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Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

„Wo…wo bin ich?“ Die Schwärze des Abgrunds lag vor mir. Mein Geist war umgeben von Verwirrung und Chaos. Gedanken blitzen auf und verschwammen augenblicklich. Mein Schädel dröhnte. Nebel umgab meinen Verstand. Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch meine Bemühungen blieben erfolglos. Dann drang eine männliche Stimme an mein Ohr. Die Person sprach langsam und beruhigend zu mir. „Sie sind in der Uniklinik. Sie wurden an den Augen operiert.“ Meine Gedanken ordneten sich. Die Erinnerung kehrte zurück. Ich hatte mich an der Uniklinik Homburg operieren lassen. „Dr…Dr…“, mein Kopf arbeitete auf Hochtouren, ich bemühte mich mir den Namen des Arztes wieder ins Gedächtnis zu rufen, „Dr. Aswadun Achas.“ Ich hörte seine Stimme, doch noch immer sah ich nichts als die unendliche Dunkelheit. Nach und nach kehrten mehr Erinnerungen zurück. Dr. Achas hatte mich an den Augen operiert.

Es hatte vor etwa einem Jahr begonnen. Es war einer der milden Tage im Sommer. Die drückende Hitze der Sahara war noch nicht vom Schirokko bis zu uns getragen worden. Noch waren die Wiesen nicht vertrocknet und verdorrt. Bäume, Felder und Rasen waren noch sattgrün, Blumen leuchteten in bunten, fröhlichen Farben und trugen helle Blüten. Es war einer jener Tage, an denen man die Pracht der Natur in voller Blüte sehen konnte.

Bereits am Morgen war mir die Schönheit des Tages aufgefallen. Fast zu schön um tatsächlich von dieser Welt zu sein. Kurzerhand hatte ich mich entschlossen meiner Passion nachzugehen. Die Inspiration war wie eine Welle über mich hinweg gefegt. Hatte mich gepackt, mit sich gerissen, mir den Kopf verdreht und euphorisiert wieder ausgespuckt. Mir fiel die Waldlichtung ein, die ich neulich bei einem Spaziergang gesehen hatte. Ich wusste sofort, dass dies ein fabelhaftes Motiv für ein Gemälde wäre.

Also hatte ich morgens direkt meine Staffelei und meine Malereiutensilien zusammengepackt und hatte mich auf den Weg zu der Lichtung gemacht. Bereits um 10 Uhr waren es 25 Grad und die Luft in meinem Auto glich der eines Tropenhauses. Mit jedem Atemzug fühlte es sich an, als ob meine Lunge mit warmen CO2 durchgespült würde. Sofort rann mir der kalte Schweiß über die Stirn und den Nacken herunter.

Ich parkte mein kleines, altes Auto am Rande des Weges der zum Wald führte. Ich öffnete die Tür und kletterte aus meiner Möhre auf den Trampelpfad. Staub bedeckte dort den Boden, wo keine Gräser mehr sprossen. Links und rechts Maisfelder. Der Mais war noch lange nicht reif, aber schon jetzt überragten die Pflanzen mich um mindestens einen halben Meter und verdeckten die Sicht auf das was dahinter liegen mochte. Irgendwo da, war noch ein Bauernhof. Letztes Mal konnte ich ihn noch sehen. Das rasante Wachstum dieses Getreides war beeindruckend. Ich kramte meine Tasche mit den Farben und Pinseln aus dem Kofferraum, schulterte sie und klemmte mir dann die Staffelei unter den Arm. Ein Windhauch umwehte meine Haare und kühlte mich angenehm. Es war als würde die Stimme des Waldes mich zu sich rufen und mich anlocken. Langsam schlenderte ich auf den Wald zu. Ein paar Vögel flogen von Baum zu Baum und zwitscherten als würden sie einander in fremden Sprachen zurufen.

Dichte Büsche und Bäume säumten den Waldrand und verdeckten die Sicht auf das Innere des Waldes. Doch schon einige wenige Meter weiter streckten sich gigantische Bäume gen Himmel. Sie standen dicht an dicht und wirkten wie riesige uralte Wesen, die gebückt und längst verwachsen in einem ewigen Schlaf verharrten. Ihre Äste griffen ineinander als würden sie sich ihre großen, knorrigen Hände reichen. Die Haut wie versteinert. Lebewesen die hier schon schliefen, als die Welt vor knapp 100 Jahren von den zwei großen Kriegen erschüttert wurde.

Schon nach wenigen Schritten in den Forst hinein wurde es spürbar kühler. Die Luft war frischer und sauberer. Ein unheimliches Gefühl umschlich mich. Ganz subtil zeigten die Riesen damit, dass trotz ihrer Starre noch immer fremdes Leben in ihren pflanzlichen Adern pulsierte.

Hier und da raschelte es im Unterholz. Manchmal liefen mir kleine Nager über den weg, blieben stehen und sahen mich interessiert, aber verständnislos aus ihren kleinen Äuglein an. In der Ferne konnte ich sogar ein Reh erspähen. Ich lief etwa eine halbe Stunde bis zu der Lichtung. Bis auf die Geräusche des Waldes hörte man nichts. Die Zivilisation mit ihrer Hektik und dem lauten Gewirr aus Krach und Lärm rückte mit jedem Schritt weiter in die Ferne und geriet ins Vergessen.

Ich war mittlerweile so tief in den Wald gelaufen, dass ich in keiner der vier Himmelsrichtungen noch den Rand erblicken konnte. Als ich meinen Kopf in den Nacken legte, sah ich nicht einmal mehr den Himmel. In schwindelerregender Höhe über mir hatten die Bäume ein grünes Dach aus Ästen und Blättern gebildet. Das Blau des Himmelszelts war aus meiner Sicht und aus meinem Sinn geschwunden. Die Sonne konnte ich nur noch an den grünlichen Lichtstrahlen erkennen, die durch die Blätter und die kleinen Schlitze der Baumkronen drangen. Es war tatsächlich sichtbar dunkler hier. Ein leichter Schauer lief mir über den Rücken, ausgelöst durch den Gedanken daran, nachts durch diesen Wald zu laufen.

Nach einigen Kilometern begann der Wald leicht anzusteigen und der Marsch wurde ein anstrengender. Für ein paar Minuten war die Steigung auch noch angenehm, doch schnell wurde es steiler und der Boden unbeständiger. Einmal kam ich sogar zu einer Stelle, an der ich regelrecht an einer Wurzel hinaufklettern musste. Die Ranken dieses Riesenbaumes waren so dick wie mein Oberschenkel. Wie gigantische, braune, erstarrte Wurmkreaturen durchzogen sie den Hang. Ich hievte zuerst meine Ausrüstung und dann meine Staffelei hinauf und kletterte dann hinterher.

Kurze Zeit später war ich endlich angekommen. Ein wenig erschöpft ließ ich mich ins Gras fallen. Die Lichtung hatte einen Durchmesser von etwa 50 Metern. Umgeben war sie, wie hätte es auch anders sein können, von den Bäumen, die in ihrer Größe sogar Mehrfamilienhäuser überragten. An den Seiten lagen ein oder zwei Baumstämme wie natürliche Bänke. Außer Gras wuchsen auf der Wiese allerlei Blumen. Mir fiel auf das sie besonders satte Farben trugen. Das war auch einer der Gründe weshalb mir dieses Motiv auf den ersten Blick im Gedächtnis blieb.

Einige Felsbrocken und Steine lagen auf der Lichtung, größtenteils stark überwuchert von Moos, Ranken und anderen Pflanzen und Flechten. Der Himmel war hier durch ein Loch in der Blätterkuppel zu sehen und schien selbst mir zum Greifen nah. Die Giganten hatten den Himmel hier erreicht und ihre Äste in ihn hineingeschlagen. Eine einsame Wolke trieb in dem blauen Meer. Die Blätter der Bäume und Sträucher wiegten sich sanft im Wind hin und her. Es hatte beinahe etwas von einem hypnotischen Tanz kleiner grüner Wesen, die sich rhythmisch und einheitlich zu einer stummen Melodie bewegten in ihrem für Menschen unverständlichen Ritus. Es war ein wenig luftig hier, denn über die Strecke hatte ich doch den einen oder anderen Höhenmeter zurückgelegt. An einer Seite der Lichtung führte ein steiler Abhang etwa 20 – 30 Meter hinab, sodass man den Wald hinabsehen konnte. Das Gefälle war hier deutlich größer, wenn gleich es keine senkrechte Klippe hinab in den erdigen Abgrund war. Auf einige Baumkronen konnte ich von hier hinabsehen, andere überragten mich um viele Meter. Eine friedliche Stille herrschte hier. Ich hatte das Gefühl an einem ganz besonderen Ort zu sein. Ähnlich einem alten Treffpunkt von vermeintlichen Druiden und Hexen, die sich hier in der Natur zu archaischen Festen und feierlichen Riten trafen und in längst vergangen Nächten eins mit der Erde wurden. Steinkreise, von alter mystischer Bedeutung. In der Ferne und noch immer tief im Wald konnte ich Vögel zwitschern und Grillen zirpen hören.

Nachdem ich einen Moment lang das Bild, das sich mir bot, betrachtet hatte, begann ich meine Ausrüstung auszupacken und die Farben zu mischen. Ich lief um die Lichtung herum, sah aus verschiedenen Winkeln darauf, trat etwas zurück dann wieder einen Schritt näher. Ich suchte das perfekte Bild. Jede Perspektive hatte ihre Reize und es machte mich schier wahnsinnig immer wieder an einer anderen Stelle anzusetzen. Es war wie ein Faden, den man mit zusammengekniffenen Augen versucht in die Öse einer feinen Nadel zu manövrieren und immer wieder abrutscht. Eine regelrechte Anspannung machte sich in mir breit. Doch dann fand ich tatsächlich die eine Stelle, die meinem Vorhaben Erfolg versprechen sollte. Ein etwa sitzballgroßer Fels lag dort. Ich baute meine Staffelei auf und setzte die Leinwand darauf. Ein paar Meter weiter im Wald war ein kleiner Bach, nicht mehr als ein kleines Rinnsal. Dort füllte ich einen Becher mit Wasser, um meine Pinsel darin zu befeuchten. Klein aber beständig rann das klare Wasser durch das Kiesbett. Auf der Lichtung angekommen stellte ich den Wasserbecher in eine Halterung und begann.

Der erste Strich fiel mir immer am schwersten. Ein einzelner Strich der darüber entscheidet, ob das Bild ein Erfolg wird oder ob der Künstler scheitert. Unsicherheit nährt die Anspannung. Vorsichtig ließ ich den Pinsel mit der grünen Farbe über die Leinwand gleiten. Zuerst war die Spur aus Farbe zaghaft, dann wurde sie immer bestimmter. Gleich einer getroffenen Ader, die das Blut in die Spritze fließen lässt, hatte ich den Strom meiner Kunst gefunden und lies ihn zusammen mit meiner Kreativität und meiner Vision ein Bild gebären. Von da an schwanden die Gedanken und mein Schaffen wurde rein intuitiv. Ich dachte nicht mehr nach, sondern ließ den Pinsel sprechen. Künstlerische Trance überfiel mich. Ekstase.

So bemerkte ich es auch kaum, dass es mittlerweile Mittag geworden war und ich bestimmt seit guten 2 Stunden malte. Erst das knurren meines Magens ließ mich aufhorchen.

Ich seufzte und betrachtete mein bisheriges Werk. Bisher war ich mehr als zufrieden damit. Ein Lächeln trat auf mein Gesicht. Ich nickte zufrieden und wandte mich meiner Tasche zu. Ich kramte ein paar Sandwiches und eine kalte Limonade heraus und setzte mich auf den Stein. Das Moos machte seine harten Kanten wesentlich angenehmer. Beinahe wie ein natürlich gewachsener Stuhl. Ich genoss mein Mittagessen und die kühle Brise, die durch meine Haare wehte. Die Mittagsmüdigkeit überkam mich. Ich rutschte von dem Stein herunter und legte mich in das warme Gras der Lichtung. Ein kleines Mittagsschläfchen an diesem idyllischen Örtchen schien mir jetzt genau das Richtige. Ich machte es mir gemütlich und zog mir meinen Sonnenhut ins Gesicht. Schon nach wenigen Minuten schlummerte ich weg.

Ich träumte von diesem Ort. Im rötlichen Abendlicht versammelten sich in Roben verhüllte Gestalten. Ich selbst befand mich im Wald und sah aus einigen Metern Entfernung auf das Treiben. Die mönchähnlichen Personen schichteten Holzscheite auf einander und zündeten es mit einer Fackel an. Die Flammen leckten wie glühende Zungen am Holz und begannen an ihm zu fressen. Die weisen Männer aus einer längst vergangenen Zeit bildeten einen Kreis um das große Feuer. Der Fackelträger trat einige Schritte zurück in die Mitte seiner Brüder. Sie senkten ihre Häupter in den langen Kapuzen, die ihre Gesichter verhüllten, und begannen zu singen. Ein unheimlicher Choral ertönte aus einem Dutzend Kehlen in einer seltsamen Sprache. Der schaurig schöne Klang erfüllte die Lichtung und den Wald. Wie in Trance wiederholten sie immer wieder dieselben Silben, wenngleich ich nicht verstand, was sie sangen. Der Fackelträger trat erneut hervor und zog ein altes Grimoire aus seiner Robe, schlug es auf und begann einen lesenden Singsang. Hinter einem Baum versteckt sah ich um die Ecke und beobachtete das ungewöhnliche Treiben. Plötzlich sackte eine der Gestalten in sich zusammen. Es schien als ob sie verschwunden wäre und nur noch die flache Robe überhaupt daran erinnerte, dass dort gerade noch ein Mensch gestanden hatte. Dann fiel ein weiterer Robenträger in sich zusammen, dann noch einer. Immer mehr von den singenden Kultisten verschwanden. Ich bemerkte, dass ich wohl in einer Art Trance losgelaufen war und mich der Lichtung und damit dem Feuer näherte. Mittlerweile waren alle Menschen verschwunden. Ich streckte eine Hand aus, während die Flammen immer näherkamen. Ich spürte eine ungewisse Angst in mir und konnte doch nicht anhalten. Mein Geist widerstrebte, mein Körper bewegte sich von selbst auf eine mechanische Art und Weise. Gesteuert von einer fremden Macht. Ich konnte bereits die Hitze der Flammen spüren und Schweißtropfen traten auf meine Stirn. Ich drückte mich mit aller Kraft in die entgegengesetzte Richtung, doch vergebens: Meine Hand streckte sich aus. Ich erwartete den Schmerz des Feuers an meiner Hand zu spüren, als sie in das Feuer eintauchte.

Plötzlich zuckte ich zusammen. Meine Hand war im Schlaf über das Moos des Steines gewandert. Ich hatte den Stein selbst berührt und ein Schauer lief mir über den Rücken. Er war eiskalt, ein kleiner Gletscher. Mein Blick fiel auf den Stein. Unter dem Moos war er schwarz, gleich dem vulkanischen Obsidian oder Schiefer. Offenbar hatte ich schlafend und träumend etwas Moos abgekratzt. Ein Moment der mir vorkam wie eine Ewigkeit saß ich im Gras der Lichtung und fühlte mich doch als wäre ich aus Raum und Zeit gerissen. Alles schien so unreal. Erst das glühende Feuer, dann die eisige Kälte. Was war geschehen? Unbehagen beschlich mich. Ich setzte mich nervös auf, sah mich um. Das Gefühl großer Verwirrung umgab mich. Noch immer ruhten meine Hände auf dem Stein. Meine Finger strichen über das schwarze kalte Gestein. Es kostete mich regelrecht Überwindung ihn loszulassen. Er hatte etwas Hypnotisches.

Endlich sah ich auf meine Leinwand und löste mich. Ich griff nach meinen Utensilien, schüttelte meinen Kopf, um etwas Klarheit zu erlangen und widmete mich dann meinem Motiv. Doch dann erschrak ich. Die Blumen waren alle matt. Wo vorher noch prächtige Farben strahlten, verloren die Umgebung nach und nach an Schönheit. Ich rieb meine Augen, starrte angestrengt auf die Lichtung. Die Farben blieben matt und trüb. Panik krallte nach mir, wie ein böses Geisterwesen. Ich wusch mir die Augen mit etwas Wasser aus. Noch immer säumte die Trübheit das schöne Bild. Mein Herz pochte rasend schnell. Eine urtümliche Angst hatte mich ergriffen. Übelkeit stieg mir in den Hals. Schnell packte ich alles zusammen und machte mich hastig an den Abstieg. Immer wieder wand ich mich um, sah zu der Lichtung als wäre sie eine bösartige Entität. Mein Gang wurde immer schneller, sobald der Boden es zuließ. Den staubigen Pfad vor dem Wald erreichte ich rennend und stolpernd. Die Tür meines Autos wurde aufgerissen und meine Ausrüstung achtlos auf den Rücksitz geworfen. Ein letzter Blick zum Wald. Der Eingang sah nun aus wie der riesige Schlund eines boshaften Giganten. Ich riss die Fahrertür auf und sprang hinters Lenkrad. Viel zu schnell startete ich den Wagen und fuhr rasant zurück und auf die Straße. Während der Rückfahrt arbeitete mein Kopf auf Hochtouren. Gedanken ließen ihn unangenehm heftig pochen. Was war geschehen? Ich beschloss zuhause erst einmal herunter zu kommen. Morgen würde ich einen Arzt aufsuchen.

Mit der Zeit beruhigte ich mich. Ich war mir sicher, dass die Sonne mir wohl im Schlaf auf die Augen gefallen war und sie so etwas überhitzt hatte. Nichts, das ein wenig Ruhe nicht kurieren konnte. Dachte ich.

Doch schon als ich am nächsten Tag aufstand, bemerkte ich, dass ich immer noch alles trüb sah. Meine Hoffnung schwand. Wieder bereitet sich Panik in mir aus. Zitternd griff ich nach meinem Telefon und wählte die Nummer meines Augenarztes. Mir war mehr als nur mulmig. Eine Stimme am anderen Ende meldete sich. Mir war fiebrig zu Mute. Meine Wahrnehmung war trübe. Wie in Trance sprach ich mit brüchiger Stimme und schilderte der Person meine Symptome. Glücklicherweise bekam ich sofort einen Termin und einige Stunden später saß ich nervös wartend in der Praxis. Mein Magen war gefüllt von dem niederschmetternden Gefühl nicht mehr richtig sehen zu können.

Die Untersuchung war schnell vorüber. „Nun wissen Sie, es ist so: Ihr Auge hat verschiedene Zapfen und Stäbchen. Diese sind dafür da Helligkeit und Farben wahrzunehmen und zu verarbeiten. Doch bei Ihnen scheinen sie nach und nach abzusterben. Ich muss gestehen, ich habe so etwas bisher noch nie gesehen. Sie werden wohl nach und nach ihr Augenlicht verlieren. Zuerst die Farbwahrnehmung und nach und nach die gesamte Sehfähigkeit. Es…tut mir leid, aber ich fürchte“, er seufzte, „ich fürchte, ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen. Ich gebe Ihnen die Adresse eines Experten, er forscht in diesem Gebiet. Eventuell kann er Ihnen jemanden vermitteln.“

Und so begann eine verzweifelte Suche nach einem letzten Strohhalm an den ich mich klammern konnte. Eine Künstlerin, die keine Farben sehen konnte und irgendwann blind sein würde. Ich fiel in ein tiefes schwarzes Loch aus Trauer, Angst und Depressionen. Ich erinnerte mich an den Eingang des Waldes. Gäbe es ein Bild für meinen seelischen Zustand, wäre es genau das: Der schwarze Abgrund der Ungewissheit, der in den Wald hineinführte.

Dann begann ein Spießroutenlauf von Arzt zu Arzt. Meine Mappe mit den Befunden und Diagnosen wuchs immer weiter, wie ein Geschwür, dass mich hämisch daran erinnerte, wie viele erfolglose Versuche ich bereits hinter mir hatte und wie die Zeit verflog. Ich reiste durch ganz Deutschland zu Spezialisten auf dem Gebiet der Ophthalmologie, der Chirurgie und der Forschung. Niemand konnte mir helfen.

Jeden Tag suchte ich im Internet nach experimentellen Behandlungsmethoden und erkundigte mich über den aktuellen Forschungsstand zum Thema Erkrankungen der Augen und ihrer Behandlung. Doch es wurde Woche um Woche schwerer mit den niederschmetternden Ergebnissen fertig zu werden. Keine Neuigkeiten, keine neuen Behandlungen und damit keine Hoffnung.

Ein Leben ohne Farben. Die Depressionen wurden immer stärker und gewannen schließlich die Oberhand. Ich brach die Besuche bei Fachärzten ab, verkroch mich in meinem Haus. Mittlerweile nach knapp 8 Monaten war ich endgültig blind. Es war vorbei.

Eines Abends saß ich weinend in meinem Bett. Alle Hoffnung aufgegeben. Kein Strohhalm an den ich mich klammern konnte. Alle Farben vermischt und getrübt zu einem unendlichen Schwarz. Die dunklen Hände hatten sich um mich gelegt und drückten zu. Der stählerne Griff der Depression. Ich war bereit: Ich wollte mir mein Leben nehmen.

Während ich verloren und weinend dasaß, klingelte das Telefon. Ich tastete danach, versuchte mich für den Moment zusammen zu reißen. Einmal durchatmen, dann nahm ich ab. „Ja hallo?“, fragte ich vorsichtig. „Guten Abend, mein Name ist Professor Doktor Aswadun Achas.“ Der Mann am anderen Ende klang freundlich. Er hatte einen leichten Akzent und eine beruhigende Stimme. Er erkundigte sich, ob er bei mir richtig sei. Er suche eine junge Frau, die an einer seltenen Augenkrankheit litt. Ein Kollege hätte von meinem Fall gehört und sich mit ihm darüber ausgetauscht. Ich bestätigte ihm, dass er die richtige Person gefunden hatte. „Sehr gut. Nun wissen Sie, ich arbeite an einer experimentellen Studie. Ich möchte Sie nicht mit fachwissenschaftlichen Details langweilen, aber sie könnte Hoffnung für sie versprechen. Dabei werden wir Ihnen neue Stäbchen und Zapfen implantieren. Wenn Sie möchten, kommen sie doch in die Universitätsklinik Homburg zu einem Gespräch, dann werde ich Ihnen alles erklären.“ Ich kann nicht beschreiben, wieso ich plötzlich wieder Hoffnung verspürte. Mit einem Mal war der schwarze Abgrund verschwunden und vor meinem inneren Auge sah ich ein Licht am Ende des Tunnels. Nervosität erfüllte mich, doch jetzt war sie nicht aus Angst geboren, sondern aus Freude. „Ja, sehr gerne.“, antwortete ich vorsichtig, „Ich würde gerne zu Ihnen kommen.“ Dr. Achas und ich machten einen Termin aus, ich bedankte mich und legte auf. Ich legte mich ins Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Und dann merkte ich, dass ich lächelte.

Ein paar Tage später reiste ich nach Homburg. Ich lernte Aswadun kennen und wir sprachen über die Behandlung. Er untersuchte mich und ich berichtete ihm von meinen bisherigen Ergebnissen. Wir führten ein langes Gespräch über meine Krankheit. Professor Achas erklärte, dass meine Netzhaut plötzlich erkrankt war und die Teile meines Auges die Licht und Farbe erkennen, abstarben.  „Haben Sie schon einmal etwas von Fangschreckenkrebsen gehört?“, begann er. Irritiert wiederholte ich das Wort. „Stomatopoda ist eine Krebsart, die am Boden tropischer Meere lebt. Sie sind bemerkenswerte Tiere. Hochaggressiv und gefährlich! Sie jagen mittels ihrer Scheren, die sie mit Teilen ihres Exoskeletts verhaken und explosionsartig wieder enthaken können. So ein Schlag kann eine Geschwindigkeit von etwas mehr als 80 km/h erreichen. Die Beschleunigung ist immens, um genau zu sein etwa das 8000-fache der Erdbeschleunigung. Ein Tier das davon getroffen wird, bekommt etwa die Wucht einer Pistolenkugel zu spüren. Außerdem verfügen sie über angespitzte Beinendglieder, mit denen sie ihre Beute durchbohren können. Ihr Panzer ist extrem hart, da es auch unter ihnen selbst oft zu Rivalitäten kommt.“ Er machte eine kurze Pause. „Aber das Beeindruckendste sind ihre Augen. Wie Sie ja wahrscheinlich wissen, besteht ihr Auge aus Zäpfchen und Stäbchen. Die Zapfen sind für die Farbwahrnehmung zuständig; Die Stäbchen für die Lichtwahrnehmung. Die meisten Menschen, wie auch einige Affenarten, haben drei Zapfentypen. Sie sehen rot, blau und grün und können entsprechend andere Farben in Subtraktion oder Addition wahrnehmen. Sie erinnern sich vielleicht noch an die Farbtests,

die man mit Ihnen vor der Grundschule gemacht hat.“ Ich nickte. Ich hatte damals besonders gut abgeschnitten. „Bei manchen Menschen stellt sich dann heraus, dass sie eine Rot-Grün-Schwäche aufweisen. Bei diesen Menschen ist der Zapfen, der rot wahrnimmt, nicht vorhanden oder zumindest nicht stark ausgeprägt. Im Gegensatz dazu stehen so genannte Tetrachromaten. Manche Menschen verfügen über einen weiteren Zapfentyp. Sie sehen Farben noch intensiver, noch genauer, als die meisten Menschen. Viele Insekten, Vögel und andere Tiere haben Augen, die einen derartigen Aufbau aufweisen. Schmetterlinge haben sogar fünf Zapfentypen. Sie können, so zu sagen, zwei Farben mehr wahrnehmen und mit anderen Farben kombinieren. Und dann gibt es natürlich noch den Fangschreckenkrebs. Dieser hat zwischen zwölf und sechzehn Zapfen!“ Mittlerweile sprach der Doktor mit so viel Pathos in der Stimme, dass ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Dennoch… Etwas daran beunruhigte mich auch. „Verstehen Sie? Sie können dreizehn Farben sehen, die wir uns noch nicht einmal ausdenken können. Unser Geist ist nicht einmal in der Lage sich vorzustellen, was diese Wesen zu sehen vermögen. Aber es hört natürlich nicht bei den Farben auf. Nein! Auch ihre Lichtwahrnehmung ist unserer weit überlegen. Sie können auch verschiedene Arten von polarisiertem Licht oder bestimmte UV-Bereiche sehen.“ Wieder machte er eine kurze Pause. Er war sehr ergriffen und ich war es ebenfalls. Wie er von diesen Tieren sprach, gab mir Hoffnung. Ich stellte mir vor, wie es wohl sein musste, so viele Farben sehen zu können. Und kurz hatte ich ein Gefühl von Gewissheit, dass ich zumindest „meinen“ Bereich der Farben wieder sehen würde. „Und das alles,“ fuhr er fort, nun ruhiger, „obwohl sie tief unten am Meeresboden in ewiger, alles verschlingender Finsternis leben. Und trotzdem sind sie so bunt, wie die Welt, die sie zu sehen vermögen und die wir wohl niemals erblicken werden.“ Für einen kurzen Moment war ich wie hypnotisiert. Seine Worte hallten in meinem Kopf nach. Eine gefühlte Ewigkeit schwiegen wir. „Ich würde zu gerne einmal eines dieser Tiere sehen.“, murmelte ich verträumt. Aswadun lachte leicht. „Nun, hoffen wir, dass das bald möglich sein wird. Sehen Sie, was ich vorhabe ist Folgendes: Wir werden einem Fangschreckenkrebs die Teile des Auges entnehmen, die bei Ihnen absterben. Damit hoffen wir einen entgegengesetzten Prozess in Gang zu setzen, bei dem ihr Körper die gespendeten Organteile nicht nur annimmt, sondern mit dem eigenen Auge verwachsen lässt und die phasenweise Erblindung stoppt oder sogar umkehrt. Ihre Augen könnten also vielleicht sogar regenerieren. Zusätzlich werden Sie eine Stammzellspende in Kombination mit einem Medikament erhalten, dass das Wachstum fördern soll. Wir hoffen, dass dadurch die Regeneration ihrer Augen erhöht wird, die Organspenden besser angenommen und die Krankheit behoben werden wird. Die bisherigen Forschungen und Testtransplantationen sahen vielversprechend aus.“ Dann wurde er ein wenig ernster. „Ich muss Sie allerdings darauf hinweisen, dass es durchaus einige Risiken gibt. Bis jetzt haben wir diese Operation noch nie an einem Menschen durchgeführt. Auch kann es zu Problemen während der Operation und in Folge dessen zu Langzeitschäden. Ihre Augen könnten dann irreparabel geschädigt und für zukünftige Behandlungen nicht mehr empfänglich sein. Die Chancen für einen Erfolg liegen bei 40:60. Sie müssen sich vollkommen sicher sein, dass sie diesen Schritt wagen möchten.“

Nach all der Hoffnung, die mir seine medizinischen Ausführungen gemacht hatten, keimte wieder ein Zweifel in mir auf. Was war, wenn ich mich hier an den falschen Strohhalm klammerte. War es nicht vielleicht besser zu warten und auf eine sichere Behandlung zu setzen? Ich dachte angestrengt nach. Minuten vergingen. Dr. Achas sagte nichts. Ich meinte zu spüren, wie sein Blick auf mir ruhte. „Ich…ich mache es.“, stotterte ich schließlich. Dann zuversichtlicher: „Ich mache es, Dr. Achas. Wenn nicht ich, wer sonst? Wenn diese Behandlung ein Erfolg sein könnte, muss jemand der erste Mutige sein, es zu wagen, nicht wahr?“ „Sie haben ganz recht.“ Man konnte in seiner Stimme deutlich hören, dass er lächelte. Auch auf mein Gesicht huschte ein Lächeln.

Er klärte mich weiter über den Verlauf der Behandlung auf, wir vereinbarten einige weitere Termine und etwa vier Monate später war die Operation.

„Ich darf Sie beglückwünschen: Es scheint so als ob die OP gut verlaufen sei. Wir werden in den nächsten Tagen weitere Tests durchführen. Sie müssen noch eine Woche eine Augenbinde tragen, um ihre Augen zu schonen. Bis dahin können wir keine definitiven Aussagen treffen. Aber ich bin sehr zuversichtlich.“

Meine Augen schmerzten ein wenig. Ich hatte gehofft nach der Transplantation meine Augen zu öffnen und sofort wieder zu sehen. Licht, Farben, die Gesichter meiner Eltern, die mich zu diesem wichtigen Termin begleitet hatten. Ich war ein wenig enttäuscht. Doch gleichzeitig schien es mir nur logisch und vernünftig zu sein, den Augen Zeit zu geben, bis sie sich an die neuen Bedingungen angepasst hatten. „Vielen Dank.“, sagte ich schwach. Dann schlummerte ich weg.

In den nächsten Tagen bemerkte ich, wie sich die sichtbare Schwärze um mich herum veränderte. Zuerst ganz langsam, dann immer rapider, in immer größeren Schritten. Anfangs meinte ich zu sehen, wie die Dunkelheit ein wenig heller wurde. Es war natürlich immer noch stockfinster unter der Augenbinde, aber ich hatte ein Gefühl, als würden sich meine Augen nach und nach anpassen, so wie sie es nachts tun. Dann begann ich wage Schemen zu erkennen. Die Ränder und kleine Schlitze der Bandage durch die ein Funken Licht drang. Das woran ich mich in den letzten Monaten gewöhnt hatte, mein Schattenkäfig, brach auf und schwand nach und nach. Ich merkte wie auch die Depression schon nach kurzer Zeit wie weggeblasen schien. Und doch waren die letzten Tage meiner Blindheit scheinbar die längsten, denn ich konnte es kaum erwarten. Es kam mir nicht in den Sinn, dass ich mir falsche Hoffnungen machte. Ich wusste einfach, dass ich wieder sehen würde.

Und dann kam der große Tag. Schon als Dr. Aswadun Achas das Zimmer betrat, konnte ich in seiner Stimme hören, wie gut gelaunt und gespannt er war. Für ihn und seine Forschung schienen diese Operation und das Ergebnis genauso wichtig gewesen zu sein, wie für mich. „So, heute geht’s also ans Eingemachte. Wie fühlen Sie sich?“ Ich konnte mir ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen. „Gut, danke. Und Ihnen?“ „Das hängt ganz vom Ergebnis ab. Wollen wir dann anfangen?“ Ich atmete tief durch. Dann nickte ich. „Dann fange ich jetzt an, die Bandage zu entfernen.“

Für einen kurzen Moment meinte ich tatsächlich hinter den Bandagen eine Bewegung sehen zu können und dann…noch etwas anderes. „Ganz ruhig. Du bist nur aufgeregt.“, sagte ich mir selbst immer wieder im Geist. Der Verband lockerte sich. Immer mehr Licht viel hindurch und auf mein Gesicht. Ich schloss die Augen. Und dann öffnete ich sie. Und ich sah.

Ich war in einem schönen Krankenzimmer. Ledermöbel standen in einer kleinen Ecke. An der Wand war ein Flachbildfernseher angebracht. Links war ein Fenster, dass den Blick auf einen kleinen Park freigab. Meine Eltern standen vor meinem Bett und hielten sich in den Armen, gespannt ob ich sehen würde oder nicht. Und auf der rechten Seite saß ein Arzt auf meinem Bett. Er trug einen weißen Kittel mit einem Namensschild: Prof. Dr. Aswadun Achas.

Dr. Aswadun war ein hochgewachsener, schlanker Mann. Er war etwa 1,90m groß. Seine Haut war olivfarben und stark gebräunt. Sein Gesicht hatte scharfe Züge. Er war noch recht jung, vielleicht Mitte 30. Der Mann, der vor mir saß, war gutaussehend. Seine Augen waren dunkel und erfahren. Sie strahlten eine ganz besondere Macht aus. Er hatte sehr kurze schwarze Haare und einen gepflegten Kinnbart. Um den Hals trug er eine Goldkette. Er lächelte.

Und dann bemerkte ich, dass ich auch wieder Farben sehen konnte. Stumme Tränen der Freude rannen über mein Gesicht. Ich begann zu weinen. „Ich kann sehen. Mama, Papa ich sehe euch. Und ich sehe Farben.“ Ich lachte und weinte zugleich. Ich war sprachlos. Prof. Achas saß neben mir und sah mich zufrieden an, während meine Eltern näherkamen und mich in den Arm nahmen. „Vielen Dank, Dr. Achas.“, schluchzte ich glücklich. „Nicht doch. Ich habe Ihnen zu danken.“, erwiderte er. „Ich lasse Sie nun alleine, denn ich habe eine Studie zu vollenden. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie das Beste. Wir werden uns in 3 Monaten zu einer Routinekontrolle treffen. Einen Termin können Sie an der Rezeption machen. Nehmen Sie täglich zwei Mal diese Augentropfen für die nächsten zwei Wochen.“

Noch viele weitere Worte des Dankes richtete ich an meinen Retter. Dann gab er mir die Hand. Ich ergriff sie und wollte sie schütteln. Etwas durchfuhr mich. Seine Hand war merkwürdig kalt und plötzlich erinnerte ich mich an den seltsamen Stein auf der Lichtung. Während er ging, starrte ich ihm hinterher. Obwohl nun alles gut zu sein schien, überkam mich eine ungewisse Angst. Eine unbegreifliche Angst vor etwas, dem ich keinen Namen geben konnte.

Ich wurde kurze Zeit später aus dem Krankenhaus entlassen und kehrte nach Hause zurück. Es war als würde man nach Jahren wieder zurückkehren und alles so vorfinden, wie man es zurückgelassen hatte. Nostalgie überkam mich. Ich sah meine Bilder an den Wänden. So viele bunte Farben. Hell und freundlich zu malerischen Eindrücken komponiert. Ich begann ein wenig aufzuräumen und meine Hilfsmittel, die ich während meiner Blindheit benötigt hatte, in die Abstellkammer zu verbannen. Mich überkam das Gefühl bereits jetzt die merkwürdige Krankheit zu verarbeiten und zu vergessen. Und das schien mir nur gut so.

Währenddessen fiel mein Blick auf meine Malereiausrüstung. Sie stand noch immer unausgepackt am selben Platz, an der ich sie abgestellt hatte, als ich an jenem Tag vor einem Jahr panisch nach Hause kam. Einen Moment lang sah ich traurig auf die zusammengeklappte Staffelei. Die Erinnerung an das niederschmetternde Gefühl alles verloren zu haben schmerzte doch noch immer. Einer Eingebung folgend packte ich alles aus und baute meine Staffelei in meinem „Atelier“ auf. Das „Atelier“ wie ich es nannte, war lediglich eine kleine Ecke meines Wohnzimmers. Ein Fenster spendete Licht und den Ausblick auf einige Grünflächen zwischen den anderen Häusern der Vorstadt, an der Wand standen Regale, in denen meine Materialien lagerten, auf dem Boden waren ein paar Zeitungen verteilt und festgeklebt, sodass bei einem kleinen Kunstunfall nicht das gute Parkett in Mitleidenschaft gezogen würde. Und dann fiel mein Blick auf die Rückseite der Leinwand. Zuerst waren meine Gefühle gemischt. Es war schlicht seltsam nach einer Erblindung plötzlich wieder mit Kunst in Berührung zu kommen. Würde alles so sein wie vorher oder war nun doch alles anders? Das plötzliche Erblinden hatte ein Trauma hinterlassen und es war spürbar, dass ich trotz der guten Bewältigung immer noch verunsichert war. Doch jetzt als dieses Bild da stand, wandelte sich das mulmige Gefühl zurück in die unbegreifliche Angst. In der toten Starre, wie sie allen Objekten innewohnt, schien das Gemälde gerade zu hämisch. Ich konnte mich sehr wohl noch an das Motiv erinnern. Sogar an die Farben. Und trotzdem war da dieses Unbehagen vor dem, was auf der Vorderseite war. Es war die Ungewissheit, die es so angsteinflößend machte. Es erinnerte mich daran, wie man als Kind auf dem Weg aus dem Keller das Licht ausmacht und noch die Treppe hinaufsteigen muss. Hinter dir gähnt die gnadenlose Finsternis, in beinahe unerreichbarer Ferne das Licht am Ende des Tunnels: Die offene Tür zum Flur. Paranoia flutet deinen Körper. Die einen gehen vorsichtig, ganz langsam die Treppe hinauf, in der Hoffnung, dass das was da lauert, wo man selbst nichts sehen kann, nicht durch hastige Bewegungen aufmerksam wird und seine langen Finger nach dir ausstreckt. Die anderen rennen; das Überleben des Schnelleren. So oder so: Jeder hat die groteske Panik vor den namenlosen Wesen, die in der Dunkelheit um uns herum leben. Dasselbe empfand ich nun, als ich das Bild sah. Der Rücken war die Gewissheit, dass dort etwas war. Nur was das Gemälde für Schrecken für mich bereit hielt, war das ungewisse Grauen. Ich stand eine ganze Zeit wie angewurzelt da und tat nichts anderes als auf das Holz des Rahmens zu starren. Vielleicht waren es nur wenige Minuten, vielleicht eine viertel Stunde, vielleicht sogar eine ganze Stunde. Für mich war es ein schreckliches, langgezogenes Jahr, das Äonen dauerte.

Erst als ich merkte wie meine Finger etwas berührten, schreckte ich auf. Ganz mechanisch hatte meine Hand nach dem Keilrahmen gegriffen. Zitternd, in der Gewissheit gleich meinen schlimmsten Alpträumen ins Antlitz zu blicken, drehte ich das Bild um. Und erschrak.

Etwas derartiges hatte ich noch nie gesehen. Ich hatte während all der Zeit immer wieder das Bild vor Augen gehabt. Doch es sah jetzt anders aus. Die Farben waren auf eine unerklärliche Art deutlicher, intensiver. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie detailliert ich offenbar gemalt hatte, denn ich erkannte nun viel mehr. Beinahe wie ein Foto, das mittels Filter und Bearbeitung in ein Gemälde verwandelt wurde. Und dennoch war es ganz anders. Noch viel natürlich. Selbst heute könnte ich es nicht beschreiben. Tränen traten mir in die Augen. Etwas so Schönes hatte ich noch nie gesehen. Es war nicht mehr das Bild, das ich vor meinem inneren Auge hatte. Es war viel mehr. Mit großer Freude und Sehnsucht nach dem Malen betrachtete ich das angefangene Gemälde. Zuerst dachte ich, es wäre die lange Auszeit, die meine Wahrnehmung verändert hatte. Eine Flut von Inspiration und Kreativität ergoss sich in mir. Euphorisch griff ich nach Pinsel und Farbe und wollte mein Werk vollenden.

Und gerade als ich den Pinsel ansetzen wollte, stockte ich. Nicht etwa der erste Strich hielt mich zurück. Sondern etwas Anderes auf dem Bild. Irgendetwas veränderte sich vor meinen Augen auf dem Bild. Es war als würden die Farben einen unbeschreiblichen Tanz aus einer unbegreiflichen Welt der Lichtspektren tanzen. Blau mischte sich mit Gelb und Grün und ergab ein sattes Rot. Schwarz spaltete sich in verschiedene Stufen und öffnete seine Türen für Grau und Weiß. Weiß wiederum trennte sich, wie von einem Prisma zerstreut, in einen Regenbogen. Es war als könnte ich in den Ölfarben eine echte Lichtbrechung, wie auf Pink Floyds berühmten Cover sehen. Sprachlosigkeit kam aus meinem offenstehenden Mund, während ich das Schauspiel, das sich mir bot, betrachtete. Neue Farben für die ich weder Worte noch Namen fand entstanden. Ich begann zu zittern. Was geschah da gerade? Wie konnte das sein? Es gab diese Farben nicht und dennoch konnte ich sie klar sehen. Meine Atmung wurde schneller. Ich begann zu hyperventilieren, als sich diese grauenvolle Schönheit vor meinen Augen zeigte. Grün, Gelb, Blau, Rot, Orange, Braun, Violett, ja sogar Schwarz, Weiß und Grau. Aber diese da? Diese Farben gab es nicht. Sie existierten nicht. Sie hatten keinen Namen. Mein Hirn schien zu brodeln, überzukochen. Es pochte, schien in seinem Schädelgefängnis zu wachsen und gleich meinen gesamten Kopf zu sprengen. Ich taumelte und hielt mich an einem der Regale fest. Noch immer wirbelten die Farben durcheinander. Ich schloss meine Augen, presste sie so fest zusammen wie es nur ging. Die alte deprimierende Schwärze umgab mich und zum ersten Mal empfand ich es als Segen nichts zu sehen. Ich atmete einen Moment durch. Ich musste hier weg. Erstmal ins Bett.

Vorsichtig tastete ich mich voran. Wieder holten mich Erinnerungen an die Zeit ohne Augenlicht ein. Wie ich blind im Dunkeln tappend versuchte mich fortzubewegen, durch die Hindernisse einer Wohnung. Tränen kullerten stumm über mein Gesicht. Im Bett angekommen versuchte ich mich zu beruhigen. Ich redete mir ein, dass ich meine Augen überanstrengt hatte.

Irgendwann kam der Schlaf über mich und mit ihm die seltsamen Träume. Ich merkte, dass ich unruhig schlief und mich hin und her wälzte.

Zuerst fand ich mich in der Schwärze wieder. Ich lief und lief und sah doch nur die endlose Finsternis. Und irgendwann ein Licht. Es blendete mich und ich hielt mir schützend die Hand vor die Augen. Meine Beine bewegten sich von alleine weiter auf die Lichtquelle zu. Irgendwann sah ich eine Art Spalt der mitten in der Luft der Dunkelheit zu schweben schien. Durch ihn drang das Licht in diese endlose Welt. Zaghaft streckte ich die Hand danach aus. Als ich den Spalt berührte stand ich plötzlich auf einer Lichtung. Es war jene Lichtung auf der dieses ganze Chaos seinen Anfang genommen hatte. Dann ein Knacken hinter mir. Ich wirbelte herum, doch da war nichts. Dann ein Knacken links, dann rechts. Immer mehr Geräusche drangen von allen Seiten an mein Ohr. Und dann betrat jemand die Lichtung. Und dann noch jemand. Und weitere folgten. Sie trugen Roben, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, dahinter Schwärze. Und dann traf es mich, wie die tosende Macht eines Blitzschlags.

Die Gestalten zündeten ein Feuer an. Wieder sangen sie in der fremden Sprache. Ein unerklärliches Gefühl überkam mich, fast so als würde ich verstehen. Die Sprache schien so fremd und unvorstellbar, wie die Farben, die ich gesehen hatte. Eine Brücke zwischen Traum und Realität, die Sprache und Farbe verbanden und ihre Zugehörigkeit zueinander verdeutlichte. Das konnte doch nicht sein. Wieder fielen die Robenträger in sich zusammen, bis ich alleine auf der Lichtung war. Und dann blieb mir die Luft weg. Ich versuchte zu atmen, doch es war, als ob hier keine Luft war. Ich erstickte von innen heraus. Krampfhaft rang ich um Atem. Meine Füße verließen den Boden, langsam levitierte ich in die Höhe. Und dann bemerkte ich, dass ich längst nicht mehr im Wald war. Ich war mitten in einem Ozean und das eiskalte Wasser der finsteren Tiefen legte sich um mich, wie ein düsterer Mantel.

In der Ferne sah ich eine Gestalt. Sie lief im Wasser, als wäre sie auf festem Untergrund. Ich rief nach ihr und versuchte ihr zu folgen. Das Wesen lief beständig weiter ohne auf mich zu warten. Ich sah die Fangschreckenkrebse. In kleinen Gruppen oder zu Kreisen versammelt starrten sie mich an, als sei ich fremd in ihrem Reich. Und dann sah ich seltsame Quader und Würfel, die gleichzeitig Höhlen glichen, wie Unterschlüpfe der Meeresbewohner und unmenschliche Häuser zugleich. Eine uralte Stadt aus der Tiefe, bewohnt von wunderschönen monströsen Kreaturen. Zeichen einer unbekannten Schrift schmückten die Wände und Reliefs zierten die gesamte Stadt.

Endlich war ich an dem Gebäude angekommen, in dem die Gestalt verschwunden war. Vorsichtig betrat ich die dunkle Halle. Hummer- und krabbenartige Humanoide standen schlafend in der hohen und weiten Kammer. Ein Altar stand in einigen Schritten Entfernung in der Mitte. Dahinter die Gestalt. Es wirkte als würde sie zu einer großen Statue beten, die wie ein steinerner Koloss über die Halle und damit über sein Unterwasserreich zu herrschen schien. „Hallo?“ Meine Stimme hallte in meinem Kopf, wie ein lauter Gedanke. Das Wasser jedoch schien jeden Laut zu verschlucken. Nach und nach näherte ich mich der Figur. Und dann drehte sie sich um.

Und dann überkam mich der grauenvolle Schrecken. Ich erwachte voller Angst und schrie. Meine Laken waren durchnässt von Schweiß. Meine Bettdecke war zerwühlt. Ich keuchte.

Meine Hände waren in die Matratze verkrallt. Die Augen weit aufgerissen starrte ich ins Nichts. Mit dem Ärmel wischte ich über meine Stirn. Ich versuchte mich zu beruhigen. Nach einigen Minuten war ich soweit gefasst, dass ich aufstehen konnte. Ich fühlte mich schwach. Meine Kehle fühlte sich ausgetrocknet an. Ich brauchte ein Glas Wasser. Mit wackeligen Knien wankte ich in die Küche. Ich stürzte das Wasser herunter. Erst jetzt merkte ich, dass meine Sicht sich offenbar normalisiert hatte. Die Farben tanzten nun nicht mehr. Aber die sonderbaren Farben, die weder Namen noch Beschreibungen gerecht wurden, waren immer noch da. Und zu allem Überfluss sah ich sie nun auch überall sonst. Meine Welt sah ganz anders aus. Ich sah die Dinge wie sie wirklich waren und konnte es doch nicht beschreiben. Kein Wort einer beliebigen Sprache hätte das, was ich sah, beschreiben können. Noch immer hoffte ich, dass sich dies ändern würde, dass es sich nur um Nachwirkungen der Operation handeln würde. Ich nahm wie verschrieben täglich zwei Mal meine Augentropfen. Doch keine Besserung stellte sich ein. Im Gegenteil. Mein Blick schärfte sich immer weiter. Ich sah die Farben immer deutlicher. Nach einer Woche rief ich im Krankenhaus an. Ich wurde mit einem freundlichen Mann an der Rezeption verbunden. Ich nannte ihm meinen Namen und schilderte ihm mein Problem. „Das klingt nicht gut.“, sagte er beunruhigt, „Sie sollten Ihren Arzt kontaktieren. Wie hieß denn der behandelnde Arzt?“ „Dr. Aswadun Achas.“, antwortete ich. Ein gebrummtes „hmm“ kam aus dem Telefonhörer. Tastengeklapper. „Entschuldigung, können Sie den Namen buchstabieren?“ Selbstverständlich konnte ich es. Wieder einige Sekunden der Stille. Dann antwortete der Mann mit einem seltsamen Tonfall: „Also ich kenne keinen Dr. Achas und auch im Computer ist er nicht verzeichnet. Sind Sie sich sicher? Haben Sie vielleicht das falsche Krankenhaus angerufen? Hallo?“

Ich antwortete nicht. Was ging hier vor sich. Mittlerweile hatte ich das beunruhigende Gefühl langsam dem Wahnsinn zu verfallen. Erst diese Krankheit, dann die Farben und jetzt schien alles eine Einbildung. Mir wurde fiebrig zumute. Ich legte auf. Realitätsverzerrender Schwindel übermannte mich. Ich vermochte nicht mehr zu unterscheiden, was ich wirklich erlebt hatte und was nicht. Tränen rannen über mein Gesicht während ich an der Wand angelehnt zu Boden sank und vor Unglauben hysterisch kichernd und gleichzeitig verzweifelt weinend da saß. Das salzige Wasser in meinen Augen brannte und das Licht brach sich darin. Noch viel mehr Farben offenbarten sich mir, wie geisterhafte Entitäten einer anderen Welt, die uns einfache Menschen in ihrer Existenz gar nicht wahrnahmen. Sie waren unaussprechlich schön und gleichzeitig trieben sie mir die Furcht durch jede Arterie und in jeden Knochen. Als ich mich einigermaßen beruhigt hatte, griff ich wieder zum Telefon und rief meine Eltern an. Meine Mutter machte sich große Sorgen und noch am selben Abend holten mich meine Eltern ab und nahmen mich mit nach Hause.

Sie wohnten noch immer in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war. Mein Vater öffnete mir die Tür des Autos und stütze mich auf dem Weg zur Haustür. Sie knarrte als er sie öffnete und ich roch den nostalgischen Geruch der Wände meiner Kindheit. Ich stellte meinen Koffer neben mir ab und atmete tief durch. Für einen Moment vergaß ich alle Sorgen und fühlte mich unglaublich geborgen. Ein sicherer Ort der von nichts durchdrungen werden konnte.

Sie brachten mich nach oben in mein altes Zimmer. Auch hier verspürte ich diese große Geborgenheit. Es hatte sich nichts verändert. An den Wänden hing mein künstlerischer Werdegang: einige Schmierereien aus der frühsten Kindheit, erste Zeichnungen und Bilder, später dann aus meiner Jugendzeit die ersten ernstzunehmenden Arbeiten und die letzten Arbeiten, die ich vor meinem Umzug in die Stadt und meinem Wechsel zu Universität gemalt hatte. Noch einen kurzen Moment lang blieb mir die Ruhe und die Sicherheit des kindlichen Hortes, dann kam sie zurückgekrochen, die grausame, perfide Sicht meiner neuen Augen. In den alten Bildern regten sich neue Farben, neue Formen, neue Mustert. Sofort begann ich damit die Kunstwerke abzuhängen und die bemalte Seite zu verdecken. Meine Eltern standen währenddessen im Türrahmen und sahen mir mit stummer verzweifelter Sorge zu.

Am nächsten Tag rief ich bei einer Augenärztin an und vereinbarte einen Termin eine Stunde später. Im Wartezimmer trug ich eine getönte Brille, die die Farben etwas reduzierte. Ich hatte Angst vor der Diagnose. So sehr, dass ich mich vor lauter Anspannung mit meinen Fingernägeln in meine Beine krallte. Im Hinterkopf der hämische Gedanke an mein zerschmetterndes Schicksal.

Man rief mich auf und zitternd ging ich ins Behandlungszimmer. Wieder erzählte ich meine Geschichte. Ich hatte das Gefühl, als ob ich immer neue Seiten des Schreckens der Geschichte hinzufügte. Ein sadistischer Scherz des Schicksals nach dem anderen. Zwischendurch stellte die Doktorin einige Fragen, die ich müde beantwortete. Es waren immer dieselben Fragen. Als sie mich nach Achas fragte, verschwieg ich den letzten Anruf im Krankenhaus. Dennoch sah ich in ihrem Blick ihre Gedanken. Sie hielt mich für wahnsinnig, eine verlorene Künstlerin, die an ihrem Schicksal zerbrach.

Dann kam die Untersuchung, die üblichen Tests. Buchstaben in verschiedenen Größen vorlesen, durch ein Gerät schauen und in bestimmte Richtungen sehen und so weiter. Immer wieder brummte die Ärztin „hmm“ vor sich hin.

„Nun“, begann sie zögerlich, während sie sich hinter ihren Schreibtisch setzte, „Ihre Augen erholen sich tatsächlich von einer Operation oder zumindest von einer Verletzung. Ich will nicht sagen, dass es da normal sein kann, dass die Wahrnehmung etwas…getrübt ist, aber was sie da schildern, habe ich noch nie gehört und mir würde auch kein plausibler Grund dafür einfallen, der mit dem Auge als Organ zusammenhängen könnte.“ Es beruhigte mich fast ein wenig, dass sie mich offenbar für nicht ganz verrückt hielt. „Dennoch halte ich es für eine ernste Sache und,“ sie machte eine kurze Pause und ich merkte, dass es ihr schwer fiel die richtigen Worte zu finden, „ich denke, Sie sollte vielleicht mal mit einem Psychotherapeuten über Ihre Probleme sprechen. Ihr Auge ist zumindest so gesund, wie es ein frisch operiertes Sinnesorgan überhaupt sein kann. Daher würde ich vermuten, dass das Problem eher mit Ihren Erfahrungen zusammenhängt.“

Alles was ich noch hervorbringen konnte war ein hoffnungsloses „Achso.“ Dann verließ ich die Praxis. Tränen säumten meinen Weg nach Hause.

Die nächsten Tage verliefen weitestgehend ruhig. Ich passte mich langsam an die Farben an. Sie wurden ein ganz selbstverständlicher, wenngleich nach wie vor unheimlicher Teil meiner Realität. Jeden Tag waren die Farben da und anstatt, dass sie verblassten, wurden sie sogar jeden Tag deutlicher und normaler. Dann und wann kamen meine Eltern in mein Zimmer, mal beide, mal nur einer von beiden. Sie bemühten sich sehr mich aufzuheitern. Das rührte mich immer sehr, aber es vermochte mich nicht aus meinem bodenlosen schwarzen Loch zu holen. Beim Abendessen saßen wir schweigend da. Es war als ginge von mir und meiner Wahrnehmung auch die Stille, das Stumme, die Taubheit aus. Ich fühlte mich schuldig meinen Eltern so zur Last zu fallen. Mir kam es so vor als hätte ich sie mit meiner Trübsal angesteckt.

Ich beschloss bald zurück in meine Wohnung zu kehren.

Und dann kam mir eine Idee. Ich dachte, wenn ich es schon nicht ändern konnte, wollte ich wenigstens versuchen, die Farben auf die Leinwand zu bannen. Sie tatsächlich zu benutzen. Es war nicht die Hoffnung auf eine Besserung meiner Situation durch malen. Es war reiner Trotz und Wut. Beinahe schon eine kampflustige Aggressivität. Ich wollte nicht einfach aufgeben und die Farben gewinnen lassen. Ein Energieschub schoss durch meine Arterien, setzte mich unter Strom, ließ mich aufspringen und hastig einige Malutensilien zusammensuchen. Ich lief die Treppe hinunter, warf mir meinen Mantel über und rannte nach draußen. Wie ferngesteuert raste ich durch die kleine Siedlung, an einem Waldweg entlang, durch die Natur. Nach einigen Minuten fand ich mich auf einer kleinen Wiese auf einem Hügel wieder. Ein alter Baum stand auf der Hügelkuppel. Ich warf mich ins Gras, setzte mich in den Schneidersitz, kramte aus meinem Rucksack die Farben und Papier heraus und begann wie wild zu zeichnen. Ein Bild nach dem anderen. Jedes Mal nahm ich mehr und mehr Farben und zeichnete immer mehr Details ein. Ich sah teilweise gar nicht mehr auf, sondern kritzelte wie verrückt auf dem Papier herum.

Es muss wohl nach einer guten Stunde gewesen sein, als ich zum ersten Mal mein gedankenloses Zeichnen unterbrach und mich umsah. Ich kramte eine Flasche Wasser aus meinem Rucksack und trank gierig. Ein wenig außer Atem genoss ich die Landschaft. Die Wiese erstreckte sich auf der anderen Seite des Hügels bis zu einem Wald, daneben ein Kornfeld, ein Stück weiter dahinter der Fluss. Etwas erregte meine Aufmerksamkeit. Im Wald bewegte sich etwas. Ich sah genauer hin, konnte jedoch nichts erkennen. Ich verstaute meine Sachen wieder im Rucksack ohne den Blick abzuwenden. Auch an den Bäumen des Waldrands sah ich diese neuen Farben. Einfach alles schien viel mehr Farben zu enthalten, als die Menschen dachten. Doch das war es nicht, was mich wie ein ungewöhnlicher Magnet anzog. Nein, es waren die Bewegungen. Langsam ging ich näher, den Körper halb vom Wald abgewandt, um bei Gefahr sich schneller umzudrehen und zu flüchten. Ein natürlicher Schutzinstinkt. Es war als würde etwas im Unterholz lauern, zwischen den Blättern der Büsche und Sträucher und diese ab und an ganz leicht bewegen, wenn es sie anstieß. Nur das dies Mitten in der Luft zu stehen schien und diese anstieß und zum Flimmern brachte, ähnlich dem heißen Asphalt an einem Sommertag. Eine Fata Morgana der Straße. Mit zusammengekniffenen Augen und voller Misstrauen starrte ich die Erscheinung an.

Eine ganze Zeit lang stand ich einfach nur da und betrachtete das Flimmern. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich den nächsten Schritt wagte. Ganz langsam, vorsichtig wie ein Bombenentschärfer, streckte ich meine Hand aus. Meine Finger zitterten leicht vor Aufregung und auch ein wenig vor Angst. Was war das? Es bewegte sich nicht, wie das Hitzeflimmern der heißen Straßen, es war in der Nähe eines Waldes, es war deutlicher, es war realer und gerade das machte es trügerischer, hinterhältiger als eine „normale“ Fata Morgana. Je näher ich dem Wabern kam, desto nervöser wurde ich. Meine Finger erreichten die Erscheinung. Ich streckte meine ganze Hand aus. Gedanken rasten in meinem Kopf. Was war das? Was würde passieren? Gefahr? Noch einen Millimeter. Und dann geschah

nichts.

Meine Hand lag in der Luft umgeben von dem Flimmern und es geschah nichts. Weder spürte ich etwas an meiner Hand, noch wurde es kälter oder wärmer. Es war als wäre die wabernde Erscheinung gar nicht da. Ein wenig beruhigt und zugleich enttäuscht zog ich meine Hand zurück. Ich stand noch eine Weile lang da und betrachtete die bewegte Luft. Dann wandte ich mich um und ging nach Hause. Auf der Hügelkuppel angekommen, warf ich noch einen Blick zurück. Ein Gefühl, als ob mich etwas beobachtete, beschlich mich. Augen, die sich aus dem toten Winkel genau zwischen meine Schulterblätter bohrten. Doch da war nichts.

Auf dem Rückweg dachte ich darüber nach, ob ich etwas davon meinen Eltern oder gar einem der Ärzte erzählen sollte. Aber ich kam zu dem Schluss, dass dieses Phänomen wohl Teil meiner neuen Sicht war. Vermutlich würde es niemand außer mir sehen, also hatte es auch keinen Sinn jemanden danach zu fragen. Ich maß der ganzen Sache auch keine große Bedeutung bei, denn ich hatte ja nichts gespürt. Es war vermutlich gar nicht wirklich da, sondern nur etwas, dass ich dank meiner neuen Augen jetzt erst wahrnahm. Etwa, wie wenn man plötzlich Nachtsicht entwickeln würde oder so ähnlich. Zumindest versuchte ich es mir damit zu erklären.

Das Abendessen verlief etwas besser als die restlichen Tage. Ich war ein wenig gesprächiger und meinen Eltern schien das sofort positiv aufzufallen. Trotzdem waren da Tag ein Tag aus diese neuen Farben und Formen, die mein Gehirn zu sprengen schienen. Ich gewöhnte mich nicht an das, was ich jetzt sah, ich gewöhnte mich an diese neue verstörende Realität, daran immer ein Stückchen Wahnsinn zu verspüren. Gleich dem Wasser, das kontinuierlich auf ein und denselben Stein tropft und so in zermürbender Kleinstarbeit und über Jahrhunderte hinweg auch einen Berg zu durchbohren vermag.

Es war die Nacht nach diesem Tag. Ich schlief unruhig, träumte von dem Flimmern und das was sich dahinter verbarg. Ich wachte auf. Schweiß lief mir von der Stirn und mein Schlafshirt klebte an meiner Haut. Mein Atem ging schnell. Meine Hand griff nach der Flasche Wasser, die immer neben meinem Bett stand. Die andere Hand öffnete ganz von selbst den Deckel. Ich starrte halb schlafend ins nichts. Als das kalte Glas meine Lippen berührte, bemerkte ich erst, dass da etwas vor mir war. Ich sah die Silhouette einer seltsamen Figur in der Ecke meines Zimmers. Meine Augen weiteten sich, als das Adrenalin des Schreckens meinen Körper flutete. Ich wollte schreien, aber mein Hals war wie versiegelt und ließ keinen Ton hinaus. Die Silhouette bewegte sich nicht.  Aber nach und nach wurde sie deutlicher. Was zunächst wie ein Mensch ausgesehen hatte, wuchs nun in die Höhe und in die Breite. Ich konnte keine Beine erkennen, stattdessen schienen die Umrisse ein Ganzes zu bilden, das ähnlich dem Schwanz einer Meerjungfrau ein wenig nach Hinten weiterging. Die Schultern wurden immer breiter und schoben sich hinter die Arme. Der Kopf wurde länger, formte sich, ähnlich dem Körper eines Tintenfisches. Die Hände schienen zu großen Pranken mit abartigen Klauen zu werden. Noch immer bewegte sich der Schatten nicht aus seiner Ecke. Er stand einfach nur da und schien keine Notiz von mir zu nehmen. Ich fand meine Stimme wieder und stieß einen krächzenden Schrei aus. Noch immer keine Reaktion von dem Wesen. Allerdings drangen schnelle Fußschritte durch das Stockwerk bis in mein Zimmer. Im nächsten Moment ging die Tür auf und das Licht an. Meine Eltern kamen besorgt in mein Zimmer. Meine Hand ausgestreckt mit dem Zeigefinger auf die Ecke deutend saß ich da und stammelte: „D…da…d…das d…Ding.“ Mein Vater und meine Mutter erstarrten, wandten sich langsam um, atmeten aus, drehten wieder zu mir und sahen mich besorgt an. „Da ist nichts.“, sagte mein Vater resigniert. Natürlich. Sie konnten es nicht sehen. Meine Mutter versuchte mich zu beruhigen, indem sie mir versprach, morgen nach einem Therapeuten zu suchen. Dann verließen sie mein Zimmer. Ich saß alleine auf meinem Bett. Eine kleine Lampe auf dem Nachttisch erzeugte eine helle Fläche auf meiner Decke, fast wie eine kleine Schutzzone. Drumherum nichts als Finsternis. In mir die Angst. Ich fühlte mich einsam und alleingelassen. Doch ich konnte es meinen Eltern nicht verübeln. Sie konnten sich ja nicht einmal denken, was ich wahrnahm.

Ich schlief diese Nacht nicht mehr, obwohl das Ungeheuer irgendwann verschwand.

Am nächsten Tag war ich die Erste in der Küche. Ich stand irgendwann nachts auf und begann nach möglichen Psychotherapeuten zu suchen. Ich klammerte mich an den Gedanken der Hoffnung, dass die Dinge, die ich sah, doch nur meinem Verstand entsprangen und der erste Schock der Blindheit mich vielleicht doch mehr angegriffen hatten, als ich gedacht hatte. Vielleicht mehr als ich mir eingestehen wollte?

Irgendwann kamen meine Eltern. Ich begrüßte sie beiläufig und beachtete sie kam, aber ich spürte wie sie mich hinter meinem Rücken mit ihren Blicken voll Mitleid und Sorge ansahen. Beinahe fühlte ich ihre verzweifelten Gedanken. Dass sie irgendwann gingen, bemerkte ich jedoch nicht. Es war als würde ich sie einfach vergessen.

Nach einigen Stunden sah ich von meinem Laptop auf. Ich lehnte mich zurück und seufzte. Dabei viel mein Blick auf eine der Ecken an der Decke. Da war etwas. Ein kleines Flimmern in der Luft. Wie am Waldrand. Nur kleiner. Ich beobachtete es wieder. Dann begann es sich zu verändern. Es wurde immer intensiver, konzentrierte sich an seinem Mittelpunkt. Und dann starrte ich in ein großes dunkles Auge. Und es starrte zurück. Ich legte erschrocken die Hand auf den Mund und unterdrückte einen Schrei. Das Auge wanderte umher, sah in jeden Winkel der Küche, musterte einzelne Teile und kam zwischen durch immer wieder auf mir zum Stehen. Das Unbehagen in mir wuchs, bis ich fluchtartig die Küche verließ. Im Flur fiel ich gegen die Wand. Mein Atem ging schwer. Die Angst presste die Luft aus meinen Lungen und schnürte sie zu. Ich sank, an die Wand gelehnt, zu Boden. Ich zitterte, Tränen liefen meine Wangen hinunter, ich schluchzte, rang um Luft. Ganz vorsichtig wandte ich mich um auf alle Viere, kroch zum Türrahmen und schob meinen Kopf ganz langsam vor. Ich blickte um die Ecke. Zentimeter für Zentimeter bewegten sich meine Augen über die Fliesen, die Wand hinauf und in die Ecke in der kurz zuvor das Auge erschienen war. Und wieder blickte ich hinein und das Auge zurück.

Es war weder das Auge eines Menschen, dafür war es zu groß, noch das Auge eines Tieres, dafür sah es zu…zu…zu zivilisiert aus. Mir fällt kein besseres Wort ein, um das Organ zu beschreiben. Das Auge wirkte intelligent.

Meine Eltern kamen angerannt. Die Sorge stand ihnen ins Gesicht geschrieben. „Da oben, die Ecke, was ist das für ein Ding?“, stammelte ich. Meine Mutter kniete neben mir und nahm mich in den Arm. Mein Vater musterte die Küche. „Da ist nichts, mein Schatz.“, sagte er. In seiner Stimme lag ein besorgtes Zögern. Wir beschlossen mich umgehend in eine Klinik zu bringen.

Das Gebäude der psychiatrischen Einrichtung war sehr schön. Ein altes Schloss mit Parkanlage. Vermutlich ein Traum für jede Künstlerin, doch solche Motive und Gelegenheiten hatten für mich an vollkommen an Wichtigkeit verloren. Früher hätte ich als erstes ganz unterbewusst überlegt, ob sich dieser Ort für ein Gemälde oder zur Inspiration eignete. Heute galten meine Gedanken ganz der Hoffnung wieder zu genesen.

In der Klinik versuchten mir verschiedenste Ärzte mit allerlei Methoden zu helfen. Doch es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Einmal kam ich von einem Gespräch wieder und sah an der Wand wieder dieses Flimmern. Zögernd nährte ich mich der Erscheinung. Dann riss der Fleck auf und ich konnte hindurchsehen. Wie ein Fenster öffnete sich ein Riss, der den Blick auf eine andere Welt freigab.

Ich sah eine Stadt mit hohen Türmen an einer Küste, umgeben von einer grauen Wüste und einem nachtblauen Meer. Grünliche Wesen mit Tentakeln vor dem Mund, großen Pranken mit scharfen Krallen, ledernen Schwingen, die Körper wie gigantische humanoide Schlangen und mehreren schwarzen Augen schlurften durch die Straßen. Es war alles überdimensioniert. Die Wesen waren vermutlich so groß wie die Klinik selbst. Entsprechend größer waren die Türme. Ich schnappte nach Luft, stolperte rückwärts, fiel zu Boden und glotzte weiter durch das Fenster. Schnelle Schritte kamen auf mich zu, eine Pflegerin tauchte hinter der nächsten Ecke auf. Sie half mir hoch und brachte mich zurück in mein Zimmer. Etwas bohrte sich in meinen Rücken und ich drehte mich um: An dem Portal sah ich eines dieser Wesen. Es glotze mich an und schob dann seine Klauen durch hindurch. Es hielt sich an den Rändern des Flecks fest und stieg hindurch. Ich riss mich los und rannte. Rannte, rannte, rannte bis ich nicht mehr konnte. Es war nicht mehr blinde Panik, soweit hatte ich mich an diese Dinge gewöhnt, sondern der Versuch soweit wie möglich davor zu fliehen.

Die Tage in der Psychiatrie zogen sich hin, wie ein immerwährender Fluss, der nie das Ziel des großen Ozeans erreichte. Die Zeit in der ich wach war, war gefüllt von Gesprächen, Therapien und Übungen. Mal glotzte ein Wesen über die Schulter eines Angestellten, Mal begegnete ich einer Ausgeburt dieser interstellaren Hölle auf den Fluren. Selten aber doch immer wieder erreichte es ein neues Level von Schrecken und ich erlitt einen Anfall. Dies waren die Momente in denen mein Geist ein Stückchen mehr splitterte. Feine Haarrisse, die sich nach und nach zu Sprüngen in einer glatten Scheibe sammelten.

Ein anderes Mal sah ich ein insektoides Wesen mit großen Scheren wie eine Krabbe. Jedoch aufrechtstehend. Sein Kopf war ein Gehirn, aus dem kleine Tentakel wie Wurzeln sprossen. Es verschlang mühe los einen Menschen. Der Mann schien in einem katatonischen Zustand zu sein, der schier endlose wahnsinnige Schrecken hatte seinen Verstand splittern lassen.

Und mein Verstand bröckelte ebenfalls.

Die Nächte waren…anders. Die Dunkelheit verschluckte alles. Sowohl Räume und Menschen, als auch außerirdische Farben und alptraumhafte Kreaturen. Besser machte es das nicht, denn in dieser Zeit war ich einsamer denn je. Nachts weinte ich mich oft in den Schlaf. In meinem einsamen Bett, in diesem sterilen Zimmer, verkroch ich mich unter der Bettdecke. Einzig hier war ich sicher. Oft kam mir die Assoziation zu den Fangschreckenkrebsen. In der Schwärze der Nacht unter der Decke, kam es mir wie der Abgrund vor, in dem diese Tiere in ihren prächtigen Farben lebten. Ich konnte mir denken, warum sie sich in die nachtblauen Abgründe zurückzogen, wenn sie all das sehen konnten, was ich nun sah und was mich nach und nach zerfraß.

Dann wurde es schlimmer. Ich begann nicht nur durch die Portale diese Wesen und diese Welt zusehen, sondern auch zunehmend in unserer Welt…in der Klinik. Es war ein Teufelskreis. Je öfter ich solche Erscheinungen wahrnahm, desto öfter Sprach ich meine Ärzte darauf an und sie hielten mich zunehmend für labiler und ich gestand mir immer öfter ein, dass das was ich da sah real war, wodurch ich sie immer öfter sah.

Ein Mal ging ich gerade durch die langen Gänge der Psychiatrie, als plötzlich ein Wesen in einem gelben Gewand durch den Gang ging. Es wirkte beinahe so, als ob es schwebte. Die humanoide Gestalt hielt inne, drehte ihren Kopf langsam zu mir. Das Gesicht war in gelbe Bandagen gehüllt. Es schien irgendetwas zu sagen, jedoch konnte ich nichts hören. Dann setzte die Person ihren Weg fort, den Gang hinunter, öffnete eine Tür und schloss sie hinter sich. Ich folgte dem Ding zögerlich. Mit dem Herzklopfen der Angst griff ich nach der Klinke und drückte sie hinunter. Als die Tür aufschwang, bot sich mir ein bizarres Bild. Nicht das Patientenzimmer mit Bett, Kleiderschrank und Habseligkeiten war hinter der Tür, sondern ein absurdes Theater. Menschen in seltsamer Kleidung, wie Kultistenroben oder fremden Kostümen, die entfernt an verzerrten venezianischen Karneval erinnerten, saßen auf unebenen Plätzen und sahen auf eine gelbe Bühne. Darauf fand ein Schauspiel statt, das für einen gesunden Geist kaum nachzuvollziehen war. Zum Schluss der Vorstellung opferten sich die Akteure selbst. Ihre hingebungsvolle Huldigung einer merkwürdigen Gottheit war verstörend. Sie öffneten ihre Venen mit rituellen Dolchen und weinten vor Freude, als sie für ihren alten Gott ausbluteten.

Nach diesem Zwischenfall wurde ich das erste Mal mit Medikamenten behandelt. Man fand mich panisch schreiend vor der offenen Tür eines Abstellraums. Ich muss wohl wie weggetreten sein, denn ich wachte in einem Bett auf, fixiert und das Pflegepersonal erzählte mir erst was geschehen war. Ich konnte mich an nichts erinnern, was nach dem Ende des Theaterstücks geschehen war. Eine der Pflegerinnen sagte mir, ich hätte wirres Zeug vor mich hin gestammelt. Sie sagte, sie hätte ein wenig Angst bekommen. Und das obwohl so etwas hier durchaus öfter vorkam.

Fort an bekam ich Psychopharmaka. Mit jedem Vorfall wurden diese stärker und höher dosiert. Diese beruhigten mich zwar ein wenig, aber ich sah nach wie vor diese seltsamen Dinge.

Zwei Monate nach meiner Einweisung wurde es noch schlimmer. Ich war gerade draußen bei einem Spaziergang in der Parkanlage der Klinik. Es war ein schöner sonniger Tag, einige Vögel zwitscherten in der Nachmittagshitze und die Wiesen erstrahlten in hellem grün und den bunten Farben der kleinen Blumen, die dort blühten.

Mein Zustand war längere Zeit stabil, sodass meine Eltern mich besuchen durften. Ich glaube, sie hielten mich wirklich für verrückt. Sie konnten ja nicht sehen, was ich sah. Immer wenn eines der Wesen, ein Schatten oder eine andere Erscheinung uns nahekam oder unseren Weg kreuzte, wich ich aus oder vergrößerte den Abstand. Mittlerweile war es für mich normal geworden, den Dingen, die ich wahrnahm auszuweichen. Mal weigerte ich mich einen zu betreten, Mal machte ich große Bögen um nichts und Mal nahm ich scheinbar unnötige Umwege. In meiner Resignation hatte ich mich den Kreaturen ergeben und versuchte ihnen aus dem Weg zu gehen. Ab und an sah ich etwas neues, fürchterliches, grauenerregendes, sodass ich einen meiner Zusammenbrüche hatte. Doch zum Glück kam dies nicht oft vor und jedes Mal gewöhnte ich mich an eine neues Stufe des Wahnsinns und des bizarren Schreckens. Die Pflegerinnen und Pfleger nahmen dies schulterzuckend hin, wenn ich auf meine komischen Wege und Rituale bestand. Für meine Eltern musste es wohl so aussehen, als würde ich, von Hirngespinsten getrieben, kreuz und quer durch den Park laufen. Bei diesem Gedanken musste ich schmunzeln. Vielleicht war ja genau das Wahnsinn. Süßer, perfider, fantastischer, grausamer Wahnsinn. Ich merkte, dass nach und nach auch meine verbissene Hoffnung nicht verrückt zu sein schwand und ich mich der Tatsache ergab, dass ich verrückt geworden war und die Dinge, die ich sah nicht real waren.

Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Ich sah auf. Langsam richtete sich eine gigantische Silhouette auf. Wie verdunkeltes Glas, durchsichtig und hoch wie ein Wolkenkratzer stand dort ein Wesen. Der Schatten überragte die Klinik um ein Vielfaches. Er ähnelte den Wesen, die ich durch das Portal gesehen hatte. Nur weit größer und mit Beinen und Armen. Schwimmhäute waren zwischen seinen Klauen, der Kopf wie ein riesiger Kraken aus den höllischen Untiefen des Meeres. Ich begann zu schreien, rannte davon, versteckte mich hinter einem Baum. Von dort sah ich eine zweite Gestalt aufragen. Ein massiger Körper aus dem jede Menge Tentakeln sprossen, ein kleiner Kopf mit unzähligen Augen und riesigen geifernden Mäulern, Stacheln und Hörner wuchsen aus dem Leib und ein gigantischer Schlund klaffte auf der Unterseite des Körpers. Zu seinen Füßen waren unförmige Klumpen mit Tentakeln und ebenso unförmigen Körpern. Wie eine Dämonenmutter mit einer Horde aus monströsen Kindern. Die bizarre Brut einer anderen Dimension.

Ich hyperventilierte, begann mir übers Gesicht und insbesondere über die Augen zu kratzen. Meine Eltern kamen zu mir gelaufen, versuchten mich abzuhalten. Ich wehrte mich mit Leibeskräften, doch mein Vater hielt mich fest. Mir blieb nichts anderes übrig als die dritte Gestalt auch noch ertragen zu müssen. Diese wirkte wie ein fleischiger Berg, der weit in die Höhe ragte. Der Körper war unförmiger als der des anderen Wesens. Rot leuchtende Kugeln bedeckten das Gebilde. Beulen wie Krebsgeschwüre hier, Tentakel da, an einigen Stellen wuchs ein Exoskelett aus dem Körper heraus. Und Münder überall. Dazu schwarze Augen, dunkler als die Finsternis des Weltalls.

Ich schrie und schrie und schrie. Ich bekam nichts mehr um mich herum mit. Diese grotesk großen Wesen füllten nicht nur den Horizont, sondern auch meinen Verstand. Es fühlte sich so an, als würde mein Kopf platzen angesichts dieser massiven Schrecken. Ich spürte unglaubliche Kräfte in mir, stieß meine Eltern weg, rannte, fiel, rollte über den Rasen, rappelte mich auf, rannte, schrie, kratze an meinen Augen. Dann wurde ich zu Boden geworfen. Ein Stich schmerzte in meinem Arm. Dann verlor ich mein Bewusstsein.

Dumpfe Stimmen weckten mich. Mein Körper gehorchte mir nicht. Ich schlug meine Augen auf. Ich war in einem sterilen Zimmer. Meine Arme, Beine und mein Oberkörper waren festgeschnallt. Außer dem Bett enthielt der Raum keine Möbel oder Gegenstände. Mit krächzender Stimme versuchte ich um Hilfe zu rufen. Die Tür öffnete sich. Ein großer, schlanker Mann betrat den Raum. „Wie ich sehe ist unsere Patientin wieder wach. Dann wollen wir doch mal sehen.“ Er kam näher und beugte sich über mich. Ein Schock durchfuhr mich. Es war Doktor Aswadun Achas. „S…Sie…“, flüsterte ich. Er lächelte breit. „Man hat mich hierher bestellt, um sie zu untersuchen, junge Dame. Sie sehen also Dinge, die nicht da sind. Nun ja, Halluzinationen sind bei derartig schwerwiegenden psychischen Erkrankung leider keine Seltenheit, tragisch. Der menschliche Geist ist eine geradezu fragile Konstruktion, ähnlich einem hauchdünnen Glas. Wahrhaftig schön, besonders wenn man sein ganzes Ausmaß zu begreifen in der Lage ist, aber leider zu einfach zu zerbrechen. Es reicht etwas derart Fremdes, um die Grenzen des menschlichen Verstandes zu überschreiten und das ganze Gehirn zusammenbrechen zu lassen, wie ein kleines, unbedeutendes Kartenhaus.“ Er kam näher und flüsterte mir ins Ohr: „Aber was, wenn man plötzlich in der Lage ist, diese Sachen überhaupt zu begreifen? Dann wird man gewahr, dass es mehr als diese Welt und ihren Inhalt gibt. Und das es vielleicht kein Wahnsinn ist, dem man verfällt. Sondern nur einer weiteren Realität.“ Er wurde zunehmend leiser. „Aber…wer würde einem das schon glauben.“

In diesem Moment betraten meine Eltern und einige Pfleger den Raum. Meine Mutter weinte an der Schulter meines Vaters. „Mama, Papa, helft mir! Das ist der Arzt!“, flehte ich verzweifelt. Meine Mutter wandte sich ab und verbarg ihr Gesicht schluchzend an meinem Vater. „HILFE!“, kreischte ich. Doktor Achas hielt meinen Kopf fest und leuchtete mir mit einer Lupe in die Augen. „Nun ja, ihre Augen sehen zumindest gut aus. Die Patientin ist zumindest körperlich gesund. Ihre Rezeptoren arbeiten hervorragend.“

11:00 29. Dez. 2020 (UTC)

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