch. Kurz blieb er in dem Gang stehen.
Durch die weiten Fenster fiel fahles Sonnenlicht. Da es bereits Abend
war, stand die Sonne schon tief und die Umgebung wirkte düster. Ein
kühler Wind blies Harry die Haare ins Gesicht. Der Junge überlegte,
in welche Richtung Hermine wohl gegangen war, als er ein leises
Zwitschern vernahm.
Nanu? Langsam ging Harry in die Richtung, von der der Laut
kam. Er stieg die Wendeltreppe runter, welche zum Gryffindorturm rauf
führte. Sein Schatten wurde groß und schweigend an die Wand
geworfen. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde das Zwitschern lauter.
Endlich erblickte Harry dessen Ursprung: ein Schwarm golden
gefiederter Vögel.
Diese zogen schmale, anmutige Spiralen über Hermines Kopf. Die
Braunhaarige saß am Fuß der Wendeltreppe, die Arme um die Knie
geschlungen. Harry sah sie zittern und hörte ein leises, mühsam
gedämpftes Wimmern und Weinen. Die Ärmste. Harry musste
Hermine unwillkürlich für ihre Zauberkunst bewundern: Dass sie es
schaffte so einen Zauber zu wirken und dann auch noch in diesem
Zustand.
Mitfühlend ruhte sein Blick auf ihr. Harry wusste nicht, was er tun
sollte. Ob er sich bemerkbar machen sollte. Schweigend blieb er
einfach hinter ihr stehen. Nach einer Weile wandte die Braunhaarige
das Haupt und sah ihn an. Ihre Augen waren verquollen und Tränen
verklebten ihre Wimpern. Die Lippen bebten und ihre Nase war gerötet.
Sie schniefte ein bisschen.
„Es ist nichts“, gestand Hermine und sah eilig weg, um die
verquollenen Augen zu verbergen, doch Harry hörte die Tränen selbst
in ihrer Stimme, „Ich…ich übe nur ein bisschen.“ Der
schwarzhaarige Junge wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte die
Braunhaarige noch nie so aufgelöst, so verletzt gesehen. Schließlich
nickte Harry zu den zwitschernden Vögeln und meinte: „Die sind
wirklich gut.“ Täuschte er sich oder zauberte diese kleine
Bemerkung ein schwaches Lächeln auf ihre Lippen?
Harry setzte sich zu Hermine auf die Treppenstufe. Er rückte so nah
heran, dass ihre Körper sich fast streiften. Der Junge bettete die
Arme auf seinen Knien. Schweigend blickte er die Braunhaarige an und
wartete. Hermine sah ihn an. Tränen rannen ihr über die Wange. Eine
Weile sagte sie nichts. Schweigen umspann sie fein wie Spinnweben.
Schließlich flüsterte Hermine kaum hörbar und leicht weinerlich:
„Wie fühlt es sich an, Harry? Wenn…du Dean mit Ginny siehst?“
Sie schwieg und machte eine kurze Pause. „Ich weiß
Bescheid…ich habe gesehen, wie du sie ansiehst. Du bist mein bester
Freund…“ Harry überlegte, was er nun sagen sollte. Vielleicht
irgendeinen Rat. Vielleicht sollte er auch einfach schweigen.
Vielleicht half es Hermine, ihm ihr Herz auszuschütten. Vielleicht
wollte sie gar keinen Rat oder eine Antwort von seiner Seite.
Sie schreckten beide auf, als plötzlich ein albernes Lachen und
hektische, tänzelnde Schritte ertönten. Beide Gryffindors hoben die
Köpfe. Lavender und Ron kamen den Gang entlang. Wobei die
Braunhaarige den rothaarigen Jungen regelrecht mit sich schliff. Sie
kicherte wie ein kleines, verliebtes Mädchen und klammerte sich an
seinen Arm. Dauernd klimperte sie betörend mit den Wimpern.
Es dauerte ein, zwei Sekunden, bis sie Hermine und Ron bemerkten.
„Uuuuppps!“, rief Lavender und kuschelte sich an Rons Arm.
Sie lächelte. „Hier scheint schon besetzt zu sein.“ Die
Braunhaarige kicherte wie ein kleines Mädchen, ließ den Rothaarigen
los und rannte davon.
Ron blickte seine beiden Freunde unsicher lächelnd an. „Was
sollen die Vögel?“, fragte er. Die goldenen Schwalben kreisten
immer noch leise zwitschernd über ihren Köpfen. Harry spürte
schlagartig, wie sich die gesamte Atmosphäre veränderte. Sie
verdichtete sich irgendwie, als würden schwere Gewitterwolken
aufziehen.
Harry realisierte in diesem Moment, dass Hermine aufgestanden war.
Der Junge blickte sie an. Die Braunhaarige stand kerzengerade da,
ihre Schultern gestrafft, das Haar tanzte bei ihren schnellen
Atemzügen. Hermines Augen richteten sich genau auf Ron, düster
umwölkt, die anmutig geschwungenen Brauen gruben weiche Furchen in
die Haut ihrer Stirn. Harry rückte reflexartig etwas von ihr weg.
Das Mädchen strahlte eine Wut und Kälte aus, die ihn frösteln
ließ.
„Oppugno!“ Hermines Stimme klang scharf wie das Schnappen
eines Zweiges. Prompt hörten die Vögel auf, über ihrem Kopf Kreise
zu ziehen. Von ihnen kam ein scharfer, heller, trillernder Pfiff.
Harry blinzelte geschockt, während er sah, wie die Schwalben durch
die Luft schossen und sich auf Ron stürzten.
Sie umkreisten den Jungen wie zornige Hornissen, pickten ihm ins
Fleisch und zerrissen ihm die Haut mit ihren dünnen Krallen. Ron
schrie auf und fuchtelte mit den Armen, um sie zu verjagen. „Mach
die weg!“ Mit diesen Worten rannte der Rothaarige an ihnen
vorbei, das Gesicht verstört und erschreckt. Hermine folgte seiner
Flucht mit kaltem Blick.
Erst als der Rothaarige außer Sichtweite war, löste sich das
gefasste, bösartige Gesicht auf. Hermine stieß ein klägliches
Schluchzen aus und sackte nach vorne. Schweigend beobachtete Harry,
wie sich seine beste Freundin neben ihn setzte. Ein Wimmern und
Winseln schüttelte ihren Körper und Tränen zeichneten schwache
Spuren auf ihre Haut. Hermine schmiegte sich an seine Schulter und
schluchzte herzzerreißend.
Harry legte vorsichtig den Arm um sie. Er strich der Bebenden über
die Schulter. Der Junge blickte nachdenklich geradeaus, während er
Hermine wimmern und weinen hörte. Leise gestand Harry: „Es
fühlt sich so an. Ganz genau so.“