GeisterKreaturenMittel

Sepia

Warnung vor Creepypasta

ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT

Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.

Schon fast drei Stunden lang betrachtete ich dieses alte Foto. Es war
im Grunde nichts Besonderes. Eine vergilbte Schwarzweißaufnahme, die
eine Straßenszene aus den Zwanzigerjahren zeigte. Ein Friseurladen am
Rande einer gepflasterten Straße, daneben eine alte Bäckerei in der eine
dickliche Frau mit Schürze und blonden Haaren stand – wahrscheinlich
die Bäckerin. Ein Mann im Anzug mit Melone und einem prachtvollen
Schnurrbart, der auf einem Fahrrad vorbeifuhr. Zwei kleine Kinder in
geblümten Kleidern, die sich einen Ball zuwarfen und eine einsame Frau
in einem dunklen Kleid mit Bubikopfschnitt, einer altmodischen
Sonnenbrille und einer Zigarette in der Hand. Etwas weiter im
Hintergrund des Bildes war ein Kino zu sehen. Der vom Zahn der Zeit
bereits sepiagefärbte Himmel über der Szenerie hatte etwas fremdartiges
und exotisches. Es war durch und durch faszinierend.

Eigentlich besaß ich keinen Hang zur Nostalgie. Ganz im Gegenteil.
Ich war ein riesiger Fan von moderner Technologie, von Robotik,
künstlicher Intelligenz, Raumfahrt und jeder Art von technischen
Gadgets, die ich nur in die Finger bekommen konnte. Schon in der Schule
habe ich Geschichte gehasst. Für mich gibt es in dieser Welt nur eine
Richtung, die wirklich zählte: Nach vorne.

Und doch löste dieses Bild, das ich irgendwo zwischen den
Hinterlassenschaften meiner verstorbenen Großmutter entdeckt hatte,
etwas in mir aus. Etwas von dem ich mich einfach nicht lösen konnte,
auch wenn mir inzwischen der Magen knurrte.

Unwillkürlich fragte ich mich, wie es sein musste in dieser Welt zu
leben. Oder besser gesagt in dieser Zeit. In diesem kurzen goldenen
Zeitalter zwischen den beiden großen Katastrophen des zwanzigsten
Jahrhunderts.

Sicher zum zehnten mal hörte ich mein Smartphone vibrieren. Und doch
schenkte ich dem keine Beachtung. Dafür achtete ich auf etwas anderes.
Hatte der Mann auf dem Fahrrad mir gerade zugewunken? Hatte die Frau mit
dem Bubikopf ihren Kopf in meine Richtung gedreht? Hatte eines der
Kinder mich angesehen? Plötzlich glaubte ich den feinen Geruch von
frischen Backwaren wahrzunehmen. Dann das schwere Parfum der Frau und
den Rauch ihrer Zigarette. Und dann fühlte ich grobes Kopfsteinpflaster
unter meinen Füßen.

Ohne es zu merken schloss ich die Augen. Und als ich sie wieder
öffnete, war mein Zimmer verschwunden. Stattdessen umgab mich eine
sepiafarbene Welt.

Kurz vermutete ich, dass ich eingeschlafen war und nun träumte, aber
dafür war das hier viel zu real und auch das in solchen Situationen
obligatorische Kneifen oder Blinzeln brachte keine Veränderung mit sich.
Ich befand mich tatsächlich in dem verfluchten Foto. Die Frage, wie das
überhaupt möglich war und – noch viel wichtiger – ob ich es auch wieder
verlassen konnte, stellte ich vorerst hintenan. Ich hatte zu viel Angst
davor, dass mir die Antwort nicht gefallen würde. Also beschloss ich,
zunächst einmal diese fremde Welt zu erkunden. Immerhin bekam man so
eine Gelegenheit nicht eben häufig.

„Einen guten Tag, der Herr.“ rief mir der Mann auf dem Fahrrad zu und
hob grüßend seinen Hut, während er geräuschvoll die
Kopfsteinpflasterstraße hinunterfuhr. Ich drehte mich in die andere
Richtung und sah, wie sich die beiden Kinder ihren Ball zuwarfen. Zum
ersten Mal erkannte ich, dass es sich um Zwillinge handeln musste.
Bruder und Schwester, so wie es den Anschein hatte. Als die beiden mich
bemerkten, fing der Junge den Ball auf und starrte mich aus großen Augen
an, statt ihn wieder seiner Schwester zuzuwerfen. Auch sie beobachtete
mich genau. Das war ja auch kein Wunder. Ich wusste nicht viel von
Geschichte, aber ein roter Kapuzzenpulli, weiße Sneakers und eine blaue,
zerschlissene Jeans waren sicher nicht unbedingt die Art von Kleidung,
deren Anblick man in dieser Zeit gewohnt war.

Und das sahen anscheinend nicht nur die beiden Kinder so. Denn in
diesem Moment kam die Frau mit der Sonnenbrille auf mich zu, sah mir
tief in die Augen, nahm einen Zug von ihrer Zigarette und bließ mir den
Rauch ins Gesicht. „Sind sie neu in der Stadt?“ fragte sie mich mit
einer ebenfalls sehr rauchigen Stimme.

Sie hatte ein hübsches Gesicht, auch wenn bereits erste Falten ihre
Spuren darin hinterlassen hatten. Ein Tribut an ihre entbehrungsreiche
Zeit. Unter anderen Umständen hätten ihre Reize vielleicht auf mich
gewirkt, aber Ihre jungenhafte Frisur und ihre strengen Gesichtszüge
machten jede Erotik genauso zunichte wie die Farbe ihrer Haut. Sepia war
irgendwie ein ziemlicher Lustkiller. „In der Tat.“ sagte ich nebulös.
Sie nickte vielsagend und klimperte dabei mit ihren langen Wimpern.
„Dann sollten sie unbedingt das Filmtheater besuchen. Nach der
Vorführung gebe ich dort noch eine ganz private Vorstellung. Natürlich
nur, wenn Sie mögen.“ Sie schob ihren Rock soweit hoch, dass man ihre
Spitzenstrümpfe sehen konnte.

„Nein, Danke. Ein anderes Mal vielleicht.“ erwiederte ich und drehte
mich von ihr weg, um den Rest der unwirklichen Fotolandschaft zur
erkunden. „Sie verpassen etwas.“ rief sie mir hinterher. Als ich mich im
Gehen noch einmal kurz umdrehte, warf sie mir eine Kusshand zu. Dabei
bemerkte ich, dass mich die beiden Geschwister noch immer anstarrten. So
langsam wurde mir das unangenehm.

Ich entschloss mich, stattdessen der Bäckerei einen Besuch
abzustatten. Auch wenn ich mich nun absurderweise in einem alten Foto
befand änderte dies nichts daran, dass ich noch immer Hunger verspürte.

„Guten Tag, mein Herr.“ begrüßte mich die mollige Bäckerin als ich
mich ihrem Geschäft näherte. „Wünschen Sie eine kleine Stärkung? Ich
habe das saftigste Brot in der ganzen Stadt. Gerade frisch aus dem
Ofen.“ Ich nickte und sagte so freundlich wie möglich „Sehr gerne.“

Sie beendete ihre Pause und führte mich in ihr Geschäft. Der Laden
war klein und einfach. Die Wände waren mit abgeschabten, dunklen
Holzdielen verkleidet, der Boden bestand aus cremefarbenen Fliesen, die
mit filigranen Blümchenmustern verziert und an einigen Stellen bereits
gesprungen waren. An den Wänden klebten Plakate, die die
Filmvorstellungen des Kinos nebenan priesen. „Metropolis“, „Die
freudlose Gasse“ und auch einige Filme mit Charlie Chaplin.
Wahrscheinlich alles Stummfilme, wenn mich meine dürftigen
Geschichtskenntnisse nicht trogen. Es erklang leise Musik von einem
Grammophon in der Ecke. Ein klassisches Stück.

Die Backwaren in der Auslage sahen durchaus schmackhaft aus, auch
wenn sie sich in ihrer Vielfalt bei Weitem nicht mit dem Angebot der
Bäckerein aus meiner Zeit messen konnten und der Sepiaton die Backwaren
weit weniger appetitlich machte. Dennoch zeigte ich auf einen großen und
saftigen Laib „Ich nehme dieses dort.“ Während die Frau den Brotlaib
verpackte, glaubte ich kurz eine Bewegung hinter mir wahrzunehmen.
Reflexartig drehte ich mich um. Dabei sah ich kurz einen gelblichen,
länglichen Schatten vorbeihuschen. Allerdings so kurz, dass ich schon
Momente danach glaubte, ihn mir eingebildet zu haben. Trotzdem blieb
eine tiefe Angst in mir zurück. „Alles in Ordnung?“ fragte die Bäckerin
mich besorgt. „Ja, alles ist gut. Ich dachte nur, ich hätte etwas
gehört.„ Die Frau sah mich verständnisvoll an. „Das denken zur Zeit
viele. Wir alle sind nervös wegen dieser Putschversuche und Unruhen,
aber gerade ist zum Glück Ruhe.“ Sie reichte mir das verpackte Brot.
„Das macht 5 Milliarden Reichsmark.“ sagte sie. „Was?!“ fragte ich und
erst jetzt bemerkte ich, dass ich gar kein Geld dabei hatte. Keinen
einzigen Euro, geschweigedenn irgendwelche Reichsmark.

„Ich weiß. Diese Inflation ist ein schreckliches Ärgernis. Aber die
Herren Politiker hören nicht auf zu beteuern, dass sie bald vorbei sein
wird. Trotzdem kann ich leider nichts an den Preisen ändern.“ Sie hielt
mir die Hand hin und wartete ganz offensichtlich darauf, dass ich ihr
das Geld gab. Auch wenn es mir schrecklich unangenehm war, antwortete
ich ihr wahrheitsgemäß „Ich habe leider kein Geld.“

Plötzlich wurden die Gesichtszüge der Frau zornig. „Warum
verschwenden Sie dann die Zeit einer hart arbeitenden Frau? Verschwinden
Sie aus meinem Laden Sie Lumpengesindel!“ Gleichzeitig sah ich erneut
diese gelben Schatten und diesmal war ich sicher sie mir nicht
eingebildet zu haben. Sie hatten leuchtende orangerote Augen und eine
ungefähr menschliche Statur, auch wenn sie für Menschen extrem dünn
waren. Und es waren ungefähr ein Dutzend. Grosteskerweise sah ich mit
einem Mal, wie sich eines der Geschöpfe an den Rücken der Bäckerin
krallte und kurz darauf mit ihr verschmolz. Ihr Gesicht wurde nun noch
zorniger und ihre Stimme deutlich tiefer. „Du hättest nie hierher kommen
sollen. Nun gehörst du uns!“ schrie sie mit einem schrillen Unterton in
der Stimme und machte sich daran über die Theke zu klettern.

Irgendwie wusste ich genau, dass etwas Schlimmes passieren würde,
wenn sie mich berührte. Adrenalin schoss durch meine Venen und ich
rannte so schnell ich konnte aus dem Laden. Draußen wäre ich fast mit
dem Mann auf dem Rad kollidiert. „Einen guten Tag, der Herr“ wiederholte
er im selben Tonfall wie letztes Mal, zog seinen Hut und fuhr dann
einfach weiter. „Bitte, bleiben sie stehen!“ flehte ich ihn an „Ich
brauche Hilfe.“ Aber der Mann reagierte nicht. Dafür sah ich nun, dass
die Bäckerin aus ihrem Geschäft gekommen war. Sie wirkte unter der
verdammten Sepiasonne wie ein lebendig gewordener Dämon.

Da ich keine andere Wahl hatte, rannte ich weiter in die Richtung, in
die der Radfahrer verschwunden war. Ich rannte und rannte und achtete
auf nichts anderes als die Straße vor mir. Zumindest solange, bis ich
direkt in die Frau mit dem Bubikopf hineinrannte. Sie stolperte zur
Seite und gab ein erschrecktes Stöhnen von sich. „Entschuldigung.“ sagte
ich. Aber die Frau schien nicht wütend zu sein. „Sie sind mir aber ein
stürmischer Mann.“ erwiederte sie nur.

Weit mehr als ihre Worte beschäftigte mich aber die Tatsache, dass
ich in sie hineingerannt war. Denn da sie links von der Bäckerei
gestanden hatte und ich dem Fahrradfahrer nach recht gefolgt war ließ
das nur einen einzigen Schluss zu: Ich war im Kreis gelaufen. Und das
auf einer geraden Strecke. In diesem Moment fuhr erneut der
Fahrradfahrer an mir vorbei und bestätigte meine beunruhigende Theorie.
„Einen guten Tag, der Herr.“ sagte er zum dritten Mal in exakt dem
gleichen Tonfall wie zuvor und zog wieder seinen Hut.

Dieser Ort war eine verdammte Endlosschleife. Eine alptraumhafte
Endlosschleife unter einem sepiafarbenen Himmel. Mit einem Mal wünschte
ich mir nichts anderes mehr als hier zu verschwinden. Wieder in meinem
langweiligen, modernen Zimmer aufzuwachen und alles zu verbrennen, was
in irgendeiner Form mit dem letzten Jahrhundert oder irgendeiner anderen
geschichtlichen Epoche zu tun hatte. Ich dachte mit aller Kraft daran,
stellte mir mein Zimmer in allen Details vor, versuchte den Stoff des
Sofas an meinem Hintern zu spüren. Irgendwie war ich hierhin gelangt.
Ich musste also auch wieder herauskommen können.

Plötzlich unterbrach mich die Stimme der Bubikopffrau. „Ich glaube
die Dame dort will etwas von Ihnen. Sie scheint ziemlich ungehalten.“

Tatsächlich kam die Bäckerin langsam auf mich zugelaufen. Ihr Gesicht
war noch immer eine schreckliche Maske des Zorns, sie hatte ein langes
Brotmesser in der Hand und die anderen gelben Schattenwesen folgten ihr
wie ein unheiliges Wolsfrudel. Seltsamerweise eilte ihr der Geruch von
altem, vergilbtem Papier voraus. Ein Geruch, der mir aus irgendeinem
Grund sogar Übelkeit bereitete. Sie durften mich nicht berühren. Weder
die Frau noch die Schattenwesen. Ich mochte nicht viel wissen, aber das
wusste ich genau. Wenn ich in Kontakt mit diesen dicken, mehlbestäubten
Fingern oder den Konturen dieser gelben Schatten kommen würde, gäbe es
kein Zurück mehr.

Plötzlich kam mir glücklicherweise eine Idee. Das Kino. Kinos waren
das Tor zu einer anderen Welt. Eine Fluchtmöglichkeit heraus aus der
Realität und hinein in eine Welt der Bilder. Wäre es da nicht logisch
wenn es – wenn man sich erst einmal in einem Bild befand – auch
umgekehrt funktionierte?

Ich wandte mich an die Frau, die mir zuvor ja schon ein recht
eindeutiges Angebot gemacht hatte. „Sie haben mich doch vorhin zu ihrer
Vorstellung eingeladen.“ begann ich in möglichst höflichem Ton, während
die Bäckerin und ihre geisterhaften Begleiter ihre Distanz zu mir stetig
verringerten. „Könnten Sie mir vielleicht jetzt schon eine kleine
Kostprobe geben? Sie haben doch sicher Zutritt über einen Hinterausgang
oder so etwas in der Art.“

Die Frau sah mich zugleich empört, aber auch interessiert an. „Sie
ungehobelter Spitzbube.“, erwiderte sie mit spielerischem Spott. „Sie
können es wohl gar nicht erwarten. So eine Ungeduld steht einem
Gentleman nicht gut zu Gesicht.“ Sie schien einen Moment lang
nachzudenken, während die Bäckerin nur noch ein paar Meter von mir
entfernt war. Ihre Augen leuchteten orangerot und ich sah mit Schrecken,
wie zwei der Schatten auch von den beiden Kindern Besitz ergriffen,
deren Augen denselben Farbton annahmen. Auch sie bewegten sich nun auf
mich zu.

Trotz meiner Angst verkniff ich es mir, die Frau zu drängen. Mein
Gespür sagte mir, dass ich sie damit nur gegen mich aufbringen würde und
ich brauchte sie unbedingt um in das Kino zu kommen. Ohne Geld würde
man mich dort wohl kaum durch den Vordereingang gehen lassen. Trotzdem
hoffte ich, dass sie sich beeilen würde. Denn sobald sie einer der
Schatten erreichte, wäre es sicher zu spät. Endlich aber war ihre
Entscheidung gefallen. „Also gut, hübscher Mann.“, antwortete sie.
„Folgen sie mir!“

Erleichtert folgte ich ihr zum Hinterausgang des Gebäudes. Vorerst
ließen wir meine Verfolger hinter uns. Wenn auch nur, weil sie sich sehr
langsam bewegten. Warum das so war, wusste ich nicht. Aber ich kann
nicht behaupten, dass ich unglücklich darüber war.

Mit ruhiger Gelassenheit schloß die Frau die Hintertür des Gebäudes
auf, einer zerschlissene Holztür, die mitten in die Ziegelmauer
eingelassen war und auf der noch Plakatreste von verschiedenen
Veranstaltungen zu sehen war. Sie schien keine Angst vor diesen Wesen zu
haben. Oder aber sie nahm sie einfach nicht wahr. „Ich heiße übrigens
Helene.“ sagte sie zu mir als sie den Schlüssel ins Schloß steckte.
„Angenehm.“ erwiederte ich unruhig. „Mein Name ist Christian.“

Endlich öffnete sich die Tür knarrend und wir traten beide herein.
Der hintere Teil des Gebäudes wurde von nackten Glühbirnen erleuchtet,
deren Licht – wie jedes andere Licht hier – die Farbe von Sepia hatte.
Es roch nach Staub und Feuchtigkeit und ich fühlte mich hier kein
bisschen wohler als Draußen. „Kannst du die Tür von Innen abschließen,
Helene?“ Zu meiner Erleichterung nickte sie und schloss die Tür
tatsächlich ab. Ich hatte keine Ahnung, ob das die Schatten vom
Eindringen abhalten würde. Aber man durfte ja noch hoffen. „Ein bisschen
Privatsphäre kann ja nicht schaden.“ sagte Helene mit lasziver Stimme.
„Dennoch wird es Zeit, dass wir mit der Kostprobe beginnen.“

Eigentlich war es mir unangenehm eine Wildfremde einen erotischen
Tanz, oder einen Striptease oder sonst etwas in der Art aufführen zu
lassen. Ganz besonders, wenn ich sie nicht einmal bezahlen konnte. Aber
das konnte ich ihr kaum sagen, jetzt wo ich hier vorerst einigermaßen in
Sicherheit war. Außerdem mochte es ja durchaus eine interessante
Erfahrung werden, an die ich mich noch lange erinnern würde –
vorausgesetzt ich kam hier wieder lebend raus.

So oder so brauchte ich danach eine gute Ausrede um mich ins Kino zu
schleichen und meine Theorie zu überprüfen. Da mir aber gerade einfach
nichts überzeugendes einfallen wollte, sah ich stattdessen noch einmal
nervös zur Tür und lauschte angestrengt nach verdächtigen Geräuschen.
Aber weder materialisierten sich die gelben Schatten aus der Wand, noch
hörte ich die Schritte ihrer lebenden Marionetten oder sonst irgendeinen
Laut. Ich versuchte mich zu entspannen und sah wieder zu Helene
herüber.

Sie hatte ihre Sonnenbrille abgelegt. In ihren Augen brannte
orangerotes Feuer. „Ich hoffe, dir gefällt was du siehst.“ sagte sie mit
einer infernalisch düsteren Stimme und lachte dabei bösartig.

Ohne noch einen Moment länger zu warten rannte ich los und öffnete
die nächstbeste Tür, die ich fand. Wie durch ein Wunder führte sie mich
genau dorthin wo ich hinwollte: In den Vorführungsraum.

Was ich dort sah, ließ mich vor Freude weinen. Ich hatte Recht
gehabt. Ich sah mein Arbeitszimmer in jeder Einzelheit vor mir. Meine
Couch, meinen Schreibtisch mit dem Laptop und meinem Handy, meinen
Kleiderschrank, meinen Teppich, einfach alles. Und noch dazu nicht in
verdammten Sepia, sondern in den knalligen Farben, in denen ich meine
Wohnung eingerichtet hatte. Das musste der Weg nach Hause sein. Es
musste einfach so sein.

Wie die Kinder in Harry Potter rannte ich so schnell mich meine Beine
trugen auf die Leinwand zu. Ich achtete nicht auf die Umgebung, nicht
auf die düstere Stimme von Helene, sondern nur auf die Fläche die mein
Tor in eine andere Welt sein würde. In meine Welt.

Aber dieses Tor gab es nicht. Statt einen magischen Übergang in mein
Zuhause zu beschreiten, schlug ich mir nur die Nase blutig als ich mit
hohem Tempo mit der Leinwand und der Mauer dahinter kollidierte. Doch
schlimmer noch als mein zerbrochener Nasenknorpel schmerzte die
zerschmetterte Hoffnung. Benommen drehte ich mich um und sah Helene vor
mir, die mich mit ihren oragenen Augen ansah. Sie warf mir eine Kusshand
zu während sie mich schadenfroh angrinste.

Hinter ihr erblickte ich die gepolsterten Sitzreihen des Kinos. Sie
waren gefüllt mit Zuschauern. Männern, Frauen und Kindern mit
sepiafarbener Haut und orangeroten Augen. Und auf den leeren Sitzen
saßen die körperlosen gelben Schatten und grinsten mich an. Helene kam
mit tänzerischen Bewegungen näher, wobei ich wieder den starken Geruch
nach vergilbten Papier bemerkte. Einige der Zuschauer waren inzwischen
aufgestanden und hatten alle Ein- und Ausgänge blockiert.

„Es gibt keinen Weg hinaus.“ grollte das schattenhafte Höllenwesen,
das Helenes Körper steuerte. „Es gibt nur einen Weg hinein.“ Sie
streckte ihren Arm aus und kurz bevor Helenes Hand mich berühren und
mich auf ewig zu einem Gefangenen dieses Bildes und zu einem Spielzeug
der gelben Schatten machen würde, dachte ich nur daran, wie sehr ich die
Vergangenheit verabscheute.

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