Penpal: Teil 4 – Maps
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Beim Bau vieler alter Städte wurde nicht mit einberechnet, dass die Population stetig steigen würde, und sie mussten ausgebaut werden. Bei der Planung der Straßen wurde ursprünglich nur auf geographische Einschränkungen und die Verbindung wichtiger Orte geachtet. Sobald die Hauptstraßen gelegt waren, wurden neue Geschäfte und andere Straßen strategisch um dieses Gerüst angeordnet. Schließlich wurden dann die Straßen asphaltiert, welche bis dahin nur Wege waren, die mit der Zeit in den Boden gefahren wurden, sodass danach nicht mehr viel an der Anordnung von allem geändert oder hinzugefügt werden konnte.
Der Stadtteil, in dem ich aufgewachsen war, musste sehr alt gewesen sein. Laut einem Sprichwort verlaufen gerade Linien „in Vogelfluglinien“, demnach wurde der Stadtteil der Fortbewegung von Schlangen nachempfunden. Die ersten Häuser dort mussten um den See gebaut worden sein, und von dort breiteten sich dann erst die Straßen und irgendwann weitere Gebäude aus, doch in jeder Richtung endeten die Straßen irgendwann einfach – es gab nur einen einzigen Zugang zu diesem Teil der Stadt. Der Bau vieler dieser Straßen wurden von einem Nebenfluss eingeschränkt, der gleichzeitig vom See abging und wieder hineinführte. Er floss an dem vorbei, was ich damals (und auch in diesen Geschichten) „den Graben“ nannte. Viele der ersten Häuser hatten riesige Gärten, doch manche der Grundstücke wurden mittlerweile aufgeteilt, sodass es zwar mehr Grundstücke gab, diese aber immer kleiner wurden. Wenn man von oben auf den Stadtteil sehen würde, bekäme man den Eindruck, dass irgendwann ein riesiger Tintenfisch in den Wäldern gestorben war und ein abenteuerlustiger Unternehmer die Leiche fand und Wege über seine Tentakel pflasterte, nur um sich dann zurückziehen und Zeit, Gier und Verzweiflung darüber entscheiden zu lassen, wie das Land unter den zukünftigen Hausbesitzern aufgeteilt werden soll.
Von meiner Veranda aus konnte man die alten Häuser sehen, die den See umgaben, und das Haus von Mrs. Maggie gefiel mir am meisten. Mrs. Maggie war, soweit ich mich erinnere, um die 80 Jahre alt, und sie war eine der freundlichsten Leute, die ich je getroffen habe. Sie hatte lockere, weiße Locken und sie trug immer leichte Kleider mit Blumenmuster. Immer wenn Josh und ich im See schwimmen gingen, sprach sie von der Veranda auf der Rückseite ihres Hauses mit uns und jedes Mal lud sie uns auf ein paar Snacks ein. Sie erzählte uns, dass ihr Mann, Tom, ständig auf Geschäftsreisen war, und meinte, dass sie einsam ist, doch Josh und ich lehnten ihre Einladungen immer ab, denn so nett Mrs. Maggie auch war, irgendwas an ihr war einfach seltsam. Wenn wir wegschwammen, rief sie uns manchmal hinterher, „Chris und John, ihr seid jederzeit hier willkommen!“ und während wir wieder nach Hause gingen, hörten wir sie immer noch, wie sie diesen Satz rief.
Mrs. Maggie hatte, wie viele der älteren Bewohner dieser Stadt, eine Sprinkleranlage mit einem Timer, doch irgendwann über die Jahre, musste ihr Timer kaputt gegangen sein, denn die Sprinkler gingen immer wieder zufällig an, auch in der Nacht, das ganze Jahr über. Während es nie kalt genug wurde um besonders viel zu schneien, fand ich, mehrere Male jeden Winter, fast schon ein arktisches Paradies in Mrs. Maggie’s Garten vor, verursacht durch das Wasser der Sprinkler. Jeder andere Garten war trocken und kahl vom beißenden Frost des Winters, aber mitten in dieser Einöde, die an die Gnadenlosigkeit dieser Jahreszeit erinnerte, lag diese Oase voller wunderschönem Eis, das wie Stalaktiten von jedem Ast, von jedem Blatt an jedem Busch hing. Wenn die Sonne schien, wurde das Licht von dem Eis reflektiert und jeder einzelne gefrorene Tropfen verwandelte die Sonnenstrahlen zu einem Regenbogen, den man nur für einen kurzen Moment sehen konnte, bevor man von ihm geblendet wurde. Schon als Kind war ich von der Schönheit fasziniert. Josh und ich gingen dann öfters in ihren Garten, um auf dem gefrorenen Gras herumzurennen und Schwertkämpfe mit den Eiszapfen zu führen.
Einmal fragte ich Mom, warum Mrs. Maggie so oft die Sprinkler anließ. Mom dachte kurz nach, bevor sie antwortete:
„Naja, Schatz, Mrs. Maggie wird oft krank, und manchmal, wenn sie richtig krank ist, ist sie etwas verwirrt. Deswegen verwechselt sie auch manchmal deinen und Joshs Namen. Sie meint es nicht böse, manchmal kann sie sich einfach nicht erinnern. Sie lebt ganz alleine in diesem großen Haus, also ist es in Ordnung, wenn ihr mit ihr redet, wenn ihr im See schwimmt, aber wenn sie euch in ihr Haus einlädt, solltet ihr weiterhin ’nein‘ sagen. Seid immer höflich; ihr werdet ihre Gefühle schon nicht verletzen.“
„Aber sie wird nicht so einsam sein, wenn ihr Mann wieder nach Hause kommt, oder? Wie lange bleibt er noch auf Geschäftsreise? Es scheint so, als ob er immer weg ist.“
Mom schien mit sich zu kämpfen und ich konnte sehen, dass sie sehr traurig geworden ist. Endlich antwortete sie:
„Schatz… Tom wird nicht wieder nach Hause kommen. Tom ist im Himmel. Er starb vor vielen Jahren, aber Mrs. Maggie erinnert sich nicht daran. Sie ist oft verwirrt und vergisst es, aber Tom wird nie wieder nach Hause kommen. Wenn jemand zu ihr in das Haus ziehen würde, würde sie womöglich sogar glauben, dass es Tom wäre, doch er ist fort, Schatz.“
Ich war erst fünf oder sechs Jahre alt, als sie mir dies sagte und obwohl ich es nicht ganz verstand, war ich dennoch sehr traurig für Mrs. Maggie.
Ich weiß nun, dass Mrs. Maggie Alzheimer hatte. Sie und Tom hatten zwei Söhne: Chris und John. Die zwei haben Zahlungspläne mit den Versorgungsunternehmen ausgemacht und zahlten die Wasser- und Stromrechnung von Mrs. Maggie, aber sie würden ihre Mutter nie besuchen. Ich weiß nicht, ob etwas zwischen ihnen vorgefallen war, oder ob es die Krankheit war, oder ob sie einfach nur zu weit weg wohnten, aber sie würden nie vorbeikommen. Ich habe keine Ahnung, wie sie aussehen, aber es gab Momente, wo Mrs. Maggie gedacht haben musste, dass Josh und ich aussahen, wie ihre Söhne, als sie Kinder waren. Oder sie sah das, was sich ein Teil ihres Verstandes so sehr wünschte; er ignorierte die Bilder, die durch ihre Augennerven gesendet wurden und zeigte ihr, wenn auch nur für kurze Zeit, was einst gewesen war. Erst jetzt erkannte ich, wie einsam sie hatte sein müssen.
Während des Sommers nach dem Kindergarten, vor den Ereignissen von „Balloons“, machten Josh und ich uns auf, um die Wälder, sowie den Nebenfluss des Sees in der Nähe meines Hauses zu erkunden. Wir wussten, dass die Wälder zwischen unseren Häusern verbunden waren und wir dachten, dass es cool wäre, wenn auch der See mit dem Bach bei seinem Haus verbunden wäre, also beschlossen wir dies herauszufinden.
Wir machten Karten.
Der Plan war es, zwei separate Karten zu machen und diese dann zusammenzusetzen. Wir würden eine Karte von dem Bach machen, der bei Joshs Haus lag, und die andere vom Nebenfluss und allen kleinen Bächen, die von dem See abgingen. Eigentlich wollten wir nur eine Karte machen, aber wir stellten fest, dass ich den Teil um mein Haus herum viel zu groß gezeichnet hatte, und der Teil von Josh nicht im Maßstab gewesen wäre, wenn wir ihn noch auf die Karte gequetscht hätten. Wir behielten die Karte des Sees bei mir und die Karte des Bachs bei ihm, und immer, wenn wir beim jeweils anderen übernachteten, fügten wir mehr zur jeweiligen Karte hinzu.
Die ersten paar Wochen lief alles ziemlich gut. Wir würden durch die Wälder, am Wasser entlang, laufen und alle paar Minuten anhalten, um die Karte weiter zu zeichnen, und es schien, als ob die zwei Karten nun jeden Tag zusammengesetzt werden könnten. Wir hatten keine Ausrüstung dabei – nicht einmal einen Kompass – doch wir taten unser Bestes. Wir kamen auf die Idee, einen Stock in den Boden zu stecken, wenn wir das Ende einer dieser Reisen erreichten, damit wir erkennen, wenn wir am nächsten Wochenende diesen Punkt von der anderen Seite erreichen würden. Wir waren wahrscheinlich die schlechtesten Kartographen der Welt. Irgendwann wurde jedoch das Gestrüpp um dem Fluss, der vom See kam, zu dicht, und wir kamen nicht weiter. Für eine Weile verloren wir das Interesse an dem Projekt und reduzierten unsere Erkundungstouren erheblich, jedoch nicht komplett, als wir anfingen Eis zu verkaufen.
Nachdem ich Mom die ganzen Bilder zeigte, welche ich von der Schule mit nach Hause genommen hatte, nahm sie mir meine Eismaschine weg, und unser Interesse an den Karten erwachte wieder. Wir mussten uns einen neuen Plan einfallen lassen. Obwohl ich nicht verstand warum, führte Mom Regeln ein, welche ich unglaublich streng fand. Sie begrenzten sehr, was ich tun und wohin ich gehen durfte, und wenn ich mit Josh zum Spielen nach draußen ging, musste ich mich regelmäßig drinnen, bei Mom, melden. Das bedeutete, dass wir nicht mehr stundenlang in den Wäldern herumlaufen konnten, um weitere Wege zu finden. Wir dachten darüber nach, einfach zu schwimmen, wenn wir zu dem zu dichten Teil im Wald kommen würden, aber das hätte offensichtlich nicht funktioniert, da die Karte nass geworden wäre. Wir versuchten schneller zu sein, wenn wir an Joshs Seite arbeiteten, aber wir trafen schon bald auf das gleiche Problem. Dann hatten wir eine brillante Idee.
Wir mussten ein Floß bauen.
Wegen einer Baustelle in der Nachbarschaft, gab es eine Menge Bauschrott, den die Arbeiter einfach in den Graben warfen, um die Straße nicht zu blockieren. Der Schrott wurde nicht mehr gebraucht. Zuerst planten wir ein prächtiges Schiff, mit Mast und Anker und allem, doch das verwandelte sich schnell in etwas Realistischeres. Wir besorgten uns etwas Holz und nahmen uns ein paar große Styropor-Teile von dem Bauschrott. Wir sicherten sie mit etwas Bauschaum und banden alles mit Stricken und Schnüren von Drachen zusammen.
Etwas stromabwärts von Mrs. Maggies Haus schoben wir unser Floß ins Wasser. Als Mrs. Maggie aus der Ferne andeutete, dass wir zurück zu ihr kommen sollten, winkten wir ihr nur zum Abschied. Nichts konnte uns mehr aufhalten.
Das Floß funktionierte wunderbar, und auch wenn wir so redeten und uns so verhielten, als ob es selbstverständlich war, weiß ich noch, dass zumindest ich doch etwas überrascht war, dass alles so gut klappte. Wir hatten beide einen recht langen Ast, den wir als Paddel benutzten, doch wie wir feststellten, war es leichter, sich einfach vom Grund des Wassers abzustoßen. Wenn das Wasser zu tief wurde, legten wir uns einfach auf den Bauch und benutzten unsere Hände, um uns durch das Wasser zu paddeln, was auch funktionierte – wenn auch nicht ganz so gut. Das erste Mal, als wir diese Art des Antriebs verwendeten, dachte ich, dass wir von oben aussehen mussten, wie ein fetter Mann mit winzigen Armen, der eine Runde schwimmen ging.
Es brauchte uns mehrere Ausflüge, um das Floß zu dem undurchdringlichen Teil des Waldes zu befördern, wo wir vorher nicht weiterkamen. Da wir die Idee mit dem Stock hatten, der die letzte Stelle markiert, an der wir die Karte weitergezeichnet hatten, liefen wir immer wieder durch den Wald, bis zu dem Stock, und trugen dann, so vorsichtig und genau, wie wir eben konnten, den Kurs ein, den wir nehmen müssten. Wir stellten fest, dass unser Hindernis doch ziemlich weit weg war und somit das Schwimmen auf dem Floß, vom See an meinem Haus bis zu dieser Stelle, länger dauerte, als erwartet. Wir würden also immer den Fluss entlang schwimmen und nach einer Weile anlegen, und dann beim nächsten Mal ein weiteres Stück zurücklegen.
Wir führten dies bis weit in die Erste Klasse fort. Josh und ich kamen in verschiedene Gruppen, weswegen wir uns an Schultagen kaum sahen, also ließen unsere Eltern uns so ziemlich jedes Wochenende miteinander treffen und auch das ganze Wochenende bleiben. Dazu kam, dass Joshs Vater einen langwierigen Job an einer Baustelle annahm, wodurch er auch an Wochenenden arbeiten musste, und dass seine Mutter Bereitschaft hatte, also musste Josh meistens zu mir kommen.
Wir hätten exzellente Fortschritte gemacht, aber als wir endlich mit dem Floß an dieser Sackgasse angekommen waren und weiter erforschten, fanden wir keinen Ort, um das Floß anzulegen. Die Wälder waren einfach zu dick und das Wasser hatte den Boden so weit weggespült, dass links und rechts etwa ein halber Meter an Erde über den Rand des Flusses ragte, der die tiefen, verwachsenen Wurzeln der Bäume sichtbar machte. Wir mussten jedes Mal umkehren und das Floß bei demselben Gestrüpp an den Bäumen zurücklassen, welches uns veranlasst hatte, es überhaupt zu bauen. Noch schlimmer war, dass der Winter begonnen hatte, somit konnten wir nicht mehr rechtfertigen, das Haus in unseren Badehosen zu verlassen; wir kamen kein Stück weiter – wir mussten immer zurück nach Hause, bevor wir irgendeinen Fortschritt machten.
An einem Samstag, um 19 Uhr rum, spielten Josh und ich, als eine Kollegin von Mom an unsere Tür klopfte. Ihr Name war Samantha. Ich kann mich noch gut an sie erinnern, weil ich ihr ein paar Jahre später einen Antrag gemacht hatte, während ich Mom auf der Arbeit besuchte. Als sie also bei uns war, erklärte Mom uns, dass es auf Arbeit ein Problem gegeben hätte und ihre Hilfe gebraucht wird. Sie meinte, dass sie in ungefähr zwei Stunden wieder zurück sein würde. Ihr Auto war in der Werkstatt, also musste sie bei Samantha mitfahren, doch ich schnappte auf, dass das Problem Samanthas Schuld war, und dass sie darüber im Auto reden, war der einzige Grund, warum es nur zwei Stunden dauern würde. Sie sagte, dass wir unter keinen Umständen das Haus verlassen, und die Tür für niemanden öffnen durften, und als sie gerade dabei war, uns zu erklären, dass sie jede Stunde anrufen würde, nachdem sie angekommen war, fiel ihr wieder ein, dass unser Telefon abgestellt wurde, weil die Rechnung nicht bezahlt wurde – deswegen kam Samantha auch unangekündigt. Mom sah mir tief in die Augen, während sie die Tür schloss und sagte „Bleibt wo ihr seid.“
Das war unsere Chance.
Wir sahen zu, wie sie aus der Ausfahrt auf die gewundene Straße fuhr, und sobald ihr Auto um die letzte sichtbare Kurve bog, rannten wir in mein Zimmer. Ich griff nach meinem Rucksack, während Josh sich die Karte schnappte.
„Hey, hast du eine Taschenlampe?“ rief Josh mir zu.
„Nein, aber wir werden zurück sein, bevor es dunkel wird.“
„Ich finde es wäre besser eine mitzunehmen, nur für den Fall.“
„Mom hat eine, aber ich weiß nicht, wo sie sie aufbewahrt… Warte!“
Ich rannte in meinen Wandschrank und holte eine Kiste vom oberen Regal.
„Du hast eine Taschenlampe da drin?“ fragte Josh.
„Nicht ganz…“
Ich öffnete die Kiste und enthüllte drei Römische Lichter, welche ich mir aus dem riesen Haufen an Feuerwerk geklaut hatte, den Mom für den Unabhängigkeitstag letzten Sommer kaufte; zusammen mit einem Feuerzeug, welches ich ihr ein paar Monate vorher heimlich abgenommen hatte, würde dies sicherstellen, dass wir immerhin etwas Licht hatten, falls wir es bräuchten. Das alles geschah etwas vor den Ereignissen, die mir die Angst vor dem Wald bei Nacht bescherten, also war nicht Furcht die Motivation für unsere Suche nach einer Lichtquelle – nur praktisches Denken. Wir warfen alles in den Rucksack und eilten durch die Hintertür nach draußen, wobei wir aufpassten, die Tür wieder zu schließen, damit Boxes nicht abhauen würde. Wir hatten noch eine Stunde und fünfzig Minuten.
Wir rannten so schnell wir konnten durch den Wald und schafften es in nur etwa fünfzehn Minuten zum Floß. Unter unseren Anziehsachen trugen wir unsere Badehosen, also zogen wir schnell unsere Shirts und Hosen aus und warfen sie jeweils auf einen Haufen, etwa einen Meter vom Ufer entfernt. Wir banden das Floß vom Baum los, schnappten unsere Ast-Paddel und legten ab.
Wir versuchten uns schnell voran zu bewegen um einen Punkt außerhalb dessen, was wir schon auf der Karte hatten, zu erreichen. Wir durften keine Zeit verlieren. Wir wussten, zwar, dass wir mit dem Floß langsamer waren, als zu Fuß, und dass wir eine lange Strecke zurücklegen mussten, aber selbst, wenn wir eine andere Stelle fanden, wo wir anlegen könnten, müssten wir den ganzen Weg zurück mit dem Floß schwimmen, weil der Wald einfach zu dicht war, um hindurchlaufen zu können.
Nachdem wir den letzten Teil durchschwommen hatten, der schon auf der Karte war, wurde das Wasser sehr tief und irgendwann konnten wir den Boden nicht mehr mit unseren Ästen erreichen, also legten wir uns auf den Bauch und paddelten mit unseren Händen. Es wurde dunkler, daher war es auch schwerer für uns, die Bäume zu erkennen. Wir wurden beide leicht nervös. Um Zeit zu gewinnen, paddelten wir schneller, doch es machte eine Menge Lärm, wie unsere Hände wieder und wieder auf das Wasser trafen und dessen Oberfläche durchbrachen. Während diesen lauteren Perioden hörten wir rechts von uns das Kirschen und Knacken von Ästen und vertrockneten Blättern aus dem Wald. Wenn wir unser Tempo verringerten und unsere Schläge auf das Wasser verstummten, stoppten die Geräusche aus dem Wald und wir fingen an zu glauben, dass wir es uns nur einbildeten. Wir wussten nicht, was für Tiere so tief in diesem Wald wohnten, aber wir wussten, dass wir das auch nicht herausfinden wollten.
Während Josh die Karte im Licht meines Feuerzeuges korrigierte, wurden wir plötzlich mit dem Fakt konfrontiert, dass diese Geräusche nicht eingebildet waren. Schnell und rhythmisch hörten wir:
Knirsch.
Knack.
Knirsch.
Es schien sich etwas von uns weg zu bewegen und sich dabei durch das Unterholz zu drücken, außerhalb des Bereiches auf unserer Karte. Es war zu dunkel geworden, um etwas zu sehen. Wir hatten die Länge des Sonnenuntergangs falsch eingeschätzt.
Nervös rief ich in den Wald.
„Hallo?“
Ein kurzer Moment atemloser Anspannung, während wir regungslos im Wasser lagen. Plötzlich durchbrach ein Lachen die Stille.
„Ernsthaft? Hallo?“ kicherte Josh.
“Ja, und?”
„Hallo, Mr. Monster-im-Wald. Ich weiß, dass Sie nicht gehört werden wollen, aber vielleicht antworten Sie ja auf mein ‚hallo‘. Hallooooooo!“
Ich verstand wie dumm ich war. Welches Tier es auch immer war, natürlich würde es nicht antworten. Ich hatte noch nicht mal realisiert, dass ich etwas gerufen habe, aber es war offensichtlich, wenn wirklich etwas da war, würde ich keine Antwort bekommen.
Josh fuhr für mit einem „Halloooooo“ in einer hohen Fistelstimme fort.
„Halloooo“ konterte ich mit der tiefsten Stimme, die ich aufbringen konnte.
„Was geht, alter?“
„Hal-lo. Beep boop.“
„HhhaaaAAALLLLOOOoooo!“
Wir fuhren damit fort, uns übereinander lustig zu machen, und als wir dabei waren, das Floß zu wenden, um wieder zurück zu schwimmen, hörten wir etwas.
„Hallo.“
Es war nur ein Flüstern und klang gezwungen, als ob es aus Lungen entwich, die keine Luft mehr in sich hatten, doch es hörte sich nicht kränklich an. Es kam von dem Ort, der noch gerade so außerhalb des Bereiches der Karte lag, also von hinter uns, da wir das Floß umgedreht hatten. Ich bewegte mich langsam über das Floß und drehte mich in die Richtung des Geräusches während ich am Römischen Licht herumfummelte. Ich wollte sehen.
„Was machst du da?!“, zischte Josh.
Doch ich hatte sie bereits angezündet. Als die Zündschnur funken schlagend in die Pappe verschwand, richtete ich sie gegen den Himmel. Ich hatte zuvor noch nie selbst so ein Teil benutzt und dachte, dass ich es so benutzen musste, wie Leuchtfackeln in den Filmen. Eine glühende, grüne Kugel schoss in Richtung der Sterne und erlosch schnell wieder. Ich senkte meinen Arm mehr in Richtung Horizont; ich wusste noch, dass es verschiedene Farben gab, aber ich erinnerte mich nicht mehr daran, wie viele von diesen Kugeln abgefeuert werden, bevor es wieder vorbei war. Ein zweiter Ball brach hervor und zischte rot leuchtend über die Bäume, doch ich sah immer noch nichts.
„Lass uns einfach gehen, Mann!“ drängte Josh, als er sich wieder in Richtung Rückweg drehte und verzweifelt anfing zu paddeln.
„Nur noch eine…“
Mein Arm richtete die Stange nun direkt auf den Wald vor mir und ein weiterer roter Ball feuerte heraus. Er flog gerade aus, bis er mit einem Baum kollidierte und eine kleine Explosion kurz Licht in einen viel Größeren Bereich brachte.
Immer noch nichts.
Ich ließ die Stange ins Wasser fallen und sah kurz zu, wie sich ein weiterer Feuerball in die Freiheit kämpfte, nur um daraufhin direkt zu sterben, vom Wasser erstickt. Als wir begannen, in die Richtung meines Hauses zurück zu paddeln, hörten wir lautes Rascheln im Wald, offensichtlich nicht mehr versucht, unbemerkt zu bleiben. Das Knacken von Ästen und das Treten auf Blätter übertönte die Geräusche unserer Hände im Wasser.
Es rannte.
In unserer Panik rüttelten wir das Floß zu stark und ich fühlte, wie sich eines der Seile unter meiner Brust lockerte.
„Josh, sei vorsichtig!“
Aber es war zu spät. Unser Floß ging kaputt. Einen Moment später war es komplett auseinandergefallen. Jeder von uns hielt sich an einem Styropor-Block fest, doch die Teile waren nicht groß genug, um uns ganz über Wasser zu halten, somit hingen unsere Beine unter uns im Winterwasser.
„Josh! Schnell!“ rief ich, als ich direkt neben ihm ins Wasser zeigte.
Er kämpfte, doch es war zu kalt für schnelle Bewegungen, also konnten wir nur zusehen, wie die Karte davon schwamm.
„Mir ist k-k-kalt, M-mann.“ stotterte Josh. „Wir müssssen aus dem W-wasser.“
Wir näherten uns dem Ufer, aber jedes Mal, wenn wir uns hochzuziehen wollten, hörten wir wieder das hektische Rascheln im Wald über uns auf uns zu donnern. Nach einer Weile waren wir zu kalt, zu schwach um es überhaupt noch zu versuchen.
Gleichmäßig traten wir mit unseren Beinen und näherten uns der Stelle, wo wir abgelegt hatten. Wir hievten uns von unseren Teilen und versuchten, sie schnell an Land zu ziehen, aber Joshs Teil rutschte ihm aus den Händen und schwamm Richtung See. Wir zogen unsere Badehosen aus um endlich wieder trockene Sachen anzuhaben und uns vor der beißenden Kälte zu schützen. Ich zog meine Hose an, aber etwas war falsch. Ich drehte mich zu Josh.
„Wo ist mein Shirt, Mann?“
Er zuckte mit den Achseln und meinte, „Vielleicht ist es ins Wasser gefallen und zum See geschwommen?“
Ich sagte Josh, er solle wieder zu meinem Haus zurückgehen und erzählen, dass wir Verstecken spielen würden, wenn Mom nach Hause kam. Ich musste versuchen mein Shirt zu finden.
Ich rannte an den Häusern vorbei und blickte übers Wasser. Ich bemerkte, dass ich, mit etwas Glück, vielleicht auch die Karte finden könnte. Ich bewegte mich recht schnell, da ich wieder nach Hause musste, und wollte gerade aufgeben, als meine Konzentration von einem Geräusch hinter mir unterbrochen wurde.
„Hallo.“
Ich fuhr herum. Es war Mrs. Maggie. Ich hatte sie noch nie nachts gesehen. Das schwache Licht ließ sie unglaublich gebrechlich erscheinen. Die übliche Wärme und Freundlichkeit, die sie umgab, schien von der Kälte verdrängt worden zu sein. Ich konnte mich nicht erinnern, sie jemals nicht lächeln gesehen zu haben, deswegen sah ihr Gesicht seltsam anders aus.
„Hallo, Mrs. Maggie.“
„Oh, hi Chris!“ Ihre Wärme und das Lächeln kehrten zurück, ihre Erinnerung leider nicht. „Ich habe dich in der Dunkelheit nicht erkannt.“
Zum Spaß fragte ich sie, ob sie mich auf einen Snack einladen würde, doch sie meinte nur „Vielleicht ein anderes Mal“. Ich war zu beschäftigt damit, nach der Karte und dem Shirt Ausschau zu halten, um auf sie einzugehen, aber sie hörte sich fröhlich an, also fühlte ich mich nicht schlecht. Sie sagte noch ein paar andere Dinge, doch ich war zu abgelenkt. Ich wünschte ihr eine gute Nacht und rannte ihre Auffahrt entlang, zu meinem Haus. Ich konnte sie noch hinter mir hören, wie sie durch ihren gefrorenen Garten ging, aber ich drehte mich nicht um, um ihr zu winken; ich musste nach Hause.
Ich kam ein paar Minuten vor Mom an, und bis sie wieder im Haus war, hatten Josh und ich uns schon umgezogen und aufgewärmt. Sie bemerkte nichts, doch die Karte war verloren.
„Nicht gefunden?“
„Nee, aber ich hab‘ Mrs. Maggie gesehen. Sie hat mich wieder Chris genannt. Alter, ich sag dir, sei froh, dass du sie noch nie nachts gesehen hast.“
Wir lachten. Josh fragte mich, ob sie mich auf Snack eingeladen hatte und scherzte, dass die Snacks schrecklich sein mussten, wenn sie sie nicht einmal verschenken konnte. Ich erzählte, wie sie mein Angebot ablehnte, und er war überrascht, und nun, da ich Zeit hatte darüber nachzudenken, war ich es genauso. Wortwörtlich jedes Mal, wenn wir sie sahen, hatte sie uns eingeladen, und nun, wo ich, wenn auch nicht ernst gemeint, mich selbst eingeladen hatte, sagte sie nein.
Während Josh weiter über Mrs. Maggie redete, fiel mir plötzlich ein, dass das Feuerzeug noch in meiner Tasche war und es eine Katastrophe wäre, wenn Mom es fand. Ich schnappte mir die Hose vom Boden und griff in die Taschen; ich fühlte etwas, aber es war nicht das Feuerzeug. Aus der Gesäßtasche zog ich ein gefaltetes Blatt Papier und mein Herz machte einen Sprung. „Die Karte?“ dachte ich. „Aber ich habe doch gesehen, wie sie wegschwamm.“ Als ich das Papier auseinanderfaltete, drehte sich mir der Magen um, während ich versuchte zu verstehen, was ich sah. Auf das Papier war ein großes Oval gemalt, und darin zwei Strichmännchen. Eines war viel großer als das andere, aber keines hatte ein Gesicht. Das Papier war zerrissen, also fehlte ein Teil. In der oberen, rechten Ecke stand eine Nummer. Es war entweder eine 15 oder eine 16. Nervös gab ich Josh das Blatt und fragte ihn, ob er es in meine Tasche gesteckt hatte, aber er verneinte und fragte, warum ich so schockiert war. Ich deutete auf die kleinere Figur und auf das, was danebenstand.
Es waren meine Initialen.
Schnell verdrängte ich es aus meinen Gedanken und erzählte Josh den Rest meiner Konversation mit Mrs. Maggie. Ich hatte dieses merkwürdige Gespräch immer auf ihre Krankheit geschoben, bis ich den Vorfall, all diese Jahre später, noch einmal durchging. Wenn ich nun daran denke, verspüre ich immer noch dieses Gefühl tiefer Trauer für Mrs. Maggie, doch wenn ich mich zurückerinnere, wie sie sagte „Vielleicht ein anderes Mal“, schiebt sich eine drohende Verzweiflung dazwischen. Ich wusste, was sie gesagt hatte, aber ich verstand in dieser Nacht nicht, was sie meinte. Ich verstand die Bedeutung ihrer Worte auch Wochen später nicht, als ich sah, wie Männer in merkwürdigen, orangenen Schutzanzügen, große, schwarze Müllbeutel aus ihrem Haus trugen und ich mich fragte, warum an diesem Tag die ganze Nachbarschaft nach Tod roch. Ich verstand es immer noch nicht, als sie das Haus zum Abriss freigaben und die Fenster und Türen mit Brettern abdeckten, kurz bevor wir umzogen. Ich verstehe erst jetzt. Ich verstehe, warum die letzten Worte, die sie mit mir sprach, so wichtig waren, auch wenn weder sie oder ich dies damals erkannten.
Mrs. Maggie hatte mir in dieser Nacht erzählt, dass Tom nach Hause gekommen war. Ich weiß nun, wer wirklich eingezogen ist; ebenso weiß ich, warum ich nie sah, wie ihr Körper auf einer Trage aus dem Haus gebracht wurde.
Die Säcke waren nicht mit Müll gefüllt.
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