
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Ich öffnete mit angemessenem Kraftaufwand eines der kleinen Fenster in meinem Appartement, einerseits, um meinen Zigarettenrauch in den Morgenhimmel zu blasen, und andererseits, um zumindest etwas frische Luft in das stickige Innere meiner Bude zu lassen.
Das Fenster quietschte ungesund, als es sich endlich beiseite schieben ließ, und ich hockte mich auf die Fensterbank, um einen Blick auf die bereits, wie jeden Tag, verregneten Straßen unter mir zu werfen.
Es roch unangenehm im Raum, nach letzter Nacht. Mein Blick fiel zur Seite, auf das Mädchen, welches halbnackt auf meiner schon ein paar Mal notdürftig selbst geflickten Matratze schlief. Daneben leere Pizzakartons, Alkoholflaschen… Ich war Abschaum.
Wieder zog ich an meiner Zigarette, warf dann den Stummel aus dem Fenster und erhob mich langsam. Mit nackten Füßen kickte ich den Müll beiseite und schlenderte auf die Kleine zu, ehe ich ihr meinen Fuß unsanft in die Seite bohrte.
„Wach auf. Nimm deinen Kram und verschwinde, ich hab dich nicht fürs Pennen bezahlt“, knurrte ich. Sie kam nur langsam zu Sinnen, immerhin hatte sie auch ordentlich gebechert. Doch als sie klarer wurde, zog sie sich endlich ihr knappes Kleid über, schnappte sich ihre Stiefel, entschuldigte sich gemurmelt und verschwand durch die Tür, die sich schon seit einer Weile nicht mehr vernünftig abschließen ließ.
Ich blickte ihr abschätzig nach. Nutten, Alkohol und Zigaretten. Dafür gab ich das bisschen Geld aus, welches ich übrig hatte. Welche Freuden hatte ein Mann auch sonst noch? Zumindest einer in meiner Position.
Wegen ein paar Jugendsünden im Knast gelandet, wieder entlassen, kein Job, nur kriminelle Freunde… was sollte da schon großartig bei rauskommen. Ich fuhr mir durch das schulterlange, schwarze Haar. Ein Frisör war auch so ein Luxus, den ich mir nicht leisten konnte. Und bevor ich mir die Haare selbst schnitt und nachher aussah wie ein gerupftes Huhn, machte ich doch lieber einen auf wilde Mähne. Die Haare knotete ich zusammen wie jeden Tag, dann ging ich auf die Straße meiner Wohngegend, die genauso verkorkst war wie ich selbst. Gerade mal 27 und schon überhaupt keine Perspektiven mehr.
Ich steuerte eine Kneipe an, obwohl es erst früher Morgen war – der Besitzer war ein alter Freund, dem ich zu etwas „wilderen“ Zeiten ein paar Mal geholfen hatte, weswegen er mich weitaus billiger saufen ließ als den Rest seiner Kundschaft – und genau in diesem Moment sah ich sie das erste Mal.
Eigentlich hätte mir damals schon auffallen müssen, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Ganz und gar nicht. Ihre Haut war so blass wie der Tod selbst, ihre Wangen eingefallen und die Augen unterlegt von dunklen Schatten. Dennoch war sie hübsch. Vor dem Hintergrund der rostigen Straßenschilder und dreckigen Backsteinhäuser der Gegend sah sie beinahe aus wie gemalt.
Wie eines dieser altertümlichen, gotischen Portraits, die in Geschichtsmuseen hingen und einem diesen unangenehmen Schauer über den Rücken jagten. Aber noch auffälliger war ihre Kleidung.
Ihr brünettes Haar war gekringelt und gelockt, wurde von einem rüschenverzierten Band nach hinten gehalten. Ihr Kleidchen war von einem strahlenden Weiß und nicht minder berüscht. Ich schätzte sie so auf 10, vielleicht noch 11 Jahre und dachte, sie wäre auf dem Weg zu einer Kostümparty. Denn ihre Kleidung war auf keinen Fall aus dieser Zeitepoche, das konnte sogar ich erkennen.
Ich hatte ja keine Ahnung.
Sie starrte mich an, dass es mir unangenehm wurde, und ich wollte einfach an ihr vorbeigehen und sie stehen lassen, aber sie griff nach meiner Jacke, als ich neben ihr ging, und zog daran.
„Lass los, dämliche Göre!“, raunzte ich ihr zu. Die Kleine war mir unheimlich.
„Ich brauche ihre Hilfe, Mister“, piepste sie und sah aus hübschen, runden Augen zu mir auf. Ich schnaubte.
„Such dir wo anders Hilfe! Ich bin beschäftigt“, beschäftigt damit, mir das Leben schön zu saufen.
„Ich brauche aber ihre Hilfe“, wiederholte sie. Mir wurde das zu blöd.
„Verzieh dich! Sind deine Eltern hier nicht irgendwo? Geh gefälligst denen auf die Nerven!“, ihre kleinen Finger ließen mich endlich los.
„Meine Familie ist tot. Alle“, sie sagte es so kalt und sachlich, dass mir ein Schauer über den Rücken lief.
„Passiert. Dann geh halt zur Polizei oder was weiß ich!“, damit ließ ich sie endgültig stehen, auch wenn ich noch eine Weile ihre Blicke in meinem Rücken spüren konnte. Herzlos vielleicht, aber so war ich halt. Ich konnte keine Rotzgöre gebrauchen, die mir am Rockzipfel hing, und wenn sie Hilfe brauchte, sollte sie sich gefälligst an Leute wenden, die dafür bezahlt wurden, sich ihr Geheule anzuhören.
Der restliche Tag verging wie jeder andere, ich sah das Mädchen nicht mehr wieder und das Erlebnis war für mich dann auch schnell abgehakt gewesen.
Tonlos betrat ich meine Wohnung, warf die Tür hinter mir ins Schloss, woraufhin das einrastende Klicken natürlich ausblieb, und schob einen Stuhl vor selbige, für den Fall, dass doch mal jemand auf blöde Ideen kommen würde. Nicht, dass der großartig irgendwas ausrichten würde.
Heute Nacht war mir auch nicht nach weiblicher Gesellschaft. Ich wollte einfach nur noch pennen.
Doch an ruhigen Schlaf war nicht zu denken. Immer wieder tauchte das Mädchen von heute Mittag in meinen Träumen auf. Sie hatte nie direkt mit der Handlung zu tun – was man im Bezug auf Träume auch immer als Handlung bezeichnen mochte – aber immer stand sie in einer Ecke, starrte mich aus ihren hübschen, unheimlichen Augen an. Kam näher, ohne sich tatsächlich zu bewegen, und dann – schreckte ich auf.
Schweißgebadet saß ich auf meiner Matratze, atmete ein paar Mal durch und zog mir mein durchgeschwitztes Unterhemd über den Kopf. Verdammte Scheiße, jetzt verfolgte diese blöde Göre mich auch schon in meinen –
„Bitte, Mister“, ich schrak auf, warf das Hemd von mir und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu meinem Fenster. Es war weit geöffnet, und auf dem Fensterbrett saß niemand Geringeres als das Mädchen vom Vortag. Das Mädchen aus meinen Träumen.
„Verdammte Scheiße! Wie bist du…“, mein Blick wanderte zur Tür, aber der Stuhl stand noch immer davor, unbewegt. Mein Blick schoss wieder nach vorn zu ihr, doch sie war verschwunden. Was für ein Mist lief hier!?
„Mister“, ihre Stimme ertönte, doch ich konnte sie nicht sehen. Dann, plötzlich, senkte sich die Matratze und sie stand direkt über mir, blickte auf mich herab. Ihre braunen Locken kitzelten mein Gesicht und mir wurde übel.
Wer… nein, was war dieses Mädchen?
„Helfen sie mir, bitte?“, fragte sie erneut.
„Ich helf dir gleich, und zwar raus!“, knurrte ich. Wahrscheinlich war sie nur Einbildung. Genau! Ich hatte schon von ihr geträumt, da war es nicht verwunderlich, wenn ich mir – im Halbschlaf und mit einer ordentlichen Menge Restalkohol im Blut – ihre Anwesenheit nur einbildete. Wenn das so war… ich erhob mich langsam.
Es gab keine Möglichkeit, wie sie anders hier rein gekommen sein sollte. Das Fenster war zu hoch, die Tür war noch mit dem Stuhl verbarrikadiert, wie ich sie zurückgelassen hatte. Das Mädchen machte einen Schritt zurück und stand nun wieder vor dem Fenster.
„Ich soll dir helfen, ja?“
„Bitte“, sie nickte bestätigend. Ohne weitere Umschweife holte ich aus, fasste sie an den Schultern und stieß sie nach hinten. Fester als ich es beabsichtigt hatte. Ich hatte erwartet, dass meine Hände durch ihren Körper gleiten würden, doch sie hatte Substanz, Widerstand. Sie taumelte und dann – fiel sie rücklings aus dem Fenster.
Sofort wurde mir heiß. Hatte ich gerade ein kleines Mädchen ermordet? Ein Kind aus dem Fenster gestoßen? Was, wenn sie doch keine Einbildung gewesen war? Wenn sie durch die kaputte Tür reingekommen und den Stuhl einfach wieder hingestellt hatte!?
Ich hechtete an das Fensterbrett, darauf vorbereitet, einen kleinen, verdrehten Körper auf dem Boden unter mir zu sehen, doch…
„Sie verstehen nicht. Ich bin doch schon tot, Mister“, die Hitze, die mir zuvor in den Körper geschossen war, wich nun einer Eiseskälte. Ich wagte es kaum, mich umzudrehen, aber ich hatte mir ihre Stimme nicht eingebildet. Ganz und gar nicht. Heilige. Scheiße.
War der Schock im ersten Moment groß gewesen, so gewöhnt man sich mit der Zeit an alles. Manche gewöhnen sich daran, Mäuse im Garten zu haben, andere gewöhnen sich an Hautausschläge, die immer an der selben Stelle wiederkommen, egal, wie oft man sie behandelt, und ich gewöhnte mich eben an ein kleines, nervtötendes Geistermädchen.
Sie tauchte auf und verschwand immer, wenn ich nicht damit rechnete. Ständig, egal wo ich war, stand sie in irgendwelchen Ecken und beobachtete mich. Wenn ich über die Straße ging, lief sie neben mir, wie eine Tochter neben ihrem Vater.
Am Anfang hatte ich Angst vor ihr gehabt. Hin und her überlegt, wie so etwas möglich sein konnte. Gab es also doch Geister und Übernatürliches? Oder war sie doch nur eine überaus lang andauernde und hartnäckige Halluzination? Sogar über einen Exorzismus hatte ich schon nachgedacht.
Doch schließlich akzeptierte ich sie einfach. Denn alles, was sie tat, war, mich immer und immer wieder nach meiner Hilfe zu fragen. Wenn ich morgens aus dem Haus ging und sie auf der Straße sah, begrüßte ich sie mit einem „Morgen, Nervensäge.“
Wenn ich in Gebäuden mit anderen Menschen war, ignorierte ich sie natürlich. Schließlich reichte es, wenn ich selbst mich für verrückt hielt, da mussten es nicht auch noch andere tun.
Den größten Einfluss, den sie auf mein Leben hatte, war wohl, dass ich keine Nutten mehr mit nach Hause brachte. Ich ging auch zu keinen mehr. Dieses kleine Biest tauchte ständig hier und da auf, und auch wenn sie ein Geist – oder was auch immer – war, so war sie immer noch ein kleines Mädchen. Auf Zuschauer konnte ich verzichten.
Es war schließlich an einem Samstagnachmittag, dass ich die Schnauze endgültig voll hatte.
„Schön!“, ich drehte mich wütend zu ihr um. Nur mit einer Jeans und einem ärmellosen Hemd bekleidet saß ich im Schneidersitz auf dem Fußboden meiner Wohnung, sie kniete vor mir und strich sich fein manierlich ihr Kleidchen glatt.
„Wenn ich dir helfe, verschwindest du dann endlich?“, raunzte ich.
„Dabei sollen sie mir ja helfen“, entgegnete sie. Ich wuschelte mir durch die ungekämmten Haare.
„Ich kann nicht gehen. Ich hab vergessen, wie ich gestorben bin“ Ich stoppte und sah sie stattdessen ungläubig an. Vergessen, wie sie gestorben war? Sowas war möglich? Nun gut, ihren Kleidern nach zu urteilen war das wohl auch schon eine Weile her. Trotzdem.
„Und was hab ich damit zu tun?“, knurrte ich. Ich kannte sie nicht, und in Geschichte war ich eine Null, schon immer gewesen.
„Wenn du was über Todesfälle wissen willst, geh lieber zur Polizei, Rotznase!“ Sie schüttelte den Kopf, dass ihre braunen Locken nur so auf und ab wippten.
„Das geht nicht. Nur sie können mir helfen, Mister“, entgegnete sie.
„Klar doch, so weit waren wir schon. Und warum genau kann nur ich dir helfen?“ Sie legte den Kopf schief.
„Na, weil nur Sie mich sehen können.“ Ah, natürlich. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Sowas Banales, und dennoch war es mir vollkommen entgangen. Und wenn ich an ihrer Stelle zur Polizei ging und denen erzählte, dass ein kleines Geistermädchen mir seit gut einem Monat hinterherdackelt und von mir wissen will, wie sie gestorben ist, weswegen ich unbedingt mal einen Blick in die Akten werfen muss, lande ich direkt im Hotel zur weichen Birne.
Kacke. Ich saß also mit dieser Göre fest, bis ich selbst rausgefunden hatte, was ihr passiert war. Und das, obwohl meine detektivischen Fähigkeiten nicht darüber hinaus gingen, ab und zu mal Zigarettenschachteln aufzuspüren, die ich im Badezimmer neben dem Scheißhaus hatte liegen lassen.
„Schön… und wenn ich dir helfe, herauszufinden, wie du den Löffel abgegeben hast, dann lässt du mich endlich in Ruhe, Nervensäge?“, ich durchbohrte sie mit meinem Blick und zum ersten Mal hellten sich ihre Gesichtszüge ein wenig auf.
„Dass hoffe ich sehr, Mister“, ertönte ihre piepsige Stimme, aus der nun tatsächlich so etwas wie Aufregung herauszuhören war. Na wunderbar. Sie „hoffte“ es. Das bedeutete, dass es nicht mal gegeben war, dass sie danach wirklich verschwinden würde. Aber zumindest einen Versuch war es wohl wert. Allerdings war das Ganze leichter gesagt als getan. Denn ein gravierendes Problem stand noch im Raum.
„Und… wo soll ich anfangen? Ich mein, was ist das Letzte, an das du dich erinnerst, Quälgeist?“
Es war kalt, der Himmel war von dicken Wolken verhangen und es nieselte. Schlechter Laune zog ich meine Jacke enger um meinen Körper und versuchte, die einzelnen Haarsträhnen zu ignorieren, die mir unangenehm im Gesicht klebten. Wieso hatte ich mich hierzu nur überreden lassen?
So ganz konnte ich immer noch nicht glauben, dass ich jetzt Detektiv für ein kleines Geistermädchen spielen sollte.
„Super. Und was soll ich hier?“, fragte ich in den Regen hinein, wohl wissend, dass sie mich hören konnte, auch wenn sie gerade nicht unmittelbar neben mir stand.
Zum Glück war es hier recht abgeschieden, sodass ich frei mit ihr reden konnte, ohne mir Gedanken über mögliche Zuhörer machen zu müssen. Ein kleines, düsteres Waldgebiet. Na wunderbar. Meine Schuhe sanken langsam und bedächtig immer weiter in den matschigen Boden ein, während ich abschätzig auf das sah, was vor mir lag. Steinbrocken, Schutt, Mauerreste, die grob andeuteten, wo hier mal ein Haus hatte stehen müssen, eingegrenzt von einem quietschgelben Zaun mit einem Schild, welches mich vor Gefahr warnte und mir mitteilte, dass ich dafür blechen dürfe, wenn meine nichtexistenten Rotzblagen hier spielen würden.
„Das ist mein Zuhause“, ertönte ihre Stimme neben mir. Ich schielte zu dem kleinen Lockenkopf hinüber. Der Regen schien ihr nichts anhaben zu können. Ihre Haare wippten auf und ab und ihr Kleidchen strahlte so sauber und weiß, dass es mir in den Augen brannte.
„Vielleicht mal wieder Staub wischen“, war mein sarkastischer Kommentar, und ich sah wieder nach vorn. Vielleicht war das mal ihr Zuhause gewesen, aber viel war davon nicht mehr übrig. Wie sollte ich hier irgendwelche Hinweise finden?
„Ich kann sie ihnen zeigen, Mister. Meine Erinnerungen“, fiepste das Mädchen neben mir und riss mich damit wieder aus meinen düsteren Gedanken.
„Bis zu dem Tag, an dem ich gestorben bin“, jedes Mal, wenn sie das erwähnte, stellten sich meine Nackenhaare auf. Wie lange sie wohl schon hier herumwandelte?
„Nenn mich nicht ständig Mister, Kleine! Mein Name ist Ryan“, teilte ich ihr mit. Dann müsste sie mir wenigstens damit nicht mehr auf die Nerven gehen. Sie nickte, dann machte sie einen kleinen Knicks, der auf mich ziemlich lächerlich wirkte. Aber bitte.
„Charlotte“, erwiderte sie, und mein brillanter Verstand schlussfolgerte, dass das wohl ihr Name war.
„Von mir aus. Also was ist jetzt, Erinnerungen, sagst du? Dann schieß mal los!“ Alles, was mir helfen konnte, sie loszuwerden, war im Moment sehr willkommen. Und ich war nicht sonderlich wild darauf, jetzt auf Knien durch den Schutt zu kriechen und mir noch ’nen schönen Schädelbasisbruch zuzulegen.
Ich hatte damit gerechnet, dass sie mir erzählen würde, was sie noch wusste. Sie allerdings griff nur schweigend nach meiner Hand und schloss die Augen. Ich verzog abschätzig die Mundwinkel und musterte sie, während in mir eine gewisse Nervosität aufstieg. Folgte jetzt irgend so ein HokusPokus? Ich war nicht gemacht für so einen Scheiß.
Und da passierte es. Es begann als Kribbeln in meinen Füßen, zog sich immer weiter hoch und wurde so unangenehm, dass ich das Gefühl hatte, irgendetwas würde gleich aus meinem Körper herausbrechen. Es war kaum noch auszuhalten und dann, mit einem Mal, war es verschwunden. Ich öffnete meine Augen, die ich aus einem Reflex heraus zugekniffen hatte, und erst wollte ich sie fragen, was das für ’ne Nummer war – selbst das schärfste Chili, das meine Großmutter zusammenwerfen konnte, hatte bisher nicht so einen Effekt auf meine Innereien gehabt – da klappte mir auch schon die Kinnlade runter.
Von dem Schutt war nichts mehr übrig. Der furchtbar gelbe Zaun war verschwunden, und stattdessen blickte ich direkt auf die protzigste Villa, der ich bisher außerhalb von Hochglanz-Magazinen gegenübergestanden hatte. Zumindest war „Villa“ das erste Wort, welches mir in den Sinn kam, allerdings war sogar das wohl noch untertrieben.
Es war ein Herrenhaus. Die breite Eingangstür aus dunklem Holz war allein beinahe schon so groß wie die Südwand meines Appartements. Überhaupt wirkte alles ziemlich düster. Die Wände, die Fenster, sogar das Dach. Der Garten war nicht mehr zugeschüttet, sondern bestand nun aus akkurat gemähtem Rasen und beschnittenen Hecken.
„Meine Mutter hat die Blumen geliebt“, stellte Charlotte fest, und ich wandte meinen Blick das erste Mal von dem Haus ab. Sie stand vor einem Beet, aus dem heraus sich grüne Ranken an der Hauswand hochschlängelten. Rote Blüten sprießten hier und da an selbigen.
„Was ist das hier?“, fragte ich, die Blumen ignorierend, und sie sah mich fragend an.
„Was meinen Sie? Das sind meine Erinnerungen. Das hab ich ihnen doch gesagt. Sie haben zugestimmt.“ Ich schnaubte.
„Ja, aber ich dachte,… keine Ahnung… dass du mir den Kram erzählst oder sowas! Von mir aus auch ’ne Kritzelei, aber das! Das ist… echt krass“, ich rieb mir den Nacken und sah wieder zu dem Haus. Waren wir überhaupt noch in unserer… – meiner Welt? War das real? Wahrscheinlich lag ich doch noch friedlich auf meiner Matratze und träumte den ganzen Scheiß nur. Das wäre im Augenblick das Logischste.
Wir näherten uns der Tür. Jetzt würde ich auch keinen Rückzieher machen. Wenn ich ebenfalls hier krepieren sollte – naja. Dann hatte ich wenigstens Gesellschaft. Zuhause gab es eh nichts, was auf mich wartete.
„Warte… was ist mit deiner Familie? Du hast gesagt, die sind alle tot. Heißt das, das Haus ist leer?“ Charlotte sah mich aus großen Augen an, dann schüttelte sie den Kopf.
„Ich erinnere mich, dass sie noch bis zum Schluss gelebt haben“ Ich schluckte. Was würde mich also da drin erwarten? Die Fenster waren so dunkel und staubig, dass sie keinen Blick nach innen zuließen.
Langsam und bedächtig näherte ich mich der dunklen Eingangstür und meine Finger zitterten, als ich nach der Klinke greifen wollte. Doch kaum berührten sie den kalten Knauf, folgte auch schon die Ernüchterung – abgeschlossen.
„Du bist ja ein Scherzkeks. Wie soll ich da drin irgendwas finden, wenn ich nicht mal rein komme?“, warf ich Charlotte an den Kopf. Als ich keine Antwort erhielt, drehte ich mich um, musste allerdings feststellen, dass die Göre schon wieder verschwunden war.
„Charlotte?“, das machte mich noch wahnsinnig. Ich schnaubte, dann ging ich die kleine Trittstufe vor der Eingangstür wieder runter und erneut versanken meine Schuhe im vom Regen aufgeweichten Erdboden. Ein Glück, dass ich mir vor ein paar Monaten neue Schuhe gegönnt hatte. Die davor hatten nämlich ziemlich große Löcher in der Sohle gehabt, und ich mochte mir gar nicht ausmalen, für welche Arten von Kriechgetier das hier eine willkommene Einladung gewesen wäre.
„Hör mal, Kleine, wenn du ständig abhaust, mach ich den Scheiß aber nicht mehr lange-„, wütend stapfte ich durch den matschigen Garten, blieb dann aber mit einem Mal stehen und brach ab.
Weißer, durchsichtiger Stoff, der im Wind flatterte, vom Regen jedoch unberührt blieb, durchschnitt meine Gedanken wie ein scharfes Messer. Er schmiegte sich um den Körper einer Frau, die einfach dort stand und schweigend in den Wald blickte, ihren Rücken mir zugedreht. Ich wusste nicht warum, doch ich war gefesselt von ihrer Erscheinung. Langsam machte ich einen Schritt auf sie zu, dann noch einen. Sie hatte mich noch nicht bemerkt.
Mit einem Mal vergaß ich alles um mich herum. Warum ich hier war… das kleine Geistermädchen… dass ich nicht mehr in meiner Welt war. Ich wollte nur noch zu dieser Frau. Ich konnte eine Wärme spüren, die von ihr ausging. Keine physische Wärme, es war eher ein – Gefühl, das mich zu ihr zog. Ein Gefühl, welches ich nicht kannte.
Immer zielsicherer ging ich auf sie zu. Schritt für Schritt, und immer weniger Abstand trennte mich von ihr. Mein Herz klopfte wie das eines verliebten Teenagers, der kurz davor war, seinen Schwarm nach einem Date zu fragen.
Ich wollte, dass sie mich berührte. Ich wollte spüren, ob ihre Hände auch die Wärme abgaben, wenn ihre Finger mein Gesicht streifen würden. Ich wollte, dass sie ihre Arme um mich schloss, mich an ihre Brust drückte und –
„Mister Ryan?“, ich wurde so abrupt aus meinen Gedanken gerissen, dass ich über eine Wurzel stolperte und mich beinahe langgelegt hätte. Ich fing mich, blickte auf und meinte, ein Zucken ausmachen zu können, welches durch den Körper der Frau ging.
Sie war im Begriff, sich umzudrehen. Mein Herz raste noch immer, dann fühlte es sich an, als würde es einen Schlag aussetzen,… und noch bevor ich ihr Gesicht hätte sehen können, löste sie sich plötzlich in weißen Rauch auf und hinterließ nicht die geringste Spur.
Wie ein verwirrter Dackel stand ich nun hier, starrte mit offenem Mund auf die Stelle, von der sie verschwunden war, und bevor ich auch noch das letzte Fünkchen Würde verlieren und zu sabbern anfangen würde, schaffte ich es endlich, mein Kinn wieder zuzuklappen und meine Gedanken zu sortieren.
Was zum Henker war das denn bitte gewesen? Diese Frau – diese Gestalt – hatte mein komplettes Denken ausgeschaltet. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich war in den Erinnerungen eines kleinen Geistermädchens, welches hier den Tod gefunden hatte. Nach allem, was ich wusste, hätte diese Frau sonst was sein können, und um ein Haar wäre ich ihr bereitwillig in die Falle gelaufen.
Nein, nicht nur bereitwillig – es war, als würden sämtliche Laster von mir abfallen, wenn ich nur in ihren Armen liegen könnte. Innerlich schüttelte ich mich noch einmal, dann drehte ich mich endlich um.
Charlotte stand in der Tür, die nun geöffnet war, und starrte mich aus großen Augen an. Kurz überlegte ich, ob ich ihr von der Frau erzählen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Dass sich wegen ihr mein gesamter Verstand ausgeknipst hatte, war schon peinlich genug.
„Haben sie schon was gefunden?“, piepste ihre Stimme durch den Regen. Ich starrte sie kurz an, dann schüttelte ich den Kopf und legte die paar Meter zwischen ihr und mir zurück. Mir war es vorgekommen, als wäre ich ewig zu der Frau hingelaufen. In Wirklichkeit waren es nur ein paar Schritte gewesen.
Ganz kurz drehte ich mich noch einmal der Außenwelt zu und atmete die frische, verregnete Luft ein. Dann betrat ich, an der Seite von Charlotte, das dunkle, staubige Innere des Herrenhauses. Unwissend, was mich dort drin erwarten würde.