Vom Wert der Höflichkeit
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
In gewissen Kreisen nannte man ihn den “Baron des Schnees”, doch die meisten Menschen, die seine Bekanntschaft machen durften, kannten ihn unter dem Namen Aljosha Kuznezki.
Den Adelstitel verdiente der Russe sich im Laufe der Jahre durch ein stetig wachsendes, ausgeklügeltes Logistikunternehmen, das neben üblichen Handelswaren auch ein beliebtes, wenngleich teures, Alkaloid vertrieb, um die Nachfrage in den meisten Teilen der Welt zu befriedigen.
Nox‘ Blick glitt langsam über das riesige, künstlerisch ausgearbeitete Relief der Weltkarte, welches die ganze Rückwand des leeren Warteraumes einnahm. Kleine LEDs tauchten die Ballungszentren menschlicher Besiedelung in leuchtende Flecken.
Die Karte war unstimmig.
Auf dem afrikanischen Kontinent fiel es besonders auf.
Kairo und Alexandria leuchteten, genauso wie Lagos und Accra. Es fehlten Kinshasa, Luanda und Khartum, genauso wie Johannesburg und einige weitere Städte, deren Einwohnerzahl jenseits der vier Millionen-Grenze lag. Stattdessen leuchtete Kapstadt.
Auf den anderen Kontinenten entdeckte der Auftragsmörder weitere Unstimmigkeiten.
In Europa waren selbst kleinere Städte beleuchtet, deren Einwohnerzahl grade einmal die halbe Million ankratzten.
Er schmunzelte flüchtig.
Die Karte war nicht nach geographischen Gesichtspunkten erstellt worden. Sie stellte den Einflussbereich des Barons zur Schau. Ein kleines Licht für jedes Gebiet, das logistisch erschlossen worden war.
Die Botschaft, die dahintersteckte, war nur allzu deutlich.
Wer das Privileg erhielt, hier auf eine Audienz beim Baron zu warten, sollte sich einerseits der Größe des Mannes bewusstwerden, dem er in Kürze gegenübertreten würde. Andererseits verriet der Baron auch – mehr oder weniger ehrlich – in welche Gebiete er noch nicht vorgedrungen war.
Nox registrierte, dass die meisten Krisengebiete fehlten. Der nahe Osten fehlte gänzlich.
Ebenso unwegsame und klimatisch anspruchsvolle Gegenden, deren mangelnde Infrastruktur die Ausdehnung des Imperiums im Äquatorgürtel und an den Polen begrenzten.
Es lag eine unterschwellige Drohung in der Selbstauskunft, die der Baron mit dieser Karte auf seine Gäste ausübte. Wer hierher kam und die Botschaft zu lesen vermochte, wurde unmissverständlich daran erinnert, dass er Teil dieses Imperiums war. Ein kleines Rädchen in einem gut geschmierten System, das sich über den ganzen Globus erstreckte.
Gleichgültig wie klein der Beitrag zu diesem Unternehmen auch sein mochte, der Wartende wurde überdeutlich daran erinnert, dass er sich keine Fehler erlauben durfte, ansonsten würde ein anderes Rädchen seinen Platz einnehmen.
Der Baron schien eine faszinierende Persönlichkeit zu sein.
Nach außen wahrte er die Fassade des erfolgreichen Unternehmers und Familienvaters. Nox hatte recherchiert, dass seine Frau bereits zum dritten Male schwanger war.
Der jüngste Sohn würde in Kürze zwei Jahre alt werden, der Ältere war bereits sechzehn.
Schritte näherten sich im Flur. Jemand schlurfte in offenen Turnschuhen über teures Parkett.
Der Auftragsmörder wartete, bis sie hinter ihm verstummten, bevor er sich herumdrehte und sein Blick auf einen Teenager fiel, den er als Kuznezkies ältesten Sohn erkannte.
Dieser nuschelte ein gelangweiltes “Er empfängt Sie jetzt. Folgen Sie mir bitte!” und schlurfte umgehend wieder davon.
Offensichtlich hatten selbst Drogenbarone mit jenen Problemen zu kämpfen, welche der Geldsegen bei ihrem Nachwuchs verursachte. Der Killer gestattete sich ein dünnes Lächeln und schritt in gebührendem Abstand hinter dem Nenn-Prinzen her.
Der Weg war nicht lang und endete, wie der Flur, vor einer schweren, alten Flügeltür. Der Kuznezki-Spross öffnete Nox und bedeutete ihm mit einer Geste einzutreten.
Der Auftragsmörder musste den Kopf einziehen, um sich nicht die Stirn an der Türzarge zu stoßen, dennoch erfasste er das Büro des Barons auf einen Blick.
Der Raum war riesig und wirkte durch seine Größe beinahe leer. Die Wand zur Linken bestand aus einer kunstvollen Holzvertäfelung, die sicher mehrere Geheimnisse beherbergte. Geradeaus eine bodentiefe Fensterfront. Südlage, die Sonne blendete den Killer für einen kurzen Moment. Die rechte Seite wurde von einem protzigen Schreibtisch beherrscht, der geradezu klischeehaft nach Macht und Geld schrie und ebenso klischeehaft leer war, bis auf die üblichen Büro-Utensilien, die allerdings nicht so wirkten, als würden sie tatsächlich benutzt.
Ein dicker, dunkelblauer Teppich dämpfte seine Schritte.
Kuznezki selbst stand neben seinem Schreibtisch, dem Fenster zugewandt und die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Beim Geräusch der Tür wandte er sich würdevoll seinem Gast zu. Er war groß, obgleich Nox etwa einen Kopf größer war, und kräftig gebaut. Ein ehrliches Gesicht, dessen penibel getrimmter Bart die ersten Spuren Grau zeigte, war ihm zu eigen. Er hatte die Ausstrahlung eines erfolgreichen Geschäftsführers, dem der erwartete Hauch des Illegalen oder der Unseriosität gänzlich abging.
Kuznezki kam Nox entgegen und reichte ihm die Hand zu einem kräftigen Händedruck.
“Herr Wolf, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Haben Sie gut hergefunden?”
“Bestens, vielen Dank. Ich war einigermaßen überrascht, eine Einladung von Ihnen zu erhalten.”
“Tatsächlich?”, Kuznezki wirkte erstaunt, “Sie genießen einen ausgezeichneten Ruf, und ich bin immer interessiert, mit den Besten zusammenzuarbeiten. Setzen Sie sich doch!” Er machte eine einladende Geste und Nox folgte der Aufforderung, darauf bedacht, sich in dem Moment zu setzen, als sich auch der Baron auf seinem Sessel hinter dem Schreibtisch niederließ.
“Wie kann ich Ihnen behilflich sein?”, fragte der Auftragsmörder aufgeschlossen.
Kuznezki verschränkte die Hände und legte sie auf dem leeren Schreibtisch ab.
“Zunächst einmal möchte ich Ihnen eine Vorstellung davon geben, wie umfangreich eine Zusammenarbeit mit meinem Unternehmen ist”, begann er, “Für den Anfang habe ich nur einen kleinen Auftrag für Sie, nichts Weltbewegendes, mehr, um Ihre Referenzen einmal zu prüfen. Ich hoffe, Sie verstehen das nicht falsch, ich möchte Ihre Arbeitsweise erst einmal kennenlernen, und wenn ich mit Ihren Leistungen zufrieden bin, habe ich gleich mehrere Folgeaufträge für Sie, die Sie selbstständig organisieren und planen können.”
Nox gestattete sich ein dünnes Lächeln und nickte zustimmend.
“Sie haben keine Einwände gegen diese Vorgehensweise?”, hakte der Baron noch einmal nach.
“Im Gegenteil”, antwortete der Auftragsmörder, “Ich schätze dieses Maß an Professionalität sehr. Es wäre mir eine Ehre, Sie von den Qualitäten meiner Dienstleistungen persönlich zu überzeugen.”
“Fabelhaft”, strahlte Kuznezki, holte einen weißen Briefumschlag im DIN A4-Format aus einer Schublade und reichte ihn über den Tisch. “Hier finden Sie Ihren – ich nenne es mal – Referenzauftrag. Eigentlich handelt es sich nur um einen kleinen Fisch, viel zu unbedeutend, als dass ich mich selbst mit ihm befassen würde, aber bestens geeignet für ein erstes Kennenlernen. Mein Betriebsrat hat eine Liste für Sie zusammengestellt, falls einer weiteren Zusammenarbeit nichts im Wege steht. Aber dieses Subjekt ist gewissermaßen eilig.”
“Ihr Betriebsrat hat den Kandidaten vorgeschlagen?”, fragte Nox mit einem amüsierten Lächeln. Kuznezki lachte herzlich. “Der Name ist irreführend, ich weiß. Eigentlich trifft sich der Rat jeden Monat, um die schwarzen Schafe zu benennen und auszusortieren. Aber er entwickelt auch Strategien, damit sich solche Vorkommnisse nicht wiederholen. In meinem Unternehmen achten wir ebenso scharf auf die Qualität unserer Leistungen, wie es im Maschinenbau oder in der Automobilbranche üblich ist. Mitarbeiter, die nicht effizient sind, werden entlassen.”
“Sie führen ein Vorzeige-Unternehmen”, bestätigte Nox, der sich bereits den Inhalt des Briefes einprägte.
“Glauben Sie?”, Kuznezki zog eine Grimasse, als hätte er in eine Zitrone gebissen, “Wenn Sie wüssten”, stöhnte er künstlich und fuhr im Plauderton fort, “Vor drei Jahren wurde das Warenwirtschaftssystem auf SAP umgestellt. Der internationale Roll-Out hat uns ungeheuer viele Daten gekostet. Plötzlich konnten die verschiedenen Sparten nicht mehr auseinandergehalten werden. Ich musste kurzfristig einen Haufen Aushilfskräfte anheuern, damit falsch gelieferte Waren nicht auch noch in die falschen Hände fallen. Dabei habe ich mir einige zwielichtige Gestalten ins Boot geholt. Mein Betriebsrat sortiert immer noch. Die Dummen sind natürlich gleich aufgefallen, aber die Intelligenten fallen erst über die Zeit auf, wenn die Bilanzen am Jahresende nicht aufgehen, und bis der Papierkram die ganze Bürokratie durchlaufen hat, dauert es ewig”, er wurde wieder ernst, “Ich erhoffe mir, dass Ihr Engagement auch eine abschreckende Wirkung für Wiederholungstäter hat. Man kann es recht gut haben, als Angestellter in meinem Unternehmen. Es gibt jede Menge Perspektiven und Aufstiegsmöglichkeiten.”
“Sie würden einen Betrüger in Ihren Reihen dulden, wenn er sich eines Besseren besinnt?”, fragte Nox interessiert. Kuznezki sah ihn verschmitzt an.
“Wenn es ein Betrüger drei Jahre lang geschafft hat, nicht aufzufallen, und sich dann aus gegebenem Anlass entschließt, ehrlich zu werden, muss er so gut sein, dass ich nur von seinen Fähigkeiten profitieren kann. Auf die Zeit gerechnet würde er sich schnell wieder amortisieren, schon alleine, weil er durch sein schlechtes Gewissen und eine gehörige Portion Angst engagierter bei der Sache wäre.”
“Ihr Sinn für Menschlichkeit ist beeindruckend”, gestand Nox.
“Oh, Sie schmeicheln mir”, winkte der Baron ab, “Also was sagen Sie? Kommen wir ins Geschäft?”
Nox straffte unmerklich die Schultern, um noch etwas größer zu wirken, und legte den Brief auf dem Schreibtisch ab.
“Ihr Mitarbeiter wird innerhalb der nächsten vier Wochen einen Besuch von mir erhalten. Da es sich um einen Referenzauftrag handelt, biete ich Ihnen an, dieses Mal in Vorkasse zu gehen. Sie zahlen erst, wenn Sie mit der Qualität meiner Leistungen zufrieden sind. Alle folgenden Aufträge laufen nach den üblichen vertraglichen Konditionen, oder wir beschließen einen Langzeitvertrag.”
“Herr Wolf, ich bin hocherfreut!” Kuznezki strahlte über das ganze Gesicht und erhob sich, um den Auftragsmörder zu verabschieden.
“Nennen Sie mich Radek”, bot Nox an und reichte Kuznezki die Hand.
“Angenehm”, erwiderte der Baron und schlug ein. Dann meinte er überrascht: “Wollen Sie den Umschlag nicht mitnehmen?”
“Nicht nötig, ich habe mir den Inhalt eingeprägt.”
“Alle Achtung! Ich gestehe, dass ich sehr gespannt auf Ihre Expertise bin”, dann fiel er wieder in den lockeren Plauderton, “Bleiben Sie eigentlich noch länger in der Stadt? Sie sollten den Ratskeller besuchen. Der Koch bezieht sein Fleisch von einem regionalen Biobauernhof und die Weinkarte umfasst einige erstklassige Jahrgänge.”
“Ich bedaure”, lehnte Nox mit gespielter Enttäuschung ab, “Aber meine Planung sah vor, mich umgehend mit dem Auftrag zu befassen, sollte er zustande kommen.”
“Ich sehe, Sie sind ein Mann der Tat. Das gefällt mir. Kommen Sie doch nach Beendigung des Auftrags persönlich vorbei. Ich würde mich freuen, die Einzelheiten von Ihnen direkt zu erfahren.”
Sie hatten endlich die schwere Flügeltür erreicht. Dieses Mal öffnete Kuznezki Senior für den Auftragsmörder. Nox musste wieder den Kopf einziehen, als er in den Flur hinaustrat.
Kuznezki Junior wartete dort immer noch, vor Langeweile sterbend und genervt.
Der Baron bat seinen Sprössling, er solle Nox zu seinem Wagen begleiten, und man konnte sehen, wie der Teenager in Gedanken die Augen rollte. Er nuschelte ein: “Bitte folgen Sie mir” und setzte sich schlurfend mit seinen offenen Turnschuhen in Bewegung.
Der Killer folgte ihm in gebührendem Abstand.
Hinter ihnen wurde die Tür mit einem fast unhörbaren, väterlichen Seufzen geschlossen.
~
Der Wind pfiff kalt über das Flachdach und heulte in den Kaminschloten. Die Abgasrohre der Gasthermen sangen mit hohem Ton. Eine Handvoll grauer Wolken eilte über einen klaren, hohen Himmel, von unten orange durch die gerade aufgehende Sonne beleuchtet.
Nox betrachtete aus sicherer Entfernung sein Ziel, während er den Senkbesen, das charakteristische Werkzeug der Schornsteinfeger, in einen alten Kaminschlot gleiten ließ.
Der Gebäudekomplex, in dem der Klient wohnte, war ideal für die Tarnung des Killers. Es handelte sich um einen sanierungsbedürftigen Altbau, der in den Händen einer börsennotierten Aktiengesellschaft vergammelte und nur sehr widerwillig in Stand gehalten wurde, sodass die uralte Zentralheizung oft ihre Kalibrierung verlor und aufgrund falscher Einstellungen Ruß erzeugte. Ein Schornsteinfeger auf dem Dach war ein gewohnter Anblick für die Nachbarn und Nox brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass die Bewohner sich länger als gewöhnlich an seine Silhouette erinnerten. Der U-förmige Grundriss bildete einen Hof, welcher es ihm gestattete, von seiner Position auf dem linken Flügel in die Wohnung seines Klienten im obersten Stock auf der anderen Seite zu blicken.
Sein Ziel machte es ihm leichter, als er es sich gewünscht hätte. Der Klient, der anscheinend eine Abneigung gegen alle Arten von Jalousien oder Gardinen hegte – denn seine Fenster waren völlig kahl und damit gut einsehbar –, schlurfte soeben splitterfasernackt aus dem Schlafzimmer in das angrenzte Wohnzimmer. Kurze dunkle Haare, kahles Kinn, drahtige Statur und durchschnittliche Größe. Ein Allerwelts-Gesicht, ohne besondere Merkmale.
Hätte Nox ihn erschießen wollen, würde er jetzt den Abzug betätigen, aber er wollte dem Baron eine detailliertere Vorstellung seiner Fähigkeiten verschaffen.
Das Wohnzimmer der Single-Wohnung war auch gleichzeitig Küche und Flur zum Bad, welches sich im hinteren Teil befand. Der Killer erhaschte einen Blick auf eine Tätowierung, die jedoch aus der Ferne nur ein verschwommener Umriss blieb, bevor der junge Mann die Tür hinter sich zuzog. Er würde nun duschen gehen, sich rasieren, die Zähne putzen und in etwa fünfzehn bis zwanzig Minuten das Bad wieder verlassen, um sich einen Energy-Drink als Frühstück aus dem Kühlschrank zu holen.
Nox beobachtete ihn seit drei Wochen. Er kannte inzwischen den groben Alltag des Klienten, wusste, wann dieser mit seinem cremeweißen AMG Mercedes zur Arbeit fuhr und dass er die Mittagspause gerne überzog, um mit einer Verkäuferin in der Bäckerei zu flirten. Er begleitete den jungen Mann zum Treffen mit Freunden, die Fußball, Formel1 oder Wrestling sahen, und folgte ihm abends nach Hause, um ihm beim Schlafen zuzusehen.
Der Klient traf sich oft mit einem dunkelhaarigen, stark geschminkten Püppchen, brachte aber auch an zwei Tagen andere Damen heim, die nach Ablauf der Nacht wieder verschwanden.
Der grobe Tagesablauf war immer ähnlich und das kam dem Killer gelegen.
Nox holte das Seil wieder ein, das den Senkbesen nach oben beförderte und versetzte sich innerlich in einen Zustand kontrollierter Erregung. Sein Körper reagierte mit der Freisetzung von Adrenalin, beschleunigtem Herzschlag, erhöhter Sauerstoffaufnahme.
Jetzt war er bereit für die Auseinandersetzung.
Sein Zeitfenster brach in wenigen Minuten an, wenn die Sonne ein kleines Stück höher gestiegen war und sich in den Fenstern spiegelte, sodass neugierige Blicke nicht mehr in die Wohnung des Klienten dringen konnten. Es war knapp bemessen und durchaus riskant, doch die Charakteristik des Gebäudekomplexes spielte ihm in die Hände. Die Flügel des U-förmigen Gebäudes waren kürzer als die Grundfläche, deren Öffnung nach Südosten zeigte.
Als die Sonne während der ersten Observation die Fenster in gleißende Helligkeit tauchte, war dem Killer sofort klar gewesen, dass er dies für seine Zwecke nutzen konnte. Er hätte den Auftrag schneller und weniger elegant erledigen können, doch er fühlte sich durch den Baron herausgefordert. Referenzen waren eine komplizierte Angelegenheit.
Neben der Treppenhaustür wartete ein ungewöhnlich großer Werkzeugkoffer auf Nox, darauf lagen ein Henkelmann und eine kleinere Umhängetasche für Zubehör.
Der Killer packte seine Ausrüstung und tauchte aus dem hellen Morgen in das düstere Zwielicht des Treppenhauses. Seine Schritte klangen sachte auf den Stufen, das Schultereisen klirrte auf einem metallenen Knopf der Schornsteinfeger-Tracht.
Nox bewegte sich zielsicher durch den Gebäudekomplex, durch lange Flure und mehrere Treppenhäuser, bis er sich seinem Ziel näherte. Er prüfte die Uhrzeit. In 30 Sekunden begann das Zeitfenster, und der Klient musste sich noch im Bad befinden. Perfekt.
An der Wohnungstür angekommen, klopfte Nox am Türrahmen. Laut genug, dass ein spionierender Nachbar es hören konnte, aber zu leise, als dass der Klient am anderen Ende der Wohnung es mitbekam.
Mit der anderen Hand zückte er einen elektrischen Dietrich. Das Geräusch überdeckte er mit einem neuerlichen Klopfen, woraufhin sich die Tür wie durch Zauberhand öffnete. Nox verschwand im Innern. Das Licht der Sonne fiel blendend durch die breite Fensterfront und reflektierte grell auf dem Parkett. Die Fenster waren irgendwann einmal erneuert und vergrößert worden, um die Wohnung moderner und teurer aussehen zu lassen, doch auf den Killer wirkten sie wie Fremdkörper in der älteren Architektur. Völlig unpassend hatte der Klient seine Sofa-Landschaft mittig in der Nähe der Fenster aufgebaut, sodass die Nachbarn alles sehen konnten, was er dort trieb.
Rechts befand sich die Küchenecke. An der Wand reihten sich Spüle, Geschirrspüler und Herd aneinander, die Arbeitsfläche vor Kopf wurde durch den Kühlschrank unterbrochen und stieß gegen eine Theke, welche die Küche optisch vom Wohnzimmer trennte und dem Bereich eine U-Form verlieh. Einen halben Meter weiter befand sich die Tür zum Bad.
Aus der noch das Geräusch fließenden Wassers drang.
Auf der linken Seite führte nur ein offener Durchgang ins Schlafzimmer.
Nox schob die Wohnungstür lautlos ins Schloss und zog mehrere flache, eingeschweißte Päckchen aus der Umhängetasche.
Neben der Wohnungstür legte er die Ausrüstung ab, damit diese ihn nicht behinderte.
Es dauerte keine zwei Minuten, um die Wohnung mit reißfester Folie auszulegen. Küchentheke und Sofa-Landschaft verschwanden unter dem Spritzschutz. Die selbsthaftende Folie hielt sogar auf der Tapete, sodass der Killer kein Klebeband benutzen musste, um kritische Wandpartien, die er als gefährdet einstufte, mit abzudecken.
Dann griff er nach dem Schultereisen und bezog neben der Badezimmertür Stellung. Nox hatte das Werkzeug ein wenig seinen Zwecken angepasst. Jetzt waren die Kanten so scharf geschliffen, dass sie einer Sense glichen.
Das Geräusch von fließendem Wasser verstummte. Der Klient rotzte geräuschvoll ins Waschbecken und zog die Nase hoch. Dann bewegte sich die Türklinke nach unten.
Nox spannte sich, holte aus. Die Tür schwang auf, er zielte auf den Hals. Das Schultereisen zerschnitt die Luft, der Klient trat einen halben Schritt aus dem Bad, keuchte ein “Fuck” und ließ sich im selben Moment fallen, um sich auf dem Boden abzurollen.
Die tödliche Waffe beschrieb eine Schleife in der Luft und streifte den Flüchtenden am Steißbein, während er sich außer Reichweite rollte. Die Waffe hinterließ einen hässlichen, blutigen Striemen, der aber ansonsten nicht bedrohlich war.
Das Handtuch löste sich und der junge Mann kam nackt wieder auf die Füße. Nox setzte nach, doch sein Klient verschwendete keine Sekunde, um sich nach dem Angreifer umzusehen, was ihm das Leben rettete. Er flankte über die Küchentheke und verschwand dahinter in trügerische Sicherheit.
Nox ging auf seiner Seite in Deckung und lauschte. Die Plane raschelte, als der junge Mann sie zerriss. Ein Scharnier quietschte, Besteck klirrte, das Geräusch eines aufschnappenden Klappmessers erklang und der Klient lachte dreckig: “Ey Hurensohn, wenn du mit mir ficken willst, hast du disch mit den Falschen angelegt. Isch mach disch Messer, du Spast.”
Der Killer verzog säuerlich die Mundwinkel. Wenig ärgerte ihn mehr, als eine vulgäre Ausdrucksweise. Der Klient hatte soeben unwissentlich jede Chance auf einen schnellen Tod verschenkt. Eine Antwort war überflüssig und er schwieg.
„Hast du dein Fresse verschluckt oder was, Lan?“
Nox antwortete nicht, bewegte sich zum Ende der Küchenzeile und konzentrierte sich. Der Klient bewegte sich auf der anderen Seite unbeholfen auf allen Vieren von der Kante Richtung Kühlschrank, seine nackten Füße patschten auf dem Parkett und die Folie säuselte leise. Einen Herzschlag lang lauschte der Killer auf das Geräusch, um ihn anvisieren zu können, holte aus und schleuderte das Schultereisen blind um die Ecke.
Ein schmerzerfüllter Aufschrei bestätigte den Treffer, dann schepperte das Metall auf dem Boden. Nox hechtete im selben Moment um die Küchenzeile, warf sich gleichzeitig in einer fließenden Bewegung zur Seite, als der Klient seinerseits ein Balisong nach ihm warf, aber verfehlte.
Das Schultereisen hatte ihn am Oberschenkel getroffen, aber nur einen oberflächlichen, blutigen Schnitt hinterlassen. Danach war es Richtung Spüle geschlittert und von der Folie gebremst worden.
Nox kam wieder auf die Füße und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Dabei brachte er sich in die Reichweite seiner Waffe. Der Klient verschwendete einen kostbaren Moment darauf, sich umzusehen und schimpfte: „Bist du ein züchische Gestörtheit oder was? Mein Haus! Wie aus das sieht!“
Der Auftragsmörder hielt inne und wandte sich dem Klienten zu, der immer noch auf dem Boden hockte.
Ihre Blicke begegneten sich und der Killer starrte mit unverhohlenem Zorn auf den jungen Mann nieder.
„Wallah, deine Augen“, mehr vermochte dieser nicht zu sagen.
Er schien vor Angst erstarrt zu sein.
Ein sardonisches Lächeln huschte über die schmalen Lippen des Auftragsmörders.
„Sie sehen verängstigt aus. Verzeihen Sie bitte die Unannehmlichkeiten. In zehn Minuten werde ich es beenden.“
Furcht flammte im Gesicht des Klienten auf. „Schwör, ich hab nix gemacht!“ Hektisch versuchte er sich nun ebenfalls aufzurichten, genierte sich aber sichtlich, weil der fremde Eindringling seine Blöße begutachten konnte. Doch er fühlte sich genauso unwohl, dabei sie zu verbergen. Sein Blick irrte hilfesuchend über die Küchenzeile, während er sich verteidigte: „Das war der Dings. Der Bastard aus der Lagerhalle hat mich verarscht, dies, das. Der hat mich in diese Scheiße reingereit’n.“ Sein Blick war auf dem Messerblock hängen geblieben, der in der Mitte der Theke stand und sich verschwommen durch die Folie abzeichnete.
Nox hatte ebenfalls einen passenden Ersatz für sein Schultereisen ins Auge gefasst.
Er würde dem Klienten eine Lektion erteilen.
„Es liegt nicht in meiner Verantwortung Ihre Schuld zu prüfen“, antwortete er gelassen, „Ich bin hier, um Ihre Termination auszuführen. Aber aus persönlichem Interesse möchte ich Ihnen vor Ihrem Ableben die Möglichkeit bieten, Ihren Horizont bezüglich einer angemessenen Artikulation zu erweitern.“
Die kühle Distanziertheit seiner Worte schien den jungen Mann zu verärgern: „Deine Mutter antikulliert!“, blaffte er und redete sich in Rage: „Du kommst in mein Haus, mit Aimbot und diese Plastikzeug, aber du bringst es nicht. Du hast mich nur mit deinem lucky shot überrascht“, er bewegte sich langsam auf den Messerblock zu, den Blick starr auf den Killer gerichtet, „Ich fick dich, Lan!“, bekräftigte er mit Inbrunst.
Nox lächelte abfällig und griff gelassen hinter sich auf die Spüle, die nicht abgedeckt war. Dort lag ein kleines Schneidmesser auf der Abtropffläche. Er hielt es dem jungen Mann demonstrativ entgegen, der vor Schreck wieder erstarrt war, obwohl sich der Messerblock bereits in seiner Reichweite befand.
„Wissen Sie, was das ist?“, fragte der Auftragsmörder mit einer wohl dosierten Portion Spott. Der Klient starrte ihn entgeistert und verwirrt an, antwortete aber nicht, sodass Nox zu einer längeren Erklärung ansetzte: „Dieses kleine Schneidmesser gehört zur Grundausstattung jeder angemessen eingerichteten Küche. Ich kann Ihnen aus Erfahrung versichern, dass Sie ein solches Schneidmesser nicht nur bundesweit in jeder Küche finden werden, sondern auch in jeder Küche Großbritanniens, Frankreichs, Polens, Italiens. Es ist beinahe überall auf der Welt zu finden“, er legte eine Pause ein, um dem jungen Mann die Möglichkeit für eine Antwort zu geben, doch dieser gaffte ihn nur ungläubig an, als sei der Killer verrückt. Nox fuhr fort: „Da auch Sie über ein solches Schneidmesser verfügen, werden Sie seine Vorzüge kennen. Dennoch nehme ich an, dass Sie kaum zu schätzen wissen, was für ein hervorragendes Werkzeug Sie hiermit besitzen. Wissen Sie wie man es in dieser Gegend nennt?“
Der Klient schüttelte ängstlich den Kopf und Nox fühlte einen wohligen Schauer über seinen Rücken gleiten, als er registrierte, dass seine Lippen zitterten. „Es trägt den liebevollen Namen Hümmelchen. Meiner bescheidenen Meinung nach ist dies eine wundervolle Art, dem wichtigsten Küchenutensil Respekt und Anerkennung zu zollen.“
Das Unverständnis im Gesicht des Klienten verzerrte seine Miene zu einer Grimasse, dennoch wanderte sein Arm in Zeitlupe nach oben und tastete zaghaft nach dem Messerblock. Die Folie schlug träge Wellen. Der Auftragsmörder führte seine Erklärung weiter aus: „Das Hümmelchen ist in den richtigen Händen ein wahrer Alleskönner. Es schält sparsamer Kartoffeln als ein Sparschäler, zerteilt mühelos einen Apfel und würfelt präzise frischen Knoblauch. Selbst wenn es irgendwann stumpf wird, verliert es nicht seine Existenzberechtigung. Häufig wandert es von der Küche in den Garten, wenn einer zum Haushalt gehört. Wahlweise auch in einen Werkschuppen. Dann dient es zum Blumen schneiden, Leitungen abisolieren oder, um Moos aus den Fugen gepflasterter Wege zu kratzen. Ein langer Werdegang für so ein kleines Schneidmesser, vor allem, da es täglich in Gebrauch ist. Doch genau dadurch hat es sich seinen eigenen Namen verdient.“
Die Hand des Klienten fand endlich den Messerblock, doch die Folie verhinderte, dass er sich bedienen konnte. Nox schenkte ihm ein sardonisches Grinsen und der junge Mann wurde blass.
„Sehen Sie“, dozierte er weiter, „Sie gehören zu der Sorte von Menschen, die sich über die Größe ihres Autos und die Zahl beglückter Damen pro Woche definieren. Sie glauben, dass Respekt eine Währung sei, die man von seinen Mitmenschen einfordern kann oder die einem bereits bei der Geburt in die Wiege gelegt wurde. Sie liegen falsch. Respekt verdient der Mensch sich erst durch Anstand und Bildung, Zuverlässigkeit und Disziplin. Eine angemessene Sprache gehört ebenso dazu wie die Fähigkeit, Contenance zu wahren. Sie hingegen haben nichts von alledem. Ihnen fehlt die Fähigkeit, die wirklich bemerkenswerten Leistungen im Leben zu erkennen, so wie Sie dieses Messer unterschätzen. Sie wählen lieber, gemäß ihren fehlgeleiteten Vorstellungen, das größte Messer in der Küche, obwohl es für diese Situation völlig unbrauchbar ist.“
Bei diesen Worten wurde der ohnehin schon blasse Klient kreidebleich. Er griff nun mit beiden Händen nach dem Messerblock, zerriss die Plane und bewaffnete sich mit dem Kochmesser, zielte dann mit der Spitze auf Nox, als könne ihn dies vor dem Killer schützen. Seine Hand zitterte leicht.
„Ich schwör, ich verreckt nich‘ wegen dich Hurensohn“, presste er zwischen den Zähnen hervor.
Es blitzte kurz gefährlich in Nox‘ Augen auf, dann machte er eine einladende Geste und bewegte sich langsam aus der engen Küchenzeile in den offenen Raum, um den jungen Mann auf die freie Fläche zu locken.
Dieser folgte ihm prompt, wenn auch misstrauisch.
Nach Nox Berechnung war etwa die Hälfte seines Zeitfensters verstrichen. Er hätte durchaus noch genug Zeit, um sich einen Moment zu amüsieren, doch er durfte es nicht übertreiben.
„Ich hatte ursprünglich geplant, Sie ohne viele Worte zu eliminieren, doch leider sehe ich mich gezwungen, Ihnen vorher noch ein gewisses Maß an Bildung angedeihen zu lassen. Für die übrigen Punkte auf der Liste fehlt mir bedauerlicherweise die Zeit.“
„Ich scheiß auf deine Fick-Bildung. Du krigst nen Stich, mehr nicht!“
Der Klient verlor die Nerven und stürmte los. Er war schnell, doch nicht schnell genug.
Nox wich dem grob geführten Angriff spielerisch aus, das Messer des Klienten stieß ins Leere, das Hümmelchen zischte durch die Luft, einmal, zweimal, dann trennten sich die Kontrahenten schon wieder voneinander.
Zwei tiefe Schnitte klafften im Arm des jungen Mannes und färbten ihn sekundenschnell scharlachrot. Er keuchte, hielt sich die Schnittwunden und starrte entsetzt auf den Schwall roter Flüssigkeit, der zäh zu Boden tropfte.
„Regel Nummer eins“, verkündete der Auftragsmörder, „Fremde werden gesiezt. Immer und ausnahmslos. Es heißt: Ich scheiße auf Ihre Fick-Bildung. Und: Sie kriegen einen Stich, mehr nicht. Für jeden falschen Satz werde ich Ihnen eine neue Verletzung beibringen. Also überlegen Sie gut, was Sie sagen möchten.“
Der junge Mann wechselte das Messer von der verletzten Hand in die andere.
„Ich bitte um Verzeihung, Mister Auftragskiller, aber ficken Sie sich doch ins Knie“, antwortete er betont langsam. In seinen Augen loderte eine wilde Entschlossenheit. Er schien überhaupt nicht begriffen zu haben, dass Nox nur mit ihm spielte. Was für eine Trauergestalt. Es war Zeit, die Sache zu beenden. Der Killer schoss vor, gleichzeitig versuchte der junge Mann den Angriff zu blocken, doch er war zu langsam. Nox rammte ihm das Hümmelchen bis zum Heft zwischen die Rippen und zog sich blitzschnell wieder zurück. Der junge Mann gab einen kurzen Schmerzensschrei von sich und presste die freie Hand auf die Wunde, die ungewöhnlich heftig blutete.
„Regel Nummer zwei“, erklärte der Auftragsmörder mit vernichtender Endgültigkeit, „Einen höflichen Menschen zu beleidigen hat Konsequenzen. Ich habe Ihre Milz perforiert. Sie sterben gerade.“
Die Wirkung seiner Worte war verheerend. Das Gesicht des Klienten verzerrte sich zu einer Maske aus Panik und Hass, er schwankte kurz, hob dann aber das Messer mit grimmiger Entschlossenheit, um einen letzten Angriff zu wagen. Doch er konnte nur noch einen einzigen Schritt nach vorne machen, Nox schnellte gleichzeitig mit einem Ausfallschritt zur Seite und auf ihn zu, das Hümmelchen sirrte durch die Luft und durchdrang mühelos den Hals des Klienten, schnitt durch Muskelfleisch und Knorpel, bevor er sich genauso schnell wieder außer Reichweite begab.
„Regel Nummer drei“, grinste der Killer kaltblütig, „Einen Schwur leistet man nur dann, wenn man sich absolut sicher ist, ihn halten zu können. Der inflationäre Gebrauch des Wortes macht Sie unglaubwürdig.“
Dem jungen Mann quollen die Augen aus den Höhlen.
Er röchelte nass, als das Blut langsam seine Lunge füllte. Das Messer glitt ihm aus der Hand und fiel mit der Spitze voran auf seinen nackten Fuß, wo es stecken blieb. Mit zuckenden Fingern betastete er seinen Hals, riss die Lippen auseinander, in dem verzweifelten Versuch, einzuatmen. Ein gequältes Gurgeln erklang.
„Ich vermute, Sie sind grade im Begriff, Ihren jüngsten Schwur schon wieder zu brechen“, bemerkte Nox beiläufig, „Umgekommen durch das kleinste Messer in der Küche“, sinnierte er mit Dramatik in der Stimme, „Ich verrate Ihnen etwas: Mit dem Kochmesser hätte ich Ihre Milz nicht perforieren können. Das Klingenblatt ist zu dick, es lässt sich nur schwer in einen Körper treiben und gerade an dieser Stelle wäre es an den Rippen abgeprallt.“
Die Beine des Klienten gaben nach, er kippte langsam nach hinten, doch die Knie knickten gleichzeitig ein, sodass er beinahe sanft zu Boden glitt. Sein Blick war auf den Killer geheftet, der drohend über ihm aufragte und mit kühler Gelassenheit dem zuckenden Körper beim Sterben beiwohnte. Er schien noch etwas sagen wollen, die Lippen formten ein großes „O“, doch er gluckste nur nass und Blut sammelte sich in seinem Mund.
Den Augenblick des Todes empfand Nox so berauschend wie immer. Die Mischung aus Schreck, Überraschung und Angst, die eben noch deutlich in den Augen des jungen Mannes loderten, verblassten zu einem Glühen und erloschen plötzlich. Der Brustkorb, der sich im einen Moment noch hektisch hob und senkte, verharrte mitten in der Bewegung. Die Haut war gesprenkelt mit kleinen und großen Blutstropfen. Die Lippen leicht geöffnet und blutig rot, sodass er ein wenig feminin wirkte, trotz der drahtigen Statur und des Tiger-Tattoos.
Nox saugte jedes Detail in sich auf und bewahrte den Anblick an einem Ort in seinen Gedanken, wo er ihn immer wieder ansehen könnte.
Dann riss er sich los, denn die Zeit drängte allmählich.
Der Auftragsmörder holte den Werkzeugkoffer und öffnete ihn. Er war leer und innen mit einer dicken Folie ausgekleidet, die vollkommen undurchlässig für Flüssigkeiten und Gerüche war.
Der Klient musste sich ein paar Knochen brechen, um hineinzupassen, doch schließlich klappte der Deckel über ihm zu. Die Dichtung zischte kurz und saugte sich fest. Ein Zahlenkombinationsschloss verhinderte, dass Unbefugte den Koffer öffnen könnten.
Die Blutlachen besprühte er aus einem Zerstäuber mit Natriumpolyacrylat, einem Polymere, dass auch in Babywindeln Anwendung fand. Während der Super-Absorber das Blut des Klienten in Gel verwandelte, reinigte Nox gewissenhaft Arme, Gesicht und Schuhsohlen.
Die Plane wurde eingerollt und mit dem Hümmelchen im Henkelmann verstaut, der über die gleiche Dichtung verfügte wie der Werkzeugkoffer. Das Schultereisen wanderte wieder an seinen Platz. Balisong und Kochmesser wurden gereinigt und aufgeräumt.
Mit einer UV-LED- Lampe prüfte er noch schnell die Stellen, an denen die Plane beschädigt worden war, doch es gab nichts Beunruhigendes zu entdecken.
An der Tür ließ Nox einen letzten kritischen Blick durch den Raum schweifen und verließ die Wohnung pünktlich zum Ablauf seines Zeitfensters.
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Der Ratskeller befand sich tatsächlich im Untergeschoß eines mittelalterlichen Gebäudes auf dem Marktplatz. Nox schritt in mäßigem Tempo über den spärlich frequentierten Platz, als die Turmuhr Viertelvor schlug. Der Abend brach an und ein feiner Nieselregen überzog das Pflaster mit mattem Glanz.
Der Auftragsmörder öffnete die Tür und trat in den Vorraum der Gaststätte. Eine Angestellte in schwarz-weißer Kellneruniform begrüßte ihn. „Haben Sie reserviert oder möchten Sie gerne reservieren?“, lächelte sie freundlich.
„Man erwartet mich am Tisch von Aljosha Kuznezki“, antwortete Nox.
Die Kellnerin prüfte ihre Liste und machte eine einladende Geste zur Treppe, die in die Räumlichkeiten der Gaststätte führte.
Nox nickte ihr höflich zu und schritt an ihr vorbei. Auf dem Treppenabsatz musste er nicht nur den Kopf einziehen, sondern auch den Oberkörper nach vorn beugen und die Schultern zusammenschieben, so schmal war der altertümliche Durchgang. Unten angekommen faltete er seine Statur wieder auseinander und richtete sich auf.
Von der Decke hingen mehrere Lüster, die ein warmes, weiches Licht verbreiteten. Roter Teppich dämpfte die Schritte. Die Gäste saßen an runden, weiß gedeckten Tischen oder in kleinen, gemauerten Gewölbenischen.
Ein anderer Kellner sprach Nox an und fragte nach seinem Platz. Dieser nannte erneut den Namen des Barons, hängte seinen Mantel an der Garderobe auf und ließ sich vom Kellner zu einer im hinteren Teil gelegenen Nische geleiten.
Dort saß Kuznezki, in die Karte vertieft, mit einem vorfreudigen Lächeln im Gesicht. Ob es dem Essen oder dem Treffen mit Nox galt, war nicht zu erraten.
Der Kellner kündigte den Gast an und verließ die beiden, nachdem er sich versichert hatte, dass der Killer tatsächlich vom Baron erwartet wurde, um eine Menu-Karte für den Neuankömmling zu holen. Das Gesicht des Geschäftsführers strahlte, als er seinem Gast die Hand zur Begrüßung reichte und kräftig drückte.
„Sie sind pünktlich“, freute sich Kuznezki, nachdem Nox ihm gegenüber Platz genommen hatte. „Was möchten Sie trinken? Ich lade Sie ein.“
„Mit einem Wasser wäre ich bereits sehr zufrieden“, antwortete der Killer und nahm die Menu-Karte des Kellners entgegen, der sie ihm im Vorbeigehen reichte, auf dem Weg zu einem anderen Tisch. Er klappte sie auf und überflog das Angebot.
„Keinen Wein? Ich kann Ihnen einen guten Jahrgang empfehlen“, schlug Kuznezki vor.
„Vielen Dank, aber ich trinke generell keinen Alkohol. Es ist der körperlichen Fitness abträglich und diese ist in meinem Metier von entscheidender Bedeutung“, lächelte der Auftragsmörder entschuldigend. Der Baron hingegen schien tief beeindruckt: „Faszinierend! Je mehr ich von Ihnen kennenlerne, desto interessanter werden Sie. Haben Sie bereits gewählt? Ich bin halb verhungert.“
„Selbstverständlich“, Nox legte die Karte zur Seite und Kuznezki winkte den Kellner heran.
Sie sprachen über allgemeine Themen, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, bis eine Kellnerin die Bestellung brachte. Kuznezki griff nach seinem Besteck und machte sich über den Teller vor sich her. Nox folgte seinem Beispiel. Eine Weile schwiegen sie, konzentrierten sich nur auf das Mahl. Dann lenkte der Baron das Thema auf den Auftrag: „Ich habe gar nicht so schnell mit Ihnen gerechnet. Die Frist ja noch nicht verstrichen. Wie ist es denn gelaufen?“
„Unser gemeinsamer Bekannter wurde etwas vulgär, wenn Sie verstehen. Aber ich konnte ihn argumentativ eines Besseren belehren“, deutete Nox vage an, schnitt einen Happen Fleisch von dem saftigen Stück auf seinem Teller und führte die Gabel zu den schmalen Lippen.
Der Baron zog kauend die Augenbrauen hoch und blickte den Killer interessiert an.
Dieser nahm sich die Zeit, seinen Bissen Fleisch in Ruhe zu verzehren, bevor er weitersprach: „Er lebte in dem Irrglauben, dass nur die großen Aspekte des Lebens von Relevanz seien. Ich bewies ihm das Gegenteil.“ Er griff nach seinem Glas und nahm einen Schluck Wasser.
Das Gesicht des Barons spiegelte mühsam gezügelte Neugier.
Nox schenkte ihm ein süffisantes Lächeln und dehnte den Moment noch ein, zwei Sekunden, indem er das Glas bedächtig wieder abstellte, bevor er sich zu Details hinreißen ließ: „Es war im Grunde sehr leicht. Ich nahm einen beliebigen Gegenstand aus seinem Haushalt und demonstrierte ihm die Vorzüge dieses von ihm unterschätzten Werkzeugs, indem ich es für die Ausführung des Auftrags zweckentfremdete.“
Kuznezki ließ die Gabel sinken, die er grade voll beladen zum Mund führen wollte.
„Sie haben tatsächlich?“, fragte er, beendete den Satz jedoch nicht.
Nox schenkte ihm ein kaltes Lächeln. Beiläufig griff er in die Hosentasche und legte ein kleines, in blaues Geschenkpapier gewickeltes Päckchen auf den Tisch.
„Für Ihre Sammlung“, erklärte er, „Man sagte mir, dass Sie gerne Gegenstände aufbewahren, die eine Anekdote zu erzählen haben.“
„Ist es?“, fragte der Baron und ließ auch diesen Satz unbeendet.
„Selbstverständlich“, nickte der Auftragsmörder lächelnd.
Kuznezkis Hand griff nach dem Geschenk. Sie zitterte unmerklich. Bedächtig löste der Baron die Klebestreifen auf einer Seite und warf einen kurzen Blick in das Innere.
Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein bestürzter Ausdruck über sein Gesicht, dann zwang er sich zu einem galanten Lächeln.
„Mein lieber Radek, Sie haben mich voll und ganz überzeugt!“
Das Lächeln des Killers wurde eine Spur breiter.
„Mein Betriebsrat wird Ihnen die Liste zukommen lassen, wenn Sie noch interessiert sind, und wir verrechnen die Aufträge nach Ihren Standardkonditionen“, schloss Kuznezki feierlich.
„Ich freue mich darauf“, Nox erhob sein Glas.
„Wunderbar!“, rief der Baron begeistert und erwiderte die Geste mit seinem Weinglas.
„Auf gute Geschäftsbeziehungen!“