Der Schuh
ACHTUNG: VERSTÖRENDER INHALT
Bitte beachten Sie, dass es sich bei dem folgenden Text um eine Creepypasta handelt, die verstörende Themen beinhalten kann, wie zum Beispiel Gewalt, Sexualisierung, Drogenkonsum, etc. Creepypastas sind fiktive Geschichten, die oft dazu gedacht sind, Angst oder Unbehagen zu erzeugen. Wir empfehlen Ihnen, diesen Text nicht zu lesen, wenn Sie sich davon traumatisiert oder belästigt fühlen könnten.
Jener Abend verlief folgendermaßen:
Ich kam gerade von der Arbeit heim. Ich arbeite bei einem Personaldienstleister und muss bei verschiedenen Veranstaltungen – Hochtzeiten, Firmenevents, in diesem speziellen Fall handelte es sich um die Weihnachtsfeier einer kleinen, aber finanziell kräftigen Firma aus dem Bereich Mobile Gaming – reichen, arroganten Säcken, zumindest kamen sie mir immer ziemlich arrogant vor, wobei das vielleicht auch nur die Einschätzung des kleinen Arbeiters ist, das Essen bringen, und danach die Teller und Gläser wieder zurückbringen. Es ist keine besonders anspruchsvolle Arbeit, doch auf Dauer sehr zermürbend, da sie hauptsächlich aus Laufen besteht. Zudem kam man sich bei der Arbeit vor wie in einem Kampf gegen die Hydra: Kaum hatte man einen Teller weggebracht, standen schon wieder zwei neue da. Gut, ich trug natürlich mehr als einen Teller auf einmal, aber Sie wissen was ich meine. Ich denke unter diesen Umständen kann man es mir nicht verübeln, dass ich zum Schichtende endlich nach Hause wollte, immerhin war ich schon seit zwei Uhr Nachmittags zum Aufbau anwesend und durfte dann den lieben langen Abend durch ohne Pause hungrige Gäste bedienen. Und diese Leute aßen viel, wie eine Horde Raubtiere, oder Motten, welche hungrig über ein schmackhaftes Stück Stoff herfallen. Immerhin den Abbau übernahm eine andere Schicht.
So eilte ich nun mitten in der Nacht um zehn durch die Winterkälte über den Parkplatz. Dieser war bei weiten nicht verlassen, viele der Gäste verließen die Veranstaltung zur selben Zeit wie ich, da die Fahrer, welche weitesgehend nüchtern bleiben mussten um fahrtauglich zu bleiben, sich schon nach ihrem warmen Bett sehnten, und der heiteren, alkoholisierten Gesellschaft gar nicht viel abgewinnen konnten. Ich war über diesen Umstand sogar ein bisschen froh, denn ich fand, dass menschenleere Parkplätze in der Dunkelheit ganz schön gruselig wirken konnten. Aber wäre der Rest des Abends nicht so grausam verlaufen, wie er eben verlaufen ist, hätte ich das natürlich niemals zugegeben.
Als ich endlich an meinem Auto ankam, kramte ich hastig in meiner Hosentasche nach dem Schlüssel. Parallel dazu versuchte ich vergeblich, einen meiner Schuhe – ich weiß nicht mehr genau welcher es war – mit dem anderen Fuß abzustreifen. Oh, diese gottverdammten Schuhe! Ich musste mir extra für diesen Job Anzugschuhe zulegen, und natürlich hatte ich die billigsten genommen, die ich finden konnte. Doch schnell bereute ich diese Entscheidung, denn auf den langen Laufwegen, den ganzen Abend lang immer wieder hin und her und wieder hin, immer weiter und weiter, hatte ich mir schnell Blasen gelaufen. Im Laden hatten die Schuhe noch gepasst wie angegossen, doch kaum waren sie im Einsatz wirkten sie irgendwie zu klein. Meine Füße hatten jedenfalls noch nie so geschmerzt wie an jenem Abend, und ich konnte es kaum erwarten sie endlich abzulegen. Endlich fand ich meinen Autoschlüssel, und steckte ihn mit vor Kälte blau angelaufenen Fingern ins Schloss der Autotür. Ich hätte natürlich auch auf den „Autotür öffnen“ – Knopf direkt am Schlüssel drücken können, doch mein Auto vor diesem verfügte – man kann es kaum glauben – noch nicht über diesen Luxus. Ich hatte es mir noch nicht angewöhnt, mein Fahrzeug schon aus der Ferne aufzuschließen, und deshalb fummelte ich vor jeder Fahrt aufs neue im zerkratzen Schloss herum, nur damit mir Sekunden später wieder einfiel, dass ich es auch deutlich leichter hätte haben können. Irgendwann werde ich es mir sicher angewöhnt haben, doch nicht an diesem Abend. An diesem Abend interessierte ich mich nur noch für meine Füße. Ich setzte mich in den Wagen und ließ die Tür zuknallen, doch ich gönnte mir noch keine Verschnaufpause. „Erst die Schuhe“, sagte ich mir immer wieder vor, „erst die Schuhe.“ Ich hatte keine Ersatzschuhe dabei, und ich wusste, dass man eigentlich nur mit festem Schuhwerk Auto fahren darf, doch in dem Moment war mir das egal. Selbst, wenn einer der Gäste um mich herum etwas bemerken sollte, hätte er sich wohl kaum für mich interessiert, und ich hoffte einfach, auf der Fahrt nicht kontrolliert zu werden. „Ohne diese verdammten Schuhe ist es sowieso viel sicherer“, redete ich mir ein. Lieber in Socken fahren, als während der Fahrt vor Schmerz plötzlich eine unkontrollierte Bewegung zu machen, sagte ich mir, doch geglaubt hatte ich es eigentlich nicht. Doch es sollte gar nicht so weit kommen.
„Erst die Schuhe“, dachte ich ein weiteres mal. Ich begann, am Schnürsenkel meines linken Schuhes zu ziehen. Üblicherweise denke ich nicht darüber nach, welchen Schuh ich als erstes ausziehe. Nicht so an diesem Abend. Zunächst war das natürlich uninteressant für mich, doch später sollte mir der zweite, der rechte Schuh noch sehr lange in Erinnerung bleiben. Während ich also am Schuhbändel zog, beobachtete ich fasziniert, wie die beiden Schnüre langsam, wie durch Magie auseinanderglitten. Ich war zwar schon lange kein Kind mehr, doch dieser Vorgang faszinierte mich immer noch. Dann ließ ich los, und die beiden Enden der Schnur fielen lautlos auf den Boden des Fußraums. Doch noch streifte ich den Schuh nicht ab. Sie kennen das vielleicht nicht, doch ich hatte das ständig: Wenn auf mich die große Erlösung aus einer schier unerträglichen Situation wartet, zögere ich manchmal ein wenig, voller Schmerz, doch hinterher mit einer umso größeren Erleichterung. „Es wird fabelhaft sein“, dachte ich mir. Ein Freund hatte mal, als er im Vollsuff keine Toilette finden konnte, folgende weisen Worte von sich gegeben: „Wenn du richtig dringend, so richtig krass dringend schiffen musst, und dann endlich einen verlassenen Baum oder Busch findest, und du erleichtert zuschauen kannst, wie die warme, dampfende Flüssigkeit in einem harten Strahl die kühle Nachtluft durchtrennt, dieses Gefühl ist echt besser als Sex. Es gibt nicht viele Sachen auf die das zutrifft, und ich würde auch nicht Behaupten dass ich in meinem Leben nur schlechten Sex hatte, aber DAS – das ist echt eins von diesen Dingen wo ich sage: Dieses Gefühl ist echt geil.“ Damals hatte ich, selbst mit nicht gerade wenig Alkohol im Blut, nur laut darüber gelacht. Doch jetzt wusste ich, was er damals meinte. Erleichterung konnte unglaublich unglaublich sein. Wäre vorher nicht so eine Qual notwendig, würde ich eventuell sogar Geld für dieses Gefühl bezahlen. Ich begann, leise vor mich hinzukichern. Wer genau hinhörte, konnte sogar den Anflug von etwas krankhaftem aus meiner Lache heraushören. „Worüber mache ich mir eigentlich Gedanken? Es ist meine Fußbekleidung, keine Todesfolter“. Energisch zog ich mir den linken Schuh vom Fuß, und nach einem kurzen, ruckartigem Schmerz strömte eine wohltuende Welle der Entspannung durch meinen Körper, welche allerdings nur von kurzer Dauer war. „Der rechte!“, sagte eine fiese Stimme in meinem Kopf, „du hast immer noch den rechten an!“. Mein Blick viel auf den Autositz, auf dem nun dort ein Abdruck mit Straßendreck war, wo ich meinen Fuß abgesetzt hatte. Es wäre wohl intelligenter gewesen, die Autotür offen zu lassen, und mich mit dem Absatz auf die Kante abzustützen. Ich wischte mit der Hand ein wenig über den Abdruck, der sich dadurch kein bisschen veränderte, und setzte dann den rechten Schuh auf die selbe Stelle. Als ich an den Schnürsenkeln zog, glitten auch diese, wie zuvor bereits die an meinem anderen Fuß, elegant auseinander. Doch dann begann das bis dorthin schrecklichste Ereignis meines Lebens.
Der Schuh löste sich nicht mühelos von meinem Fuß, und er plumpste auch nicht auf den Boden meines Fahrzeugs. Erst dachte ich, ich hätte vergessen, die Schuhbänder aufzuknoten, doch das war nicht der Fall. Unschuldig hingen sie an einer Seite meines Fußes herab. Ich packte meine Ferse fest mit der linken, und die Schuhspitze mit der rechten Hand und zog kräftig. Je größere Kraft ich ausübte, desto fester schien ein unsichtbares Seil den Schuh an meinen Fuß zu fesseln. „Was soll das denn jetzt?“, dachte ich mir genervt. Diese kleine, mir unerklärliche Ärgerlichkeit wirkte auf mich, wie ein letztes Hindernis, was einem das Leben an einem schlechten Tag entgegenwirft. Lästig, aber harmlos. Doch ‚harmlos‘ war das schlechteste Wort, das ein Mensch überhaupt finden konnte, um dieses Phänomen zu beschreiben. Ich stellte meinen Fuß wieder im Fußraum ab und atmete einmal tief durch. Es ist bloß ein Schuh. Ein lächerlicher, alltäglicher Anzugschuh. Dann zog ich mein Knie wieder an mich, legte den Kopf darauf ab und zerrte weiter an meiner Ferse herum, doch mein kleiner Feind wollte nicht nachgeben. Ich versuchte, einen Bleistift, den ich ausversehen aus der Arbeit mitgenommen hatte, und den hoffentlich niemand dort vermissen würde, als improvisierten Schuhlöffel zu benutzen, doch dieser brach augenblicklich, und ich hielt nur noch ein nutzloses Stück Holz in meiner Hand. Kurz überlegte ich, ob ich einfach den anderen Schuh wieder anziehen sollte, nachhause fahren sollte, und mich dort um mein kleines Problem kümmern sollte. Andererseits kam ich mir zu lächerlich dabei vor, meinen Schuh nicht ausziehen zu können. Wie ein kleines Kind, das die Schnürsenkel noch nicht alleine zubinden kann. Nur dass ich meine Fußfessel eben nicht alleine aus- statt alleine anziehen konnte. Also zerrte ich ein weiteres mal, dieses mal so stark, dass ich Angst bekam, dass, wenn ich nicht aufpasste, ich mich ernsthaft verletzen konnte. Langsam begann Panik in mir aufzusteigen. Als ich nämlich diesmal meinen Fuß wieder losließ, war nicht nur der Schuh immernoch wie festgeschmolzen, sondern der leichte Druck nach innen, der bei jedem ziehen ein herabgleiten meines Gefängnisses verhinderte, blieb bestehen. Doch statt, wie es wohl schlauer gewesen wäre, langsam misstrauisch zu werden, Ruhe zu bewahren, und die Situation nicht noch zu verschlimmern, biss ich wütent die Zähne zusammen und riss und zerrte weiter; ich verspürte die selbe Wut wie ein frisch verletztes Raubtier und die selbe Höllenangst, wie ein Schwein, das bei lebendigem Leib gekocht wird. Mit meinem verzweifeltem Bemühen nahm auch die Folter immer weiter und weiter zu. Der Schmerz fühlte sich an, wie der letzte Rest Sauerstoff in der Lunge, wenn man vergeblich um Luft ringt; meine Hysterie war so groß, als wäre ich im Winter in einen nur an der Oberfläche zugefrorenen See eingebrochen, und meine Hände griffen verzweifelt, auf der Suche nach einem Loch in die Freiheit, ins Nichts.
Ich bohrte nun meine Finger oben an der Öffnung in den Schuh hinein. Ich versuchte gar nicht mehr, ihn irgendwie auszuziehen, alles was ich wollte war, endlich diesen grausamen Schmerz zu beenden, doch meine Finger konnten nicht etwa, wie von mir erhofft, durch Druck von Innen, meinen Fuß entlasten, sondern wurden nur mit eingequetscht. Ich schrie laut auf. Ich hatte die ganze Zeit nicht geschrieen, trotz meines Entsetzens. Doch nun wollte die Qual hinaus, und meinen Körper durch die Lunge verlassen. Ich brüllte was das Zeug hielt, kreischte was meine Stimmbänder hergaben. Ich hatte die Augenlider fest zusammengepresst, doch drotzdem wurden einige Tränen nach außen gedrückt. Da meine rechte Hand immer noch gefangen war, riss ich die linke Hand nach oben und wischte mir quer über das Gesicht. Angestrengt öffnete ich die Augen, versuchte den Schmerz zu ignorieren, versuchte, mich zu sammeln und ruhig zu bleiben. In einem kurzen Moment der absoluten Stille, sogar der Schmerz ließ für einen Augenblick fast völlig nach, sah ich verschwommen draußen Leute vor der Fensterscheibe vorbeigehen, die angeheitert lachten und mich gar nicht zu bemerken schienen. Ich hämmerte mehrmals so fest gegen die Scheibe, dass jedes normale Fenster längst in tausend Stücke zersplittert wäre, doch nicht so heute. Niemand nahm Notitz von mir. Dann begann sich diese friedliche, unbeschwerte Szenerie wieder aufzulösen und erneut schossen mir Tränen in die Augen, als mich die Höllenqual eisern am Fuß packte. Als ich auf mein Bein herabblickte, sah ich, dass der Schuh fast auf zwei drittel seiner ursprünglichen Größe geschrumpft war. Meine Knochen gaben ein markerschütterndes knacksen von sich. Auf der rechten Seite quollen Blut und Fleisch aus den vielen kleinen Löchern des Schuhes heraus, wie Kartoffelbrei, der durch ein Sieb gepresst wurde, doch das spürte ich inzwischen gar nicht mehr: Der Schmerz war inzwischen so stark angewachsen, dass mein Körper alle Nerven blockierte, und ich nur noch fassungslos vor mich hin starrte, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Vermutlich bemerkte ich auch deswegen nicht, wie der Motor ansprang. Hatte ich den Schlüssel überhaupt ins Zündschloss gesteckt? Doch auch die Handbremse löste sich, und ein Gang wurde eingelegt. Ich kann mich nicht daran erinnern, das alles getan zu haben, ich kann allerdings auch nicht behaupten, dass es irgendein Geist war, denn ich habe fast gar keine Erinnerung an die nun folgende Szene. Es ist wie bei einem Film, den ich zwar gesehen habe, was aber so lange her ist, dass ich nur noch die grobe Handlung weiß, aber mich an keine einzelnen Dialoge erinnern kann. An was ich mich allerdings erinnern kann ist folgendes: Langsam, ganz langsam und sachte, wird das Gaspedal betätigt, und vorsichtig bewegt sich das Kupplungspedal nach oben. Ich weiß nicht, mit welchen Füßen ich das getan haben soll, schließlich war einer von beiden zu komplettem Matsch gepresst worden, doch was geschehen ist, ist irgendwie geschehen. Und es muss eine logische Erklärung geben, auch wenn ich sie nicht kenne.
Der Wagen rollt also los; er nimmt langsam Fahrt auf. Ich parkte ganz am Ende des Parkplatzes, und da nur noch wenige Autos abgestellt waren, hatte ich freie Bahn. Doch ich wurde immer schneller, und am Ende des Platzes wartete schon eine Wand auf mich. Langsam sehe ich das mächtige Gebäude immer größer werden. Ein weiterer Schrei wird meiner Kehle entlockt, und ich sehe mich schon komplett zu Brei gematscht an der Mauer kleben. Man sagt, in seinen letzten Sekunden betet selbst ein Atheist. Doch ich betete nicht, ich schloss bloß die Augen und war froh, dass es nun endlich vorbei sein würde. Kein Schmerz mehr. Dann blieb das Auto ruckartig stehen. Es war zwar Dezember, doch glücklicherweise lag noch kein Schnee. Trotzdem wunderte es mich, wie schnell der Wagen zum Stehen gekommen war, ohne dass ich dabei von der Trägheit ruckartig nach vorne geschleudert wurde. Doch in dem Moment war mir das komplett egal. Ich war nicht nur wieder bei vollem Bewusstsein. Ich spürte eine unglaubliche Freiheit, ein unbeschreibliches Gefühl der Euphorie. Der Schmerz war komplett verschwunden, und ich traute meinen Augen kaum: Kein Blut und kein Fleisch auf dem Sitz oder dem Boden. Da wusste ich es. Jetzt würde der Schuh, der wieder auf Normalgröße angewachsen war, sich lösen lassen; er würde locker abfallen. Sanft, fast liebevoll, streifte ich ihn ab. Kurz fühlte ich mich wie ein Masochist nach dem Liebesspiel: Geschunden, aber glücklich. Doch dann schmetterte ich den Schuh wie ein totes Tier durch das noch geschlossene Fenster. Die Scheibe zerbrach schon bei der ersten Berührung mit Leichtigkeit in tausend funkelnde Scherben. Erlöst von meiner Pein atmete ich auf. Es war vorbei. Zuende. Ich konnte nach Hause, mich gemütlich in meinen Sessel pflanzen und dort erschöpft vor schlechten Comedyshows einschlafen. Dann sah ich das Mädchen.
Eigentlich sah ich nicht das Mädchen selbst, sondern vielmehr, wie die wenigen Leute hier in meine Richtung rannten, doch nicht zu mir, sondern zu einer Stelle unweit von diesem Parkplatz, in dessen Mitte ein Baum gepflanzt war. Dieser Baum war mir schon öfters aufgefallen, und jedesmal, wenn ich daran vorbeifuhr dachte ich mir, wer wohl so blöd sei und einen Baum mitten auf den Parkplatz stellte; an eine Stelle, an der doch auch ein Kunde stehen könnte. Hastig verließ ich den Wagen und eilte ebenfalls in Richtung Baum, und schon von weitem konnte ich den leblosen Körper auf dem Asphalt liegen sehen. Ein kräftiger Mann, dem ich vor ein paar Stunden noch ein extragroßes Schnitzel und ein Bier gebracht hatte, stürzte auf mich zu und brüllte: „Sie haben sie umgebracht Sie Schwein! Sie haben sie umgebracht! Dafür bring ich Sie um, Sie Schwein!“, doch kurz bevor er mich erreichte stolperte er über seine eigenen Füße und klatschte längs auf den Boden. „Ein kleines Mädchen!“, brüllte er weiter, und grapschte nach meinen Füßen, bekam den Rand einer Socke zu fassen und riss sie entzwei. Ich eilte auf die Menschentraube zu und blickte bestürzt auf die Kleine, deren Gliedmaßen in alle Richtungen zeigten. Sie konnte höchstens zehn Jahre alt sein, nur Gott weiß, was sie so spät in der Nacht hier wollte. Sie trug ein langes, weißes Sommerkleid mit Blümchen darauf, und ihre blonden Haare waren mit zwei himmelblauen Haargummis zu Zöpfen geflochten worden. Sie sah aus, als wäre sie gerade aus einer Kinderkomödie gehüpft um der bösen Stiefmutter zu entkommen. Bloß, dass sie bei ihrer Ankunft vom Regen in die Traufe, beziehungsweise mein Auto geraten war.
Der ganze Körper war Blutverschmiert, weshalb wenigstens niemand den Anblick von blanken Knochen in ihrer weit offen klaffenden Brust ertragen musste. Ihr linkes Bein war so am Kniegelenk gebrochen und nach oben gedreht, dass ihr Fuß fast auf Hüfthöhe neben dem Mädchen lag; das rechte Bein verschwand komplett unter ihrem Körper. Zumindest dachte ich das, bis ich in einiger Entfernung einen dicken Ast zu sehen vermochte, der beängstigent wenig nach Ast, und beängstigent viel nach einem Kinderbein mit rosa Ballerina über dem Fuß aussah.
Der Mann, der so stürmisch auf mich zugerast war, hatte sich inzwischen wieder aufgerappelt, beruhigt und sich zu der Menschenmenge gestellt, die Sorgfältig Abstand von mir hielt und ruhig, völlig ohne panische Aufschreie einer hysterisch herbeieilenden Mutter oder eines vom Anblick der leblosen Tochter zerbrochenen Vaters. Doch neben dem völligen Fernbleiben eines Erzieungsberechtigten kreisten unablässig weitere Fragen in meinem Kopf: Was war dort in meinem Auto passiert? Ich tastete nach meinen völlig unverletzten Füßen. War es ein Spuk, Hexerei oder war ich einfach nur verrückt geworden? Seit diesem Zeitpunkt bin ich mir ziemlich sicher, dass ich unter Halluzinationen leide, auch wenn ich seitdem keine mehr hatte. Und dann gab es noch dieses Mädchen. Wer war sie, und warum ist sie mitten in der Nacht bei Nullgraden im Sommerkleid über einen fast Menschenleeren Parkplatz spaziert? Kein Mensch nimmt ein so junges Kind auf eine Veranstaltung wie diese mit. Und wundert es Sie nicht, dass das Mädchen immer noch nicht identifiziert wurde, wo der Unfall nun schon Monate zurückliegt? Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht im Gefängnis gelandet bin, immerhin haben mehrere Zeugen den Unfall mit eigenen Augen gesehen, darunter auch der Mann, der so hysterisch auf mich zugerannt war. Ich verdanke meine Freiheit allein der Tatsache, dass an meinem Auto keinerlei Spuren entdeckt wurden; weder Dellen noch Blut. Nichtmal mein eigenes; ich spreche von der Schuhaktion. Sie haben mich gebeten, mein Erlebnis in eigenen Worten, überdacht, möglichst lebhaft und fern von Polizeiprotokollen zu verfassen. Hier haben Sie es. Ich habe alles aufgeschrieben, woran ich mich noch erinnern kann. Mein Leben verlief danach in völlig geregelten Bahnen, davon abgesehen dass ich gekündigt, und nie wieder einen festen Schuh angezogen habe. Im Winter mag es mit Sandalen zwar kalt sein, doch meine Angst ist einfach zu groß. Versuchen Sie sich einen Reim aus der Sache zu machen. Ich gebe Ihnen die Chance, auch wenn ich nicht gerade hoffnungsvoll bin. Sie haben zwei Wochen Zeit. Wenn Sie dann nichts haben, lasse ich mich in eine psychiatrische Klinik einweisen.