Romanowas Experiment
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
,,Herzlich Willkommen!“
Eine Stimme, welche eher an ein Navigationssystem als an eine menschliche Frau erinnerte und einen starken russischen Akzent hatte, ertönte aus dem langen Flur, und keine drei Sekunden später trat eine zierliche Dame mittleren Alters über die Türschwelle und beäugte uns durch die Gläser einer großen Brille. Ihr Blick war durchdringend und ließ sie wie eine Maschine, wie den Terminator wirken, die uns von oben bis unten musterte. Die großen, grünen Augen der Frau waren geradezu hypnotisch und fast schon unheimlich. Die dunkelbraunen Haare hatte sie sich zu einem Dutt hochgesteckt, und der schlanke Körper steckte in einem knielangen, grauen Rock und einer weißen, leicht aufgeknöpften Bluse.
,,Boah, sieht die Alte geil aus“, hörte ich Ben neben mir flüstern.
Wir waren gerade gemeinsam auf dem Weg zur Universität, als wir den neu am schwarzen Brett angehefteten Zettel erblickten, keine Minute darauf die angegebene Nummer wählten und uns für das Testprogramm eintragen ließen. Die Anmelderäumlichkeiten waren keine 500 Meter von unserem Uni-Gebäude entfernt, und man musste nur einige Formalitäten angeben, sich so einen kleingedruckten Kram durchlesen und dann seine Unterschrift abgeben. Ziemlich wenig verlangt, wenn man den Rest des Zettels betrachtete.
Studenten und Studentinnen,
Sie haben die einmalige Chance darauf, an einem Experiment der russischen Wissenschaftlerin Julia Romanowa teilzunehmen, die sich für einige Tage in der Stadt aufhalten wird, um Testpersonen für ihre neusten Versuche zu rekrutieren. Das Experiment besteht aus einer einfachen Reihe von völlig ungefährlichen Tests, die lediglich dazu dienen, die Beobachtungsgabe des Menschen zu erforschen. Sollten sie sich dazu bereiterklären, an dieser Testreihe teilzunehmen, die höchstens 30 Minuten ihrer Zeit in Anspruch nehmen wird, so erwartet sie eine Vergütung von 500 € pro Person! Falls wir ihr Interesse geweckt haben sollten, melden sie sich bitte bis nächsten Freitag im Raum 215 des Backsteingebäudes in der Juliusstraße 14a. Wir freuen uns auf sie.
Hier saßen wir nun. Wir waren nur acht Leute, die ich jedoch alle von meiner Uni kannte, und in jedem Gesicht konnte ich die Gier nach dem Geld erkennen, das wir nach unsere Aufenthalt hier erhalten würden. Welche Art von Tests uns bevorstand, war uns völlig unbekannt und teilweise auf ziemlich egal. Besonders aufgeregt war ich allerdings nicht. Es war nicht das erste Mal, dass ich an etwas Derartigem teilnahm, die Preisklasse war hier jedoch eine ganz andere als die, an welche ich ursprünglich gewohnt war. Frau Romanowa hörte auf, uns zu begutachten, worüber ich auch ganz froh war, denn ihr Blick glich dem eines Restaurantgastes, der vor einem Aquarium voll mit Hummern steht und dabei ist, sich den Besten herauszusuchen.
,,Ich freue mich, dass sie so zahlreich erschienen sind. Ich möchte nicht lange drumherum reden, schließlich wissen sie alle, aus welchem Grund sie hierher geladen wurden. Die Testreihe, welche ich nun mit ihnen durchführen werde, besteht aus exakt drei Videoaufnahmen, die sie sich angucken werden, um im Nachhinein bestimmte Fragen bezüglich dieser zu beantworten. Noch Fragen…?“
Sie wirkte noch strenger und dominanter als jeder Professor, dem ich bisher gegenübersaß. Langsam ging die Dame auf den Schreibtisch zu, der vor einer großen, weißen Leinwand platziert wurde, setzte sich und öffnete das erste Video.
,,Das Video, welches ich ihnen gleich vorspiele, zeigt zehn Personen, von denen fünf schwarze und fünf weiße Kleidung tragen. Ich bitte sie nun, im Verlauf des Videos die Pässe zu zählen, die sich das weiße Team zuspielt. Wer das Kleingedruckte in seinem Vertrag gelesen hat, wird wissen, dass sie bei jeder falschen Antwort ihre Gage halbiert bekommen.“
Wie bitte? Mir klappte die Kinnlade runter. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein. Irritiert sah ich hinüber zu Ben, der ebenfalls mit offenem Mund dasaß und nach vorne starrte, wo nun ein Countdown langsam von zehn hinunter zählte. Kurz darauf erschienen die genannten Teams und ich versuchte, jeden der Pässe zu erblicken.
Weiß… 1. Pass, 2. Pass, 3. Pass…
Die Augen immer nur auf weiß… 6. Pass, 7. Pass…
Sieh nicht weg, versuche nicht einmal zu blinzeln… 12. Pass, 13. Pass…
Lass dich nicht ablenken… 15. Pass, 16. Pass…
Der Bildschirm wurde schwarz. Der Film war vorbei. Exakt 19 Pässe habe ich im Verlauf des Videos gezählt und ich war mir sicher, dass ich mich nicht verzählt hatte. Julia Romanowa ging herum und teilte uns kleine Zettel aus, auf denen jeweils ein Name von uns stand und auf den wir unsere Antwort schreiben sollten.
,,Wer den Test sabotiert und sich mit einem Partner austauscht, wird auf der Stelle von der Testreihe zurückgezogen und ohne einen einzigen Cent wieder nachhause geschickt, verstanden?“
Wir nickten kleinlaut. Ich verewigte meine Antwort auf dem Blatt, faltete es dreimal und reichte es dann weiter nach vorne. Ungefähr zwei Minuten später lagen acht kleine, gefaltete Blätter Papier auf dem Schreibtisch, an dem Frau Romanowa nun Platz nahm.
,,19, 19, 19, 19,…“, murmelte sie leise vor sich hin.
,,Offenbar hat jeder von ihnen den ersten Test bestanden, doch nun stelle ich ihnen eine weitere Frage: Wer von ihnen hat den Affen bemerkt?“
Ein Affe? Wovon sprach sie denn da jetzt plötzlich? Da war kein beschissener Affe in diesem Video, sondern lediglich fünf weiße und fünf schwarze… Obwohl ich die Wörter nur dachte, schien es so, als blieben sie mir im Halse stecken. Vor mir sah ich ein weiteres Mal das Videoband, auf dem ich nun einen Affen erkannte, der einen der schwarzen Spieler austauschte und fast zehn Sekunden lang über das Spielfeld lief und zwischenzeitlich sogar ein paar Hampelmänner machte, während er mitten zwischen den Spielern stand. Ich war baff, doch als ich mich umsah, erkannte ich, dass fünf von den acht Leuten den Arm hochhielten – darunter auch Ben.
,,Das Video kannte ich schon,“ flüsterte er mir zu. ,,Hat ’ne Freundin von mir in ihrem Psychiologiekurs bereits durchgenommen.“
Die Stimme von Frau Romanowa riss uns aus dem Gespräch.
,,Den Erwartungen entsprechend hat ca. die Hälfte von ihnen den Affen bemerkt, so wie es bei den meisten Tests der Fall war, in denen dieses Video gezeigt wurde. Das zweite Video basiert auf einem ähnlichen Prinzip. Es behandelt die Wahrnehmung des Menschen durch seine Urinstinkte. Teil meiner Testreihe ist es zu überprüfen, ob sie noch immer in uns schlummern oder durch die Modernisierung bereits vollkommen gelöscht wurden.“
Mit einem kurzen Klick öffnete sie das nächste Video.
,,Ich erwarte nun von ihnen, dass sie zählen, wie viele Menschen sich auf dem nächsten Video befinden… Los!“
Eine schnelle Bewegung mit dem Zeigefinger setzte das nächste Filmchen in Gang und zu sehen war eine Turnhalle, die mit lauter nackten, wunderschönen Frauen angefüllt war. Unter ihnen waren auch einige durchtrainierte Männer, die vermutlich jedoch eher die Mädchen ablenken sollten, die sich für diesen Test bereiterklärt hatten. Offenbar bestand hier die Schwierigkeit darin, dass die nackten Körper der Menschen uns davon ablenken sollten, richtig zu zählen, sodass wir entweder immer wieder von vorne anfangen müssen oder uns völlig verzählen und eine ganz andere Anzahl herausbekommen als die, die es tatsächlich ist. Langsam zählte ich eine Person nach der anderen, und glücklicherweise bewegten sie sich nicht allzu sehr, sodass ich nochmal von vorne anfangen musste. 36.
Ich schrieb die Antwort auf das Blatt Papier nieder, von denen uns Frau Romanowa wieder acht Stück austeilte und kurz darauf wieder einsammelte.
,,Sehr gut; verzählt hat sich scheinbar niemand von ihnen, aber wie sie ja bereits beim ersten Video gemerkt haben, geht es nicht nur um die Dinge, die man sieht, weil man sie sehen sollte, sondern hauptsächlich um die Dinge, die man nicht sehen sollte, aber hätte sehen müssen.“
Ihr Blick schweifte durch den Raum und ihre funkelnden Augen riefen ein flaumiges Gefühl in meiner Magenregion hervor.
,,Jetzt sagen sie mir, aber ganz ehrlich, wer von ihnen den Mann mit dem Messer erkannt hat.“
Niemals! Das… das konnte doch wohl nicht wahr sein. Geschockt sah ich die langsame Wiederholung des Videos, in welchem nun der Fokus auf einem Mann lag, den ich sogar mitgezählt hatte, der aber nicht so wie die anderen mit stiller Miene umherlief, sondern hektisch umhersprang und mit einem Messer andeutete, die anderen Menschen zu erstechen!
,,Tiere reagieren instinktiv auf drohende Gefahr. Es gibt Arten, die ihre Feinde bereits aus einer Entfernung von über fünf Kilometern erkennen können. Der Mensch erkennt eine drohende Gefahr selten. Unsere Instinkte sind schwach und zurückgebildet. Wenn ein Mensch mit einem Sprengstoffgürtel in eine Menschenmenge geht, bemerken diese Leute die Gefahr erst, wenn es bereits zu spät ist. Ameisen oder Bienen hingegen bemerken es sofort, wenn ein fremder und potentiell gefährlicher Artgenosse in ihr Revier eindringt. Sie sind dazu in der Lage, einen Eindringling unter tausenden von Artgenossen, die alle vollkommen gleich aussehen, zu erkennen und zu eliminieren.“
Diesmal öffnete sich ein weiterer Ordner, auf welchem acht verschiedene Videos gespeichert waren.
,,Ein letzter Test – schauen sie genau hin!“
Acht Videos; eins nach dem anderen wurde abgespielt, und was ich sah, schockierte mich. Wir waren es! Die Testpersonen! Ruckartig sprangen einige von uns auf und Frau Romanowa pausierte das Video.
,,Was soll das?! Das verstößt gegen unser Recht der Privatsphäre! Wer hat Ihnen gestattet, uns in unseren Wohnungen zu filmen?!“
Frau Romanowa sah uns verständnislos, aber gleichzeitig vollkommen kühl an.
,,Na Sie. Haben Sie denn den Vertrag nicht gelesen? (…) Und wieder ein perfektes Beispiel für die unausgeprägten Instinkte der Menschen. Ich bin mir sicher, eine Biene hätte das Kleingedruckte gelesen, wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre. Tut mir leid, aber das war keine einfache Update-Bestätigung wie auf Ihnen Smartphones, die Sie mal eben so bestätigen können. Geben Sie immer gut auf das acht, auf das Sie sich einlassen. Und jetzt sehenSie sich die Filme an.“
Schweigend und beschämt von unserer eigenen Dummheit wandten wir uns wieder dem Bildschirm zu. Zuerst sahen wir eines der Mädchen, wie sie in ihrem Badezimmer stand und sich duschte. Mein Blick wanderte für einen kurzen Augenblick hinüber zu der brünetten Schönheit, der Tränen des Schams über die Wangen liefen und die peinlich berührt ihren Kopf senkte. Video Nummer zwei zeigte einen Jungen, der wohl hinter mir saß, wie er eine Bürste in der Hand hielt und lauthals einen Song von Lady Gaga sang, während er mit höchst femininen Tanzbewegungen durch die Wohnung stolzierte. Ich kannte seinen Namen nicht, aber ich meinte den Typen schon mal irgendwo gesehen zu haben, und bald wurde mir klar, dass ich ihn von den Werbeflyern für die LGBT-Verbindung kannte, die eines Tages in leuchtenden Regenbogenfarben überall in der Schule verteilt lagen. Einem Homo war es sicherlich nicht peinlich, bei sowas gesehen zu werden, da es schließlich sowas wie sein persönlicher Urinstinkt war.
Als nächstes folgte ein Film, auf dem einer der Jungs zu erkennen war, die vor uns saßen – er lag in seinem Bett und holte sich einen runter! Hätte ich diese Situation als Außenstehender betrachtet, wäre ich vermutlich vor Lachen zusammengebrochen, doch da ich bald selbst auf einem der folgenden Videos auftauchen würde, blieb es mir wie ein Korken in der Kehle stecken. Der Junge selbst sah aus, als würde er am liebsten im Boden versinken, und ich konnte ihn gut verstehen. Ob diese perversen Schweine auch mich beim Wichsen gefilmt hatten? Ich wollte gar nicht darüber nachdenken.
Gleich darauf erschien das Mädchen auf der Leinwand, die zwei Tische neben mir saß. Sie war lediglich dabei gefilmt worden, wie sie mit gespitzten Lippen (Duckface nennt man das, glaube ich) vor einem Spiegel posierte – oben ohne. Das schien sie aber nicht sonderlich zu treffen. Wunderte mich auch nicht; so wie die rumlief, hatte sie schon ganz andere Körperteile von sich in der Öffentlichkeit preisgegeben.
Ben war als nächster dran. Noch bevor das Video richtig begonnen hatte, sah ich, wie er seinen Blick nach unten senkte, und als ich meine Augen auf den Monitor richtete, erkannte ich, wie er mit einer schwarzen Perücke und einem knallroten Kleid durch die Wohnung stolzierte. Die meisten gaben keinen Ton von sich, bis auf die kleine Schwuchtel in der ersten Reihe, die plötzlich losprustete und sich das Lachen kaum verkneifen konnte. War ja klar; diese blöde Tunte lief ja vermutlich selbst jeden Tag so rum und kam sich vermutlich jetzt besonders witzig vor. Ben sah mich nicht ein einziges Mal an; er schämte sich so sehr und er tat mir so leid. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er schwul gewesen wäre, ja selbst nicht, wenn er ein Transvestit wäre, aber niemals hätte ich es auf diese Art und Weise herausfinden wollen. Niemals!
Als nächstes zeigte uns Frau Romanowa die Aufnahmen eines Mannes der, so glaubte ich, Teil des hiesigen Fußballteams war und nun auf seiner Couch von einer jungen Frau in ledernen Klamotten einen umschnallbaren Dildo in den Arsch gerammt bekam. Er schien das jedoch nicht peinlich zu finden; vermutlich weil die Braut einfach verdammt scharf aussah und weil er sowieso keinen von uns kannte. Ich glaube sogar, dass er der einzige von uns war, der nicht die Universität besuchte.
Nun kam ich… Meine Augen weiteten sich, als das Video vor mir und all den anderen Anwesenden zeigte, wie ich das tat, für das ich mich bis heute am meisten schäme. Ben und ich lebten seit Anfang des Studienjahres in einer WG, und er brachte seine Katze Katinka mit sich, die ich auf den Tod nicht ausstehen konnte, da ich erstens keine Tiere mochte und das Vieh mir zweitens immer mal wieder auf meine Uniunterlagen pisste. Was die Kamera aufgezeichnet hatte, geschah kurz, nachdem Katinka eine meiner wichtigsten Hausarbeiten ruiniert hatte, an der ich über drei Wochen gearbeitet hatte. Zwar hatte ich das, was ich schriftlich zu erledigen hatte, auf dem Computer abgespeichert, aber die Sachen, die ich mir in sämtlichen Büchereien und privaten Haushalten, teilweise für einen Haufen Kohle, angeeignet habe, war ausnahmslos in Fetzen gerissen worden. Ich war nicht stolz auf das, was ich danach tat.
Mein Blick fiel hinüber zu Ben, der schockiert betrachtete, wie ich kleingestampftes Rattengift in den Futternapf seiner Katze mischte. Verzweifelt sah ich zu ihm hinüber, doch er erwiderte meinen Blick nicht. Stattdessen sah ich zum ersten Mal in all den Jahren, in denen er nun mein bester Freund war, wie er zu weinen begann. Es war der ultimative Vertrauensbruch; dies wäre das Ende unserer Freundschaft, und ich war schuld! Nun begann auch ich zu weinen. Innerhalb weniger Minuten war unser Selbstvertrauen, unser Ruf und unsere Freundschaft in Flammen aufgegangen und zu Asche verbrannt worden.
Ganz zum Schluss kam noch ein etwas stämmigeres Mädchen, die dabei gefilmt wurde, wie sie sich mit allerlei Essen vollstopfte – und ich meine vollstopfte. Das der Mund eines Menschen überhaupt dazu fähig war, sich so weit zu öffnen, war fast schon mehr faszinierend als peinlich. Großartig Beachtung schenkte ich dem Video jedoch nicht. Mein Blick hing weiterhin an Ben, der den Kopf gen Boden gerichtet hatte und einen hochroten Kopf bekam, während heiße Wuttränen an seinen Wangen hinunterliefen.
,,Sie sind entlassen. Das Geld erhalten Sie hier vorne bei mir. Schön in einer Reihe und wehe, jemand drängelt.“
Betroffen und schockiert vom Geschehenen schlurfte ich nach vorne zum Schreibtisch hinüber und nahm den Umschlag entgegen, den mir Frau Romanowa entgegenhielt. Dann begab ich mich sogleich auf den Heimweg. Beim Verlassen des Gebäudes konnte ich Ben nirgendwo entdecken; ich sah nur all die anderen Teilnehmer des Testes. Das brünette Mädchen, das beim Duschen gefilmt worden war, lief schnell zu ihrem Fahrrad und verschwand hinter der nächsten Ecke, während die Blondine, die wir ebenfalls alle oben ohne sehen konnten, ganz entspannt und mit einem breiten Grinsen das Geld beäugend in ein Auto stieg und davonfuhr. Die Schwuchtel telefonierte mit dem Handy und wackelte mit ihrem knochigen Arsch auf einen anderen offensichtlichen Homo zu, der den kleinen Wichser umarmte und dann mit ihm verschwand. Apropos Wichser; der Kerl, den sie beim Masturbieren gefilmt hatten, zog sich unerkannt eine Kapuze über den Kopf und lief schnell auf die andere Straßenseite, wo er heimlich hinter einem Häuserblock verschwand.
Ich suchte weiterhin verzweifelt nach Ben, doch er war noch immer nirgends zu sehen. War er vielleicht durch den Hintereingang abgehauen? Gestresst hastete ich um das Haus herum – und stieß versehentlich gegen das übergewichtige Mädchen, das mich mit einem schockierten und beinahe angsterfüllten Blick anstarrte. Sie schien sogar noch geschockter von den Enthüllungen zu sein, als ich es war.
,,Tut mir leid“, sagte sie hastig und radelte dann, so schnell sie konnte, an mir vorbei.
Als ich nach diesem kurzen Zwischenfall die Hinterseite des Hauses erreicht hatte, war Ben noch immer nirgends zu sehen. Wie konnte ich auch annehmen, dass er auf mich warten würde. Vermutlich würde er mich nicht einmal mehr in unsere Wohnung lassen, und ich könnte ihm nicht einmal ein bisschen böse deswegen sein. Stundenlang ging ich durch die Stadt, bis ich irgendwann bemerkte, dass die Sonne bereits untergegangen und die Straßenlaternen angegangen waren, woraufhin ich mich langsam auf den Nachhauseweg machte. Nachdem ich langsam den Schlüssel ins Schloss steckte und die Zimmertüre öffnete, ging ich sofort ins Schlafzimmer. Unsere WG hatte nur eines, und es war natürlich sofort Ben gewesen, der es für sich in Anspruch genommen hatte. Ich hatte seit jeher auf der Couch geschlafen, was zwar unbequemer, aber immerhin noch erträglich war.
So leise wie möglich drückte ich die Klinke nach unten und öffnete die Tür. Das Bett war leer; er war noch immer nicht zurück. Würde er überhaupt zurückkommen? Wie ein nasser Sack ließ ich mich aufs Bett fallen und vergrub weinend das Gesicht in den Händen. Was hatte ich nur getan? Mit rot verweinten Augen ging ich in Richtung Bad, um mich unter die Dusche zu stellen. Gerade als ich die Badezimmertür öffnete, sah ich im Spiegel, der direkt vor mir an der Wand hing, dass Ben hinter mir auf der Couch lag. Glücklich und zugleich voller Vorwürfe drehte ich mich um und ging auf ihn zu. Ben schlief friedlich, hatte das rote Abendkleid fest umschlungen und auch seine Augen waren gerötet. Er hatte ebenfalls geweint. Während Tränen meine Wangen hinunterliefen, setzte ich mich neben ihn und legte meine Hand auf seine Schulter. Da sah ich einen Zettel, der neben der Couch auf dem Tisch lag. Adressiert an mich…
Finn,
bitte verzeih mir, falls du dich um mich gesorgt hast, aber ich konnte einfach nicht in deiner Nähe sein nach dem Video, und ich spreche nicht von dem, was ich über dich herausgefunden habe. Ich bin nicht wütend über das, was du Katinka angetan hast, soviel steht fest. Ich bin schockiert, aber nicht wütend. Meine Wut galt den Menschen, die uns gefilmt haben. Tatsache ist – Katinka hatte Darmkrebs im Endstadium und der Arzt sagte, dass sie innerhalb der nächsten vier Tage sowieso gestorben wäre. Demnach hast du sie – so gesehen – sogar eher vor Leid bewahrt, als ihr welches zuzufügen. Viel eher schäme ich mich wegen dem, was du gesehen hast; wegen dem, was ich wirklich bin und was ich dir immer verschwiegen habe. All die Jahre habe ich versucht, meine Sexualität vor dir zu verheimlichen, weil ich Angst davor hatte, dass du es abstoßend fändest. Die Wahrheit ist, dass ich es nicht nur liebe, Frauenkleider zu tragen; ich empfinde bereits seit einiger Zeit mehr als nur Freundschaft für dich. Das Ganze ist mir unglaublich peinlich und ich kann verstehen, wenn du Zeit brauchst, um diesen Schock zu überwinden. Ich würde es sogar verstehen, wenn du nicht mehr mit mir in einer Wohnung leben willst, aber ich möchte, dass du weißt, dass es mir leid tut.
Ben
Wie gefesselt von den Worten las ich den Brief durch, und als ich ihn beendet hatte, spürte ich eine wohltuende Erleichterung. Es war mir völlig egal, dass er Frauenkleider trug, es war mir auch vollkommen egal, dass er auf Jungs stand; es war mir sogar vollkommen egal, dass er allem Anschein nach in mich verliebt war. Viel wichtiger war letztendlich, dass er nicht wütend auf mich war. Im Gegenteil – er liebte mich. Und ich, ich liebte ihn auch. Nicht als Mann, sondern als Freund – als besten Freund. Ich strich ihm über die Wange und gab ihm vorsichtig einen Kuss auf die Lippen. Es war kein Kuss, der mich erregte – ich war schließlich nicht schwul -, aber es fühlte sich schön an; es besiegelte sozusagen unsere Freundschaft.
,,Schlaf gut, Ben.“
Plötzlich klingelte das Telefon und ich wurde jäh aus meiner Gedankenwelt gerissen. Hastig griff ich nach dem Hörer und nahm ab.
,,Hallo?“, die Person in der anderen Leitung klang panisch und ängstlich.
,,Ja? Wer ist da?“
,,I-Ist da Finn Maurer?“, fragte die offenbar weibliche Person zögernd.
,,Ja, wieso?“
,,Aus dem Kurs heute? I-Ich meine dem Test… du – warst du heute Teil von Frau Romanowas Testreihe?!“
Die Stimme klang seltsam verstört, geradezu panisch.
,,Ja – wieso? Befinden sich etwa noch die Kameras in unserer Wohnung? Stand das auch beim Kleingedruckten?“
,,Nein, nein! Hör mir zu! Ich bin Laura, das Mädchen, das auf dem letzten Video so viel gegessen hat. Ich…“
,,Was?! Woher hast du diese Nummer. Was willst du eigentlich von…?“
,,Halt bitte einfach die Klappe und hör mir zu, bevor es zu spät ist! Während wir die Videos angesehen haben, habe ich für einen kurzen Moment rüber zu Frau Romanowa geguckt, die sich ganz dicht in der Ecke platziert hatte und ein kleines Schild hochhielt, auf dem stand: ‚Wenn du es siehst, sage nichts, sonst holt er die anderen und auch dich!‘ Zunächst hatte ich keine Ahnung, was das bedeuten sollte, aber dann sah ich mir weiter das Video an; das von dem Mädchen, dass sich im Spiegel anglotzte. Als ich nicht auf sie, sondern auf den Hintergrund achtete, sah ich in der Reflexion des Spiegels die Badezimmertür, die einen Spalt geöffnet war – und plötzlich ging ein großer Mann mit einer weißen Maske an ihr entlang und verschwand in einem Schrank im Flur!“
Mir gefror augenblicklich das Blut in den Adern.
,,W-was?“
,,Ja, dasselbe geschah wohl bei dem Jungen und dem Mädchen, die auf den ersten Videos zu sehen waren, aber gesehen habe ich es bei ihnen nicht. Der Typ, der es mit seiner Freundin getrieben hat, hat es auch gesehen und die Blonde auch. Ich bezweifle allerdings, dass du und dein Freund es gesehen haben. Als das Video mit deinem Freund im Kleid lief, hielt Frau Romanowa ein weiteres Schild hoch, auf dem stand: Ruft ganz laut ‚Mein Urinstinkt verbannt den Eindringling‘! Ich habe schon bei dem Mädchen angerufen, die beim Duschen gefilmt worden war, aber sie hat mitten im Gespräch aufgelegt. Bei dem Jungen war es ähnlich. Bitte leg nicht auf, ich sage die Wahrheit! (…) Er versteckt sich im Wandschrank. Sieh nach, ob…“
Plötzlich vernahm ich nur noch ein merkwürdiges Geräusch, und plötzlich ertönte nur noch ein leises Rauschen aus dem Hörer. Zitternd ließ ich den Hörer fallen und drehte mich zu Ben um. Hinter ihm stand der große Wandschrank in der Ecke, den ich ganz genau im Auge behielt, während ich mich meinem besten Freund näherte. Mit einer Hand griff ich grob seine Schulter und schüttelte ihn.
,,Ben…wach auf!“ flüsterte ich ängstlich und wagte es dabei nicht, meinen Blick vom Wandschrank abzuwenden.
,,Ben.“
Ich schüttelte ihn ein weiteres Mal kräftig, und plötzlich lief Blut aus seinem geschlossenen Mund hervor! Ich wich erschrocken nach hinten, kam dann wieder vorsichtig auf Ben zu und zog die Decke vom Sofa. Blut, mit welchem die vorher wohl weiße Decke getränkt war, spritzte mir ins Gesicht, und mit Entsetzen starrte ich auf den leblosen Leichnam Bens, auf den mehrere Male eingestochen worden war! Knarrend öffnete sich die Wandschranktür und angsterfüllt krabbelte ich auf allen Vieren rückwärts, während der Mann mit der weißen, blutbesprenkelten Maske auf mich zuging, den Griff des langen Messers fest mit der Faust umklammert. Ich wollte schreien, doch ich konnte nicht.
,,Mein… mein Ur…,“ stotterte ich, während die Konturen der Person immer näher auf mich zukamen.
,,M-mein Urinstinkt verbannt – verbannt den Eindringling!“
Augenblicklich ließ der Mann das Messer sinken, ging wortlos an mir vorbei, öffnete die Tür und ging die Treppe hinunter. In diesem Moment ertönte wieder das Telefon. Ich betätigte den Annahmeknopf und lauschte verstört der Stimme von der anderen Seite:
,,Gut gemacht. Sie gehören zu den glücklichen 62,5%, die den Test bestanden haben. Nur 37.5% der Testpersonen sind durch ihre emotional bedingte Unaufmerksamkeit durchgefallen.
Bei den letzten Tests waren es deutlich mehr…“