
Cháris
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Fortsetzung von:
Ein stiller Mond stand über dem Land und warf ein silbernes Licht über schlafende Zypressen. Das Gras stand grau unter einem Nachthimmel gleißender Sterne. Kein Wind ging. Das Rauschen der Welt war verstummt. Selbst die Farben schliefen. Es war Selenes Zeit. Die Mondgöttin entfaltete ihre Pracht am Firmament der Welt und das Land versank in ein andächtiges Nachtgebet. Ein Elysium für die schlaflosen Seelen.
Auf einem sanft abfallenden Hügel stand ein Schatten und blickte übers Land. Sein Blick suchte nichts Bestimmtes und seine unruhigen Augen fanden nichts, was in seiner Seele widerhallte. Er sah die Sternenpracht am Himmel nicht und das weise, silberne Leuchten Selenes versickerte in seinem tiefen Schwarz.
Der Schatten konnte die Nacht nicht genießen und er fand auch keinen Schlaf. Er wusste nicht einmal mehr, wann er zuletzt geschlafen hatte. Und er war so lange unterwegs gewesen, dass er längst vergessen hatte, wann er aufgebrochen war, woher er kam und wohin er wollte. Er hatte seinen Namen vergessen. Sein Spiegelbild und sogar seine Stimme, denn er hielt nie inne, um mit jemandem zu sprechen. Er musste stets voran. Etwas suchen, von dem er nicht wusste, was es war. In ihm nagte eine Rastlosigkeit. Eine Leere, die er beständig spürte und die ihn vorantrieb über die Wiesen und Hügel fremder, schweigender Länder. Durch Tage anderer Leute und durch Nächte, in denen er keinen Schlaf fand. Er war fern von allem. Fern von sich selbst. Er hatte keine Bilder mehr in sich von dem, was andere Glückseligkeit oder Friede nennen. Er war einfach da und versuchte herauszufinden, was in ihm leer war.
Und er fand keine Antworten im Duft der Zypressen. In dem Gefühl von Gras unter seinen Füßen. In den Sternen nicht, im Flug der Schwalben nicht. Sie flogen über das Land im Sommer und badeten in der Sonne, während er unter ihnen auf dem staubigen Boden mit schweren Beinen seiner Sehnsucht folgte. Schritt für Schritt voran. Er war ein Schatten. Vielleicht war er mal etwas anderes gewesen. Doch selbst wenn… dann hatte er es vergessen.
Und jetzt stand der Schatten auf dem Hügel unter den Sternen und schaute übers Land. Auf die silbergrauen Zypressen, die auch jetzt noch tiefschwarze Schatten warfen. Auf die Hügel und Berge am Horizont. Auf den Weg, der vor ihm lag. Wohin?… War das wichtig?
Der Schatten schloss die Augen und atmete ein. Die Luft war warm. Es schien Sommer zu sein. Ein Windhauch brachte den Duft von Kiefern und Baumharz mit sich. Er strich sanft über das Gesicht des Schattens, der diesen kurzen Moment genoss. Dann seufzte er und spürte, wie schwer seine Beine waren. Er musste tagelang gelaufen sein. Er wusste es nicht mehr. Er war durch Dörfer gekommen, wo man ihm Wasser anbot. Wo man ihm ein Lager anbot und ein Lächeln. Er hatte das Wasser genommen und war weitergezogen. Immer weiter. Und er war nirgendwo angekommen. Dieses Land war nie von Dionysos‘ Gefolge mit Wein und Freuden gesegnet worden. Das Land, durch das der Schatten wanderte, lag fern von allem unter dem Firmament, das Atlas mit unsagbaren Mühen stützte.
Jetzt überkam ihn Müdigkeit und er überlegte, ob er sich zum Schlafen hinlegen sollte. Seine Augen waren schwer. Er sank auf die Knie. Er war so erschöpft, dass er nicht einmal aufblickte, als er Schritte durch das Gras auf sich zukommen hörte. Der Schatten sah nur einen milden Lichtschein, den die Gestalt mit sich brachte.
Eine Hand legte sich auf seine Schultern. Sanft. Beinahe tröstend. Ein Gefühl, dass ebenso kurz wie schön war und durch ihn hindurchfloss, ehe es im Gras versickerte.
„Dein Schicksal dauert mich, mein Freund“, hörte der Schatten eine sanfte, wohlklingende Stimme leise sagen. „Die Welt ist still geworden. In ihr fehlt deine Stimme.“
Traurigkeit überkam den Schatten, als er die Worte des Fremden hörte. Eine tiefe, stille Traurigkeit. Ein schwarzes, stilles und unendlich tiefes Meer, in dem sich alles Leben verbirgt, damit es nicht gesehen wird. Die Traurigkeit füllte den Schatten aus und er sank auf dem Gras in sich zusammen und atmete heftig ein und aus.
„Wie lange ziehst du nun schon umher? Weißt du überhaupt noch, wonach du suchst?“, fragte die Gestalt und jedes Wort trieb Wellen neuer Traurigkeit durch den schwer atmenden, um Fassung ringenden Schatten, der auf Knien auf dem nächtlichen Boden lag.
Er schüttelte den Kopf. Nein, er wusste es nicht. Er wusste nicht einmal mehr, wer er war.
Er hörte weitere Schritte aus einer anderen Richtung auf sich zukommen. Sie blieben unweit von ihm stehen.
„Lethe hat ihn vergessen lassen“, sagte eine Stimme, die dem Schatten bekannt vorkam.
„Warum straft ihr die Seelen hier? Warum geleitet ihr sie nicht zu den Elysischen Feldern, wo sie in Frieden dem ewigen Frühling entgegenlächeln können?“, fragte die erste Stimme sanft.
„Verwechsle nicht Strafe mit Gnade!“, entgegnete die zweite Stimme. „Die Friedvollen dürfen das Land des ewigen Frühlings sehen. Die Friedleeren müssen den Frieden erst finden. Dann öffnet sich ihr Weg ins Elysium.“
„Wie soll er Frieden finden, wenn er nicht einmal mehr weiß, wer er ist?“, fragte die erste Stimme.
„Wie soll man Frieden finden, wenn man stets weiß, wer man ist? Was man getan hat… oder verloren? Wenn man immer voll ist von sich selbst“, entgegnete die zweite Stimme und lachte ein freundliches Lachen. „Man muss leer sein, um sich mit Neuem zu füllen. Und in ihm ist noch zuviel Schmerz. Ich habe ihm goldene Äpfel geboten. Eine Insel des Friedens und ein sanftes Meer. Doch er wählte wunde Füße und schwere Knochen.“ Die Schritte des zweiten Mannes entfernten sich. „Das Elysium ist sich selbst genug. Man geht nicht dorthin und bringt etwas mit… man geht dorthin, um erfüllt zu werden.“
Die erste Gestalt kniete sich neben den Schatten. Das sanfte Leuchten, das er bei sich trug, versprühte Wärme, Zuversicht und Frieden. Er holte etwas aus seinem Gewand hervor und nahm die Hand des Schattens. Seine Berührung war liebevoll und fühlte sich gut an. Er legte einen Gegenstand in die Hand des Schattens. Er spürte Holz.
„Wenn du leer sein musst, um dich mit Friede zu füllen, dann fließe aus in die Welt, mein Freund. Aber vergiß dabei nicht, wer du bist! Dir wohnt ein Zauber inne, der die Macht zu Gutem und Schlechtem hat. Die Welt ist verlassen von dir. Du bist verlassen von dir. Finde deine Tränen wieder und dann trockne sie! Die Vögel über dir, die dem Frühling entgegenfliegen, kennen ihre Wege und sie gehen sie mit Vertrauen darin, dass alles seine Richtigkeit hat. Finde auch du Vertrauen darin, dass alles einen Sinn hat!“
Das Leuchten verblasste und der Schatten blieb allein zurück. Er kniete weiter auf dem Hügel. In seiner Hand spürte er den Gegenstand, den der geheimnisvolle Fremde ihm hineingelegt hatte. Der Schatten stand auf und betrachtete ihn. Es kam ihm vertraut vor, doch er hatte vergessen, was es war. Ein lauer Windstoß kam von den Zypressen herüber und streifte sein Gesicht, streichelte über sein Gewand und fuhr über den Gegenstand. Als der Windhauch ihn berührte, hörte der Schatten ein Geräusch. Einen Ton. Er schwebte um ihn herum und rührte tief in ihm ein Gefühl und eine Erinnerung an Farbe. Der Schatten schaute den Gegenstand an. Das geschwungene Holz, zwischen dessen Rahmen Saiten gespannt waren. Seine Finger bewegten sich über sie und der Schatten schloss die Augen und genoss die Töne, als er die Lyra anschlug. Bilder, Gefühle und Erinnerungen durchströmten ihn. Er atmete tief ein. Und so, als hätte er nie etwas anderes getan, stand Orpheus unter dem Sternenhimmel im Land der Schatten und sang seine Traurigkeit und seine Sehnsucht in die Nacht. Nicht weit von ihm entfernt stand Apollon im Schatten einer Zypresse und lauschte dem Gesang Orpheus‘. Wie lange schon hatte er ihn vermisst? Es hatte funktioniert. Als er ihm die Lyra wiedergegeben hatte, kamen seine Erinnerungen an sich selbst zurück. Orpheus‘ Gesang flutete in die Nacht und Selene und Apollon standen Tränen in den Augen.
Hypnos trat aus dem Schatten einer Zypresse auf Apollon zu. Auch er lauschte Orpheus‘ Gesang mit geschlossenen Augen und wiegte den Kopf.
„Sein Gesang erinnert mich an die Zeiten, als ich noch durch die Welten zog, um träumen zu lernen“, sagte Hypnos leise. „Die Welt war so groß und hinter jeder Biegung lag etwas Neues zu entdecken. Heute kenne ich jeden Stein, jedes Eichhörnchen im Baum. Alles, was mir bleibt, um Neues zu entdecken, ist meine Vorstellung.“
„Wie unendlich groß sind die Universen in unserem Kopf…“ Apollon klang sanft und freundlich. Er war ein großer, schlanker Mann mit einem hübschen Gesicht, blauen Augen und hellem Haar. „Beinahe beneide ich dich darum.“ Er lachte.
Orpheus stand auf dem Hügel und sang sein wunderschönes, trauriges Lied voller Schmerz und Sehnsucht.
„Wozu braucht einer der Olympier Orpheus‘ Lieder? Habt ihr nicht schon alles? Warum lasst ihr ihn nicht Frieden finden?“, wollte Hypnos wissen.
„Frieden?“ Apollon schnaubte verächtlich. „Das nennst du Frieden finden? Ein gebrochener Mensch, der sich selbst vergisst und voller Sehnsucht durch diese stillen Lande zieht? Erlösung stelle ich mir anders vor. Jetzt, wo Orpheus seine Erinnerungen wieder hat, kann er gehen und Erlösung finden.“
„Erlösung heißt loslassen, Apollon“, entgegnete Hypnos. „Jetzt, wo Orpheus weiß, wer er ist, wird er sich erinnern, warum er hergekommen ist.“
„Wir werden sehen.“ Apollon trat in den Schatten einer Zypresse zurück und verschwand. Hypnos blieb. Er setzte sich auf den Boden, lehnte sich an den Stamm einer Zypresse, sah in den Nachthimmel und lauschte Orpheus‘ Gesang.
„Selene“, flüsterte er. „Silberblume. Du verzierst jede Nacht mit einer Schönheit, die einer Göttin würdig ist. Wer deiner ansichtig wird, wünschte sich, die Zeit würde nie vergehen, damit er dich ewig betrachten kann.“ Hypnos seufzte. „Kein Traum und keine Illusion der Welt kann deiner Anmut und Tiefe nahekommen. Hörst du Orpheus‘ Gesang? Sein Lied ist meine Sehnsucht nach dir.“ Die Sterne am Himmel funkelten still und der Mond warf sein unergründliches Licht aufs Land. Hypnos schloss die Augen und träumte sich mit Orpheus‘ Gesang fort.
Orpheus sang und spielte seine Lyra, bis der Morgen graute und die Sterne langsam verblassten. Als die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont krochen, beendete er sein Lied. Er fühlte sich befreit und leicht. Als wäre eine große Last von ihm abgefallen. Wie lange schon hatte er nicht mehr gesprochen oder gesungen? Wie lange hatte er vergessen, wer er war? Und wie lange schon hatte er seine Lyra nicht mehr gespielt? Es schien ihm eine Ewigkeit gewesen zu sein, in der er rastlos und getrieben von… von… ja, wovon? Sehnsucht? Schmerz? Was hatte ihn vorangetrieben? Er erinnerte sich vage an Jahre voller dunkler Höhlen. An Schatten, die an ihm vorübergezogen waren und ihn mit leeren, stummen Gesichtern angeschaut hatten. Er erinnerte sich an Abenteuer. Monster, fremde Völkern und stille Dörfer in Tälern, in denen ein dichter Morgennebel lag. Kalter Rauch stieg aus den Kaminen in den Himmel und er durchquerte so viele von ihnen, ohne sich an ihre Namen zu erinnern. Er war auf der Flucht vor sich selbst. Und niemand konnte ihm helfen, seinen Verfolger abzuschütteln. Er floh vor… Ein vages Gefühl nagte an ihm. Er floh nicht. Nicht ganz am Anfang. Er war auf der Suche gewesen… wonach?
Orpheus legte sich ins Gras und schaute in den Himmel. Es schien ein guter Tag zu werden. Der Himmel war blau und einige Schwalben flogen schon jetzt hoch durch den Äther. Einzelne Schäfchenwolken sprenkelten das Blau. Orpheus genoss das Gefühl von Gras unter sich und wurde schläfrig. Der junge Mann schloss die Augen und schlief so schnell ein, dass er nicht mehr hörte, wie über die Wiese Hypnos auf ihn zukam, eine Mohnblume aus seinem Blumenkranz nahm und einen golden schimmernden Staub daraus vorsichtig auf Orpheus‘ Gesicht streute. Orpheus lächelte. Hypnos hatte ihm einen guten Traum geschenkt. Und so schlief der Sänger, den selbst Apollon liebte, das erste Mal seit vielen Jahren wieder ruhig und tief.
Als er aufwachte, saß Hypnos noch neben ihm und schaute verträumt in die Ferne. Orpheus fühlte sich stark und ausgeruht. Er hatte schon lange nicht mehr so gut und tief geschlafen und vor allem hatte er einen schönen Traum. Es tat gut, sich wieder zu erinnern, auch wenn er immer noch nicht wusste, warum er hergekommen war. Neben ihm im Gras lag seine Lyra. Der junge Sänger nahm sie, streichelte über das Holz und lächelte. Hypnose reichte ihm einen Kelch voll erfrischendem, kaltem Wasser und einen Teller Früchte, die Orpheus sich schmecken ließ.
„Ich erinnere mich an dich“, sagte er mit vollem Mund. „Wir haben uns schon öfter getroffen. Du bist Hypnos. Der Gott der Träume.“
Hypnos nickte.
„Hast du mir die Lyra gegeben? Mir war, als hätte ich zwei Stimmen gehört“, fragte Orpheus den Gott.
„Ich war es nicht. Ich habe nicht die Macht dazu.“ Hypnos klang nachdenklich. „Es war Apollon selbst. Er gab sie dir beim ersten Mal und er gab sie dir gestern.“
„Beim ersten Mal?“ Irgendetwas nagte in Orpheus. „Wo?“
„Woran erinnerst du dich, Orpheus?“, wollte Hypnos wissen.
„Ich war auf der Suche nach etwas. Nach… jemandem…“ Die Erinnerung traf ihn wie ein Schlag. „Eurydike. Ich wollte sie finden. Sie war fort. Und ich wanderte durch die Welt auf der Suche nach ihr. Ich… du… da war eine Lichtung. Eine Wiese am Meer. Darauf stand ein goldener Thron und du warst da. Warum du? Sollte ich nicht die Götter der Toten finden, dass sie Eurydike zurückgeben?“
Hypnos spürte Traurigkeit in sich. Er ahnte, was jetzt passieren würde. Er war zwar ein Gott, aber er war nicht herzlos und das Schicksal des jungen Mannes lag ihm am Herzen. „Orpheus… du hast sie gefunden. So oft. Du bist in die Unterwelt gestiegen, um sie zu suchen. Alles, was du gefunden hast, war ein Schatten. Ein Schatten, der dich längst vergessen hat. Ein Schatten, der selbst nicht mehr weiß, wer er ist. Darum kamst du zu mir. Damit ich dir wenigstens eine Illusion von ihr gebe.“
„Doch das hast du nicht. Warum?“ Orpheus fühlte sich seltsam bedrückt.
„Illusionen sind nur Farbenspiele, mein Freund.“ Hypnos klang jetzt sanft und mitfühlend. „Sie fühlen sich gut an, sie klingen gut. Sie riechen und schmecken gut. Doch sie machen nicht satt. Ich kann dir ein Bild von Eurydike geben, doch sie wird in dir eine Leere hinterlassen, die sie nicht mit Liebe füllen kann. Wenn sie dich anlacht, wirst du nichts dabei empfinden. Sie wäre nur ein Spuk. Ein Trugbild. Wie ein flüchtiger Zauber. Ich kann dir nicht geben, was du suchst. Denn du suchst Liebe. Und ich vermag dir nur Liebe vorzugaukeln.“
„Dann bring mich zu den Lebenden zurück, Hypnos!“, sagte Orpheus niedergeschlagen.
„Dein Körper ist schon lange tot, junger Sänger. Du hast Gift getrunken, damit du die Unterwelt betreten kannst. Du kannst nicht mehr zurück, verstehst du?“
Orpheus war verzweifelt. Gerade hatte er sich noch so gut gefühlt. Er sprang auf. „Was…“, rief er verzweifelt. „Was bedeutet das? Dass ich auf ewig durch diese Lande ziehen muss? Ist das das gepriesene Land der Glückseligen? Dieses Reich erdrückt mich mit seiner Stille. Ich kann nicht atmen hier.“
„Du kannst die Wege ins Elysium nur finden, wenn du es schaffst loszulassen. Du musst Frieden finden. Deinen Schmerz kannst du dorthin nicht mitnehmen. Er muss hierbleiben.“ Hypnos lächelte Orpheus an.
„Ich werde gehen und sie finden und ich werde mich von ihr verabschieden und sie dann gehen lassen.“ Orpheus war aufgewühlt.
„Wenn du sie findest, wird sie sich nicht an dich erinnern, mein Freund. Es wird dir nichts als Schmerz bringen.“
„Schmerz fühle ich genug.“ Orpheus war den Tränen nahe. „Ich muss einen Weg finden, meinen Schmerz loszulassen. Ich muss Eurydike finden und sie gehen lassen.
Orpheus nahm seine Lyra und stürmte den Hügel hinunter.
Hypnos sah ihm nach und fühlte sich traurig. Wie gerne hätte er Orpheus das erspart. Der Gott der Träume hörte Schritte hinter sich und wusste, wer dort kam.
„Er war dabei, alles zu vergessen, Apollon. Nun ist er dabei, alles zu erinnern.“
„Er war unglücklich und hat gelitten“, antwortete Apollon.
„Es ist schmerzhaft, etwas loszulassen, was man so viele Jahre mit sich genommen hat. Egal, wie schmerzhaft es war. Sich freizumachen von dem, was man war, und von dem, was man ist und erlebt hat… das ist ein langer und harter Weg. Was du als Schatten wahrnimmst, sind die Seelen, die einst auf den Elysischen Feldern den Frühling begrüßen.“ Hypnos wandte sich um und sah Apollon an. „Und Orpheus steht nun wieder ganz am Anfang der Reise.“
„Nein… du irrst dich. Dieses Mal hat er seine Lyra. Er muss nicht zu einem Schatten werden. Er wird Orpheus bleiben und Eurydike vergessen lernen.“ Apollon verschwand. Hypnos blieb zurück und sah Orpheus nach, bis er in der Ferne verschwunden war.
Und Orpheus suchte Eurydike in den Schatten der Bäume, in uralten Wäldern und in den leeren Fensterscheiben längst vergessener Dörfer. Er suchte sie im Wispern des Windes und in den Tränen der Menschen, die sich um ihn scharten und weinten, wenn er seine Lyra spielte und dazu sang. Er suchte sie an fremden Meeren stehend im Donnern der Brandung an mächtigen Felsklippen und in den Tänzen und Bräuchen fremder Kulturen, die ihm auf seinen Reisen begegneten. Er fand so viel dort, doch Eurydike fand er nicht.
Orpheus ging in die Höhlen und wanderte monatelang durch die Dunkelheit. Er kämpfte mit wilden Tieren und er suchte Eurydike in jedem Schatten, der wortlos an ihm vorüberzog auf seinem Weg ins Vergessen. Sein Verlangen nach Erlösung und seine Sehnsucht nach ihr trieben ihn voran. Er suchte sie im warmen Sommerregen und im weisen Leuchten der Sterne. Auf moosbewachsenen Baumstämmen sitzend, den Tag genießend und nach Regenbögen Ausschau haltend. Er fand so viel… doch Eurydike fand er nicht.
Und mit jedem Tag, an dem er sie nicht fand, wuchs der Schmerz, wurden seine Lieder wehmütiger, verzweifelter und trauriger.
Seine Suche dauerte Jahre. Rastlos wanderte Orpheus durch das Land der Toten und seine Füße wurden immer müder und die Last auf seinen Schultern immer schwerer. Er erinnerte sich dieses Mal daran, wer er war. Doch er schaffte es nicht, sie loszulassen und zu vergessen. Denn sie war der Grund, warum er in die Unterwelt gestiegen war. Sie war die Liebe seines Lebens und seine Verdammnis im Tod. Sie verdammte ihn zu einer ewigen Suche. Dazu, von ewiger Trauer und Sehnsucht getrieben zu sein. Orpheus zu sein.
Und überall, wo er hinkam, verzauberte er die Menschen mit seinen sehnsüchtigen Liedern.
Nach einer langen Zeit hörte er in der Ferne das Rauschen des Meeres und sah eine Wiese, die ihm sehr vertraut vorkam. Die Sonne schien und der Wald in der Ferne trug den würzigen Duft von Kiefern zu ihm. Auf der Wiese standen Mohnblumen und Kornblumen. Orpheus war müde von der langen Reise und wünschte sich nichts mehr als eine Rast.
In der Mitte der Wiese stand ein goldener Thron, der im Sonnenlicht funkelte. Ein Mann stand daneben und stützte sich auf ihm ab. Als Orpheus näherkam, sah er, dass der Mann ihn anlächelte. Es war Hypnos. Fast schon so etwas wie ein Freund.
Hypnos reichte Orpheus erfrischendes Wasser und süße Früchte. Er bot ihm sogar seinen Thron zum Ausruhen an. Der junge Mann genoss die Ruhepause, ließ sich die Früchte schmecken und sah hinaus aufs Meer.
„Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“, wollte Hypnos wissen.
Orpheus schüttelte den Kopf. Er hatte alles Mögliche gefunden, doch sie nicht. „Ich weiß nicht… diese Welt ist so groß. Sie könnte überall sein. Vielleicht sollte ich meine Suche aufgeben.“
„Könntest du das?“, fragte Hypnos.
Orpheus überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. „Nein, vermutlich nicht. Und wer weiß, wen ich finden würde, wenn ich sie fände.“
„Vielleicht ist sie längs auf den Elysischen Feldern“, sagte Hypnos.
„Elysium für schlaflose Seelen.“ Orpheus schaute gedankenverloren aufs Meer. „Ich möchte Frieden finden. Ich habe keine Kraft mehr in den Gliedern, Hypnos. Ich habe so lange getrauert und gesucht. Ich weiß kaum noch, wie ich mich ohne das gefühlt habe.“ Traurigkeit stieg in ihm hoch. „Ich möchte Frieden finden. Erlösung. Und ich möchte in den Himmel schauen, und den Kranichen hinterherschauen, die auf ihrem Weg in den ewigen Frühling die Welten durchfliegen. Und dann möchte ich feiern.“ Tränen standen Orpheus in den Augen. „Denn dann kommt die große Ruhe. Und über mir fliegen die Kraniche in den ewigen Frühling. Sie wissen Pfade und Stege. Sie kennen ihre Wege. Und dann werde ich meiner Seele sagen, dass sie sich nicht fürchten muss, denn alles wird sich fügen und kommen, wie es soll.“
„Mein Freund.“ Hypnos legte ihm tröstend die Hände auf die Schultern. „Deine Reise durch die Unterwelt dauert nun schon so lang. Erlösung bedeutet loslassen. Loslassen lernen.“ Er nahm dem schluchzenden Orpheus sanft die Lyra aus den Händen und legte sie beiseite. „Geh zu den Schatten, mein Freund! Und wenn du so weit bist, werde ich dich zu den Elysischen Feldern begleiten und dir süße Trauben reichen. Lass deine Lyra hier! Sie erinnert dich nur daran, wer du bist.“
Orpheus nickte und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Hypnos holte einen goldenen Stab hinter dem Thron vor und schlug ihn auf den Boden. Die Wiese war verschwunden. Orpheus und er standen im Zwielicht einer riesigen Höhle.
„Geh und suche Erlösung, Orpheus! Such Eurydike und such die Schatten! Folge deiner Sehnsucht! Viel Glück, mein Freund. Lerne, zu vergessen!“
Orpheus drehte sich zu Hypnos um, nickte ihm zu und ging ins Dunkel. Auf eine Suche nach dem Vergessen und einem Abschied von Eurydike. Er kämpfte sich viele Jahre lang durch tiefe Höhlen, dunkle Wälder voller Monstren und Länder voller Abenteuer. Und nach und nach vergaß er, wer er war. Er vergaß, warum er gekommen war und wonach er suchte. Er wurde zu einem Schatten. Getrieben von einem diffusen Gefühl von Sehnsucht und Bedauern. Er lernte loszulassen. Sich loszulassen und das loszulassen, was ihn vorantrieb.
Hypnos blieb noch in der Höhle stehen und sah Orpheus gedankenverloren nach.
„Du hast ihm die Lyra genommen und damit die Erinnerung an sich selbst“, sagte Apollon aus den Schatten und trat auf Hypnos zu.
„Ich habe ihm Gnade erwiesen“, antwortete Hypnos.
„Gnade?“, fragte Apollon ungläubig.
„Als du ihn fandest, hatte er sich beinahe selbst vergessen. Er war auf dem Weg, alle Lasten abzulegen. Dann gabst du ihm seine Lyra zurück und er hat sich erinnert. Nun wird er wieder gehen müssen und vergessen, was er sucht. Vergessen müssen, wer er war. Er wird nicht mehr wissen, wohin er will. Und irgendwann wird er alles abgelegt haben, was er war. Er wird eine reine Seele sein. Und dann werde ich mit ihm zu den Elysischen Feldern gehen. Du glaubst, Erlösung bedeutet, jemandem Schuldgefühle, Scham, Trauer oder Schmerz zu nehmen. Sie von allem Kranken und Schlechten zu befreien… Ich sage dir, die wahre Gnade, die man den Sehnsüchtigen erweisen kann, ist es, ihnen ein Vergessen zu schenken.“
„Also habe ich ihm, als ich ihm die Lyra zurückgab, nur wieder Jahre voller Erinnerung, Schmerz und Sehnsucht zugemutet?“ Apollon klang ernsthaft bedrückt.
„In ein paar hundert Jahren wird er sich daran nicht mehr erinnern.“ Hypnos lächelte. „Die Zeit heilt alle Wunden.“
Hypnos und Apollon verschwanden.
In der Ferne ging Orpheus in der Unterwelt auf die Suche nach dem Vergessen.