ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
„Es ist ein Sorgenfresser!“, schallte Tante Hannis gehaltvolle Stimme durch den festlich dekorierten Raum. „Das haben jetzt alle Kinder! Siehst du? Du schreibst deine Sorgen auf ein Stückchen Papier und der Sorgenfresser frisst sie danach für dich auf!“
Bastian lächelte, wobei er das unförmige, quietschbunte Plüschmonster langsam in den Händen drehte.
„Wirklich, Hannelore… wo du so ein Zeug nur immer findest.“, lachte Bastians Mutter kopfschüttelnd. „Wie sagt man, Bastian?“
„Danke, Tante Hanni.“, erwiderte der Junge artig, was das runde Gesicht seiner Tante noch mehr zum Strahlen brachte.
„Davon gibt es eine ganze Kollektion!“, flötete sie verzückt. „Und alle haben lustige, süße Namen! Weißt du wie dein Monster heißt?“
Bastian schüttelte den Kopf. Sein Blick lag nach wie vor auf dem Plüschtier, das ihn aus seinen toten Glupschaugen verständnislos anglotzte.
„Flint!!“, verkündete Tante Hanni. Ihre ohnehin stets laute Stimme überschlug sich allmählich und Bastian fürchtete sich ein wenig davor, ihre anderen Geschenke auch noch auszupacken. Womöglich würde sie dabei vor lauter Freude der Schlag treffen.
„Ist der Junge nicht schon zu alt, um mit Plüschtieren zu spielen?“, meldete sich sein Vater brummend zu Wort.
„Er ist zehn geworden, Robert!“, fuhr ihm Tante Hanni allerdings sofort über den Mund. „Mit zehn Jahren darf man noch Kind sein! Aber ich erwarte nicht, dass du so etwas verstehst, du bist ja immerhin schon mit grau melierten Haaren zur Welt gekommen!“
Bastians Vater wandte schweigend den Blick ab. Er legte sich nie mit Tante Hanni an. Genau wie Bastian vertrat auch er die Meinung, dass man ihren Besuch am besten wie einen Wirbelsturm behandelte: man ließ ihn vorüberziehen und versuchte es einigermaßen unbeschadet zu überstehen.
Tante Hanni hat sich derweil bereits wieder in ihr Element gestürzt und ihrem Neffen das nächste Geschenk in die Hand gedrückt. Bastian öffnete es lächelnd, genau wie die folgenden fünf Päckchen. Er aß lächelnd von seinem Geburtstagskuchen und er posierte lächelnd für die Fotos, ohne die Tante Hanni das Haus selbst unter vorgehaltener Pistole nicht verlassen würde. Er lächelte, als er sich von Tante Hanni verabschiedete und er lächelte, als es Zeit fürs Bett wurde und er mitsamt seinen neuen Besitztümern auf sein Zimmer ging. Erst nachdem er die Türe hinter sich geschlossen hatte und die Stille des Raumes ihn in sich aufnahm, sackten die Mundwinkel des Jungen herab. Das bis dato so puppenhaft perfekte Gesicht des Jungen alterte durch diese kleine Bewegung auf beinahe erschreckende Weise. Das Gleiche galt für seinen Blick, deren dunkler Glanz eine Vielzahl bereits erlittener Lebenserfahrungen spiegelte. Die Maske ablegen. Vermutlich hätte Bastian es so genannt, wären sein Geist wie auch seine Gedanken schon etwas reifer gewesen. Für ihn war es einfach das so-zu-tun-als-ob-Gesicht.
Tu so, als ob du glücklich bist.
Tu so, als ob du dich freust.
Tu so, als wäre alles in Ordnung.
Bastian hat zwei dieser Gesichter. Eines für die Schule und eines für seine Eltern oder eben auch Tante Hanni. Beide waren genaugenommen eine Lüge, aber er wusste, dass der Alltag damit leichter wurde, folglich war es in Ordnung. Eine genehmigte Lüge, sozusagen.
Bedächtig begann der Junge seine neuen Spielsachen zu verstauen. Er ging sehr sorgsam mit seinen Sachen um. Noch nie hatte seine Mutter ihn anweisen müssen, sein Zimmer aufzuräumen. Alles darin hatte seinen Platz, von den Stofftieren bis hin zu den unzähligen Actionfiguren, die als geschlossene Armee ein ganzes Regal besiedelten. Bastian mochte Ordnung. Ordnung war wichtig. Ordnung war beruhigend. Ordnung machte es leichter, mit all den anderen Dingen im Leben fertig zu werden. Nach und nach fand jedes Geschenk seinen festen Platz im Gefüge des Zimmers. Was am Ende übrig blieb, war das unförmige Plüschtier mit dem klimpernden Reißverschlussmaul.
Bastian betrachtete die absonderlich bunte Kreatur zum wiederholten Mal mit einer Mischung aus Unschlüssigkeit wie auch Verwirrung.
Sorgenfresser.
So hatte Tante Hanni es genannt. Ein Monster das Sorgen fraß. Er zog den Reißverschluss auf und steckte zwei Finger in die Stoffalte des Mauls. Weich und flauschig. Kopfschüttelnd setzte er das Plüschtier auf die Kante seines Schreibtisches. Danach machte er sich bettfertig. Normalerweise sah er vor dem Einschlafen noch eine Weile an die Decke. Heute betrachtete er stattdessen die Silhouette des Sorgenfressers im Dunkeln. Man sollte seine Sorgen auf Papier schreiben und sie dem Sorgenfresser ins Maul stecken, hatte Tante Hanni gesagt. Bastian verstand nicht, was das bringen sollte.
Sorgen waren nichts, das man auf Papier schreiben konnte.
Sorgen waren nichts, das Monster fressen konnten.
Sorgen waren Monster!
So wie das Monster, das jetzt gerade zu ihm ins Bett kroch. Sein Name war „Die Angst vor dem morgigen Schultag“.
Eigentlich mochte Bastian die Schule, denn er lernte gern und viel. Was er nicht mochte waren die anderen Kinder.
Die, die ihn ausgrenzten, ohne ihm zu sagen warum.
Die, die in seinem Verhalten unverzeihliche Fehler entdeckten, ihm aber nie sagten, wie er diese Fehler korrigieren konnten.
Die, die ihn manchmal mit Blicken, manchmal mit Worten, manchmal mit Fäusten traktierten. Vor ihnen hatte Bastian Angst. Sie waren das Monster, das sich jetzt auf ihn legte und ihm das Atmen erschwerte. Erwachsene hätten diese Angst vermutlich als klamme Faust um das Herz oder einen kalten Schauer das Kreuz hinab beschrieben. Für Bastian aber war es ein Monster. Ein schnaufendes, kriechendes Monster, dessen unförmiger Körper sich erst schwerfällig sein Bett hocharbeitete, um sich danach wie eine Decke aus Blei auf ihn niederzusenken. Es besaß weder ein Gesicht noch Gliedmaßen, keine Zähne oder Krallen, keine glühenden Augen oder gar Hörner oder Zacken. Alles woraus es bestand, waren Münder. Endlos viele Münder, große wie auch kleine und alle davon konnten sich rüsselartig bis hin zu Bastians Ohren strecken, wo sie ihm unentwegt all die schlimmen Gedanke und Ängste zuflüsterten, die ihn manchmal bis tief in die Nacht wach hielten.
Welche Fehler würde er morgen im Umgang mit der unbarmherzigen Richterschaft seiner Klassenkameraden begehen?
Welches Wort oder welche Tat seinerseits, würde ihre Aufmerksamkeit auf ihn ziehen? Welche Strafen würden sie ihm morgen auferlegen, wenn er in dem Spiel, dessen Spielregeln ihm niemand jemals erklärt hatte, wieder versagte?
Auch in dieser Nacht lag Bastian noch lange wach und während das Monster ihm unentwegt mit seinen zahlreichen Mündern und seiner blubbernden Stimme ins Ohr flüsterte, sah er immer wieder aufs Neue zu der Silhouette auf seinem Schreibtisch.
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Der nächste Morgen gestaltete sich wie gewohnt. Bastian legte sein So-tun-als-ob-Gesicht für die Schule auf und verließ das Haus seiner Eltern. Der Schulweg war ironischerweise noch der angenehmste Teil des vor ihm liegenden Tages. Da sie sehr abseits wohnten, musste er erst ein langes Stück Feldweg hinter sich bringen, bevor er zur Hauptstraße gelangte. Die meisten Kinder hätten sich vermutlich beeilt diese unspektakuläre und auch ein wenig unheimliche Strecke durch die Felder hinter sich zu bringen. Bastian hingegen ließ sich Zeit, denn zur frühen Stunde gehörte der Feldweg ihm ganz alleine. Da war nichts außer dem Zirpen der Grillen, dem Zwitschern der Vögel sowie dem würzigen Geruch des angrenzenden Buschwerks. In diesen raren Momenten der Stille und inneren Ruhe, war die Welt in Ordnung. Zumindest fast. Denn auch jetzt war da ein Monster, das ihm unentwegt zuflüsterte.
Wie ein zweiter Rucksack klammerte es sich mit hornigen Krallen an ihm fest, kaum dass er über die Schwelle getreten war. Es war das nicht dasselbe Monster, das ihn in der Nacht quälte, doch es war ihm sehr ähnlich. Der Unterschied zu seinem kriechenden Artgenossen bestand allerdings darin, dass „Die Angst vor dem Schultag“ Bastian bei jedem geflüsterten Wort zusätzlich mit seinem langen, an einen Skorpion erinnernden Stachel traktierte.
Würden Sie ihn heute in Ruhe lassen?
STICH!
Würde er heute irgendetwas sagen oder tun, was in ihren Augen einen Fehler darstellte?
STICH!
Würden Sie heute wieder seine Schulsachen auf dem Boden verstreuen?
STICH!
Würden sie ihm heute wieder wehtun?
STICH!
Je mehr Stiche der blasse Junge kassierte, umso schwächer und kraftloser fühlte er sich. Je mehr Gift ihm der triefende Stachel unter die Haut jagte, umso schwerer wurden seine Schritte, umso mehr hingen seine Schultern, umso weiter sackte sein Kopf herab. Auf der Hälfte des Weges begann Bastian ernsthaft daran zu zweifeln, ob er erneut einen Tag auf dem Minenfeld, das die Schule für ihn darstellte, überstehen würde. Bald flossen die ersten Tränen und sie waren genauso bitter und brennend wie das Gift, welches das Monster ihm verabreichte. Irgendwann schließlich hob Bastian den Kopf und sah das Ende des Feldwegs. Ab dem Zeitpunkt wurde das Vorwärtskommen spontan wieder leichter. Der Griff des Monsters lockerte sich deutlich und als er die Schultern strafte, fiel es mit einem hässlichen Plumpsen von seinem Rücken herab. Das passierte immer sowie er sich dem Ende des Feldwegs näherte, keine Ahnung warum. Womöglich, weil jedes Monster nur einen begrenzten Machtkreis besaß. Vielleicht aber auch, weil „Die Angst vor dem Schultag“ fühlte, dass sein Opfer nunmehr das Revier seiner großen Brüder betrat.
Bastian schloss einen Moment lang die Augen, als er vom festgetretenen Feldweg auf den harten Asphalt trat. Ein kurzer Moment der Schwebe, mit einem Fuß noch zuhause, mit dem anderen bereits in der Schule. Ein Moment, der viel zu schnell vorüber ging und ihn tief ausatmen ließ. Jetzt… jetzt ging es wirklich los. Jetzt kamen die echten Sorgen. Die wahren Monster.
Der Junge öffnete die Augen und setzte seinen Weg fort. Bis zur Schule waren es noch knapp zehn Minuten Fußmarsch. Er begegnete nur wenigen Kindern, denn er bemühte sich immer sehr früh am Ziel anzukommen. Je früher er dort war, umso besser konnte er sich bis zum Stundenbeginn vor seinen Klassenkameraden verstecken. Mit der Zeit war er sehr gut darin gewesen sich zu verstecken, doch es war jeden Tag aufs Neue ein harter Kampf. Auch das war die Schuld eines Monsters. Schon jetzt konnte Bastian es sehen, denn es erwartete ihn jeden Tag beim Schultor. Es trug den Namen „Die Angst Aufmerksamkeit zu erregen“ und war eines der furchtbarsten Monster überhaupt. Es sah und hörte alles… allerdings nur das, was Bastian tat oder sagte.
Sowie er das Schulgelände betrat, behielt das Monster ihn genau im Auge. Das konnte es sehr gut, denn sein Körper bestand in erster Linie aus Augen. Glotzende Glubschaugen, in allen Größen, Formen und Farben, die jeden Schritt und jede Aktion von Bastian ganz genau beobachteten. Ob er nun auf die Toilette ging oder seinen Spint ausräumte, ob er den Pausenraum betrat oder einfach nur auf den Gängen unterwegs war, immer behielt das Monster ihn von der Decke aus im Fokus seiner triefenden Glubschaugen… und suchte Fehler.
Was genau das für Fehler waren, wusste Bastian nicht, obwohl er fast jeden Tag darüber nachdachte. Womöglich trat er mit dem falschen Fuß zuerst auf, wenn er den Gang betrat. Vielleicht öffnete er die Türe zur Toilette mit der falschen Hand. Vielleicht ging er zu langsam oder zu schnell wenn er das Klassenzimmer aufsuchte. Manchmal schien er alles richtig zu machen doch oft, viel zu oft leider, machte er einen Fehler und dann… dann verwandelten sich die bis dato nur glotzenden Glubschaugen auf einmal spontan in runde Mäuler, um wie Fabriksirenen loszuheulen. Es war ein Heulen, das man nicht mit den Ohren hörte, ein Heulen das man eigentlich gar nicht hörte und doch ließ die Reaktion darauf nie lange auf sich warten.
Wenn die Sirenen losheulten, musste Bastian sich auf einmal dafür verantworten, dass er jemand dumm angesehen oder im Weg gestanden hatte. Wenn er dann rasch den Blick senkte oder zur Seite trat, wurde er gefragt, warum er den Mund nicht aufbekam oder ob er womöglich zu blöd zum Sprechen sei. Manchmal wurde er geschubst, manchmal schmerzhaft fest gegen den Arm geboxt und oft, sehr oft leider, warfen sie seine Schulsachen zu Boden und beschuldigten ihn dann dafür einfach zu ungeschickt für die Schule zu sein. Einmal hatte ihm ein Mitschüler sogar eine ganze Packung Trinkkakao in die Tasche gegossen. Welcher schweren Fehler eine solche Strafe mit sich zog, wusste Bastian bis heute nicht, doch er musste ohne Zweifel sehr schlimm gewesen sein.
Früher hatte er noch versucht sich zu rechtfertigen, zu schlichten oder sich für den begangenen Fehler zu entschuldigen. Inzwischen wusste er allerdings, dass derartige Versuche nur alles noch schlimmer machten. Die Sirenenmäuler heulten dann nur umso lauter und der Zorn aufgrund seines fehlerhaften Verhaltens nahm an Intensität und Hitze zu. Die einzige Verteidigungstaktik die ihm blieb, war sämtliche Gegenwehr einzustellen und diesen Zustand so lange aufrecht zu erhalten, bis die anderen der Meinung war, dass sie ihn für seinen Fehltritt nun genug gestraft hatten. Oft dauerte es lange, bis dieser Moment eintrat und oft wurde er von Boxhieben oder auch einem Stoß zu Boden begleitet. Wenn Bastian Glück hatte, beendete ein Lehrer oder anderer Erwachsener die Strafmaßnahme. Seltsamerweise reagierten Erwachsene nicht auf das Heulen des Monsters, weshalb er sich in der Gegenwart von Lehrkräften stets noch am Sichersten fühlte. Vermutlich war er das einzige Kind in der Klasse, das Erleichterung verspürte wenn die Klingel den Unterricht einläutete und innerlich erschauderte wenn die Pause anbrach.
„Die Angst Aufmerksamkeit zu erregen“ war aber nicht das einzige Monster, das in der Schule lauerte. Tatsächlich gab es eine ganze Horde von ihnen und jedes davon präsentierte sich Bastian in seiner ganz eigenen Grausamkeit.
Abgesehen von seinem glotzenden Begleiter, gab es da zum Beispiel „Angst vor dem Sportunterreicht“. Ein gigantischer, schnaufender Berg aus schwitzendem Schleim, dessen widerlicher Körper stets in eine schwüle Wolke aus ranzigem Schweißgeruch gehüllt war. „Angst vor dem Sportunterricht“ holte Bastian bereits von der Klassentüre ab, um auf dem Weg zum Turnsaal mit heiserer Stimme all die furchtbaren Mannschaftsspiele aufzuzählen, die heute womöglich auf dem Plan standen. Am schlimmsten waren die Spiele, bei denen man gegnerische Spieler mit dem Ball „abschoss“. Bastian war schlecht im Ausweichen und wurde meistens als erster erwischt. Dass das unter Schülern ein schwerer Fehler war wusste er, dazu brauchte er die hektisch aufheulenden Sirenen gar nicht. Er sah es an den Blicken seiner Klassenkollegen und fühlte es angesichts der Kraft, die sie in den Wurf legten, wenn er wieder im Spiel war.
Immer in der Nähe des schwitzenden, gluckernden Riesen befand sich „Die Angst vor dem Bock“, ein kleines aber unglaublich böses Monster das fast zur Gänze aus einem breiten, grinsenden Maul bestand. Seine einzige Aufgabe bestand darin, Bastian vor jedem Sprungversuch mit seinem schrillen, wiehernden Lachen derartig zu entmutigen, dass er es auch nach dem dritten Versuch immer nicht schaffte, den hölzernen Bock zu überspringen. Unnötig zu sagen, dass jeder Misserfolg von lautem Sirenengeheul begleitet wurde, das die anderen Kinder dazu brachte in das spöttische Lachen des kleinen Monsters miteinzustimmen.
Weitere Monster in Bastians Schultag waren „Die Angst an die Tafel gerufen zu werden“ und „Die Angst vor der Klasse sprechen zu müssen“, ein hundsgemeines Brüderpaar das in gewisser Weise mit „Die Angst Aufmerksamkeit zu erregen“ verwandt war und Bastian bis auf den Grund seiner Seele durchleuchten konnte. Außerdem gab es noch „Die Angst vor der großen Pause“, „Die Angst davor, dass der Lehrer das Klassenzimmer verlässt“, „Die Angst auf der Toilette eingesperrt zu werden“ und noch etliche andere Bestien, denen Bastian sich Tag für Tag stellen musste. Jedes war auf seine ganz eigene Art abscheulich und jedes lud am Ende des Schultags ein kleines Stückchen von sich auf seinen Rücken, damit er auch auf dem Heimweg noch an sie dachte. Mit der Zeit wurden dieses Stücke immer größer und der zierliche Junge, der für sein Alter schon so unendlich stark sein musste, begann mehr und mehr unter ihrer Last zu wanken.
Der Weg nach Hause verschaffte kaum noch Erleichterung und es wurde immer mühsamer das so-tun-als-ob Gesicht aufrecht zu erhalten. Als Bastian an dem Tag nach Hause kam, war es nur der Unachtsamkeit seiner Eltern zu verdanken, dass sie sein graues, von bleierner Müdigkeit gezeichnetes Gesicht unter der immer schlechter sitzenden Maske nicht bemerkten. Nach dem üblichen, von oberflächlichen Floskeln begleiteten Begrüßungsgespräch – Wie war der Schultag, Schatz? – schlich er mit gesenktem Kopf in sein Zimmer.
Das Erste, was ihm dort sofort ins Auge stach, war der Sorgenfresser.
Seine Mutter hatte das quietschbunte Plüschtier aufs Bett gesetzt, von wo aus es Bastian jetzt mit seinem breiten Reißverschlussmaul und den toten Stoffaugen verstandlos anglotzte. Eine ganze Weile lang starrte der Junge das Ding vom Türrahmen aus einfach nur an.
Sorgenfresser.
Immer wieder wiederholte er das Wort in seinem Kopf.
Ein Monster das Sorgen fraß.
Sorgen… Monster… ein Monster das andere Monster fressen konnte.
Bastian hastete zu seinem Schreibtisch. Wahllos riss er einen Stift wie auch das nächstbeste Stück Papier an sich, um sofort wild drauf loszuschreiben. Innerhalb kürzester Zeit füllten sich etliche Blätter und je schneller der Stift über das Papier tanzte, umso schwerer und hektischer wurde der Atem des Jungen. Irgendwann packte er schließlich eine Handvoll Papier, um damit zu dem Sorgenfresser auf seinem Bett zu rennen. Das Gesicht glühend wie von Fieber, versuchte er die vollgeschriebenen Zettel in das plüschige Maul des Stofftiers zu stopfen. Doch egal was er auch tat, wie stark er das Papier auch faltete oder knüllte, nicht mal ein Bruchteil davon passte in den vermeintlich immer hungrigen Sorgenfresser. Letztendlich erklang ein hässliches „RAAATSCH“ und eine Naht am Maul gab unter der immer stärker werdenden Belastung nach. Entsetzt starrte Bastian auf den Riss, eine blutlose Wunde aus der eine Wolke aus reinweißen Watteinnereien quoll. In der einen Hand das zerknüllte Papier, in der anderen den zerstörten Sorgenfresser, sank er in der Mitte seines Zimmers zu Boden.
Er weinte leise.
Zu leise, als dass es jemand hätte hören können.
Niemand kam, um nach ihm zu sehen. Niemand kam, um ihm ein paar seiner Sorgen abzunehmen. Da war nur der Sorgenfresser mit seinen hervorquellenden Watteinnereien und dem immer noch leise klingelnden Reißverschlussmaul. Die Augen nass von heißen aber stummen Tränen, starrte Bastian das Plüschtier hasserfüllt an. Etwas an dessen stumpfsinnigen, seelenlosen Blick, ließ die Verzweiflung in ihm kalter Wut weichen.
Sorgenfresser.
Sorgenfresser fressen Sorgen.
Ja… er brauchte einen Sorgenfresser. Doch er brauchte einen Echten. Kein buntes Plüschtier mit weichem Stoffmaul und Reißverschlusszähnen. Er brauchte ein Monster, das groß und gefährlich genug war, um andere Monster zu fressen.
Bastian ließ das kaputte Stofftier achtlos fallen. Ruhig, fast besonnen, stand er auf und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Nach kurzer Suche fand er ein noch leeres Stück Papier. Er begann nachzudenken. Ein Sorgenfresser brauchte einen Namen, allerdings keinen so dummen Namen wie Flint, Ping oder Mary.
Mary… welches Monster würde sich schon vor einer Mary fürchten? Nein, ein echter Sorgenfresser brauchte einen echten Monsternamen. Einen furchtbaren Namen. Einen Namen, bei dessen Klang man bereits schauderte. Einen Namen wie-
Glourk
Das letzte Geräusch das man hörte, wenn man von dem Sorgenfresser verschlungen wurde und in seinen tiefschwarzen Magen hinabstürzte. Das gluckernde Geräusch seines immer hungrigen Bauches und der darin arbeitenden Eingeweide. Echter, mit Säure gefüllter Eingeweide, so wie er es aus seinem Biologiebuch kannte. Keine weiße, weiche Watte sondern echte Säure! Säure die Monster auflösen konnte.
„Glourk.“, wiederholte Bastian noch einmal leise.
Ja… das war ein guter Name. Er schrieb ihn ganz oben auf das Papier. Danach tippte er sich mit dem Stift nachdenklich gegen die Lippen.
Wie sollte Glourk aussehen? Was brauchte man, um ein echter Sorgenfresser zu sein? Er begann ein Maul zu zeichnen. Ein großes Maul, voll mit Zähnen. Vielen Zähnen. Mehrere Reihen von Zähnen, einer schärfer und spitzer als der andere. Zähne die sich drehen und rotieren konnten, so wie der Fleischwolf beim Metzger. Rotierende Fleischwolfzähne die Monsterfleisch zerfetzten wie Hamburgerhack. Was noch? Der Stift tanzte zaghaft über das Blatt.
Groß musste er sein. Riesig. Größer als alle anderen Monster aber zugleich dehnbar und elastisch wie Gummi, damit er auch in kleinere Räume gelangen konnte.
Ein Fell brauchte er, aber kein wuscheliges Plüschfell sondern hart und rau, mit darin versteckten Stacheln, mit denen er andere Monster aufspießen konnte.
Bastian begann mit den Füßen zu wippen während er zeichnete. Die Tränen auf seinen Wangen waren schon fast völlig getrocknet.
Monster waren überall, also musste Glourk sehr gut sehen können. Er brauchte Augen. Eine ganze Menge davon. Vorne aber auch im Rücken und auf den Schultern, damit ihm nur ja nichts entging. Und riechen! Glourk musste gut riechen können denn womöglich versteckten die Monster sich ja, wenn sie ihn kommen sahen. Am besten eine Rüsselnase, so wie ein Elefant. Elefanten konnten sehr gut riechen. Gleich mehrere davon. Drei Stück. Drei lange, bewegliche Rüsselnasen!
Und natürlich Ohren. Glourk brauchte Ohren. Scharfe Ohren, mit denen er jede Bewegung der anderen Monster orten konnte. Am besten am ganzen Körper, verborgen im rauen, stacheligen Fell.
Bastian lehnte sich kurz zurück, um sein bisheriges Werk zu betrachten.
Ein großes Maul.
Viele Zähne.
Viele Augen.
Viele Ohren.
Drei Nasen denen nichts entging.
Jetzt konnte Glourk Monster töten doch er musste sie auch jagen können. Die Miene des Stifts senkte sich wieder auf das Papier.
Glourk brauchte Hände. Zwei große Hände mit denen er die Monster festhalten konnte. Zwei große Hände mit großen, gebogenen Hakenkrallen, um auch die glitschigeren Exemplare sicher festhalten zu können. Aber reichten zwei Hände da wirklich aus?
Bastian kratzte sich mit dem Stift an der Nase.
Vielleicht ein paar Lassos? Wie bei den Cowboys? Er lächelte freudig. Ja, Lassos waren eine gute Idee! Lange, bewegliche Lassos die aus Glourks Rücken herauswuchsen und jedes Monster fingen, das vor ihnen zu fliehen versuchte. Am besten noch klebrig, wie bei manchen Venusfliegenfallen. Lange, klebrig Lassos, um flüchtenden Monster jede Chance zu nehmen.
Doch halt! Wie bewegte sich Glourk denn eigentlich fort? Er musste schnell sein, um all die anderen Monster zu erwischen! Der Stift tanzte wieder. Er brauchte Beine. Viele Beine. Kleine, schnelle Beine, am besten wie die Tausendfüssler, die Bastian oft draußen in den Feldern fand. Vielleicht auch einen Stachel, so wie Bienen oder Wespen? Was, wenn er sich unsichtbar machen konnte, so wie ein Chamäleon?
Eine Idee nach der anderen blitzte in Bastians Geist auf und als sein Vater im Laufe des Abends routiniert an der Zimmertüre lauschte, hörte er seinen Sohn zum ersten Mal seit langem fröhlich vor sich hin summen und kichern.
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„Bastian, bist du schon wach?!“, tönte wie jeden Morgen der Weckruf seiner Mutter durchs Haus.
„Ja, Mama!“, antwortete er, wie immer bereits wachliegend in Erwartung auf das kleine Morgenritual.
„Dann komm frühstücken!“
„Komme!“ Bastians Stimme besaß an diesem Morgen einen fröhlichen, beinahe schon lachenden Unterton. Routiniert machte er vor dem Frühstück sein Bett, denn nach wie vor war sorgsame Ordnung wichtig. Während er das Laken mit einer Präzision glatt strich, die jedes Hausmädchen vor Neid hätte erblassen lassen, betrachtete er die über den gesamten Boden verteilten Überreste von „Die Angst vor dem morgigen Schultag“. Wie eine aufgeplatzte Ballonhülle lag es da, eine zerfetzte, matschige Lache aus Widerlichkeit, auf der noch vereinzelte, zu einem lautlosen Schreien geöffnete Münder schwammen. Groteske Seerosen auf einem schleimigen See, der einmal eine von Bastians Sorgen dargestellt hatte.
„Bastian?!“
„Komme schon, Mama!“ Immer noch lächelnd wandte der sich von dem toten Monster ab. Heute hatte er zum ersten Mal seit langem wieder richtig Appetit aufs Frühstück.
Bevor Bastian an dem Tag das Haus verließ, gab er seiner Mutter einen Kuss sowie ein warmes Lächeln zum Abschied. Es war ein echtes Lächeln, das rein gar nichts mit dem so-tun-als-ob-Gesicht zu tun hatte. Tatsächlich, hatte er es heute gar nicht erst aufgesetzt. Er spürte, dass er es nicht brauchen würde. Er war schon an der Türe, da kam sein Vater die Treppe herabschlurft. In einer Hand hielt er den kaputten Sorgenfresser.
„Hat ja nicht lange gehalten, das Teil.“, meinte er. Die Genugtuung war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören.
„Ach herrje, Bastian! Dein Sorgenfresser… der ist ja völlig kaputt!“ Bastians Mutter klang bestürzt. „Soll ich versuchen ihn zu nähen?“
„Nein, Danke.“, sagte Bastian jedoch nur lächelnd, während er durch die Türe schlüpfte. „Ich hab jetzt einen Echten.“
„Hast du ihm etwa noch so ein Ding gekauft?“, fragte Robert, nachdem sein Sohn verschwunden war.
„Natürlich nicht!“ Seine Frau betrachtete das kaputte Plüschtier kritisch. „So einen Kitsch kauft nur Hannelore.“
„Wenigstens diesbezüglich sind wir uns einig.“ Er schlurfte in die Küche. „Ach übrigens, ich hab im Zimmer des Jungen mal die Fenster geöffnet. Es stinkt, als wäre etwas darin krepiert…“
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Bastian schlenderte entspannt den Feldweg entlang. Die noch zaghafte aber schon warme Morgensonne schien ihm angenehm ins Gesicht und er genoss das rhythmische Knirschen kleiner Kieselsteine unter den Schuhsohlen. Das Lächeln, das er seiner Mutter geschenkt hatte zierte immer noch seine Lippen, genährt von den feucht-reißenden Geräuschen hinter seinem Rücken.
Er hörte, wie Gluork „Der Angst vor dem Schultag“ den zuckenden Skorpionstachel ausriss und ihn verschluckte, als wäre er ein leckeres Ingwerstäbchen. Er hörte das Knacken, als der Körper des garstigen Wespenwesens aufbrach, das feuchte Platschen, als sein Innerstes nach außen gekehrt wurde und er hörte das krosse Krachen, als Gluorks Fleischwolfzähne den Monsterkörper stückchenweise in den heißhungrigen Magen des Sorgenfressers beförderten. Übrig blieb nur die angenehme Stille des Morgens, die Bastian heute wirklich genießen konnte.
Am Schultor wartete wie jeden Tag bereits „Die Angst Aufmerksamkeit zu erregen“. Das quer über dem Torbogen hängende Monster schien zu spüren, dass sein Opfer heute gefährliche Verstärkung mitgebracht hatte, schaffte es aber nicht mehr sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Der nach wie vor hungrige Gluork pflückte es wie eine reife Birne bevor es auch nur einen Zentimeter fortkriechen konnte. Bastian sah, wie das stets so unbarmherzige Monster sich nun panisch im Griff des ebenso unbarmherzigen Sorgenfressers wand. Es blinzelte hektisch mit seinen von nackter Angst erfüllten Augen. Doch es gab kein Entrinnen. Was sich einmal in den riesigen Pranken von Gluork befand, verließ sie nicht mehr. Zumindest nicht in einem Stück.
Einen kleinen aber furchtbaren Augenblick lang befürchtete Bastian, seine schlimmste Nemesis könnte die anderen Kinder mit seinem lautlosen Sirenengeheul alarmieren. Dann aber begann Gluork ein kritisches Glotzauge nach dem anderen aus dem weichen Monsterkörper zu reißen und die Angst verflog restlos. Lächelnd betrat der Junge, der sonst wie ein geprügelter Hund über das Gelände schlich, festen Schritts das Gebäude während Gluork die Augen des boshaften Wächters verschlang, als wären es süßeste Weintrauben.
An diesem Tag fand in der Schule ein wahres Monstermassaker statt.
Das gemeine Brüderpaar „Die Angst an die Tafel gerufen zu werden“ und „Die Angst vor der Klasse sprechen zu müssen“, wurden über die gesamte Schultafel hinweg verteilt. Gluork wischte sprichwörtlich mit ihnen den Boden auf, derweil Bastian an der Tafel eine Rechenaufgabe löste und dabei nicht ein einziges Mal rot wurde.
„Die Angst vor dem Turnunterricht“ versuchte trotz seiner Masse zu fliehen, wurde von Gluork aber wie ein Rugbyspieler gerammt und mit einem dumpfen, ekligen Platschen zur Seite geworfen. Der ranzige Schleim des Monsters klatschte in dicken Brocken an die angrenzenden Spindtüren während Gluork den schwabbeligen Körper mit seinen langen Hakenkrallen regelgerecht tranchierte.
„Die Angst vor dem Bock“ war hingegen gerade mal ein Appetithäppchen für den immer hungrigen Sorgenfresser. Das endlos Spott und Hohn verbreitende Biest schaffte es nicht mal mehr Atem zu holen, da hatte Gluork es schon mit seinen Rückenlassos gefangen und in einem Stück in seinen Fleischwolfrachen geworfen.
Der Rest des Schultags verlief nach demselben Schema. Ein Monster nach dem anderen starb… und Bastians Lächeln wurde breiter.
Kurz vor der letzten Unterrichtsstunde, schritt er langsam durch die Schulgänge. Die meisten Kinder waren schon in den Klassenzimmern, doch es war nicht die damit verbundene Ruhe die ihm Freude bereitet. Es war die Ruhe in seinem Herzen. Da war kein einziges Monster mehr.
Gluork hatte alle zur Strecke gebracht. Er hatte sie zerfetzt, zerbrochen, zerstampft, zerdrückt, aufgelöst und zerquetscht. Nichts war übrig geblieben.
Die Sorgen waren endlich fort.
Bastian atmete erleichtert aus. Er fühlte sich so leicht… so befreit… als wäre ein riesiger Felsblock von seinem Schultern herabgefallen. Er schloss zufrieden die Augen.
Da hörte er auf einmal das Sirenengeheul.
Erschrocken riss er den Blick zur Decke, aber da war kein Monster. Wie sollte es auch? Gluork hatte es vor seinen Augen gefressen! Trotzdem war da plötzlich wieder dieses lautlose Sirenengeheul, das Bastian wie an einer Schnur mit sich zog. Nervös trat er um eine Ecke. Was er dort sah, verwirrte ihn gleichermaßen wie es ihn bestürzte.
Da war Marlene Kubic, eine Schülerin aus der Parallelklasse und etwa so alt wie Bastian. Genau wie er machte auch sie sehr oft Fehler, denn auch sie wurde Tag für Tag von ihren Mitschülern bestraft. Womöglich lag es an der dicken Brille die sie trug. Oder daran, dass sie etwas dicker war, als die meisten anderen Kinder. Bastian konnte nicht sagen, was ihre Fehler waren, zumal er bisher zu sehr mit seinen eigenen Monstern beschäftigt gewesen war, um wirklich auf sie zu achten. Drei Jungen standen um das Mädchen, die sich unter glucksendem Gelächter Marlenes Brille gegenseitig zu warfen. Marlene selbst, versuchte verzweifelt ihre Brille zurückzubekommen, das pausbäckige Gesicht vor Anstrengung bereits stark gerötet. Alles in allem ein größtenteils gewohntes Bild, das Bastian nicht zusagte, ihn unter normalen Umständen aber auch nicht allzu beunruhigt hätte. Heute jedoch, war etwas anders. Er benötigte einige Sekunden bis er es begriff, erschauderte danach aber unter der Macht der Erkenntnis wie unter einem kalten Regenguss.
Das Sirenengeheul, das er hörte, kam nicht von einem Monster.
Es kam von den drei Jungen selbst.
Noch während er mit dieser überaus überraschenden Feststellung kämpfte, stellte einer der Jungen Marlene ein Bein. Das Mädchen strauchelte kurz und ging mit einem dumpfen „UFF!“ bäuchlings zu Boden.
„Hu! Jetzt hat das Gebäude aber gewackelt!“, lachte der Rädelsführer. „Wir müssen aufpassen, sonst löst du am Ende noch ein Erdbeben aus, Fettlene!“
Der Junge lachte und Bastian erkannte unter seiner Stimme ganz deutlich das lautlose Sirenengeheul. Stirnrunzelnd betrachtete er den Mitschüler genauer. Er kannte ihn gut. Sein Name war Oliver Stein und mit seinen weißblonden Haaren und den hellgrauen Augen, gehörte er zu den schönsten wie auch beliebtesten Kindern in der Schule. Oliver hatte ihm unter anderem damals den Kakao in die Schultasche geschüttet und war auch immer einer der Ersten, wenn es darum ging, begangene Fehler zu bestrafen. Trotzdem hatte Bastian in ihm nie etwas andres als einen Mitschüler gesehen. Zumindest bis jetzt nicht.
Während Marlene leise weinend über den Boden kroch und dabei nach ihrer Brille tastete, fiel Olivers Blick zufällig auf Bastian. Zuerst war da nur der bekannte, feindselige Ausdruck, den die Kinder immer aufsetzten, wenn sie auf ihn aufmerksam wurden. Dann aber wanderte seine Aufmerksamkeit ein Stück weiter und auf einmal wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht des blonden Jungen. Die Brille, die er gerade noch so provozierend geschwenkt hatte, fiel ihm aus der Hand und ein großer, nasser Fleck begann sich auf seiner Hose abzuzeichnen. Jetzt bemerkten auch die anderen beiden Jungen, dass etwas nicht stimmte. Blinzelnd drehten sie die Köpfe und erstarrten. Bastian betrachtete stirnrunzelnd die weit aufgerissenen Augen seiner Mitschüler, ihre herabklappenden Münder, die Pfütze zu Olivers Füßen. Und da betriff er endlich.
„Ihr könnt Gluork sehen.“, sagte er leise. „Und Gluork kann euch sehen.“
Bastian legte erstaunt den Kopf schief während eine zuckende, schnaufende und sabbernde Bergwand aus Gier an ihm vorbeiwälzte, um sich auf die vor Entsetzen wie gelähmten Kinder zu stürzen. „Ihr… IHR SEID DIE MONSTER!“
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Einige Minuten später, hob Marlene zaghaft den Kopf. Jemand hielt ihr ihre Brille entgegen. Nach kurzem Zögern, befürchtete sie doch, das gemeine Spiel könnte von vorne losgehen, griff sie danach. Vor ihr stand ein blasser Junge, der ihr schwach zulächelte. Sie kannte ihn nicht, glaubte aber, dass er Bastian hieß.
„Keine Sorge.“, sagte er sanft zu ihr. „Die Monster sind weg.“
Marlene sah sich um. Oliver und die anderen beiden waren tatsächlich verschwunden. Etwas das zufrieden und doch immer noch sehr hungrig wirkte, sah stattdessen nun auf sie herab.
„Was ist das…?“, fragte sie stirnrunzelnd.
„Das ist Gluork.“, antwortete Bastian stolz. „Glurok ist mein Sorgenfresser!“
„Was tut ein Sorgenfresser?“
„Er frisst Monster.“
Marlene streckte eine Hand aus. So groß… so haarig… und so viele… so viele scharfe Zähne. War das da ein Fetzen von Olivers Sweatshirt? „Ich habe viele Sorgen.“, sagte das Mädchen mit bitterer Stimme. „Sehr… sehr viele Sorgen…. sehr viele Monster. Kann Gluork sie alle auffressen? Jede einzelne? Auch die… auch die bei mir zuhause?“
Bastian dachte nach. Schließlich nahm das Mädchen an der Hand. „Kommt mir. Wir machen dir einen eigenen Sorgenfresser.“
„Das wäre schön.“, murmelte Marlene. „Kann ich ihm einen Namen geben?“
„Hast du denn schon einen?“
Sie überlegte kurz, dann lächelte sie. „Squish!“