Die Morgensonne traf ihr Gesicht wie eine tödliche Flutwelle und riss sie aus einem schier endlosen Schlaf in den vernarbten Armen eines Fremden.
Normalerweise wäre diese fremdartige, fast ein wenig romantische Szenerie wohl der Anfang einer monotonen Leonardo-DiCaprio-Schnulze. Das Einzige, was ihre jetzige Situation von dieser Vorstellung trennte, war das vielschichtig aufgetragene, graue Paketband, welches ihren Mund, ihre Knöchel, Knie und Handgelenke wie ein klebriges Wespennest umwob. Obwohl sie einige Nächte damit verbrachte, sich zu wehren und ihre Gelenke aneinander wundzuscheuern, wich es keinen Zentimeter von ihrer Haut. Ob sie gestern oder vorgestern aufgegeben hatte, wusste sie nicht mehr. Die Zeit in Gefangenschaft verhielt sich äußerst paradox. Der klare Geruch von Petersilie kroch in ihre Nasenlöcher, als der Fremde erwachte und direkt in ihr Gesicht gähnte. Zuvor hätte sie sich nie gewünscht, sich zu übergeben. Doch nun war es das Einzige, was sie wollte...
Die Morgensonne traf ihr Gesicht wie eine tödliche Flutwelle und riss sie aus einem schier endlosen Schlaf in den vernarbten Armen eines Fremden.
Normalerweise wäre diese fremdartige, fast ein wenig romantische Szenerie wohl der Anfang einer monotonen Leonardo-DiCaprio-Schnulze. Das Einzige, was ihre jetzige Situation von dieser Vorstellung trennte, war das vielschichtig aufgetragene, graue Paketband, welches ihren Mund, ihre Knöchel, Knie und Handgelenke wie ein klebriges Wespennest umwob. Obwohl sie einige Nächte damit verbrachte, sich zu wehren und ihre Gelenke aneinander wundzuscheuern, wich es keinen Zentimeter von ihrer Haut. Ob sie gestern oder vorgestern aufgegeben hatte, wusste sie nicht mehr. Die Zeit in Gefangenschaft verhielt sich äußerst paradox. Der klare Geruch von Petersilie kroch in ihre Nasenlöcher, als der Fremde erwachte und direkt in ihr Gesicht gähnte. Zuvor hätte sie sich nie gewünscht, sich zu übergeben. Doch nun war es das Einzige, was sie wollte. Seine müden, hellblauen Augen stachen in ihre Seele wie ein geschärfter Dolch in den Leib des Neiders. Wie üblich sprach er nicht. Sie war sich nicht sicher, ob er keine Worte fand oder ob diese Eigenart einfach zu seiner gestörten Person gehörte – wie die Narben und der Geruch. Er setzte sich auf und reckte sich, wobei das Geräusch knackender Finger gewalttätig in ihrem Kopf widerhallte.
Der Fremde erhob sich und watete zu dem schimmligen Holzstuhl neben dem Bett, auf welchem sie lag. Ungewiss seiner nächsten Tat erfasste sie ein starkes Gefühl der Panik. Sie betrachtete den Mann, neben welchem sie gelegen hatte, und bemerkte einen fremdartigen Grünton, welcher in einzelnen, von Hautvenen durchsetzten Partien zum Vorschein kam. Ein Fäulnisgestank breitete sich aus, als er damit begann, lose Holzsplitter des Stuhles abzuschaben. Der hypnotisierende Rhythmus, welchen die zu Boden fallenden Bruchstücke auslösten, erinnerte sie an einen undichten Wasserhahn oder eine tickende Wanduhr. So sehr sie es auch wollte, sie konnte sich nicht davon abbringen, diesen Akt puren Wahnsinns weiterhin mit anzusehen. Neugierde weilt in jedem Menschen und sie stellte keine Ausnahme dar.
Was wollte er ihr zeigen?
Gerade als der Splitterhaufen die Höhe des Außenknöchels des Fremden erreichte, begann sie, etwas unter Moos und Schimmel zu erkennen. Ein Geheimnis – tief in das weiche Birkenholz geschnitzt. Ihre Augen verfolgten die Bewegung seiner Fingerspitzen, welche sogleich zu bluten begannen. Es schien, als absorbierte das Objekt das Blut des Mannes und speicherte es, um sich selbst davon zu nähren.
Aber was war es?
Sie musste in einem wilden Traum gefangen sein. Es gab einfach keine andere Erklärung für das, was sich soeben abspielte. Ihre Augenlider begannen unkontrolliert zu zucken, als eine unergründliche Quelle grünen Lichts aus seinem Handrücken schwoll, mit welchem er seine Kratzspuren zu verdecken versuchte. Sie kniff ihre Augen zusammen und war entschlossen, nicht länger hinzusehen. Tränen begannen an ihrem Gesicht hinunterzufließen und bis tief unter das feste Paketband, welches ihren Mund bedeckte, zu kriechen.
Bilder lang vergessener Tage fluteten ihr geschwächtes Gedächtnis – kurze Sequenzen ihrer Kindheit, die sich stetig wiederholten. Das schwarze Haar ihres alten Selbst wehte im Wind, während sie auf der großen, eisernen Schaukel im Garten ihrer Eltern saß. Der blaue Himmel ergoss sich über ihr wie eine Sintflut, das strahlend weiße Sonnenlicht streichelte ihre fahle Haut, das Beet vor ihr reich gefüllt mit grüner Petersilie.
Eine furchtbare Angst ergriff sie. Sie spürte ihr Herz gegen ihren Brustkorb hämmern, als versuchte es, durchzubrechen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Die hoffnungslosen Versuche, sich selbst zu befreien, scheiterten, noch bevor sie begonnen hatten. Als sie ihre Augen nicht mehr öffnen konnte, wusste sie, dass es vorbei war.
Die Karten lagen auf dem Tisch. Nach all dem hatte er trotzdem gewonnen. Aber wie hatte er sie finden können?
„Willkommen zuhause!“
Das Blut in ihren Venen erfror – und dennoch spritzte es aus ihrer Kehle wie ein Springbrunnen der Verderbnis, als ihr Vater diese durchtrennte.