
Sarahs letztes „Pflicht“
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Ich war schon in der Grundschule ziemlich unbeliebt. Ich habe mich einfach nicht für typisches Jungs-Zeug interessiert, ich hasse Fußball, hatte kein Interesse an Autos und überhaupt war ich eher dieser einzelgängerische Lehrerliebling. Wenn ich versuchte mit anderen Kindern etwas zu unternehmen, wurde ich entweder komplett ausgeschlossen oder ich wurde derart gemobbt, dass ich tatsächlich körperlich krank vor Angst vor der Schule und manchmal sogar schon allein vor dem nach draußen gehen wurde.
Ich fand irgendwann aber tatsächlich ein paar wenige Leute, die sich nicht von meinem Lehrerliebling-Status vergraulen ließen und trotzdem Zeit mit mir verbrachten. Sie hatten zudem den Vorteil, dass sie trotz meiner Gesellschaft von eigenem Mobbing verschont blieben. Am Ende waren es drei Kinder, die ich als Freunde bezeichnet hätte. Michael war der einzige Junge. Die anderen beiden waren Mandy, ein dunkelhaariges schüchternes Mädchen mit der ich mich ziemlich stark selbst identifizieren konnte und Sarah, ein dunkelblondes, sehr intelligentes und ausgesprochen tierliebes Mädchen. Da wir aus demselben Dorf stammten, verbrachten wir das meiste unserer Freizeit zusammen. Zumindest, so lange die anderen Kinder mich in Ruhe ließen.
Sarah kam aber eines Tages auf uns zu und ließ eine Bombe platzen, die für uns Kinder damals die ganze Welt veränderte. Sarah erzählte uns, dass sie wegziehen würde. Nicht in ein anderes Dorf oder Stadt, sondern auswandern nach Irland. Ihr Vater hatte dort ein Jobangebot erhalten und musste eine sehr kurzfristige Entscheidung treffen. Sarah erzählte uns davon erst zwei Wochen vor dem Umzug und das brachte unsere jungen Leben als Freunde völlig aus dem Gleichgewicht.
Als ich noch in der Grundschule war, herrschten noch andere Zeiten. Ich weis wie das klingt, aber Handys waren noch nicht weit verbreitet, schon gar nicht bei Kindern, Internet war damals wirklich noch Neuland und schon allein einen PC zu besitzen war auch nicht das Normalste der Welt. Wir reden von der Zeit, in der dieser unzerstörbare Klotz von Nokia 3310 für mindestens noch weitere 5 Jahre nicht auf dem Markt erschien. Als Kinder in auch noch dem wohl ländlichsten Gebiet Deutschlands wuchsen wir eben nicht mit Handys oder Internetzugang auf. Für uns kam Sarahs Auswanderung nach Irland einem Abschied für immer gleich.
Natürlich waren wir alle sehr traurig darüber. Für mich bedeutete das auch, einen der ohnehin schon sehr wenigen Menschen zu verlieren, die ich in dieser mir feindlich gesinnten Welt hatte. Wir hatten natürlich viel zu wenig Zeit füreinander in diesen letzten Tagen und so entschieden wir uns für eine letzte Pyjama Party am Tag vor Sarahs Abreise. Ihr Haus war ziemlich groß und hatte auch ein Gästezimmer für genau solche Anlässe. Wir hatten auch früher schon einige solcher Übernachtungen bei ihr organisiert. Außerdem bot uns das die Möglichkeit nach dem Aufstehen ohne große Organisation das Haus zu verlassen und Sarahs Familie eine schnellere Abreise zu ermöglichen. Also saßen wir zusammen in diesem Gästezimmer mit Knabbereien und Saft, einem Fernseher, Video- und Brettspielen und hatten so viel Spaß wie es uns nur möglich war.
Ich weis nicht mehr wann genau es war – es fühlte sich aber relativ spät für mich an – als wir auf die glorreiche Idee kamen, eine letzte Runde Wahrheit oder Pflicht beziehungsweise Flaschendrehen zu spielen. Wir hatten keine Flasche zur Hand und behalfen uns daher einfach mit einem Mikado-Stäbchen, das wir auf einer der Brettspielunterlagen drehten. Wie abzusehen war, gab es nicht oft die Wahl der „Pflicht“. Wir wollten uns halt – Kinder die wir waren – nicht einmal vor unseren eigenen Freunden in unangenehme oder peinliche Situationen bringen. Die wenigen Pflichten, die wir antraten waren auch eher lahm. In Orangensaft getunkte Nacho-Chips essen und solches Zeug. Wie gesagt, ziemlich unspektakulär, bis Sarah an der Reihe war und Pflicht wählte.
Michael wettete, dass sie sich nicht trauen würde, uns etwas zu erzählen, das sie noch nie jemandem gesagt hatte. Natürlich stritten wir darüber, dass das eindeutig eine Wahrheits-Aufforderung war. Aber Sarah hatte kein Problem mit der Aufforderung und überlegte anschließend einen kurzen Moment. Sie schien kurz abzudriften und ich könnte schwören, dass ich sie für den Bruchteil einer Sekunde habe lächeln sehen. Ich dachte mir, sie würde sich darüber freuen, dass sie sich für etwas entschieden hatte. Unsere Augen wurden immer größer vor Spannung. Dennoch stockte Sarah. Sie erzählte uns, dass sie nicht sicher war, ob sie uns das folgende wirklich erzählen könne, weil es „nicht unbedingt gut wäre davon zu reden.“ Natürlich bestärkten wir sie und sagten, dass alles gut sei und wir ja trotzdem Freunde wären. Außerdem war das sowieso der letzte gemeinsame Abend, also war es eigentlich ja auch egal. Innerlich glaube ich, bereiteten wir anderen uns aber auf ein paar hässliche offene Worte über uns vor.
Wenn es nur das gewesen wäre.
Sarah nickte schüchtern und holte tief Luft.
„Wisst ihr noch, als Luna 9 Kätzchen geboren hatte und die alle gestorben sind? Ich war das. Ich habe sie gerettet.“
Wir anderen sahen uns geschockt und verwirrt an.
„Was meinst du mit „gerettet“?“, fragte Michael.
„Meine Eltern haben gesagt, dass so viele Kätzchen eine große Verantwortung wären und viel Stress und Dreck machen und Geld kosten. Darum hätten wir sie nicht behalten können. Sie wollten die Kätzchen in ein Heim bringen oder zu jedem, der eines hätte haben wollen. Ich mag Tierheime aber nicht. Die behandeln die Tiere ganz schlecht und sperren sie in kleine Käfige, spielen nicht mit ihnen und so. Die Kätzchen hätten ein ganz schlimmes Leben gehabt. Wer weis auch, wie die anderen Leute, denen wir sie gegeben hätten mit ihnen umgegangen wären. Ich weiß, ich hätte jeden Tag mit ihnen gespielt und mich um sie gekümmert. Niemand, keine andere Familie und schon gar kein Tierheim hätten sie so gut um sie gesorgt, wie ich. Darum habe ich sie nachts von Luna weggenommen und auf die Couch gesetzt, ein Kissen darübergelegt und mich da draufgesetzt und so lange gewartet, bis sie aufgehört haben sich zu bewegen und zu mauzen. Dann habe ich sie wieder zu Luna in die Kiste gelegt. Sie waren ganz friedlich und ich wusste, dass sie jetzt glücklich waren.“
Uns sind buchstäblich die Kinnladen heruntergefallen. Michael konnte kaum an sich halten und fragte fast außer sich:
„Wie kannst du seitdem überhaupt schlafen?!“
Sarah sah ihn nur mit einer Unschuldsmiene an, lächelte zuckersüß und antwortete:
„Warum denn? Ich habe doch etwas Gutes getan. Haustiere kommen sowieso alle in den Himmel und das ist schließlich der schönste und glücklichste Ort. Ich habe sie gerettet.“ Das war so falsch. Und das kam aus dem Mund eines angeblich extrem tierlieben Mädchens.
„Aber was haben deine Eltern gesagt? Sind sie nicht böse gewesen?“, fragte Michael.
„Sie wissen es ja gar nicht. Sie glauben, die Kätzchen wären einfach zu schwach gewesen.“
Nach einem kurzen Moment der Stille fing Sarah an, uns von unzähligen, Welpen, Katzenbabies und Küken und anderen kleinen Tieren die sie „gerettet“ hatte zu erzählen. Jedes Mal, wenn sie irgendeinem Kleintier begegnet ist das allein war, nahm sie an, dass die Tiere niemanden hätten. Für sie war die einzige Möglichkeit zur Rettung der Tiere scheinbar der Gnadentod. Je mehr sie aber erzählte, umso verstörender wurden die Geschichten. Sie erzählte uns sogar, wie sie einmal einen kleinen Vogel gefunden hatte, der aus dem Nest gefallen zu sein schien und sie ihn erhängt hat, indem sie ihre Schnürsenkel um seinen kleinen Hals band, zuzog und das Tier an einem Ast baumelnd aufhängte! Ihre Erklärung war, dass Vögel ihr ganzes Leben ja in der Luft verbringen und es daher auch nur Sinn machen würde, wenn das Leben des Vogels auch in der Luft ende.
Wir anderen sind innerlich förmlich ausgeflippt. Für mich selbst war es nicht unbedingt was sie erzählt hat, sondern noch viel mehr, wie sie uns dabei angeschaut hatte. Sie hatte einen Glanz in den Augen und einen Gesichtsausdruck der – Ich kann es nicht anders beschreiben aber je mehr sie erzählte, umso stolzer schien sie auf sich selbst zu sein. Ihr Gesichtsausdruck sah aus, als würde sie uns gerade von den tollsten Tagen ihres Lebens erzählen. Als wäre sie zum ersten Mal in einem Freizeitpark gewesen.
Sarah war vollkommen verrückt. Wir saßen nur da und starrten sie ungläubig an, während sie nur immer weiterredete. Mandy unterbrach Sarah schließlich, als sie dabei war uns zu erzählen, wie sie einmal ein Kätzchen lebendig begraben hatte, nachdem sie es in eine Plastiktüte zu ihren bereits toten Geschwistern geworfen hatte weil sie dachte, als Geschwister sollte sie die Kätzchen zusammen beerdigen. Mandy begründete ihre Unterbrechung damit, dass sie müde sei und wir wenigstens etwas anderes spielen sollten. Wir alle wollten aus dieser Situation raus und Mandy fand einen Weg.
Sarah stimmte nur widerwillig zu. Sie schien enttäuscht und sogar traurig darüber, dass sie so unterbrochen wurde. Ich muss nicht erwähnen, dass der restliche Abend alles andere als echt spaßig war. Wir waren völlig von der Rolle und um ehrlich zu sein, hatten wir alle Angst vor diesem Mädchen das wir unsere Freundin nannten und bis dahin zu kennen glaubten. Es war trotzdem unser letzter gemeinsamer Abend als Clique und wir versuchten wenigstens so zu tun, als wäre alles okay. Das war es nicht.
Als wir endlich schlafen gingen wusste ich schon vorher, dass außer Sarah niemand schlafen können würde. Ich lag stundenlang wach und hörte, wie sich die anderen die ganze Zeit unruhig in ihren Schlafsäcken hin und her wälzten und ich glaubte zu hören wie Mandy gefühlt stundenlang leise weinte.
Am nächsten Morgen sagte niemand ein Wort. Als es Zeit war uns endgültig von Sarah zu verabschieden wussten wir nicht, wie wir uns ihr gegenüber verhalten sollten. Niemand wollte sie umarmen, nicht einmal die Hand geben. Bis zum Abend zuvor wollten wir sie gar nicht erst gehen lassen und nun konnten wir gar nicht schnell genug weit genug von ihr wegkommen. Nach einem sehr unangenehmen und unbehaglichen Abschied gingen wir alle nach Hause. Kein einziges Wort wurde zwischen uns gewechselt und wir einigten uns schweigend darauf, nie wieder ein Wort über den Abend zu verlieren.
Das Ganze ist jetzt fast 20 Jahre her. Letztes Jahr hatten wir ein Klassentreffen, das viele von uns besuchten. Michael und Mandy waren auch da, also war unsere Gruppe, ausgenommen Sarah wieder zusammen. An diesem Abend wurde unser Schweigebund gebrochen. Das Thema kam auf, nachdem wir bereits einige Drinks hatten und es wurde morbider, als wir es uns je hätten vorstellen können.
Weil Sarah nicht am Klassentreffen teilnahm, nahmen wir an, dass einfach nur niemand sie in Irland erreichen konnte. Allerdings kam die Person, die das Klassentreffen organisiert hatte und auch die Einladungen etc. verantwortete zu uns an den Tisch und erklärte, dass Sarah nicht am Klassentreffen teilnehmen würde, weil sie wegen Entführung und versuchten Mordes an einem Kleinkind in einer psychiatrischen Klinik eingesperrt sei. Sarah hatte das Kleinkind einer armen Familie entführt und wollte es von -wie sie es beschrieb „einem Leben voller Qual, Entbehrung und Leid“ befreien. Wir erstarrten vor Schreck. Sarah hatte die „Befreiung armer Tierbabies“ auf Menschen zu projizieren begonnen. Nichts hätte uns auf diese Nachricht vorbereiten können. Ich schüttete meinen Drink in einem Zug herunter und schaute zu Michael und Mandy hinüber. Wir saßen beieinander, wieder wortlos. Es dämmerte uns langsam, dass wir damals jede Möglichkeit hatten unseren Eltern, den Lehrern, oder prinzipiell jedem Erwachsenen zu erzählen, was Sarah uns in der Nacht beichtete. Damals hätte es vielleicht nicht viel geändert, aber möglicherweise genug, um ihr frühzeitig zu helfen – ihr die Hilfe zu ermöglichen, die sie gebraucht hätte damit es gar nicht erst so weit gekommen wäre.
Michael Mandy und ich ertränkten all diese Gefühle und Erkenntnisse einfach in Alkohol und versuchten so wenig wie möglich weiter über Sarah zu reden. Das war auch das letzte Mal, dass ich einen der anderen beiden sah. Wir haben nach dem Klassentreffen keinen weiteren Kontakt gehalten und vielleicht war es um unserer eigenen Psyche Willen das Beste.